Auch heute wurde Mathilda wieder der hübsche kleine Ecktisch zugewiesen. Von dort bot sich der beste aller Ausblicke auf die blassgrünen Kupferdächer der Altstadt Salzburgs. Kleinere und größere Grünspanflächen hier und dort glänzten ihr an diesem nasskalten, späten Winternachmittag entgegen. Die Dächer spektakulär überragt vom barocken Dom, und all das dominiert von der imposanten Festung.
Sie hatte sich hübsch gemacht, ihr festliches kirschrotes Jerseykleid brachte Rundes auf schmeichelhafte Weise zur Geltung. Sie trug es nicht oft, denn meist war die Farbe stärker als sie selbst. Sie wählte das Kleid also nur, wenn sie dem Rot Kontra geben konnte. Etwa durch jene seltenen Gefühle von Ausgelassenheit und Übermut, die zu bündeln ihr in jungen Jahren gut gelungen war. Heute war dem Rot aber auch beizukommen, mit ausgeprägter Gemütsruhe nämlich. Genau so ein Tag war heute, mit innerer Balance bot sie dem Rot die Stirn.
Mathilda blätterte nahezu erwartungsvoll in der Getränkekarte, als ob diese heute ein gänzlich neues Angebot für sie beinhalten könnte.
Der Oberkellner näherte sich ihr nach einigen Minuten:
„Möchten Sie bestellen, gnädige Frau, oder warten Sie noch auf jemanden?“
„Ja, ich warte. Aber ich würde dennoch gerne bestellen.“
Das Lokal war gut gefüllt an diesem späten Nachmittag. Die kleinen Tische waren fast ausschließlich mit jeweils zwei oder drei Personen besetzt, darunter viele, die Mathilda als Touristen zu erkennen meinte. Seine exponierte Lage hoch über der Salzach verschaffte dem Café im Dachgeschoß eines Hotels die Nennung in vielen Reiseführern.
Der Kellner stellte einen Gin Tonic auf Mathildas Tisch und machte dabei eine angedeutete Verbeugung.
„Ich habe mir erlaubt, ein kleines Stück Limette zu ergänzen. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: Eine Dame wie Sie sollte man keinesfalls warten lassen.“
Sein Gesicht blieb dabei seltsam entspannt und er lächelte sie offen an.
Mathilda erwiderte überrascht: „Danke sehr, schon gut. Aber ich warte gern. Noch dazu bei dieser prächtigen Aussicht.“
Er nickte und meinte zustimmend: „Ja, wir alle haben gelernt zu warten, schon als Kinder, auf die Ferien, auf das Christkind, auf die Geburtstagsfeier. Der Sehnsucht war man ja recht hilflos ausgeliefert. Es war richtig schwer zu warten. Aber es hat die kindliche Vorfreude nicht getrübt.“
Mathilda antwortete freundlich: „Tja, so war es. Aber mittlerweile habe ich einen langen Atem. Man lernt schließlich dazu, die Leerläufe im Alltag mit Gleichmut hinzunehmen: bis der neue Badezimmerschrank geliefert wird, der PC hochgefahren ist, oder der träge Aufzug zu diesem Terrassencafé endlich eintrifft.“
Mathilda fühlte sich hier wohl. Sie aß ein Paar Frankfurter mit Senf und Kren und trank ein Seidel Bier dazu. Danach genoss sie die Stille im Warten und das Nichts-zu-tun-Haben. Sie sah von ihrem Tisch aus durch die großflächigen Fenster auf die beleuchtete Stadt hinunter. Und sie hatte ausreichend Zeit, die Kirchen der Stadt einzeln auszumachen und mit ihrem Blick dem Verlauf der weihnachtlich beleuchteten Gassen zu folgen. Dann gab ihr Smartphone ein kleines Signal und sie hatte Zeit, eine Nachricht ihrer Tochter, die in München lebte, in aller Entspanntheit zu beantworten.
Aus dem Nebenraum kommend, trug der Kellner einen Aschenbecher voller Zigarettenstummel an ihr vorbei, auf die Mathildas Blick fiel. Er bemerkte es und flüsterte ihr zu: „Schlechthin das Synonym fürs Warten.“
Er blieb kurz stehen und sinnierte laut weiter: „Und es ist beileibe nicht immer Sehnsucht, die das Warten so schwer macht. Oft ist man dabei auch voller Furcht, beim Warten auf ein Prüfungsergebnis, auf den Pannendienst, die Polizei, auf Asyl in einem friedlichen Land.“
Mathilda setzte fort: „Ja, oft ist die Furcht existenziell beim Warten auf eine Diagnose, eine Spenderniere, auf Regen bei Dürre, auf den Wasserhöchststand bei Überschwemmung.“
Er wirkte bestürzt angesichts der genannten Beispiele: „Menschen warten praktisch immer auf bessere Zeiten, auf die große Liebe, das Glück.“
Sie erzählte: „Ich fragte mich als junge Frau oft: Wann beginnt endlich das richtig schöne Leben, jetzt wo ich so viel abgenommen habe?“
Er lachte und sagte: „Oder das Warten auf Antwort von dem Mädchen, in das ich mich als Jugendlicher verliebt hatte – das war schwerer zu ertragen als die spätere Erkenntnis, dass sie mich gar keiner Antwort für würdig hielt.“
Mathilda sah den Oberkellner erstaunt an, als dieser verschwörerisch fortfuhr: „Und nicht zu vergessen, das Warten auf meine Frau, bis die sich endlich für die richtige Theatergarderobe entschieden hat.“
Er entfernte sich zügig Richtung Küche und Mathilda konnte gerade noch sehen, dass kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten. Die Arbeitskleidung war hochgeschlossen, die bodenlange dunkle Schürze sah zwar professionell aus, musste aber unpraktisch sein, so mutmaßte sie. Kellnern war harte Arbeit, viele Gäste blieben nur auf ein Getränk, die Tische wurden etwa halbstündlich neu vergeben, es wurde bestellt und serviert und kassiert, alles mit ausgesuchter Höflichkeit und dennoch hielt der Oberkellner immer wieder einmal auf einem seiner Wege bei Mathilda an (oder schlug sogar einen kleinen Umweg über ihren Tisch ein), um ihr gemeinsames kleines Gespräch über das Warten fortzuführen. Sei es auch nur mit einem Satz, dem sie aus Zeitmangel ihres Gesprächspartners manchmal gar nichts entgegnen konnte:
„Das Gefühl, wenn der Installateur nicht und nicht daherkommt.“
Eine Viertelstunde später: „Hatten wir eigentlich das banale Wartezimmer schon? Und den Zug? Auf Bahnsteigen steht die Zeit ja oft scheinbar still.“
Nach dem Abservieren am Nebentisch: „Vom endlosen Warten auf den Sommer ganz zu schweigen.“
Nach dem Abkassieren einer aufwändig zu teilenden Zeche einer Gruppe nervöser Touristen murmelte ihm Mathilda zu: „Nicht zu vergessen das Warten auf den Zahlkellner.“
„Oh, Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, gnädige Frau?“ Er wirkte müde, es war 23 Uhr.
„Nein, nein, aber ich hätte noch gerne ein Kännchen grünen Tee, bitte, wenn Sie so nett wären.“
Das Warten war für Mathilda heute kein unliebsamer Zustand. Sie fühlte sich nicht passiv oder einer Langeweile ausgesetzt, sondern es ermöglichte ihr auf eine entschleunigte, fast poetische Art, in sich selbst hineinzuhorchen und rückwirkend das nun schon fast vergangene Jahr zu betrachten.
Da sah sie den Oberkellner, der mit dem Tee auf sie zusteuerte und ihr beinahe keck zuraunte: „Und erst das Warten auf die eine Gelegenheit!“
Er entfernte sich beinahe triumphierend angesichts ihres verdutzten Blicks.
Als die gewaltigen Glocken des Domes begannen, mit ihrem mahnenden Geläut zur Mette zur rufen, ging sie kurz auf die Terrasse. Diese Glocken luden nicht froh zum Feiern, nein sie forderten vehement die Disziplin zum Kirchgang ein. Und diesem übermächtigen Klang war nichts hinzuzufügen oder entgegenzusetzen, er erfüllte den Raum und die Zeit aller, egal ob katholisch oder nicht.
Das Lokal hatte sich inzwischen geleert und die mitternächtliche Sperrstunde nahte. Der Kellner sah auf seine Armbanduhr und löste seine Arbeitsschürze, während er – abwechselnd mit Mathilda – heiter und zusammenhanglos die eine oder andere Wartesituation aufzählte.
Plötzlich fasste Mathilda den Kellner spontan am Arm, er drehte sich überrascht zu ihr und folgte ihrem Blick durch das große Fenster hinaus auf die Terrasse.
„Oh, sieh nur, jetzt ist er da, der Schnee! Er kommt stets nach Belieben einfach irgendwann. Oder man wacht auf, und er ist plötzlich da, über Nacht.“
„Oder man rechnet nicht mit ihm, bis dich plötzlich jemand an der Schulter fasst und aus dem Fenster deutet. Aber jetzt komm, meine Liebe, lass uns nach Hause gehen, Zeit für unser Weihnachten. Ich möchte jetzt wirklich gerne meine Beine hochlegen. Wir haben doch noch die gestern angebrochene Flasche von dem guten Rotwein? Und Hunger habe ich auch. Wie schön, dass du auf mich gewartet hast.“
Michaela Swoboda
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