Kategorie-Archiv: Veronika Seyr

image_print

Bisher auf verdichtet.at zu finden:

Man steht am Fenster 2

Oktober 1956, der Ungarn-Aufstand

Vielleicht war in dieser Zeit auch die Rede von Ungarn, vielleicht habe ich etwas aufgeschnappt von der bedrohlichen Situation im Nachbarland, 60 Kilometer von uns entfernt. Die Gefahren durch den Kommunismus waren im Bräuhaus und auch später bei uns in Tulln immer gegenwärtig:
Die Erzählungen vom Leben in der sowjetischen Besatzungszone, von der Zonengrenze auf der Ennsbrücke, die Onkel Klaus und seine Bierführer einmal in der Woche passieren müssen, vom Putsch der gefährlichen Kommunisten in der Tschechoslowakei. Alles nicht weit weg. Und jetzt ging es um Ungarn, noch näher. Sicher verstand ich nichts von der politischen Situation, aber nur das Wort „Kommunismus“ ließ alle Alarmglocken klingeln. Die Erwachsenen senkten ihre Stimmen und machten sorgenvolle Gesichter. Es hatte immer mit Krieg zu tun, mit Flucht, Gefangenschaft, Stalingrad und Sibirien. Das hatte ich mit meinen acht Jahren schon oft gehört und die Angst der Erwachsenen im Raum mitschwingen gespürt.

Nach dem Abendessen, dem gemeinsamen Rosenkranz und dem Singen verteilten wir uns auf unsere Zimmer. Hedi und ich bewohnten die „kleine Mansarde“. Sie war sechs, ich acht. Papa kam später noch zu uns herauf. Er sang Lieder und rezitierte Verse. Er machte Spompanadeln mit Worten und Gesten. Er konnte manche Kinderbücher im Ganzen auswendig aufsagen, in Reimen und mit Melodien unterlegt. Immer mit einem dramatischen Getue, das uns zum Lachen brachte. Er sprach keine tröstenden oder beruhigenden Worte direkt aus, sondern machte Spaß mit lustigen Wortspielen. Er war der erste Rapper aller Zeiten. Er konnte uns ablenken und verzaubern wie ein Kartentrickser, nur mit Worten. „Puckerl und Muckerl“ hatte er vertont, indem er es mit der Melodie von Hänsel und Gretel unterlegte. Hedi schlief meist schnell ein. Ich flüsterte noch lange mit meinem Vater, der am Bettrand saß.

Papa, kommt der Krieg zu uns? Nein, niemals. Warum? Weil sie nicht dürfen. Aber die Buben, die Brüder, machen oft etwas, was sie nicht dürfen. Ja, weil sie Kinder sind. Die Russen und die Ungarn, sind das große Kinder, die tun, was sie nicht dürfen? Nein, das sind Staaten, und da passen alle anderen auf, dass sie nichts tun, was sie nicht dürfen. So ging das hin und her, bis auch mir die Augen zufielen.
Aber ich schlief nie sofort ein. Ich hatte mir mit den Fingernägeln in der Wand Gräben ausgekratzt. Zum Teil durch den porösen Verputz, zum Teil entlang der hellgelben Kringel der Malerei. Als ich kleiner war, fuhr ich dort die Reisen des Florians über die Tapete von Franz Karl Ginzkey nach, die Papa sehr dramatisch und komisch vortragen konnte. Jetzt grub ich dort Tunnel und Höhlen aus, in denen ich mich vor den Kommunisten verstecken konnte. Aber ich war nirgends sicher, denn vom Bett meiner Schwester kam ein leises, aber ununterbrochenes Geräusch des Mahlens. Sie mahlte ihre Zähne aufeinander, dass ich dachte, in der Früh müsse Mehl neben ihrem Bett liegen.

Mein Vater war Katholik, Pazifist, Kriegsteilnehmer, der keine einzige Kugel abgeschossen hat, ein amerikanischer Kriegsgefangener und Spätheimkehrer. Altphilologe, Germanist, Philosoph, Lehrer und Autor, getragen von hohen Aspirationen im akademischen Leben, geschlagen mit sieben Kindern und einer psychisch angeschlagenen Frau, meiner Mutter.

Einmal spielte ich mit den jüngeren Geschwistern Hedi und Franzi im Garten. Fangen, Verstecken, Nachlaufen, Bäumekraxeln. Ich war ziemlich weit oben im Weichselbaum, er war schon kahl im Oktober. Ich hing in einer bequemen Astgabel mit einem Querast, an den ich mich mit den Händen klammerte. Da schwebte über mir plötzlich ein Fluggerät. Ein Hubschrauber oder ein Flugzeug, eines oder viele, geräuschvoll oder stumm, kreisten sie oder standen über mir, bereit zum Angriff, uns zu vernichten. Das weiß ich nicht mehr. Jetzt sind die Russen da, die Gewissheit, und ich ließ den Ast los. Ein kurzes Empfinden von Segeln, und dann war ich schon tot. Den Aufprall auf der Wiese unter dem Weichselbaum spürte ich nicht mehr.

Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, stocksteif. Wassergüsse und Wangentätscheln, Rückenklopfen und Pulsfühlen, alle Geschwister sprachen auf mich ein, die Kaninchen des ältesten Bruders schnupperten an meinem Gesicht herum, seine Barthaare kitzelten. Die Eltern wickelten mich in eine Decke und verfrachteten mich ins Bett. Tee, Honigmilch, Suppe, Gesänge und Gebete, Puckerl und Muckerl und die Reise des Florian über die Tapete, das Zähnemahlen meiner Schwester. Alles vermischt und weit entfernt. Die Familiengeschichte sagt, ich habe drei Tage und Nächte geschlafen und danach einige Zeit nicht gegessen und nicht gesprochen.

Da war schon alles vorbei, der Ungarn-Aufstand und die Ungarn-Krise. Die Flugzeuge und Hubschrauber hatten nicht die Russen in Ungarn über uns kreisen lassen, sondern sie kamen vom „Fliegerhorst Langenlebarn“ fünf Kilometer entfernt. Das österreichische Bundesheer hatte sie aufsteigen lassen, damit sie nicht am Boden zerstört werden konnten. Also war ich damals nicht die Einzige, die vor den Russen Angst gehabt hatte. Das verstand ich erst viele Jahre später. Der „Flughafen Langenlebarn“ lud zu jedem „Tag der Fahne“ am 26. Oktober zu einer Schau ein. Wir Kinder durften auf Panzer klettern, Flugzeuge und Hubschrauber besichtigen und bekamen Gulaschsuppe aus der Gulaschkanone. In meiner Erinnerung gibt es bis heute keine bessere Gulaschsuppe auf der Welt.

Danach kamen die Flüchtlinge. Ins Haus, in die Schule, ins Pfarrheim und ins Judenauer Schloss. Redda barnen, mit vielen fröhlichen blau-gelben Wimpeln. Die Schweden waren so freundlich, dass ich ihnen meine Lieblingspuppe, mein einzige Puppe damals, die Lotte, überließ, für die Ungarn-Kinder. Sie sagten bei jeder Spende, die wir ins Schloss brachten: Jegelskedeg, so wie der Mesner in der Kirche mit dem Klingelbeutel sagt: Vergelts Gott, Gott vergelts. Meine Schwester trennte sich von ihrer Kuscheldecke, mein kleiner Bruder von seinem Matador-Baukasten. Wir waren sieben Kinder in einem nicht übergroßen Haus, aber Zsuzha wohnte bei uns, und sie blieb mir fast bis zur Matura die „beste Freundin meines Lebens“.

Ich war sehr unglücklich über den Verlust meiner Lotte und malte mir aus, dass sie auf eine schöne, weite Reise gegangen ist, vielleicht bis ins freundliche Land der Schweden. Redda barnen und jegelskdeg, das war Schweden. Das hab ich nie vergessen, und erst sehr viel später erfahren, was jegelskedeg bedeutet. Zumindest so habe ich das gehört. Mehr Schwedisch habe ich nie erlernt und bin leider noch nie dort gewesen.

Teil 2: 28.2. - 1.3.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22047

Aus Putins philosophischem Antiquariat

Putins historische Rumpelkammer

„Die Russen haben keine schönen Erinnerungen, keinerlei Tradition, keine Geschichte, die unser Volk erzogen hätte. Wir sind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Isoliert von der übrigen Menschheit, fehlt uns jede eigene Entwicklung, jeder wirkliche Fortschritt. Von den Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit oder Ordnung, welche die Atmosphäre des Westens ausmachen, sind wir ganz unberührt (...) Konfusion ist ein allgemeiner Zug in unserem Volk (...). Die Vorsehung scheint uns Russen völlig übergangen zu haben. Wir besitzen ein riesengroßes Land, aber geistig sind wir vollständig unbedeutend, eine Lücke in der Weltordnung. “

Diese Zeilen stammen keineswegs von einem zeitgenössischen Russland-Verächter aus dem Westen, so aktuell sie auch klingen mögen, sondern aus dem Gänsekiel des russischen Publizisten Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew, der 1829 in seinem „Ersten philosophischen Brief“ über die Zustände in Russland nachdachte. Der anfangs nur auf Französisch veröffentlichte Brief rief einen politischen Skandal hervor. Zar Nikolaus I., der kurz zuvor die Dekabristen aufhängen ließ oder in die sibirische Verbannung schickte, ließ Tschaadajew für verrückt erklären und verbot ihm jede weitere Publikation. Dieser antwortete darauf mit der „Apologie eines Wahnsinnigen“, in der er seine Thesen über Russland noch vertiefte. Er wies darin Russlands nur halb verstandene und unverdaute Rezeption der deutschen Romantik eines Schelling auf und die Unmöglichkeit eines richtigen Verständnisses von Hegel nach, weil Russland schlicht und einfach die realen staatlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu fehlten. Kulturphilosophen wie Isaiah Berlin und Boris Groys zeigen in ihren Essays, dass die gleichen Missverständnisse auch beim ideengeschichtlichen Import von Marx und Nietzsche nach Russland passiert seien.

Tschaadajews Schrift ist der Anfang der bis heute andauernden Auseinandersetzungen zwischen den Strömungen der Slawophilen und der Westler. Wohin gehört Russland? Zu Europa, zu Asien oder ist es etwas Drittes? Präsident Putin, vormals halbgebildeter und von jeder moralischen zivilisatorischen Beeinflussung freier Mensch, KGB-Major, spielt sich neuerdings als Historiker und Philosoph auf.
Im Juli 21, und zuletzt gestern bei seiner TV-Rede zur Rechtfertigung seines kriegerischen Überfalls auf die Ukraine. Viele selbsternannte Russlandkenner schwafeln von der Lust Putins, die alte Sowjetunion wiederherstellen zu wollen. Alle schreiben voneinander ab, übernehmen Standards und Klischees für Redezeiten und Honorare.

Ich glaube aber, das ist anders. Ich stelle mir vor, dass er schon lange in irgendwelchen unterirdischen Verliesen des Kremls sitzt und auf großen Tischen ausgebreitete Karten des Zarenreiches studiert.
Das verfügte über eine viel größere Ausbreitung als die Sowjetunion je hatte, samt ihrem Vorfeld der osteuropäischen Satelliten- Staaten. Dazu dauerte das zaristische Imperium etwa 200 Jahre länger als die scheinbar unbesiegbare UdSSR. Ich kriege die Bilder von Chaplins Großem Imperator nicht aus dem Kopf, wie er tanzend am Globus dreht und sich in einen Rausch hineinsteigert.
Das Baltikum, Finnland, Teile Rumäniens, die Walachei und Bessarabien, Teile Polens, Teile Persiens gehörten damals zum Zarenreich. Das zaristische Russland kämpfte mit dem Britischen Reich um Indien bis nach China. Über solchen Karten brütet Putin und nicht über die Brösel der Staaten von Osteuropa. Im KGB aufgezogen, ist seine Devise immer noch: „Wenn du auf Stahl triffst, weiche zurück, auf Weiches stich ein und vernichte es.“

Der neo-faschistische Ideologe Alexander Dugin ist ihm so wichtig als sein Herzensphilosoph wie sein Beichtvater. Das Kerzerlanzünden, die Verneigungen und das Bekreuzigen – er beherrscht es übrigens noch immer nicht so perfekt, wie jemand, der von Kleinauf in der Orthodoxie aufgewachsen ist, nicht die richtigen Bewegungen beim Verbeugen, beim Ikonen-Küssen, beim Kniebeugen, alles angelernt, Camouflage und Propaganda, der neuerdings Gläubige. Ich schaue genau hin und erkenne Fälschungen.

Einige sind nun in der EU und Mitglieder der NATO. Er dreht am Globus und studiert die Landkarten. Zur Erholung legt er sich auf das Fell eines sibirischen Tigers und studiert seine Lieblingsphilosophen Ilja Ilin und Nikolaj Berdjajew, die Schriften der alten und neuen Eurasier wie Sergej Bulgakow, Putins lebender Leib- und Magen-„Philosoph“, ein lupenreiner russischer Faschist. Meine Moskauer Freunde erzählen mir, er beratschlagt sich mit ihm so viel wie mit seinem Beichtvater. Wie sich da die Kreise schließen, der atheistische KGB-Agent im Einfluss von ideologischen Extremisten. Vielleicht wird die vordergründige Irrationalität des Krieges Putins gegen die Ukraine verständlicher.

Wie alle Halb- und Viertel-Gebildeten frönt Putin dem Eklektizismus und der Geschichtsklitterung, kurzen, nicht zu Ende gedachten Parallelen und verführerischen Übertragungen von Vergleichen in die Gegenwart, mit zunehmender Leidenschaft und zunehmendem Realitätsverlust. Ich glaube, er ist ein armer Irrer. Allein in den Kasematten, in denen noch das Blut von Ivan, dem Schrecklichen, Boris Godunow und den von Peter, dem Großen hingemetzelten Strelitzen klebt, kratzt er sich die Glatze und die nackte Brust unter dem Judo-Kostüm, streichelt ein sibirisches Pferd und krault die Kehle eines Delphins aus dem Schwarzen Meer. Einige von ihm dort gefundene Amphoren wird er um sich aufgebaut haben. Niemand aus seiner Entourage wagt es, den Grill mit den fetten, selbstgeangelten Kamtschatka-Forellen anzuwerfen. Aber die Bilder davon, die er in seiner Selbstinszenierung in die Welt geschickt hat, haben alle Menschen im Kopf.

Dazu noch der Flottenführer und der Kampfpilot mit Ray-Ban-Brille und einer 25.000 Euro teuren Schweizer Uhr am muskulösen, braungebrannten Handgelenk. Vielleicht darf seine Langzeit-Geliebte Alina einmal in den Keller hereinspähen. Nein, er denkt. Aber seine Leidenschaft wird von etwas anderem als von der hübschen, halb so alten usbekischen Turnerin gespeist. Er dreht wieder den Globus und beugt sich über die Karten.
Ukraina, die Brüder, Malorossia, Kleinrussland, Belorossia, Weißrussland, das hab ich schon.

Es geht um die Ukraine, sie ist unser, wir sind eins, also ich selbst, also darf ich sie umbringen. Ich darf die Hälfte von mir töten, weil das bin ja ich.
Der schwarze Gürtel ist weg, ihm vom Judo-Weltverband abgesprochen, auch schon wurscht, bald gehört mir die ganze Welt. Er denkt kurz, keine langen Züge, von A nach B und was ergibt vielleicht C? Das hat er nie gelernt. Weder in den Leningrader Slums noch beim KGB. Jura – Jus hat er studiert, da muss ich immer lachen. Was war denn in der Sowjetunion „Recht“? Rechtswissenschaft in der KGB-Akademie?

Putin, der Jurist? Ich kriege Hirn- und Magenschmerzen und innerliche Wutanfälle, wenn ich so etwas von unbedarften Russland-Kommentatoren zu hören bekomme. Schild und Schwert, steht auf dem Wappen des KGB. Ursprünglich die Tscheka als Waffe gegen die Konterrevolution, aber nach dem Sieg der Bolschewiken ein „Schild und Schwert“ gegen den Westen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Unter Schild und Schwert (schit i metsch) ist Putin sozialisiert worden. Wenn man seinen aktuellen Reden zuhört, hat sich daran nichts geändert, bis auf die Ausweitung auf seine zaristischen Ambitionen.
Ich habe noch vor Augen die Bilder vom ersten Besuch eines wichtigen westlichen Gastes, des englischen Premiers Tony Blair in St. Petersburg mit seiner hochschwangeren Frau. Wie er in der Zarenloge des Mariinski Theaters saß, wie er seine triumphalen Blicke und Gesichtszüge kaum unter Gewalt bringen konnte. Da gingen viele Gewitter ab. Der räudige Straßenhund aus dem Hinterhof, ein schlechter Schüler, ein Rowdy, den nicht einmal der KGB aufnehmen wollte, am Ziel, so sah ich ihn, das war 2004, kurz vor seiner ersten Wahl.

Die ukrainische Bevölkerung sitzt in Kellern und U-Bahnstationen, Putin sitzt in den Kreml-Gewölben. Keller gegen Keller. Wer ist lebendiger? Wer hat mehr Zukunft? An welcher Seite sind wir?

Als der jüngste Vertreter des alten Slawophilen-Huts hat sich am 16. April 2014 der russische Präsident Putin geoutet. Während seiner vierstündigen „Ansprache zum Volk“ schwadronierte er von der Opferbereitschaft und der Leidensfähigkeit der Russen, was ihre moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen ausmache. Die Kernbotschaft seines in allen großen Fernsehkanälen direkt übertragenen Schmierentheaters lautete: Der russische Mensch, der Mensch in der russischen Welt, das russische Volk ist bereit, für die russische Welt zu sterben. Opfer, Leiden, Sterben – das war immer schon ein beliebter Zynismus der Diktatoren. Er hatte wenige Tage davor die ukrainische Krim besetzen lassen und war gerade dabei, den Krieg in der Ostukraine anzufachen.

„Dulc(e) et decorum est pro patria mori“– Süß und ehrenhaft ist es, für das Vaterland zu sterben, dichtete schon Horaz in den Carmina III.2.13.
Putin hat das territoriale Russland ausgedehnt auf „die russische Welt“, und die ist laut Putin überall dort, wo russische Menschen leben und russische Interessen betroffen sind: die Krim, die Ukraine, das Baltikum, Transnistrien, Georgien, Ossetien oder weiter bis in 1. und 4. Wiener Gemeindebezirk, nach Nizza und London, Kensington Park? „Mir scheint, dass der russische Mensch, der Mensch der russischen Welt, vor allem daran denkt, dass es irgendeine höhere moralische Bestimmung des Menschen gibt“, sagte Putin, der frisch gebackene Philosoph auf dem Präsidententhron. Das ist Rassismus pur. Wusste er nicht: laut einer UNESCO-Definition aus dem Jahr 1995, der „Glaube, dass menschliche Populationen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert unterscheiden, sodass bestimmte Gruppen gegenüber anderen höher – oder minderwertig sind.“

Was in westlichen Ohren wie befremdliches Gefasel von Nationalmentalitäten klingen mag, ist aber das Hintergrundgeräusch eines beinharten geopolitischen Kampfes, zu dem Putin angetreten ist. Während er in den Nuller-Jahren etwa bis 2007 im Westen noch wie ein Wolf im Schafspelz Kreide gefressen hatte – siehe seine viel bejubelte Rede vor dem Deutschen Bundestag – trat mit seiner Stiftung „Russki mir“ erstmals in der postsowjetischen Zeit die neue imperiale Ideologie von Eurasia auf. „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch wohnen, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen so oft wie möglich – russische Welt.“ Die Tragik besteht darin, dass im Russischen mir/Welt  und mir/Friede Synonyme sind. Warum, das hat mir bis heute noch kein Semiotiker zufriedenstellend erklären können, nicht einmal Noam Chomsky. Er kann trotz seiner russischen Herkunft kein Russisch.
(Zit. Nach Ulrich Schmid: Russki mir. Dekoder 2016.)

Zur Ideologie der „russischen Welt“ gehört wie ein siamesischer Zwilling das „nahe Ausland“. Gemeint ist damit die Einflussnahme auf die ehemaligen Sowjetrepubliken, deren Selbständigkeit in den Tiefen des Kreml nie anerkannt wurden. Georgien, die Ukraine, Moldawien haben es am eigenen Leib verspürt, für die anderen ist das eine ständige Bedrohung.
Mit der Gründung der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ 2014 wollte sich Putin den langgehegten Wunsch nach einem Gegenprojekt zur EU erfüllen. Neben Belarus und Kasachstan konnten sich lediglich Armenien und Kirgistan zum Zusammenschluss durchringen. Sie ist aber eine wirtschaftliche und eine ideologische Totgeburt geblieben. Seit der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine mit den nachfolgenden Sanktionen ist sie sicher nicht attraktiver geworden. Erst mit dem Einstieg in den Syrien-Krieg zur Unterstützung des Assad-Regimes konnte er sich auf die Weltbühne katapultieren und mit seinem Konkurrenten USA auf Augenhöhe stehen. Die „russische Welt“ hat er mit dem Siegerkonzert in die Ruinen von Palmyra getragen. Valeri Gergiev spielte am 6. Mai 2015 mit dem Orchester des Mariinski-Theaters Werke von Bach, was ungefähr so geschmackvoll war wie im besetzten Paris Wagner zu spielen. Ein Politporno, den man sich jederzeit auf YouTube reinziehen kann. Der Dirigent und das Orchester mit weißen Baseballkappen umringt von russischen und syrischen Militärs inmitten der Ruinen.

So wie Stalin in den 30-Jahren die Orientierung an einer ganzheitlichen, homogenen „sozialistischen Kultur“ erzwungen hat, so wird unter Putins Dirigat Russlands Geistesleben auf ein immer aggressiveres, einheitliches „russländisches Denken“ und seine „historische Mission“ eingeengt. Putins Monolog und das inszenierte Antwortspiel sollten als Einstimmung in eine Zeit kommender Opfer, der Wehrbereitschaft und des massenhaften Heldentums dienen, durch das sich laut Putin das russische Volk vor allen anderen auszeichne.
Auch wenn es in der heutigen Welt viel Austausch gäbe, auch von Genen, könne Russland von anderen Völkern so manches aufnehmen, die Russen würden sich aber immer auf ihre eigenen Werte stützen, so auch die Bereitschaft, für ihr Volk zu sterben. „Gene“ waren im 19. Jahrhundert noch unbekannt, aber von den „ursprünglich russischen Werten“, die den Rest der Welt erlösen sollten, schwafelten auch schon die slawophilen Schriftsteller angefangen bei Gogol, den Brüdern Aksakov, Dostojewskij, Solowjow, Trubetzkoi bis zu Solschenizyn. Auch der für die Vorbereitung des Ersten Weltkrieges so bedeutende wie verheerende Panslawismus kommt aus den finsteren Winkeln des russischen Slawophilentums.

Putins Banalitäten über eine russische „Volkspsychologie“ und das Verhältnis zum Westen gleichen dem Ödipus, der bei Freud über den Ödipus-Komplex nachliest oder einem afrikanischen Häuptling, der eine Kubistenausstellung besucht, schreibt Groys. Er verkauft die russische Kultur als Realisierung der westlichen Träume und gleichzeitig als ihre Überwindung, nicht als das andere neben einem gleichen, sondern als die absolute Alternative. Was Putin so wütend macht, ist, dass trotz aller Lockangebote Russland für den Westen bisher immer ein Ort der Bedrohung geblieben ist. Am russischen Wesen wird die Welt genesen. Dafür gibt es schreckliche Beispiele.

Der von Stalin ermordete Dichter Josip Mandelstam warnte schon früh vor der eurasischen Krankheit, an der Russland leidet. „Die Russen haben eurasische Geistesanfälle, aber nur das Europäische hilft uns weiter.“ Er fragt, was Russland ohne Europa wäre, wäre es dann Russland plus Asien? Nein, denn es gehört keinem dieser zivilisatorischen Kreise an und wäre eine Leerstelle.

Der ehemalige KGB-Major Putin hat seinen Stalin genau gelesen. Mit ähnlichen Worten und Gedanken richtete sich Stalins Radiostimme einige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 an sein Volk, aus dem Bunker, in den er sich wochenlang verkrochen hatte. Stalin mobilisierte sogar die orthodoxe Kirche, die er seit seiner Machtergreifung gnadenlos verfolgt hatte, und gab ihr weitgehende Freiheiten, um die Kampfbereitschaft der Massen zu erhöhen.
Das hat Putin jetzt nicht nötig, er ist schlauer als Stalin, er hat die ROK mit sich an die Macht gebracht. Er, der ehemalige, kleine, kommunistische Geheimdienstagent, hat nach einem angeblichen Nahtoderlebnis zur Mutter Kirche gefunden und diese in seinen absolutistischen Machtapparat einbezogen.
Aus den Insignien des KGB von Schild und Schwert ist so ein Dreigestirn mit dem Andreaskreuz geworden, das über Russland herrscht. Die ROK hatte vor dem Prozess gegen die Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot in einem Kreuzzug der staatlichen Medien sieben Jahre Haft wegen „Blasphemie und Erzeugung von Hass auf die Religion“ gefordert, immer vom Staat und seinen Medien konzertiert. Auch das Anti-Homosexuellengesetz ist ein lange gefordertes Zugeständnis an die Kirche, die in der Legalisierung der Homo-Ehe im Westen Vorzeichen für die herannahende Apokalypse sieht. Putins scheinbare Neuerfindung Russlands hat den Russen nach dem „Opium fürs Volk“, der Religion, nun das berauschende Gift des Nationalismus beschert. Ein russisches Sprichwort war schon einmal klüger als die derzeitige Politik: Wenn die Trompete ertönt, ist der Verstand im Wind.

Die ROK dient Putin noch auf eine andere Weise. Sie, die von Anfang an gegen den Westen, die lateinische Welt, gerichtet war – das vierte Rom als Erbe von Byzanz und Rom – versteht sich als das wahre Christentum, das rechtgläubige, das universale Christentum, das andere ist das abgefallene. So wie in allen imperialen Staatsformen von den Zaren bis Putin versucht die ROK als Staatsideologie den universalen christlichen Anspruch in politische Herrschaft überzusetzen. Das hat Putin gemeint, als er von der Überlegenheit der russischen Werte sprach, er beansprucht nicht mehr und nicht weniger als die Anerkennung einer größeren Universalität als die gesamte westliche Kultur.
Im Übrigen zeigte sich in den 80 Jahren des russischen Kommunismus – eine aus dem Westen von Russland angeeignete Ideologie – der gleiche gegen die westliche, kapitalistische Moderne gerichtete Anspruch, sich das Westliche anzueignen, um es besser bekämpfen zu können. Russlands antizivilisatorische Rückwende zum großrussischen Chauvinismus verrät trotz seines zur Schau gestellten dummdreisten Triumphalismus aber mehr von Schwäche als von Stärke. Was wie ein Meisterstück seiner Geheimdienste aussieht, die Besetzung und Annexion der Krim, ist kein Sieg, sondern der erste tönerne Fuß, auf dem Putin einknickt. So dialektisch kann Geschichte funktionieren.

Die russischen Werte, Vorteile, Vorzüge, die Opferbereitschaft und das Leidenspotential bestehen darin, mehr Wodka zu vertragen und mehr Kalaschnikovs zu verkaufen als alle anderen, das hat sicher jeder Politiker, Diplomat, Manager, Journalist oder Tourist schon am eigenen Leib erfahren.
Mit Tschaadajew kann man heute noch sagen, dass die russischen Verhältnisse so sind, dass man sie bei klaren Sinnen nicht ertragen kann. Es ist aber auch möglich, dass in den Kreml-Küchen ein Gebräu aus anderen Töpfen als Slawophilentum und ROK, zaristischem Imperialismus oder Stalinismus gebraut wird. Der bei uns vergessene Autor Konstantin Leontjew behauptete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, „dass ausschließlich Unfreiheit und Unterdrückung eine geschichtliche Originalität eines Menschen oder einer Kultur hervorbringen (...). Ein befreiter Mensch oder eine befreite Kultur verlieren diese äußeren Grenzen und werden grenzenlos banal.“ Als Beispiel führte Leontjew, der längere Zeit auf dem Balkan verbracht hat, die Völker des heutigen Jugoslawiens und Griechenlands an, von denen er behauptete, dass sie nur im Zustand der Unterdrückung durch die Türken attraktiv waren. (Boris Groys, S 13).
Leontjew ist er jener Obskurant unter den Slawophilen, der meinte, wenn man Russlands Werte und Traditionen erhalten wolle, müsse man es einfrieren.

Die Selbstauflösung der Sowjetunion, für Putin die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts, hat in Russland exakt zu dem Zustand geführt, vor dem Leontjew gewarnt hatte. Putins Wende rückwärts in die Rumpelkammer der Geschichte wird weder Russland noch die Welt weniger düster machen. „Wir sind niemals mit anderen Völkern zusammengegangen, wir gehören keiner der großen Familien des Menschengeschlechts an, wir gehören weder zum Osten noch zum Westen, haben weder die Traditionen des einen noch des anderen. Wir stehen gewissermaßen außerhalb der Zeit, die allgemeine Erziehung des Menschengeschlechts hat uns nicht einbegriffen. “

Tschaadajews Klagen aus der Zeit des Dekabristen-Mörders Nikolai I. sind einhundertfünfundachtzig Jahre alt und klingen dank Putin leider wieder ganz aktuell.

26.4.14, 10 Tage nach der Annexion der Krim, ergänzt am 22.6.17, ergänzt am 25.2.22, 1 Tag nach dem Angriff auf die Ukraine

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22044

McDonalds, 22 Jahre am Puschkin-Platz, Ende am 9.3.22

Es bietet sich ein eigenartiges Bild. Im bitterkalten Jänner 2000 stehen tausende Moskauer auf dem Puschkin-Platz. Ein Ort um das Denkmal für den Dichterfürsten, wo sich traditionell Menschen zu Festen und Protesten versammeln. Schon Dostojewski hielt dort seine historische Rede zum 100. Geburtstag, in den revolutionären Tagen von 1905 und 1917 war das ein Versammlungsort, wo die Massen gegen Hunger und Krieg protestierten. Immer große, wild durcheinander wogende Menschenknäuel, mit Transparenten und Schildern. Die Stufen und der Sockel des Denkmals sind auch zu normalen Zeiten immer mit Blumen belegt, im Sommer verwelkt, im Winter erfroren, aber immer frisch die Verehrung.

Seit Gorbatschows Lockerungen mit Glasnost und Perestroika ab 1985 diente der zentrale Puschkin-Platz für die täglichen Demokratie-Kämpfer. Man hatte den Eindruck, dass manche Hauptstädter dort Tag und Nacht leben.

Aber das Bild an diesem kalten Jännertag war anders. Keine buntgewürfelten Menschenmassen, sondern lange Schlangen, ein Mensch hinter dem anderen, umrundeten ein Gebäude an der Südwestecke und wanden sich in gewundenen Spiralen durch alle Nebengassen. Es lag eine eigenartige Stille und Spannung über diesem Menschengemenge. Für Moskauer Verhältnisse eine ungewöhnliche Ordnung und Disziplin, viele Menschen mit Kindern, pelzeingemümmelt in Kinderwägen oder an der Hand ihrer Eltern oder Großeltern. Mir kamen sie vor wie eine gezähmte Schar von Bären. Es muss einen Lottogewinn geben.

Die pelzbehüteten Köpfe reckten sich und waren ausgerichtet nach dem großen Ecklokal mit Fenstern, in denen gelbe Bögen prangten. Alles wartete mit hoffnungsvollen Gesichtern auf die Sensation. Ganz Moskau schien auf den Beinen zu sein: Es sperrte die erste Filiale von McDonalds auf! Als ausländisches TV-Team waren wir unter den ersten, die ganz vorne hineindurften. Als sich die Türen öffneten, brach das Chaos auch. Ich fürchtete um mein Leben in diesem Gedränge. Die Leute waren wie wilde Tiere, Mütter und Babuschkas kämpften wie die Löwen, seriöse Familienväter setzten Fäuste und Ellbogen ein, es waren einfach alle verrückt nach McDonalds. Das Personal war so heillos überfordert von diesem Ansturm, dass es nicht einmal die Miliz herbeirufen konnte. Mein Team war so bedrängt, dass es kaum zum Filmen kam. Einige Bilder von diesem zeitenwendenden Event gelangen doch, und wir brachten sie über den Sender in die Welt.

Ich versuchte herauszufinden, was McDonalds für das postsowjetische Russland bedeutete. Ein Mythos, eine Ikone der westlichen Welt, eine neue Konsumkultur, große Erwartungen und Illusionen. Welche? Endlich in den Mahlstrom des Rests von der Welt zu gelangen. „Normalno“ zu werden, das hörte ich damals am häufigsten. Ein normales Leben in einem normalen Land wie alle anderen auch. Meine Tochter damals hatte den besseren, unverstellten Blick. Kurze Zeit später beobachtete sie das Treiben im McDonalds am Puschkinplatz und berichtete mir davon. Die Russen spinnen, sie tun so, als würden sie ihre Kinder mit den Pommes und Chickennuggets wie mit Goldbarren füttern. Goldrausch. Sie sind festlich angezogen wie für einen Kirchenbesuch. Die Kinder sperren ihre Mäulchen auf, und sie versenken andächtig die Pommes wie Vogeleltern Würmer und Insekten in die Goldkehlchen.

Die Bilder vom Puschkinplatz am 9. März 2022 sehe ich von meiner Wiener Couch aus. Sie ähneln sich, wieder viele Eltern und Großeltern mit Kindern, die Kleidung ist besser, wieder in Schlangen rund um den Puschkinplatz und seine Nebenstraßen, nur die Gesichter sind anders. Nicht mehr hoffnungsvoll nach oben gerichtet, sondern auf den Boden, wie Verurteilte.

Es ist der 14. Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine. Die letzten Hamburger, die letzten Pommes, das letzte Cola, denn auch Coca-Cola zieht sich aus Russland zurück. McDonalds schließt seine erste Filiale am Puschkinplatz und weitere 850 im ganzen Land.

10.3.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22032

Geschichte einer Liebesgeschichte

Die Entstehung von Ali und Nino. (weiblich, Betonung auf o. )

Ein Roman von Kurban Said

Ich erkannte ihn sofort, durch die Glasscheiben und durch die dicken Rauchschwaden, an seinem Gang. Er war immer darum bemüht, eine noble Figur abzugeben. Aber diesmal stolperte herein wie ein Betrunkener. Die gläserne Drehtüre spuckte ihn zu schnell aus, fast wäre er gestürzt. Ganz und gar nicht gentlemanlike. Dabei war er sonst immer auf eine würdige Haltung bedacht, um seine aristokratische Herkunft zu unterstreichen. Ich sah, dass er wie immer seinen langen Regenschirm am Arm trug, aber keinen Fez auf dem Kopf hatte. Die Freunde kannten ihn nur so, mit dem hohen, roten Filzdeckel. Unbedeckt hatte ich ihn noch nie gesehen, ohne Fez schien er mir nackt und nicht er selbst. Essad Bey, bei uns in Wien war er der Esi. Die schwarzen Haare klebten an seinem Kopf, die Krawatte war nicht gebunden, und die Knöpferlgamaschen hingen lose um seine Knöchel. Seine großen, schönen Augen waren angeschwollen und trüb.
Nie würde er in einem solchen Zustand auf die Straße gehen. Ein Mensch in Auflösung, das sah jeder beim ersten Blick. In der rechten Hand hielt er ein Papier, mit dem er mir schon von weitem zuwedelte. Es musste etwas sehr Wichtiges sein, das ihn derart die Contenance verlieren hatte lassen.

Ich saß an meinem Stammplatz gleich neben dem großen Tisch mit dem Berg von Zeitungen. Der Herr Albert wusste, welche ich bevorzugte. Direkt vor mir stehend, beugte sich Esi über meine Hand, ließ sie aber gleich wieder los und setzte sich mir gegenüber. Er war außer Atem und keuchte, als hätte er einen Marathon hinter sich. Dabei wohnte er in der Wallnerstraße, buchstäblich um die Ecke. Herr Albert hatte auf dem schwarzen Marmortischchen meine Wunschzeitungen angehäuft. Esi schob sie ohne Erlaubnis auf die Sitzfläche des dritten Stuhls. Obendrauf stellte er das Tablett mit der Kaffeetasse und dem Wasserglas. Eigentlich eine unverschämte Unhöflichkeit. Das war nicht mehr Esi. Nur mein Zigarettenspitz blieb, im Aschenbecher einsam vor sich hinrauchend, liegen.

Sogar die von ihm so geschätzte Anrede mit „Frau Baronin“ unterließ er. Frieda, es ist etwas Schreckliches passiert. Du musst mir helfen.

Na, das war nun wirklich nichts Neues. Bei Esi passierte ständig etwas Schlimmes, und wir taten seit Jahren fast nichts anderes, als ihm zu helfen. Unter uns nannten wir ihn liebevoll Gospodin Katastrofski. Sei es das Drama seiner Scheidung von Erika Loewendahl oder ein Finanzdesaster, ein literarischer Misserfolg oder seine zeitweisen Depressionen. Den Aufenthalt im Sanatorium auf der „Grünen Insel“ habe ich zusammen mit Omar eingefädelt. Hat leider nichts gebracht. Jetzt macht er eine Psychoanalyse beim Professor Freud. Zuletzt ging es ihm ein bisserl besser. Ein russischer Patient.

Er zog ein großes, weißes Taschentuch aus der inneren Jackettasche und wischte damit über die hohe Stirn. Er war nicht bleich, sondern grün-gelb im Gesicht. Seine Züge wirkten entstellt, die breiten Wangen waren zerflossen und hingen schlaff von den Backenknochen herab, auf der Oberlippe standen Schweißperlen. Der fesche, 31-jährige Esi sah plötzlich aus wie ein alter Mann. Mich fröstelte, ich drückte meinen Turban tiefer in die Stirn und zog die Nerzstola enger um mich.

Esi, was ist? Jetzt beruhige dich einmal und erzähl. Anstatt zu reden, hielt er mir das Papier hin.
Noch bevor ich den ersten Buchstaben lesen konnte, sah ich das große Hakenkreuz oben im Briefkopf. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich begann zu lesen.
Die deutsche Reichsschrifttumskammer teilte knapp mit, dass Herr Lev Avramowitsch Nussimbaum ausgeschlossen worden ist, er die Ansprüche auf sein Vermögen und alle zukünftigen Tantiemen verloren hat und im Dritten Reich nicht mehr publizieren darf. Grund war keiner angegeben.
Das war eine Katastrophe, ein Schicksalsschlag, von dem er sich nie wieder ganz erholen würde. Ich konnte lange nichts sagen, kaum atmen, nahm seine Hände in meine und wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Zwischen uns stand der Tod.
Esi, Esi, oh Gott, das ist ja schrecklich. Das war nicht gesprochen, sondern geflüstert.
Esi brachte nichts anderes als ein leises Stöhnen hervor.
Dass er seines Vermögens verlustig gegangen ist, war blanker Raub. Aber dass die Gestapo seine wahre Identität herausgefunden hatte, war ein Todesurteil. Das wussten wir beide und mussten es nicht aussprechen.

Jetzt kamen die Bodmershof, Imma und Willy, ins Herrenhof hereingeweht. Er – atemberaubend in den Frauenkleidern einer Gürtelhure, sie – im Herrenfrack wie für einen Hofball, eine androgyne Schönheit mit einem perfekten Bubikopf. Die New Yorker Millionärserben Binks und Jay Dratler hinter ihnen, die hatten noch ein unbekanntes amerikanisches Pärchen im Schlepptau. Bis auf dieses trugen alle sozusagen Hauskleidung. Jay und Binks hatten es ja nicht weit aus ihrer Wohnung im obersten Stockwerk des Ringturms runter ins Café Herrenhof.

Sie trugen Seidenpyjamas mit ausladenden Schals und Federboas, darüber Turbane aus weißem Atlas, sie mit Kranich-, er mit Flamingomuster, an den Füßen hatten sie reich bestickte, schnabelnasige Pantoffel aus Safin und Antilopenleder. Die ausladenden Wedel aus Pfauenfedern auf den Turbanen wippten lustig bei jeder Bewegung. Sie waren übermäßig stark geschminkt, dicke Ringe um die Augen, schwarze Augenbrauen und gigantisch überzeichnete Lippen in allen Farben. Jay mit baumelnden Ohrringen, Binks mit langen Perlenketten und Ringen an allen Fingern, im breiten Gürtel ein gekrümmter Dolch, ein kaukasischer Kindschal. Wahrscheinlich hatte sie Omar-Rolf gerade für einen seiner Filme ausgestattet, und sie genehmigten sich eine Pause. So tanzten sie aufgekratzt ins Herrenhof herein.

Die Kellner waren solche Szenen von den „gstopften Amis“ im Dachgeschoß des Ringturms gewohnt und schurlten diensteifrig um sie herum. Es umgaben sie Wolken von schweren Parfums, die nur von ihren Zigarren und Zigaretten übertroffen wurden. Verrückte, aber gutmütige Leute, die sich mit Trinkgeld nicht zurückhielten. Na ja, die haben mehr als genug. Sie werfen es uns hin wie eine Banane den Raubtieren im Käfig. Was wollen sie überhaupt hier, denkt der Ober, Herr Albert, während er buckelnd der Gesellschaft die Tische zuweist. Die junge Schauspielerin Paula aus Berlin führt eine Schildkröte an einer goldenen Leine mit sich, eigentlich ist sie ein Mann, sicher ein Jud. Angeblich schreibt Binks Romane und Jay malt Bilder.

Und es kommen immer mehr Leute, darunter viele komische Figuren, auch ein Orientale mit Pluderhosen, Tscherkessenmantel und Fez. Ein orientalischer Prinz solla sein. Haha, a Prinz, dass i ned lach, ich lass mi ned für deppert verkaufen. A verkleideter Jud is des, nix aundas. Der soll an Kaftan tragen. Ich kenn des, i riach die. I kriag eam, irgendwaun. Aber solang die Amerikaner gut zahlen, bleib ich ruhig, wahrscheinlich leben eh alle von irgendeinem Rothschild-Geld. Die Gstopften machen sich Tag und Nacht nur a Hetz und a Gaudi und führn an Karniwal auf. Owa mia miassn buckeln und hackln wie die Deppn. Aber wie alle gut gehaltenen Domestiken im Herrenhof halten sie den Mund. Jetzt noch.

Schnell brachten die Kellner das Übliche für diese Gesellschaft – Champagner und Evian originale. Aber da unterbrachen sie ihre überschüssige Freude und starrten auf Frieda und Esi, wie sie so da saßen.
Was ist passiert, wollten die Freunde wissen.
Nur Blicke. Niemand sprach. Frieda wedelte kurz abweisend mit einem weißen Rehlederhandschuh. Gehts weg. Esi hob nur kurz den Kopf, sah zu seinen Freunden auf, dann sank er wieder in sich zusammen. Es saß da wie ein zum Tod Verurteilter. Die anderen schlichteten sich um die Tische und ließen die beiden in Ruhe.

Es war Frühjahr 1936, Essad Bey und Elfriede von Ehrenfels, saßen einander im Café Herrenhof gegenüber, die Arme weit ausgestreckt, hielten sie die Hände des anderen fest umklammert. Beide ließen die Köpfe hängen und starrten wortlos auf ein Papier in der Mitte der Marmorplatte. Wer sie beobachtete, hätte sie für ein innig versunkenes Liebespaar halten können, das Papier ein Liebesbrief.

Für Esi war Frieda eine gute Freundin, die Frau seines Gesinnungsgenossen und Förderers, des Freiherrn Rolf von Ehrenfels, der, so wie er, zum Islam übergetreten war und sich seither Omar nannte. Rolf-Omar hat vieles studiert, interessierte sich am meisten für Anthropologie und östliche Religionen, dilettierte in der Literatur und drehte Stummfilme, die er alle in einem erfundenen Orient spielen ließ. Er musste nicht arbeiten, seine Familie besaß Schlösser und Güter um Prag und im Waldviertel. Außerdem hatte er mit Frieda in eine Familie geheiratet, die aus dem selben Milieu stammte. Rolf und Frieda von Ehrenfels und Willy und Imma von Bodmershof wuchsen gemeinsam auf und heirateten in erster Linie deswegen kreuzweise, um als Viererbande zusammenzubleiben.

Darüber hinaus experimentierten die Paare jeweils mit dem Partner des anderen und konsumierten so manches orientalisches Pflanzenextrakt. Sie taten damit nichts anderes, als was der Vater Christian von Ehrenfels als Professor der Universität Prag gelehrt hatte, in den glücklicheren Zeiten vor 1914. Er trug seine Gedanken zur freien Liebe, Rassen- und Kulturmischung, zur allgemeinen Promiskuität und Möglichkeiten der Bewusstseinserweiterung vor.
Ganz im Sinne des Vaters experimentierten die Geschwister-Paare mit gleichgeschlechtlicher Liebe, Inzest und Drogen. Christian von Ehrenfels war zu seiner Zeit der beliebteste Professor an der Prager Universität. Es mag total verrückt gewesen sein, was er dozierte, bis dahin ex cathedra noch nie gehört – „aber zumindest ist er kein Antisemit“, notierte sein junger Hörer Franz Kafka im Tagebuch. Seine Vorlesungen waren so sensationell und amüsant, dass ihm Hörer aller Fakultäten in Massen zuliefen. Er musste sie manchmal zwei- oder dreimal wiederholen. Sogar Seminaristen in Soutanen standen mit gereckten Hälsen auf den Gängen, um ein Wort von Prof. Ehrenfels zu erhaschen.

Der Jura-Student Franz Kafka musste innerhalb seines Studiums eine Pflichtvorlesung in Philosophie belegen, und er wählte „Praktische Philosophie“ bei Prof. von Ehrenfels. Die Erinnerungen an ihn sind ungerechterweise nicht an seine originäre Grundlegung der Gestalttheorie, nicht an seinen ausgedehnten Briefwechsel mit Sigmund Freud oder seine „rassenbiologischen Forschungen“ geknüpft, sondern an die Tagebucheintragungen des 19- jährigen Studenten F.K. im Sommersemester 1902 über ihn:
„Es ist so vergnüglich, schon am Morgen zu hören, dass das Beste, was einem Menschen passieren konnte, ein paar Tropfen jüdischen Blutes in seinen Adern zu haben.“ Kafka war bei all seiner Begeisterung für Ehrenfels’ Thesen nie imstande, ihnen im Leben zu folgen. Wie er darum kämpfte, lesen wir vor allem in seinen Tagebüchern und Briefen. Es war eher sein Freund Max Brod, der in seinem Ehealltag damit herumexperimentierte.

Jetzt, im Jahre 1936, war das alles undenkbar geworden, sogar zu einer lebensbedrohlichen Gefahr. Esis Fingernägel gruben sich tief in Friedas Handflächen, als wären sie die einzigen Rettungsanker auf der Welt. Sie beide wussten noch nicht, dass es tatsächlich so kommen würde. Natürlich nicht ganz so, aber immerhin würde aus der mondänen Gesellschaftsdame Baronin Elfriede von Ehrenfels die Schriftstellerin Kurban Said werden, der eine der berührendsten und unbekanntesten Liebesgeschichten der Weltliteratur zugeschrieben wird, „Ali und Nino“.

Ali und Nino sind Kinder, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Altstadt von Baku aufwachsen, Ali in einer moslemischen Adelsfamilie, Nino in einer christlichen Kaufmannsfamilie aus Georgien. Ali besucht das zaristische Gymnasium, wo russische Lehrer aus den kleinen Asiaten gute Europäer zu machen versuchen. Vom Dach seines Hauses kann er in den Gartenhof des georgischen Mädchenlyzeums zur heiligen Königin Tamar hinunterblicken. So beobachtet er mit zunehmendem Interesse die heranwachsende Nino, ohne selbst gesehen zu werden. Zuerst verliebt er sich aus der Ferne in das Mädchen, später auch sie in den Gymnasiasten. als sie sich heimlich begegnen. Nino muss als Christin keinen Schleier tragen, und so kann er in die schönsten Augen des Kaukasus schauen. Sie versprechen sich einander, in der Hoffnung, einmal ein Paar werden zu können.

Die Chancen stehen anfangs gar nicht so schlecht, hat doch das Zarenreich das hauptsächlich muslimische Aserbeidschan seit der Eroberung 1823 heftig russifiziert und sieht den Kaukasus als Teil Europas an. Dort sprudelt der erste Ölrausch aus der Erde. Dort tummeln sich Rothschild und Nobel, Investoren und Gastarbeiter, Casinobesucher und Glücksritter aus ganz Europa. Das neue Eldorado. Der junge Stalin, damals noch Dschugaschwili mit dem Kampfnamen Kuba, führt im Untergrund eine bolschewistische Terrorgruppe, organisiert zur Finanzierung der Partei spektakuläre und ertragreiche Banküberfälle. Aber dann kommt die Revolution, und mit der alten Welt versinken auch Ali und Nino. Die drei gehen aber nicht in der Revolution zugrunde, sondern an den strengen Gesetzen der muslimischen Welt.

Mehr von dieser tragischen Liebesgeschichte im Kaukasus am Ende der alten Zeit und am Beginn der Revolution soll nicht verraten werden. Zuerst muss das Geheimnis um Kurban Said gelüftet werden. Das ist schwer genug. Als der Kurzroman 1937 auf Deutsch erscheint, wird hinter dem Pseudonym Kurban Said die Publizistin Frieda von Ehrenfels vermutet. In Wirklichkeit steckt aber der 1905 im zaristischen Baku geborene Jude Lev Avramowitsch Nussimbaum dahinter.

Er war ein Flüchtling der Revolution, so wie hunderttausende andere Russen in den europäischen Hauptstädten. Lev besucht in Berlin das russische Gymnasium und beginnt 1922, sich als Prinz aus dem Morgenland auszugeben, als Sohn eines Ölmagnaten. Etwas, was ganz unmöglich ist, denn im zaristischen Russland durfte kein Jude in den Siedlungsgebieten eine Ölquelle besitzen, nicht im Westen, nicht im Osten des Reiches. In seiner Kindheit in Baku, einer halborientalischen Stadt am Kaspischen Meer, träumt sich der kleine Lev eine andere Familie und eine andere Welt zusammen: Seine Mutter, eine Jüdin aus Warschau, stirbt, als er acht ist, sein Vater, ein Kaufmann, hat nach dem Tod seiner Frau kein Interesse an dem Kind, es ist viel allein und wächst beim kranken Großvater mit einer Haushälterin auf. Die Mutter wird einmal eine polnische Prinzessin, einmal eine der Geliebten Stalins in dessen Bakuer Zeit.
Als er zwölf ist, bricht die Revolution aus, in Baku verüben Moslems Pogrome an Juden, Armenier an Moslems, Russen an Tataren, dann Rote an Weißen, jeden Tag liegen auf den Straßen Leichen, jeden Tag brennen Geschäfte, bis die Bolschewiken siegen und ihre Ordnung herstellen.

Er flieht mit seinem Vater in einer vierjährigen Odyssee übers Schwarze Meer in die Türkei, nach Italien, Paris und Wien bis nach Berlin. Schon als Schüler im russischen Gymnasium verkehrt er in Künstlerlokalen und gibt sich als Journalist aus. Er kleidet sich in einer Phantasiemischung aus 1000 und einer Nacht und Tscherkessenkrieger. Auf Fotos lässt er sich im weiten Tscherkessenmantel mit langem Silberdolch im Gürtel und Patronenstreifen als Revers ablichten, an den Füßen Stiefel aus feinstem Tscherkessenleder, am Kopf entweder eine hohe Fellmütze oder einen Fez. Der Traum vom Märchenprinzen aus dem Morgenland. Unter dem Namen Essad Bey veröffentlicht er zahlreiche Bücher. Vor allem “Blut und Öl im Orient“ wird ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Biografien über Nikolaus II. und Stalin folgen. Er ist plötzlich reich und berühmt. Nach einer kurzen Ehe mit der extravaganten Fabrikantentochter Erika Loewendahl und einem Intermezzo in New York lässt er sich in Wien nieder. Als eine Klatschzeitung verbreitet, Essad Bey halte sich einen Harem, reicht Erika die Scheidung ein. Er verkehrt in den Kreisen der Wiener Boheme, in der die Orientalistik gerade groß in Mode ist. Kurz vor der Okkupation Österreichs flieht er nach Italien, wo er 1942 an Sepsis stirbt, manche sagen, an seinem Opium-Konsum.

Wie weit sich Lev Nussimbaum mit seinen erfundenen Biografien identifiziert hat, wie weit er damit seine jüdische Herkunft verdecken wollte und wie weit er von der Mode des Orientalismus angesteckt war, verraten weder seine Bücher noch die Literatur über ihn. Er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Ich neige dazu, dass er für sich eine Kunstfigur geschaffen hat, die ihm ein bisschen Sicherheit und Glamour gab, in einer Welt, die ihn jagte wie einen herrenlosen Hund.
Hoch oben über dem Golf, außerhalb des Friedhofs von Positano, steht eine schmale Grabstele mit einem Turban an der Spitze. Sie ist nach Mekka ausgerichtet und überblickt die ganze Schönheit der Amalfiküste.

 

Wie viel Tragik verträgt eine Lebensgeschichte?

„Genau zum selben Zeitpunkt greift Hitler nach dem Kaukasus. Im 2. Weltkrieg wollte sich Hitler unter allen Umständen des Öls bemächtigen. Er lenkte den Russlandfeldzug um, nur um an das Öl des Kaukasus heranzukommen. Im September 1942 schenkte ihm sein Generalstab eine gigantische Torte in Form des Kaukasus. In der damaligen Wochenschau kann man sehen, wie Hitler ein Stück davon abschneidet, auf dem in Zuckerguss BAKU steht. `Wenn wir das Öl von Baku nicht bekommen, brüllt er seine Generäle an, dann ist der Krieg verloren!`(……) Die ganze 6. Armee lässt er in Stalingrad im Stich, um nur ja keine Division aus dem Kaukasus abziehen zu müssen. Knapp 2 Jahre später rollen sowjetische Panzer in Berlin ein, im Tank das Öl aus dem Kaukasus.“

Tom Reiss Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey, S XIII, Osburg Verlag, 2005

 

1936 haben die Nazis seine wahre Identität entdeckt; ihm wurde der Anspruch auf sein Vermögen und die Tantiemen abgesprochen, er erhielt Publikationsverbot und war mit einem Schlag völlig mittellos. Er wusste um die Lebensgefahr, in der er als Jude schwebte. In dieser Notlage wandte er sich an seine exzentrischen Wiener Freunde, erfand zusammen mit seiner Freundin Elfriede – Frieda von Ehrenfels – die Autorin Kurban Said und schrieb die Liebesgeschichte von Ali und Nino. Ob sie daran überhaupt Anteil hatte, ist bis heute zweifelhaft. Die russische Stadt Baku und ihre Geschichte, der Lokalkolorit, die Problematik der Landbrücke zwischen Orient und Okzident, die Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges – damit war nur Lev Nussimbaum, alias Essad-Esi Bey, alias Kurban Said vertraut.

Wie kann man sich am ehesten diese „Kooperation“ zwischen Lev und Frieda vorstellen? Er schreibt in seiner Wohnung in der Wallnerstraße Kapitel um Kapitel und bringt sie ins Café Herrenhof, wo Frieda, Omar-Rolf, Willy und Imma und ihre illustren Freunde tagtäglich verkehren. Vor aller Augen, auch vor denen der anderen Gäste und der Kellner, gehen Frieda und Lev-Esi die Papiere durch, diskutieren, korrigieren, lektorieren, lachen und weinen zusammen. Sie diskutieren mit den Freunden viel über den Titel. Omar-Rolf schlägt „Liebe und Tod im Kaukasus“ vor.
Sie nehmen ihn als Arbeitstitel. Esi schreibt in orientalischer Manier auf langen Papierrollen mit einem Federkiel in mikroskopisch kleiner Schrift, die niemand außer ihm lesen kann. Noch 1936 schließen sie den Roman ab.

Es ist ein dünnes Buch, bestehend aus kurzen Kapiteln, spannend, bunt, orientalisch, romantisch, wild – alles wie aus einem Guss. Niemand würde zwei Federn dahinter vermuten. Frieda, zwar noch im kaiserlichen Triest geboren und später viel in Prag, hat Wien ab den Zwanzigerjahren nicht mehr verlassen, nur zu Besuchen im Schloss im Waldviertel. Wie kann sie den Orient beschreiben? Im Herrenhof lässt sich Frieda von der Freundesrunde mit einem großes Fest feiern. Alle können es sehen: Baronin Elfriede von Ehrenfels alias Kurban Said hat einen Roman fertiggestellt. Er erscheint als „Ali und Nino“ 1937 in Wien beim Verlagshaus E.P.Tal & Co und ist kurzfristig ein großer Erfolg.

Ein gewisser Alfred Ibach wird bei Tom Reiss als Arisierer genannt. 1938 flieht Lev-Esi nach Positano, und Frieda kann ihm bis zum Kriegsausbruch noch Geldmittel nach Italien übermitteln. Als sie versiegen, ist er so verzweifelt, dass er sich sogar Mussolini als Biograf anbietet: „Essad Bey und die größten Männer der Weltgeschichte“. Aber der lange Arm der SS reicht im faschistischen Italien bis ins malerische Fischerdörfchen an der Amalfiküste. Kurz bevor er verhaftet und ausgeliefert werden soll, stirbt er 1942. Der Polizeiwagen und der Leichenwagen haben sich fast gekreuzt.

Lev Nussimbaum ist bis heute unbekannt, denn das einzige Buch, das noch übersetzt wurde, „Ali und Nino“, erscheint nur unter dem Pseudonym Kurban Said, auf Englisch in den Siebzigerjahren, auf Deutsch 2014, auf Aseri 2008. Das postsowjetische Aserbeidschan hat sich die süßliche Liebesgeschichte mit dem unglücklichen Ende sogar als eigenen Schöpfungsmythos unter den Nagel gerissen, und das obwohl Kurban Said kein aserischer Name ist, sondern genauso wie Essad Bey (Herr Herr) der Phantasie des Lev Avramowitsch Nussimbaum entstammt. (Baronin) Elfriede (von) Ehrenfels, geb. Bodmershof, starb 1984 88-jährig auf Schloss Lichtenau. Sie hat nie auch nur ein einziges Wort über Kurban Said oder Essad Bey geäußert.

Quellen: Ali und Nino von Kurban Said, List Taschenbuch, 2014
Der Orientalist von Tom Reiss
Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre 1883 – 1910
Kurban Said: Der Mann, der nichts von Liebe wusste. Unveröffentlichte Tagebücher Veronika Seyr: Phantasie über einen Roman-Anfang

beg. 28.6.18, beendet 5.2.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 22039

Im Zeichen des Hasen

Die erste Begegnung mit Adolf Muschg

Sein erster Roman kam 1965 bei Fischer heraus. Ich kaufte das dünne Bändchen „Im Sommer des Hasen“ und verschlang es, fraß es auf, immer und immer wieder. Es war meine initiierende Begegnung mit dem geheimnisvollen Reich Japan. Ich, damals eine 17-jährige Gymnasiastin aus der österreichischen Provinz, er ein 31-jähriger Jungstar aus Zürich. Eigentlich fand ich ihn uralt, um sieben Jahre älter als mein ältester Bruder. Das war die absolute Grenzmarke. Darüber gab es nur noch das Alter, die nächste und übernächste Generation.
Die zarte Liebesgeschichte zwischen der jungen Japanerin Yoko und einem älteren Mann aus Europa, auf Lesereise durch Japan, berührte mich zutiefst und bestärkte meine eigenen Sehnsüchte nach dem Ausbruch aus dem bürgerlichen Milieu, raus in andere Kulturen und vermeintlich feste Grenzen überschreiten.

Ich stand damals noch am Anfang der Erkenntnis, zwischen Werk und Autor unterscheiden zu können. Ich verliebte mich in einen Text oder in die Welt dahinter und übertrug die jugendliche Schwärmerei auf den Autor. An weibliche Identifikationsfiguren von damals kann ich mich nicht erinnern. Die traten erst später auf, als ich mit der Frauenbewegung in Berührung kam.
Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek, Marlen Haushofer, das waren die ersten. Zwei Jahre nach dem „Sommer des Hasen“ begann ich mit Germanistik an der Universität Wien. Ich weiß es noch genau, dass ich zur Lesung im Audimax das zerlesene, rundherum angestrichene und bunt beklebte Bändchen mitnahm, in der Hoffnung, ein Autogramm zu ergattern. Eigentlich war ich keine klassische Unterschriftensammlerin, nur hatte ich schon verstanden, dass das ein Einstieg in ein Näherkommen sein konnte.

Muschg war damals Gymnasiallehrer und litt seit früher Jugend unter Hypochondrie. Der eingebildete Kranke. Darum ging es auch in seinem ersten Theaterstück „Rumpelstilz“, um Ferdinand Raimund, in Person des hypochondrischen Gymnasiallehrers Benjamin Pilz. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass Muschg Kontakt mit Menschen aus Angst vor Ansteckungen mied. Das wird sich durch alle viele seiner Werke in verschiedensten Personen und Konstellationen ziehen.

Am Anfang steht A. Wer von seinen Eltern mit dem Namen Adolf gebrandmarkt wurde, ist 1968 in Wien grundsätzlich verdächtig. Aber auch schon Adolf Muschgs Vater hieß Adolf und wurde im schweizerischen Braunstadt, nicht im innviertlerischen, 17 Jahre nach A.H. in Zürich geboren. Adolf war im deutschen Sprachraum ein gebräuchlicher Name. Westgotisch rex, König der Wölfe. Alles lange vor dem schrecklichsten Adolf der Weltgeschichte, dem A. H-Schicklgruber. Adolf Muschg, der Schriftsteller, wurde 1934 in Zollikon, im Kanton Zürich, geboren.

Ich war als einfache Zuhörerin nicht eingeladen zur Tafelrunde danach im Hinterzimmer des Café Landtmann. Lange, U-förmige Tischreihen mit weißen Tischtüchern und schwarz-befrackten Kellnern. Hinter den Stühlen der geladenen Gäste drängten sich natürlich viele Hörer des Audimax, Journalisten und Fotografen und wer weiß, wer noch alles. Ich glaube nicht, dass Bezeichnungen wie Fan oder Groupie bei uns damals schon gebräuchlich waren. Aber ich war sicher einer von ihnen. Vielleicht sogar in einer Stimmung wie die hysterischen Teenager bei einem Konzert der Beatles. Wer Platz an der Tafel gefunden hatte, bekam einen Teller mit Würsteln serviert und Körbchen mit Gebäck. Senf und Kren, Wasser, Rot- und Weißwein.

Langsam und beharrlich kämpfte ich mich durch das Gedränge nach vorne zum Tisch an der Kopfseite. Ich war klein und schmal, aber wendig. Da saß mein Held, mein Star, Adolf Muschg, im Gespräch mit wichtigen Kulturbeamten und Professoren, die ihn nach Wien eingeladen hatten. Dozenten und Assistenten waren sicher auch dabei. Die ersten Blicke auf ihn zwischen hohen Männerschultern. Ich fand ihn unaussprechlich schön und interessant, das gewellte Haar, die vollen Lippen, die großen Augen mit den üppigen Augenbrauen. Von der Unterhaltung bekam ich wegen des allgemeinen Lärms nichts mit: Gespräche und Blitzlichtgewitter, Teller- und Gläserklirren, Bestecke und Zurufe. Langsam schob ich mich vor in die erste Reihe hinter den Stühlen.

Ich war ihm fast ein wenig bös, dass er wie ein normaler Mensch ins Würstl biss und die Semmel in Senf und Kren tunkte. Ich hatte damals noch überhöhte Vorstellungen von Heldentum, Ehre, Würde und Erhabenheit. Wer gefiel, wurde auf ein Podest gestellt, bekam einen Heiligenschein und wurde in ein übermenschliches Geheimnis gehüllt. So werden Götter gemacht. Ich erinnere mich genau an den schrecklichen Moment, als einmal meinem Vater beim Bücken ein Wind entkam. Nur ein kurzes, dumpfes Pu, und vorbei war’s mit der Gottgleichheit. Jetzt im Landtmann schämte ich mich für das quietschende Geräusch, das das Kaiserwürstl machte, als es zwischen seinen Zähnen verschwand. Die resche Kaisersemmel krachte genauso wie bei allen Sterblichen. Diese Banalität hatte ihn in meinen Augen ein bisschen „entgöttert“.

Aber so schnell gab ich nicht auf. Als ein Mann an seiner Seite aufstand, quetschte ich mich blitzschnell auf den freiwerdenden Sessel und rückte sofort das Fischer-Bändchen heraus, samt Kuli und der Bitte um ein Autogramm. Er schaute von seinem Teller auf, verzog das Gesicht, rückte etwas ab und verschluckte seinen letzten Bissen. Während er Gabel und Messer an den Seiten des Tellers verstaute, langsam die Lippen mit der weißen Stoffserviette abtupfte, stieß ich atemlos meine Fragen hervor:
Hat Yoko wirklich so ausgesehen, war sie so übernatürlich schön, ist das alles so passiert wie im Buch, werden sie sich wiedersehen, gibt es eine Fortsetzung, kann man als Europäer überhaupt die japanische Kultur verstehen? Und was ist mit den Ainu, den Urjapanern im Norden, auf Hokkaido und den Kurilen? Sowjetische Besetzung und japanische Unterdrückung? Was sagen Sie als Schweizer zu dieser Ungerechtigkeit? Yoko war doch eine von den Ainu?

Damals kam ich mir unheimlich klug vor, aber ich werde noch heute rot darüber. Dumme Fragen zur Literatur und zur Politik, die er als Schriftsteller nicht beantworten musste oder konnte. Das Einzige, was ich wollte, war brillieren und ihm auffallen. Er nahm den Kuli und kritzelte seine Unterschrift auf die erste Seite mit den drei Fischen. Er beantwortete keine meiner Fragen, sondern setzte zu einer Erklärung an: Er interessiere sich nicht für Frauen, die sich für seine Bücher interessierten, er möchte nicht mit Frauen über Bücher sprechen, am liebsten seien ihm Japanerinnen, die kein Wort Deutsch könnten und ihm nie solche Fragen stellen würden. Sogar eine taubstumme Japanerin wäre ihm lieber als … Und überhaupt gebe er als neutraler Schweizer zu politischen Fragen keine Kommentare.

Dann warf er seine Serviette auf den Tisch, stieß den Thonet-Stuhl heftig zurück und stand auf. Ich sah ihn noch Richtung WC verschwinden, dann wurde er von der Menschenmenge verschluckt. Ich drängte nach draußen, über die Terrasse auf die Straße, links das Burgtheater, gegenüber das Rathaus, dazwischen der Ring. Nichts wirklich etwas zum Anhalten, da die Bäume schwankten und der Boden unter mir einbrach. Anfangs verstand ich nicht, was da gerade geschehen war, nur dass es etwas Schreckliches gewesen sein musste. Ich lief im Zickzackkurs und schlug Haken am Gutenberg-Denkmal vorbei über den Platz neben der Burg, als hetzte eine Jagdgesellschaft hinter mir her.
Trost suchte ich bei der steinernen Sisi im Volksgarten und warf mich heulend auf die weiße Marmorbank. Das war schon oft mein Rückzugsort vor der Uni gewesen. Wenn nur das Seerosenbecken tiefer gewesen wäre, ich hätte mich darin ertränkt. So eine Abfuhr hatte ich noch nie bekommen. Mir war schlecht, und das ganze Gesicht brannte von dem Schlag, auch die Augen, die Ohren und die Seele. Ich fühlte mich gedemütigt und besudelt.

Ich kühlte mein heißes Gesicht an ihren kalten Marmorfüßen und schluchzte hinein: Warum kann ich nicht japanisch und taubstumm sein. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause, im Bummelzug vom Franz-Joseph-Bahnhof nach Tulln an der Donau.

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, mich von dieser Schmach und Schande zu erholen, von meiner eigenen und der, die er mir angetan hatte. Vergessen habe ich sie aber nie und danach nie wieder versucht, einem angehimmelten Schriftsteller persönlich näherzukommen, bis ich es 28 Jahre später als Kulturbeamtin beruflich machen musste. Seine nachfolgenden Bücher las ich alle, mit mehr seelischem Abstand als beim Hasen, und verfolgte seinen Lebenslauf: immer mehr Lehraufträge und Reisen, politische Engagements, Erfolge und Misserfolge, Dozentur in Japan, erste Heirat mit einer Schweizerin, Professur, Akademie, zweite Ehe mit einer anderen Schweizerin, 1991, mit 57, eine dritte Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto, lebt ständig in Japan, insgesamt drei Söhne, mehrere Romane und Essays über Japan und die Kritik daran. Japanlastigkeit und Europaunverständnis lastet man ihm an.

Alles Blödsinn, ein Schriftsteller darf immer alles im Rahmen seiner Kunst – und darüber hinaus. Dann musste ich schon einmal sehr schmunzeln, dass er seit dem „Sommer des Hasen“ immerhin 26 Jahre gebraucht hat, eine Japanerin zu finden, die ihm offenbar keine dummen Fragen zu seinen Büchern stellte. Ich hoffe nur, Atsuko ist nicht taubstumm.

31.1.21, 1.2. bis 3.2.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 22036

 

Wie der russische Geheimdienst den Schriftsteller W. Somerset Maugham anfütterte

Im Sommer und Herbst 1916 stand die Entente auf der Kippe. Die Lage der zaristischen Truppen an der Ostfront war dramatisch, und die britische Krone befürchtete, dass der Zar unter dem Druck der Mittelmächte die Seiten wechseln könnte. Dazu drängte der undurchsichtige Wanderprediger und Wunderheiler Rasputin die Zarin, und diese den Zaren, den Krieg zu beenden. Die Mittelmächte, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, hatten natürlich Kenntnis davon, dass die Forderungen des russischen Volkes nach Brot und Frieden (chleb i mir) auf den Straßen St. Petersburgs und Moskaus immer lauter wurden. Die bolschewistische Agitation fiel auf fruchtbaren Boden. Das deutsche Kaiserreich arbeitete daran, mit Russland einen Separatfrieden auszuhandeln. Das musste aus Sicht der Entente unter allen Umständen verhindert werden, die russischen Truppen mussten weiterkämpfen, auch wenn sie schlecht ausgerüstet waren, zu wenig Waffen hatten, Hunger litten und an Seuchen starben wie die Fliegen. Ein Separatfrieden mit Deutschland würde bedeuten, dass eine halbe Million deutsche Soldaten an der Ostfront freigesetzt und an die Westfront verlagert werden könnte. Das wäre der Todesstoß für die Entente gewesen. Deutschland wäre in der Lage gewesen, die anglo-französischen Fronten zu überrollen.

Da kam das Intelligence Department ID, der britische Auslandsgeheimdienst, der spätere MI 6, auf die Idee, der Botschaft Seiner königlichen Majestät in St. Petersburg eine Geheimwaffe beizustellen. Wer diese Blitzidee hatte und warum die Wahl gerade auf diesen Mann fiel, geht in den wirren Wogen der Geschichte unter. Auf jeden Fall wurde der als erfolgreicher Theaterschriftsteller bekannte W. Somerset Maugham vom ID Ende 1916 bis Oktober 1917 als Geheimagent nach St. Petersburg beordert. Er hatte zuvor schon kurz in Italien, der Schweiz und in den USA gedient, aber über Russland keinerlei besondere Kenntnisse. Er verfügte neben Englisch und Französisch auch über gutes Deutsch, hatte er doch ein Studienjahr mit Literatur und Philosophie in Heidelberg verbracht. Später wandte er sich von diesen Studien ab, studierte auf Druck seines Onkels und Vormunds erfolgreich das Fach der Medizin und schloss es am Londoner King’s College ab.

Mit einem Theaterstück über ein Londoner Armenkrankenhaus verdiente er sich seine ersten literarischen Sporen, handelte sich einen Theaterskandal, aber auch Geld und Berühmtheit ein. Bei Kriegsbeginn 1914 machte er Dienst beim Roten Kreuz, wo ihn der britische Geheimdienst rekrutierte. Er wurde nach Italien, in die Schweiz und in die USA geschickt.
Warum ein bekannter Schriftsteller, der in allen Klatschspalten zu Hause war, sich zum Geheimagenten eignete, wird wohl nie zu enträtseln sein. Nichts in aller Welt hatte William Somerset Maugham dazu prädestiniert, einen Beitrag zum alliierten Sieg zu leisten. Nach dem frühen Tod seiner Eltern steckte ihn sein Onkel und Vormund in ein rigides englisches Internat. Somerset Maugham war lange Zeit Bettnässer und Stotterer.

In London verstummten nie die Gerüchte, dass W. Somerset Maughams Spionagetätigkeit durch die homophilen Neigungen eines Vorgesetzten befördert worden sein soll. Es kann etwas dran sein, lebte er doch nach dem Krieg in seiner Villa an der Côte d’Azur offen mit seinem Sekretär zusammen. Dass er gleichzeitig von der russischen Geheimpolizei und vom amerikanischen Geheimdienst überwacht wurde, ist erst viel später herausgekommen. Auch deutsche Quellen reklamieren Maughams Aktivitäten für sich.

Die Aufgabe der britischen Heeresführung war es, nach der Abdankung des Zaren und der Februar-Revolution die provisorische Regierung von Großfürst Lwow und Alexander Kerenski an der Seite der Entente zu halten und einen Separatfrieden mit den Mittelmächten unter allen Umständen zu verhindern. An der Seite des britischen Botschafters bereiste Maugham alle Fronten, von Riga im Norden, Mogiljow, dem Hauptquartier der russischen Armee in Weißrussland bis nach Südosten an die rumänisch-ungarische Front.
Agent 007 verfasste viele Berichte, sehr viele Berichte an das ID, über die Lage der russischen Armee, vom Zustand der Waffenproduktion in den Munitionsfabriken, des Nachschubs und den Massenprotesten gegen den Krieg.

Allein aufgrund der Anzahl der Berichte vermutet man, dass der Spion Maugham mehr an seinem Schreibtisch gesessen sein muss als im Terrain unterwegs gewesen zu sein. Nach der Oktoberrevolution kehrte er nach London zurück, heiratete eine reiche Erbin, sie bekamen eine Tochter, und er begab sich jahrelang auf Reisen durch das British Empire: Indien, Südost-Asien, China, durch die Karibik und Südamerika. Er veröffentlichte zahlreiche Reiseerzählungen in Massenauflagen, meistens mit „Englishmen abroad“ als Helden. Faszinierende, funkelnde Welten mit viel Lokal- und Zeitkolorit, meist in britischen oder französischen Kolonien. Er wurde noch reicher und berühmter.

1928 ließ er sich scheiden. Da brachte er seinen halb-autobiografischen Roman „Ashenden. Or The British Agent“ (Der Abstecher nach Paris) heraus, in dem er aus dem Nähkästchen seiner Agententätigkeit in ganz Europa plaudert. Eine Arbeitsanleitung für Spione zwischen der Entente und den Mittelmächten. Aber nicht nur von den Fronten, sondern aus den Palästen und Bordells in St. Petersburg in den letzten Wochen des Zarenreiches und den wenigen Monaten bis zur Oktoberrevolution. Der Tanz auf dem Vulkan im sterbenden Imperium, Paläste und dunkle Gassen, Intrigen, Morde, Gelage, Geheimdiensttätigkeiten, höchste Adelskreise, Mätressen, Balletteusen und Huren in Zigeunerkaschemmen, Verfolgungsjagden in Pferdeschlitten, Verhaftungen, Feme und Aberglauben, revolutionäre Arbeiter und Verschwörungen. Eine wilde Mischung von Ereignissen, Figuren und Erfindungen aus dem Fegefeuer des Weltuntergangs.

Möglicherweise wird niemand erfahren, was selbst erlebt und was ausgedacht ist. Manche Informationen werden ihm von der russischen Geheimpolizei angefüttert worden sein, manches wird er gekauft haben. Er verbrachte viele Nächte in den großen Hotels und deren Hinterzimmern, im Astoria, im L’Europe und im Kempinski, in Künstler-Cafés und Homosexuellen-Treffs, im Streunenden Hund und im Grünen Kakadu. In beiden Kulturen gleich zu Hause, galt er als Inbegriff des englischen Gentleman und des eleganten Parisers. Er kam bei beiden Geschlechtern gleich gut an und war von seinen Auftraggebern mit reichlichen Mitteln ausgestattet. Erst lange nach dem Krieg kam heraus, dass er in seiner Petersburger Zeit auch für den amerikanischen Geheimdienst tätig war. Der russischen Polizei war das bekannt, ebenso dem deutschen Geheimdienst, sie ließen ihn aber gewähren. Mr W. Somerset Maugham war einfach zu unwiderstehlich und zu prominent.

Das meiste ist wahrscheinlich erfunden. Aber das Londoner Publikum war verrückt nach solchen Blut- und Mantel-Geschichten, Unterhaltungsliteratur auf höchstem Niveau: Mit schmallippigem Humor, kritischer Distanz und subversiver Skepsis gegenüber der Wahrheit, gleichzeitig realistisch und lebensnah, baut er jede seiner Figuren zu einem Juwel an Menschenzeichnung aus. Seine Erzählungen versprühen die Atmosphäre der Kolonien kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er zeichnet eine Fülle an funkelnder Personage, von Militärs bis zu Sträflingen, von Schiffspassagieren bis zu Bordelldamen, von britischen Touristen auf Capri bis zu windigen Abenteurern, von Bankern bis zu Bankräubern. Es ist billigster Trash und Kitsch, aber meisterhaft erzählt. Er lässt alles offen und mutet das Urteil seinen Lesern zu.

Warum ich nach Jahrzehnten wieder auf W. Somerset Maugham gestoßen bin: Einmal lag im Vorhaus auf dem Fensterbrett, wo die Bewohner das hinlegen, was sie nicht mehr brauchen, aber nicht gleich wegwerfen wollen, was für andere vielleicht einen Wert haben könnte, das Diogenes-Bändchen „Winterkreuzfahrt“ von W. Somerset Maugham, gesammelte Erzählungen, Band IX, 1972. Ich las es durch, kaufte alles von ihm und war bis Band XVII fasziniert. Dann habe ich ihn natürlich gegoogelt und wurde immer weiter hineingezogen in diese schillernde, untergegangene Welt des British Empire.

Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass W. Somerset Maugham kein angenehmer Mensch war. Böse Äußerungen über seine geschiedene Frau, über die Dummheit seiner Leser, der erbitterte Streit um die Tochter und seine große Flexibilität bei der Spionagetätigkeit deuten mehr als deutlich darauf hin. Aber moralische Urteile dürfen nie den Blick auf den künstlerischen Wert eines Werks verstellen.

Ich habe nach und nach alles gelesen und weiter recherchiert, auch in der Biografie. In meiner eigenen Bibliothek habe ich nach Maugham gesucht und seinen letzten Roman „Catalina“ gefunden, ein zerlesenes Bändchen, wahrscheinlich auch aus einer Wühlkiste. Ein Schauerroman aus der spanischen Inquisition.

Mit Ashenden war ein neuer Heldentypus geschaffen: der Geheimagent Seiner Majestät, (Bond. James Bond), lebenslustig, liebeswütig, gesetzlos, moralfrei. Keine Geringeren als Graham Greene, Eric Ambler und Ian Fleming bekennen, dass sie in ihrer Jugend von Ashenden begeistert waren und zum Schreiben in seiner Art angeregt wurden. Grelle Antagonisten – gut gegen böse – dazwischen ist alles erlaubt und möglich im Kalten Krieg. John le Carré war so sehr initiiert, dass er dem MI 6 beitrat. Auch er hatte vorher in Deutschland Philosophie und Literatur studiert. Maugham wiederum soll von Joseph Conrads „Das Herz der Finsternis“ beeinflusst worden sein, von dem anglisierten Polen Jozef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski.

James Bond hat seine Wurzeln in St. Petersburg und nicht in der Karibik.

Nach diesem sensationellen Erfolg von Mr. Ashenden kaufte W. Somerset Maugham die frühere Villa des belgischen Königs Leopold II. auf Cap Ferrat bei Nizza, wo er sich zusammen mit seinem Geliebten und seiner exzellenten Kunstsammlung einrichtete. Dieser selbst könnte mit seiner Karriere als Fälscher, Schwindler und Dieb eine Erfindung des Autors gewesen sein, mit sowohl proletarischer als auch kolonialer Vergangenheit. Mit seiner geschiedenen Frau stritt er 30 Jahre lang um die Erziehung ihrer gemeinsamen Tochter. Sein letzter Partner prozessierte noch nach dem Tod des Schriftstellers gegen die Tochter um das Erbe.

Meine Lehre ist: Literatur ist stärker als Spionage. Ein Autor hat aus seinem Leben ein Gesamtkunstwerk geschaffen.

23.12.21, beendet 31.1.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 22035

Wie uns ein Schatz verloren ging, den wir nie hatten

Es mag etwa Anfang 1998 gewesen sein – auf jeden Fall war ich noch jung im Amt –, da meldete mir meine Sekretärin, ein gewisser Iwanov möchte die Kulturrätin sprechen. Einen Moment lang dachte ich an einen Scherz der guten Frau Schwaner, weil jeder zweite Russe Iwanov heißt und das etwa so vielsagend ist, wie wenn sich ein Herr Maier oder Huber anmeldet.

Aber es war zu dieser Zeit noch so ungewöhnlich, dass sich ein gewöhnlicher Bürger in eine westliche Botschaft wagte, dass ich ihn herauf in mein Büro bat. Es war ein älteres Männlein von unbedeutendem Aussehen, ein gequälter Sowjetbürger mit schlechten Zähnen und schlechter Kleidung in abgetretenen Schuhen, wie man sie immer und überall sieht. Das einzig Ungewöhnliche an ihm war eine große, lederne Aktentasche von ansehnlichem Alter. Er stellte sich vor als Dmitri Alexandrowitsch Iwanow, pensionierter Postbeamter aus Mogiljow. Das ist doch Weißrussland. Ja, Belarus. Er gab vor, in Moskau bisnis zu tun zu haben und wollte dabei der österreichischen Republik einen Schatz anbieten, der für sie von Interesse sein könnte. Umständlich holte er aus seiner Aktentasche mehrere papki, Papiermappen, hervor und zeigte mir seinen Schatz. Ich blätterte sie durch und sah eine große Anzahl von Schwarz-weiß-Bildern von einer Front, der russischen Westfront von 1917.

Die Fotografien waren feinsäuberlich auf Pappkartons aufgeklebt, untertitelt mit Ortsnamen und Datum: 18. Juli 1917, Soborow, 19. Juli, Kalusch, 22. Juli, Krewo und Smorgon. Einige Postkarten mit Landschaften waren dabei und Konterfeis von damaligen Politikern und Militärs. Die Generäle Brjussilow, Denikin, Koltschak, Samsonow und von Kerenski, das waren die mir bekannten Namen. Sogar Bilder von Großfürst Lwow und anderen Regierungsmitgliedern  waren dabei. Die meisten Fotos zeigten aber Stellungen von der Front, Soldaten in Gruppen unter Bäumen, Soldaten in Reih und Glied, die irgendjemandem salutierten. Immer wieder Kerenski umgeben von Militärs, auf Rednertribünen und unter einfachen Soldaten. Einklebte Ordensbändchen und Medaillen. Eindeutig: die russische Armee bei ihrer Sommeroffensive 17 gegen die Mittelmächte, die österreichischen und deutschen Truppen. Der letzte, entscheidende Schlag.

Iwanow erklärte, er habe diese Sammlung von seinem Großvater geerbt, der sei Soldat in der Elften Armee der Südwestfront gewesen. Das bezweifelte ich sofort, denn kein einfacher Frontsoldat hätte solche Fotos machen und ein solches Konvolut anlegen können. Der allergrößte Teil des Fußvolkes waren einfache Bauern, Analphabeten, nach drei Jahren Krieg und vielen Verlusten waren es nur noch schlecht ausgerüstete und unterernährte Rekruten, die man zusammenfing zum letzten Aufgebot.
Kein Frontsoldat könnte eine Kamera gehabt haben und Gelegenheit, solche Fotos zu machen. Einige Bilder zeigten Frontabschnitte und Schützengräben in gebirgigen Gegenden, wahrscheinlich die Südostfront in Rumänien oder flachen Meeresgegenden wie bei Riga. Sie hatten alle eine Art von offiziellem Charakter, waren keine Schnappschüsse, sondern zu Propagandazwecken aufgenommen worden: eine Gruppe von Soldaten, entspannt unter einem Baum lagernd wie nach einem fröhlichen Picknick, in die Kamera lächelnd, Soldaten, die mit lachenden Gesichtern Schützengräben ausheben oder Pferde pflegen wie auf einem Reiterhof. Liebe Grüße von der Front! Keine Bilder von Dreck, Schlamm, Kälte, Hunger, zerfetzten Körpern, vergasten Menschen, verendeten Pferden und verbrannten Dörfern.

Ein Album anlegen, beschriften mit Koordinaten, Ort, Datum, weißer Schrift auf schwarzem Papier.

Unmöglich. Wer war der Fotograf, wer der Sammler? Ich war Feuer und Flamme und furchtbar aufgeregt. Wo waren sie gelagert? Wie hatten sie die letzten 80 Jahre überstanden? Hat dieser Iwanov sie gefunden oder gestohlen? Waren sie schon einmal in einer größeren Sammlung, in einem Museum? Ich hatte damals schon Solschenizyns Kriegsroman „Das Jahr 1918“, Kerenskis selbsterhöhende Memoiren und andere Literatur über den Ersten Weltkrieg gelesen, historische und belletristische, und daher einiges über den erbärmlichen Zustand der russischen Armee.

Joseph Roth, Gregor von Rezzori, wer hat noch geschrieben? Entweder war sein Großvater im Stab des Oberkommandos von Mogiljow gewesen oder mit Kriegsberichterstattung beschäftigt. Unwahrscheinlich. Eher war Herr Iwanow anderweitig an diese historischen Dokumente gekommen. Allein die mögliche Provenienzgeschichte ließ mein Herz höher schlagen und trieb das Blut in die Wangen. Ich hoffte, Iwanov hatte nichts bemerkt und ich habe nicht ausgesehen wie der Pawlow’sche Hund bei der Klingel mit der Wurst, mit saftelnden Speichelfäden an den Lefzen.
Zum Glück war Iwanov viel zu sehr damit beschäftigt, seine Schüchternheit und die Scham über das Verlangen nach dollari zu bekämpfen. Dabei musste ich mich bemühen, mir nichts von meinen Zweifeln an seinem Großvater anmerken zu lassen, fragte nur, warum er meine, dass seine papki – Papiermappen, er sagte immer bumaschki-Papierchen für Österreich interessant sein könnten. Sie zeigen doch auch die avstrizi i nemzi, überall im Hintergrund oder am Horizont sind die feindlichen Stellungen zu sehen. Da ist der Rauch von den feindlichen Kanonen, da über den Bäumen. Ich sehe sie nicht, nur Wolken, Wälder, Hügel, Wiesen, Hütten, Heuschober. Das ist Galizien und Ostpolen, das war damals österreichisch, die Ostfront. Ich war keine Spezialistin für Kriegsfotografie.

Aber aha, in so eine Gegend könnte die Journalistin Alice Schalek in Karl Kraus’ bösartigem Verriss hineingeschaut haben, als er sie das Bumsti! ausrufen ließ und der k. und k. akkreditierten Kriegsberichterstatterin der Neuen Freien Presse damit ein Negativdenkmal setzte. Aber Karl Kraus hätte seine Freude gehabt an Iwanovs Foto-Sammlung. Er bezog die Quellen für sein Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“, nicht nur Originalzitate aus Zeitungen und Armeeberichten ein, sondern war besonders angetan von Fotografien, Postkarten, k. und k. Plakaten und Reportagen. Ich glaube, dass er beim Durchblättern der Iwanow’schen Mappen Spontanfieber bekommen hätte, wenn es so etwas gibt.

Herr Iwanov wollte die Sammlung verkaufen, das war der Zweck seines Besuches in der österreichischen Botschaft. Ich hielt ihn für sehr mutig, er musste in großen Nöten sein. Aber Russland hat doch ein viel größeres Interesse an seinem Schatz? Er soll ihn doch den vaterländischen Archiven, Bibliotheken oder Ministerium anbieten. Oder zumindest einem auf Historie spezialisierten Antiquitätenhändler. Er schnaubte durch die Nase und machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei er in Russland damit schon von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ich konnte das gut nachempfinden, wusste ich doch, in welchem Chaos Russland damals lag. Wirtschaft, Bürokratie, Gesellschaft und Wissenschaft hatten sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion noch nicht erholt. Die zahlen nichts oder nur ein paar zerquetschte Rubel, aber er braucht dollari, valjuti. Aha, ich verstehe. Nichts verstehe ich. Seine Tochter hat in Mogiljow Anglistik studiert, jetzt will sie nach Großbritannien auswandern, wie so viele Junge. Brain drain. Dafür braucht sie Geld, bis sie eine Arbeit findet, gleich welche, nur weg aus Belarus! Er wünscht ihr Erfolg, ist aber unglücklich, dass sie so weit weg von ihm leben wird.

War er schon bei der deutschen Botschaft? Neinnein, dort will er auch nicht hin. Eigenartigerweise empfindet er sie mehr als Feinde als die Österreicher. Der Zweite Weltkrieg wirkt da auch noch nach, wo die Russen die Österreicher kaum als Mittäter wahrnehmen.

Ich nehme mich sehr zusammen, um die Anzeichen meines Interesses zu unterdrücken und vorsichtig auszuloten, ob er mir seine Sammlung überlassen könne. Die Botschaft und ich selbst können nichts kaufen, ich müsste erst an das Außenministerium einberichten, und dieses beim Verteidigungsministerium, Staatsarchiv und Heeresgeschichtlichen Museum das Interesse erkunden, Begründungen schreiben, Herkunftsnachweise einholen, Kopien einsenden, viel Arbeit. Die würden dann über einen Ankauf entscheiden und einen Preis festsetzen. Das kann dauern, wenn überhaupt. Herr Iwanov ist sichtlich enttäuscht, dass er heute nicht mit einem Bündel dollari nach Hause fahren würde, lässt sich aber nach Aushändigung einer Empfangsbestätigung dazu bewegen, seinen Schatz in meiner Obhut zu belassen. Ich nehme seine Daten auf und ersetze ihm die Reisekosten zurück nach Mogiljow. So viel ist mir erlaubt, aus der Handkasse freihändig auszulegen.

198 Rubel, 2. Klasse. Ich war Feuer und Flamme, das waren Fotos zur Hälfte der etwa 220 Szenen der letzten Tage der Menschheit!
Zuletzt fragte ich Herrn Iwanov noch, was er sich als Kaufpreis vorstelle. Vielleicht 500? Mit Fragezeichen und wagte diese ungeheure Summe nur zwischen seine Knie zu seinen Schuhen auf den Boden zu hauchen. Ich fiel fast in Ohnmacht angesichts vor so viel Unwissenheit und Bescheidenheit, murmelte aber nur: Das ist möglich.

Dann begann mein Ritt durch die österreichische Bürokratie. Ich war noch so frisch auf meinem Posten, dass ich nichts ausrichten konnte, ohne die Hilfe meiner Sekretärin, Frau Schwaner, die fast ihr ganzes 35-jähriges Berufsleben in allen Weltteilen für das Außenministerium gedient hatte. Sie lachte sich noch immer krumm und bucklig, dass ich den Unterschied zwischen Akt und Akten nicht kannte, das Amtsdeutsch nicht beherrschte und meine Berichte ans Amt wie literarische Kleinode ausstattete. „Fürn Akt gehn S’ ins Schlafzimmer oder ins Theater, für die Akten bin ich zuständig.“ Die talmudischen Geheimnisse der Aktenzahlen habe ich bis zuletzt nicht begriffen.
Dafür hatte ich einen Riecher für historische Schätze, eine feine Nase wie eine südamerikanische Schnüffelmaus. Mit ihrem Erfahrungsreichtum warnte sie mich von Anfang an: „Do kummt nix aussi, Frau Seyr. Lossn S’  des, nix wie leere Kilometer. I kenn des Amt, des können S’  ma glauben.“ Ich glaubte ihr wie immer, war aber in meiner Schatzjägerei nicht zu bremsen. Und natürlich unternahm sie alles, um aus der Akte (nicht dem Akt!) „Mogiljow“ einen Erfolg zu machen. Der Herkunftsnachweis würde das Schwierigste sein, das Unmögliche. Auch davor warnte mich Frau Schwaner. Ihnen schwant immer etwas. „Ja, ich kenn’ meine Pappenheimer im Amt.“

Bericht ans das Amt mit Fotokopien mit Bitte um Behandlung und Weiterleitung an alle möglichen interessierten Stellen. Schweigen im Walde, lange Zeit, nur die Bestätigung des Posteingangs. Währenddessen saß ich mit der Lupe über den Fotos im Büro, stundenlang abends und nachts nach den Dienststunden. Sie nach Hause zu nehmen, habe ich nie gewagt, immer im Tresor verschlossen. Daneben nahm ich mir die gesamte mir zugängliche Literatur zum Ersten Weltkrieg wieder vor, besonders das Schicksalsjahr 1917. Ich ging sogar in die Lenin-Bibliothek und hob sowjetische Werke aus, ins Kriegsarchiv, das damals für eine kurze Zeitperiode allgemein zugänglich war. Ich schrieb außertourlich das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsforschung an und einen Studienkollegen vom Institut für Osteuropäische Geschichte, damals längst Professor. Die beiden letzteren waren ebenso begeistert wie ich, mussten aber ebenfalls den Dienstweg einhalten.

Zar Nikolaus II. verlegte 1915 das Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der Armee nach Mogiljow. Ab da gab er sich als großer Feldherr, der Zar, der schon in Friedenszeiten seine kaiserlichen Pflichten kaum gemeistert, die Amtsgeschäfte gehasst, die Zeit am liebsten mit seiner Familie verbracht, und wenn er getrennt war, ununterbrochen Briefe an seine Frau geschrieben hat.
Er konnte kaum eine Seite zusammenhängend lesen und tat sich schwer beim Schreiben. Nikolaus hörte mehr auf den selbsternannten Popen und Wunderheiler Rasputin als auf seine Generäle und führte seine Armee auf dem geradesten Weg in den Untergang. Ich kam zu dem Schluss, dass die Fotosammlung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 zusammengestellt wurde, weil der Zar nirgendwo auftaucht, dafür aber viele Fotokarten vom eitlen Kerenski, der als Kriegsminister der Provisorischen Regierung und später als ihr Ministerpräsident wie in einer Raserei die Fronten abfuhr und sich immer wieder im Hauptquartier von Mogiljow aufhielt und geschönte Fotografien als Andenken für die analphabetischen Frontsoldaten herstellen ließ.

Er war ein guter Agitator, vor allem in den kritischen Monaten März, April und Mai 17, als sich die Armee nach vielen Meutereien und deutscher Feindpropaganda, Verbrüderungen, massenhaften Desertionen und kommunistischer Agitation im Prozess des Zerfalls befand. Das war weder dem Feind noch den Verbündeten der Entente entgangen. Die Deutschen verstärkten ihre Bemühungen um einen Separatfrieden, Frankreich und England drängten die Russen zu einer Frühjahrsoffensive, die die entscheidende Wende bringen sollte. 1917, das letzte Kriegsjahr. Es musste unter allen Umständen verhindert werden, dass durch die Einstellung der Kampfhandlungen an der Ostfront das Deutsche Reich in der Lage wäre, seine Truppen nach Westen zu werfen. Die oberste Armeeführung selbst war gespalten zwischen Bündnistreue gegenüber der Entente und den Friedensverlockungen der Deutschen.

Genau zu dieser Zeit gelang den Deutschen ihr Supercoup: Lenin aus dem Schweizer Exil im plombierten Zug nach Russland zu schleusen. So haben sie im Oktober die bolschewistische Revolution möglich gemacht. Den Separatfrieden gab es doch, im Dezember, als Lenin in Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich Frieden schloss. Drei weitere Jahre sollte es dauern und einen Bürgerkrieg lang, bis alle ausländischen Truppen aus dem Land vertrieben waren.

Ich dachte bei mir, wenn sich die neureichen Russen weniger um den weltweiten Erwerb von Fabergé-Eiern, Gemälden oder der Kronjuwelen gekümmert hätten, als diesen Schatz zu heben …
Aber dies was none of my business. Herr Iwanov hatte ihn nun einmal der Republik Österreich angeboten. Er vertraute den ehemaligen Feinden mehr als seinem Land. Ein Sittenbild. Oder weil wir für den Verkäufer die Kleinsten und Harmlosesten waren.
Letztendlich verlief sich der Verkauf innerhalb der österreichischen Bürokratie. Ich konnte nie herausfinden, woran es hakte, ich bekam von der Zentrale nie eine klare Antwort – außer einem definitiven Nein zum Ankauf. Meine Vermutung ging in die Richtung, dass sich Staatsarchiv und Heeresgeschichtliches Museum nicht einigen konnten. Am Kaufpreis von 500$, wie von Iwanov gewünscht, kann es nicht gelegen sein.

Das dicke Ende für mich kam erst noch. Wie dem Herrn Iwanov sein Eigentum zurückstellen? Wie ihm die negative Antwort beibringen? Seine Tochter brauchte doch das Geld! England, GB, die neue Zukunft!
Post kam nicht in Frage, Moskau – Mogiljow, in Belarus zu dieser Zeit? Es gab noch nie eine Zeit, in der das sicher gewesen wäre. Nicht einmal die deutsche Wehrmacht hat das im 41er Jahr zustande gebracht, ganz zu schweigen von Napoleon, hin und zurück. Mich juckte es, ihm seinen Schatz selbst zurückzubringen, konnte aber nicht einfach losfahren. Also wartete ich die Lesereise einer etwas ängstlichen und kapriziösen österreichischen Schriftstellerin nach Weißrussland ab, auf der ich sie begleiten sollte.

Ich verpacke seine Fotosammlung und rufe ihn von Minsk aus an. Die Telefonnummer, die er mir aufgeschrieben hat, ist aber nicht seine eigene, sondern die einer Nachbarin. Iwanov ist nicht zu Hause, sie wird ihn rufen. Leitung tot. Noch einmal versuchen. Nachbarin hebt ab und ruft Iwanov zum Apparat. Kann er morgen nach Minsk kommen? Kann er nicht. Er hat eine alte, kranke Mutter. Ich gebe die Schriftstellerin in die Obhut einer Mitarbeiterin der Österreich-Bibliothek, suche mir einen Fahrer und düse in seinem alten Moskwitsch nach Mogiljow. 200 Kilometer durch die weißrussischen Pampas, in einer Dezembernacht, eine meiner schwersten Reisen. Nicht wegen der Straßen oder des Schneegestöbers, sondern wegen meines Gewissenskonflikts. Die Baumwände links und rechts der „Minsker Schossee“ fliegen so schnell vorbei wie meine Gedanken durchs Hirn. Mission impossible.

Soll ich oder soll ich nicht? Nur eines ist gewiss – ich darf nicht, ich darf nicht, etwas selbst ankaufen, was der Botschaft, der Republik, angeboten wurde. Beamtin gegen Historikerin gegen Jägerin des verlorenen Schatzes. Dollari für die Tochter, gar eine Wohltäterin? Blödsinn, hin oder her, immer nur gerade bleiben. Krumme Sachen gehen sich nie aus, dafür bin ich nicht gemacht. Mein privates Interesse, für Österreich retten – Abwägung. Blödsinn. Und wenn das für immer verloren geht? Geht mich nichts an. Kann nichts dafür. Andererseits, 500$ sind kein Problem für mich, ich kann ihm auch 1000 geben, für seine Katja, für den Neustart in GB, weit weg von ihm.

Es ist bitter kalt und zugig im Moskwitsch, und Dima raucht eine grässliche Machorka nach der anderen bei hämmerndem Folk-Pop. Kaum möglich, einen klaren Kopf zu bewahren. Meine Gedanken schwanken hin und her im Rhythmus von schlechten Straßen mit Moskwitsch. Dabei ist mir immer im Bewusstsein, dass Dima mich durch die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) chauffiert, die Landschaften zwischen Belarus und Ukraine, die in den Weltkriegen am meisten gelitten haben. In Weißrussland kann niemand einen Schritt gehen, ohne über aus dem Boden ragende Knochen zu stolpern. Ein Viertel der belarussischen Bevölkerung liegt da drunten. Dima findet die Vorstadtstraße und das Haus von Iwanov. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass in London seit 1918 die „Weißrussische Exilregierung“ ihren Sitz hat, die älteste überhaupt, die die Interessen des ersten unabhängigen Belarus vertritt. Katja hätte vielleicht …? Aber vielleicht hat sie ja …?

Es war schrecklich. Ich mach es kurz. Ich gebe Iwanov seine papki mit Bedauern zurück, entschuldige mich nicht für mein Land und drücke ihm ein Kuvert mit 300 dollari aus meiner Privatkasse in die Hand. Das ist damals in Belarus sehr viel Geld, zehnmal so viel wie seine Pension, habe ich schnell überschlagen. Vielleicht geht sich ein Ticket nach London aus. Das Gewissen freigekauft. Er nimmt sie und bedankt sich überschwänglich. Wir drücken einander die vier Hände, immer und immer wieder, und umarmen uns zum Schluss mit drei Küssen auf die Wangen. Der Schnee knirscht unter unseren Stiefeln vor seinem kleinen Holzhaus, genau so schief, wie die fliegenden Häuschen von Marc Chagall. In so einem Stedtl ist er aufgewachsen, in Vitebsk, nicht weit von Mogiljow.

Ich bedanke mich ebenso überschwänglich bei ihm, ehrlich, echt, herzlich, immerhin hat er mir etwas gezeigt, was vielleicht nie wieder jemand zu sehen bekommt. Er stellt keine Fragen und erspart mir die Schande, das Versagen des Amtes eingestehen zu müssen.
Für die österreichische Schriftstellerin auf Lesereise in Minsk stand ich am nächsten Tag wieder bereit, wenn auch unausgeschlafen und etwas derangiert. Na, Veronika, zu viel gefeiert?, bemerkt sie mit spöttischem Blick auf meine schwarzen Augenringe. Jaja, gefeiert. Was ich gefeiert habe, davon hat diese Frau keine Ahnung, und ich führe sie mit leichtem Gewissen durch die Stadt.

22.1. - 25.1. 2022

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22034

 

Mit achtzehn

Eigentlich hatten wir abgemacht, gemeinsam Medizin zu studieren, die Helga Mann, die Schober Christl und ich. Vielleicht waren es nur Träumereien von mir, ein unausgesprochener Wunsch? Wer kann das schon sagen, nach 55 Jahren. Der „Plan“ stand seit der 7. Klasse fest: Helga würde eine Wohnung bekommen, im Haus ihrer Tante Grete in der Alserbachstraße, nahe dem Franz-Josefs-Bahnhof. Christl würde bei ihr wohnen, und ich, die keine Aussicht auf ein Wien-Wohnen hatte, könnte bei ihnen übernachten, wenn es einmal zu spät für den letzten Bummelzug nach Tulln war, um 23 Uhr. Helga und Christl hatten noch dazu den Vorteil, aus Arztfamilien zu stammen, Christl sogar mit zwei älteren Brüdern, die schon in Wien Medizin studierten. Da ich als die Nummer fünf in der bis sieben reichenden Riege an Geschwistern stand, war es sicher, dass das Familienbudget für eine Wohnung in Wien nicht reichen würde. Aber ich hatte fest vor, mich mit Jobs durchzuschlagen, dazu gab es noch Stipendien und lange Sommerferien, in denen man arbeiten und Geld verdienen konnte.

Der Plan ging nicht auf. Mein ältester Bruder mischte sich in die Debatte ein und sprach sich kategorisch dagegen aus, dass ich überhaupt studieren sollte. Er hielt mich wegen meiner angeblichen Schusseligkeit und lachhaften Wortverwechslungen für überhaupt kein akademisches Studium befähigt. Er hatte schon erfolgreich intrigiert, Lisl vom gewünschten Medizin-Studium abzubringen. Stattdessen begann sie nach der Matura an der Krankenschwesternschule eine zweijährige Ausbildung. Mama, die fast wie hörig den Meinungen ihres Ältesten folgte, war plötzlich auch gegen ein Studium, obwohl sie sich immer noch beklagte, dass wir – die Kinder – sie an ihrem Studium gehindert hätten. Eine ihrer abstrusesten Klagen in Momenten, wenn ihr Gemüt auf Sturm stand, wir seien aus lauter Bosheit auf die Welt gekommen, um sie von den akademischen Ehren abzuhalten. Also musste ich umplanen, denn neben der teuren, langwierigen und anspruchsvollen Medizin würde ich kaum einer Brotarbeit nachgehen können. Mein Vater hielt dagegen und unterstützte mich: Die Vroni kann alles, die wird’s euch allen noch zeigen!

Welcher Zweig würde alles verbinden können: kurzes Studium, nebenbei jobben, Auslandsperspektiven und guter Verdienst danach? So fiel meine Wahl auf das Dolmetsch-Studium, Russisch-Englisch. Vier Semester bis zum Übersetzer, sechs zum Dolmetsch. Schließlich herrschte Kalter Krieg, und da konnte man diese Kombination sicher gut gebrauchen. Die große Vision – zur UNO am East River.

In Englisch war ich sehr gut, schon acht Jahre lang, und in Russisch immerhin schon vier Jahre. Mit einem ausgezeichneten Maturazeugnis bräuchte ich nicht einmal eine Aufnahmeprüfung ins Dolmetsch-Institut. Gesagt – getan. Ich inskribierte, studierte fleißig, um Konferenz-Dolmetsch im diplomatischen Dienst zu werden. Nebenbei jobbte ich als Touristenführerin und Übersetzerin und gab Nachhilfestunden. Einzig Helga wurde Ärztin. Sie studierte erfolgreich Medizin und arbeitete das ganze Berufsleben als Virologin und Hygienikerin. Christl sattelte nach zwei Semestern auf Psychologie um und zog zu ihren Brüdern.

Ich kann mich an mich selbst mit achtzehn nicht erinnern, habe kein Gefühl für mich als Achtzehnjährige. Nur Bilder von Ereignissen sind haften geblieben, die ein Schlaglicht darauf werfen, wie ich mit achtzehn gewesen sein könnte. Entsetzlich unsympathisch, stur, rechthaberisch und herrisch. Aber ehrgeizig und zielstrebig. Aber was ist so ein Urteil heute wert? Ich habe aus der Not ein Bild kreiert: ein Fenster mit Jalousien, durch die Sonnenstrahlen fallen. In diesen Lichtstreifen wird allerhand grell sichtbar, etwa tanzende Staubteilchen, eine Mücke, ein Astloch im Fußboden oder eine beleuchtete Stelle auf dem Teppich. Darum herum ist alles dunkel, kein Detail zu erkennen, schon gar nicht das Gesamtbild des Zimmers.

So ein ausgeleuchteter Streifen ist die Erinnerung an Ludwig Stuchlik. Er studierte Russisch-Tschechisch-Polnisch, weil seine Familie ursprünglich aus Böhmen stammte, die Mutter aus Polen. Russisch war neu für ihn. Ärmlich aufgewachsen, wollte er Geschäftsmann werden und reich. Handel zwischen Österreich und den Ostblockländern. Er hatte nichts übrig für literarische Übersetzungen oder das Konferenzdolmetschen, so wie ich es für mich vorgesehen hatte. Ich weiß nicht mehr, wie wir uns nähergekommen sind, vielleicht habe ich ihm beim Russischen helfen können, vielleicht war es eine andere Attraktion. Wahrscheinlich war ich ihm aufgefallen in den Übungen bei Sergej Krywenko, einem Ukrainer, der es geschafft hat, von der Roten Armee in Österreich gelassen worden zu sein. Ich glaube nicht, dass ich in meinem 18-jährigen Leben jemanden so sehr gehasst habe wie ihn. Ich war sein Lieblingsopfer. Auch wenn ich nach meinen vier Gymnasialjahren besser Russisch konnte als die meisten anderen, hackte er ständig auf mir herum. Mein Russisch sei zu literarisch, ich sei zu langsam. Vor allem aber kritisierte er mein R, das nicht russisch klinge. Es muss rollen, rrollen, rrrollen. Wirrr sprrrechen hierrr Rrrussisch, nicht Frchanzösisch. Gehen Sie in die Nebenabteilung, Mademoiselle.

Ich musste vor allen anderen Studenten Übungen mit einem Handspiegel machen, um die richtige Stellung der Zunge, des Gaumens und des Zäpfchens zu beobachten. Er genoss es, mich zu demütigen und lächerlich zu machen. Heute würde man sagen „mobben“ und ihn anzeigen. Allerdings studierten damals in unserem Jahrgang genau fünf Leute Russisch, neben mir noch zwei Jungstudentinnen, Ludwig und ein pensionierter Medizinalrat mit hölzernem Hörrohr. Er wollte sein Russisch aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft aufpolieren. So trieb mich Krywenko einmal aus dem Hörsaal, und ich flüchtete heulend auf eine Bank im Hof. Der ist doch nur neidig auf unsere Jugend und auf uns als Österreicher, tröstete mich Ludwig. Wenn ich etwas bei diesem gospodin gelernt habe, war das nicht in erster Linie das perfekt rollende russische R, sondern Resilienz: Geduld, Ausdauer, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Er zwang mich, mir täglich, ja stündlich selbst die Karotte vor die Nase zu halten und mich an den East River zu versetzen. Der andere Rettungsanker war die UTA, die direkt hinter dem Dolmetschinstitut gelegen war. Hier ließ ich meine Wut ab, indem ich die Basketbälle in die Körbe drosch. Im nächsten Jahr gelang es mir tatsächlich, nach New York zu kommen, wenn auch nur als Au-pair-Mädchen und als Touristin in die UNO.

Für Ludwig war ich ein Exotikum so wie er für mich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich fand ihn sympathisch, aber nicht mehr. Mich interessierte seine Herkunft aus Simmering, dem äußersten Stadtrand im Osten, wo die Straßen in ein Dorf mit niedrigen Häusern und Gärten auslaufen. Seine Eltern habe ich nie kennengelernt, sie hackelten bei Simmering-Graz-Pauker in Schicht. An seine Großmutter Kveta kann ich mich aber gut erinnern. Sie sprach ein klassisches Bemakln, fütterte mich mit Knedlicki und Kolatschi und bewohnte ein kleines Haus mit Hühnern und Hasen; Kraut und Erdäpfel wuchsen im Garten, dazu Kirschen, Marillen und Zwetschken. Von der niedrigen Decke des Wohnzimmers hing einsam ein rot leuchtender Luster aus böhmischem Bleikristall. Der letzte Rest von Familiengeschichte. Ihre Vorfahren waren Kristallschleifer und Glasbläser gewesen. Jetzt Simmeringer Hauptstraße 397, dahinter gleich die Hoad und dann nur noch der Eiserne Vorhang. Da war die Welt zu Ende.

Sie mochte mich gern und erzählte mir bei Blümchenkaffee und Powidltaschkerln viel von ihrem alten Dorf. Schen, schen waas durtn, mei Got, Gotogot. Im Frieling, die vielen Bliten von denen Obstbeimen, so schen, die Nochboan, ollas freindlich, friedlich und polako. Wie Fritz Muliar im braven Soldaten Schwejk, nur ein wenig weicher, weil er das Bemakln nicht von Kveta gelernt hat. Mit ihren hoch aufgesteckten weißen Löckchen und der Kittelschürze aus schwarzem Kloth erinnerte sie mich ein bisschen an die Omama in St. Nikola. Von der Vertreibung der Sudetendeutschen nach den Benesch-Dekreten hatte ich noch nie gehört, noch weniger vom Todesmarsch von Brünn. Ihr kleiner Bruder ist damals gestorben. Krank, unterernährt oder vom Leiterwagen gefallen? Das wusste sie selbst nicht mehr. Wir hatten in Tulln Banatler aus Jugoslawien und Rumänien in der Nachbarschaft, Volksdeutsche wurden sie genannt. Manche sagten auch Walachen.

Aber dass Tschechen in Österreich lebten, wusste ich nicht. Der Rupert aus Weißkirchen im Banat war mein Freund in der ersten Klasse Volksschule. Er nannte mich mia prinsesa. Eine Frau Trofeit aus der Banatlersiedlung kam als Hausschneiderin zu meiner Mutter. Tischtücher und Vorhänge nähen, Bettzeug ausbessern, Geschirrtücher einsäumen, Putzlappen flicken, Wintermäntel wenden, meine Mutter ließ nichts verkommen.

Da ich zwischen Tulln und Wien pendelte, hatte ich immer eine Jause mit, Essen und Getränke für den ganzen Tag, da ich kein Geld hatte fürs Kaffeehaus und anfangs auch die Mensa sparte. Ludwig schloss sich für die Mittagspause mir an, wenn ich bei der Kaiserin Elisabeth im Volksgarten meine Jause einnahm. Ich breitete meine Aluminium-Proviantdose mit den Butterbroten aus, Wasser oder Ribislsaft hatte ich in einer Feldflasche, Gegenstände aus meiner Wanderausrüstung. Damals immer dabei: das „Stundenbuch“ von R.M. Rilke, den ich in jener Zeit über alles verehrte. Ich wollte so gut Englisch und Russisch lernen, bis ich eine dreisprachige Ausgabe herstellen könnte, in der alle Gedichte gleich gut waren. Dazu schwärmte ich damals noch von den Habsburgern, hatte alle Bücher von Egon Caesar Conte Corti gelesen, kannte alle Jahreszahlen und Verwandtschaftsverhältnisse. Später interessierte ich mich mehr für Joseph II. Aber das war schon gar kein Thema für den Ludwig Stuchlik. Er war Sozialdemokrat und hasste alles Habsburgische. Wir hatten viele lebhafte Diskussionen. Aber wenn er mich fragte, woher ich dies und das so sicher wüsste, sagte ich immer wie das Amen im Gebet: von meinem Vater. Dem Ludwig ging das auf die Nerven, immer belehrt zu werden, und es rutschte ihm heraus: Dein Vater ist wohl der liebe Gott! Nein, aber mein Evangelium!

Ich glaube, ich habe ihn tyrannisiert mit meinem vererbten Bildungsbürgertum. Aber er mich auch, mit seinem Sozialismus, der Arbeiterklasse und dem permanenten Klassenkampf. Er war Trotzkist ohne jede Zugehörigkeit und wollte mich von der Schönheit seiner Revolutionssprache überzeugen. Das ist schon alles okay, aber ich werde jetzt noch rot, wenn ich an das Evangelium denke. Man schrieb 1966, lange vor der studentischen, antiautoritären oder sonst einer Revolution.

Das ist zum Beispiel so ein schmaler Lichtstrahl ins Dunkel der Vergangenheit. Ich auf den weißen Marmorstufen zu Füßen der Elisabeth im östlichsten Winkel des Volksgartens, gegenüber die Burg, auf der anderen Ringseite die Uni, durch die Bäume blinzelt das Rathaus herüber, im Volksgarten blühen noch die Rosen. Ludwig hört mir zu, wie ich ihm Rilke vorlese. Immer und immer wieder. Ob es Rilke auf Tschechisch gibt? Weiß er nicht. Ob er ihn nicht übersetzen will? Rilke stammt ja aus Prag. Ludwigs Neigungen gelten aber der Handelskorrespondenz, die ich hasse, aber als Pflichtfach auch belegen muss. Er hat keine poetische Ader, ihn interessieren ganz andere Dinge an mir.
Ich wehre ihn ab, weil ich damals sicher noch nicht einmal ganz aufgeklärt war, dafür grenzenlos naiv und die Sexualität noch nicht am Radar hatte. Dazu war ich viel zu katholisch aufgezogen worden. Ich habe ihn nie erhört und nie etwas anderes mit ihm unternommen als seine Großmutter und ihre Hühner zu besuchen. Ludwig war sehr fesch, James-Dean-artig, aber etwas klein gewachsen. Vielleicht war ich von ihm als Mann so wenig angezogen, weil er meinem großen Bruder Bernhard ähnlich sah.

Es war sicher nicht Absicht oder Taktik, dazu wäre ich in meiner Naivität gar nicht imstande gewesen. Aber ich habe Ludwig erfolgreich von mir ferngehalten und gründlich vertrieben. Mit der Waffe namens Rilke. Oder war’s der Vater? Irgendwann ist er nicht mehr in den Park gekommen, zu mir und Sisi. Einmal stieß er hervor: Lass mich in Ruh mit deinem depperten Rilke! Stieg die Stufen des Denkmals hinunter und ward nie mehr gesehen. Ich muss ihn entsetzlich angeödet haben mit meiner Schwärmerei für den Poeten und die Kaiserin. Nach dem Jahr in New York bin ich auf die Slawistik und Germanistik umgestiegen, und wir haben uns aus den Augen verloren. Sogar seinen Namen glaubte ich vergessen zu haben. Es ist ja auch nichts passiert, was mir großartig im Gedächtnis hätte bleiben können. Und meine jugendlichen Schwärmereien werfen auch nicht gerade ein gutes Licht auf mein achtzehntes Lebensjahr.

Einmal, nach der Jahrtausendwende, vielleicht 35 Jahre später, sitze ich in meinem Büro in der Moskauer Botschaft, als mir meine Sekretärin am Telefon einen Herrn Stuchlik, Ludwig, von der Handelsvertretung, ankündigt. Der Name ist mir seit dem ersten Semester nicht mehr untergekommen, aber trotzdem wusste ich es sofort: Sisi aus weißem Marmor, Mittagspause, Butterbrote, Wasser und – Rilke.

Ich sah alles vor mir wie in einem grellen Schlaglicht, kleine Funken in einem Scheinwerferkegel. Ich zu Füßen der Kaiserin auf der weißen Marmorbank, er zu meinen Füßen, dazwischen Rilke. Herr Mag. Stuchlik war tatsächlich Kaufmann geworden und gerade auf Besuch in der Moskauer Vertretung der Wirtschaftskammer. Er hat mit seinen Ostsprachen Karriere gemacht und ist bei seinem Leisten geblieben. So hat er mich gefunden und im Kulturforum aufgesucht. Auf der Visitenkarte eine Liste von großen Firmen, für die er in Russland Geschäfte macht: MAN, Voestalpine, Lenzing. Hat ein Büro an feinster Adresse im Hotel Ukraina. Wir sind Nachbarn geworden, ich wohne am Ukrainski bulvar gegenüber. Wir haben uns nie verabredet. Aber ich saß oft dort, im Park, auf dem Sockel des ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko, mit Blick auf die Moskwa und das Weiße Haus.
Ludwig ist alt geworden, dick und glatzköpfig, aber gut auf Top-Manager getrimmt. Und ich trieb mich immer noch mit Übersetzungen herum, wenn ich auch Rilke schon längst etwas kritischer sah. Aber immerhin hielt ich unter vielem anderen noch Vorträge über „Rilke und sein mystisches Russlanderlebnis“, „Rilkes Russland-Reise mit Lou Andreas-Salomé“, „Mein weiblicher Bruder – Marina Zwetajewa und Rilke.“

Ich weiß nicht, worüber wir gesprochen haben, wahrscheinlich nur Lebensdaten ausgetauscht, Kinder, Frau, Job, Haus im Wienerwald. Über Rilke, Sisi oder das Evangelium haben wir sicher nicht geredet. Ich bedauere, dass ich ihn nicht danach gefragt habe, woran er sich erinnert aus dem Herbst 1966.
Und seither ist er wieder in der Versenkung verschwunden, bis zum heutigen Tag, seit ich das hier aufschreibe.

13.1.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22026

 

Moskauer Musikgeschichten 1

Die Rache der Philharmoniker

Mein Chef, Botschafter Dr. Franz Cede, pflegte mich als seine Stellvertreterin zu Veranstaltungen zu entsenden, bei denen er verhindert war oder die ihm aus irgendeinem Grund nicht zusagten. Seinem eigentlichen Stellvertreter, dem jungen, unbedarften Botschaftsrat K., traute er das offenbar nicht zu; er nannte ihn nach dem alten Diplomatenwitz einen „Geschickten, nicht Gesandten“.

Dass K. sich nur gebeugt und im Rückwärtsschritt aus dem Botschafterkabinett entfernte, imponierte dem geradlinigen Cede nicht. Dabei unterließ er jeden Tadel, sondern seufzte nur einmal vor sich hin: „Wo hat der K. diese Unsitte gelernt? Hat der schon am Kaiserhof gedient?“ Ich bemerkte, wahrscheinlich habe er zu viele Sisi-Filme gesehen.

Der Botschafter bekam natürlich immer die interessantesten Einladungen, wollte doch jeder den obersten Repräsentanten der Republik bei sich haben und nicht unbedingt das dritte Glied. Außerdem war mein Allround-Service für ihn sehr bequem: Ich brauchte keinen Dolmetsch und keinen Chauffeur, ich kaufte das Blumenbouquet selbst ein, ich hielt Reden und überreichte Grußbotschaften, machte Taxi-Dienste und ging zur Not noch mit einem einsamen Besucher auf einen Absacker ins Kempinski oder National. Meine Tage schienen 48 Stunden zu haben.

Warum mich der Botschafter damals zum Konzert der Wiener Philharmoniker ins Tschaikowski-Konservatorium geordert hat, weiß ich heute nicht mehr. Aber es war mir „eine große Freude und besondere Ehre“ – mit diesen Worten begannen üblicherweise die Botschafterreden, die er nach zwei Jahren schon auf Russisch vom Zettel ablesen konnte –, die Philharmoniker begrüßen und anhören zu dürfen. Beim Dirigenten Valerij Gergijew hatte ich so meine Zweifel, bzw. wohlgenährten Vorurteile. Der Putin-Protégé hatte zwar schon Gastauftritte in Wien absolviert, aber noch nie mit den Philharmonikern.

Als ich vom Gartenring in die Alexander-Herzen-Straße – neuerdings in Bolschaja Dmitrowka umbenannt – einbog, geriet ich in eine Demonstration: Eine Menschenmasse schob sich auf beiden Seiten die Straße hinunter, auf der Fahrbahn stand der Autoverkehr. Je näher ich dem Konservatorium kam, desto klarer wurde mir, dass es sich um keine Demonstration handelte, sondern um Menschenmassen, die alle dem Konzert zustrebten. Ich konnte mich nur mit Mühe und mit Hilfe von zwei Milizionären zum Eingang durchkämpfen, das Riesenbouquet über meinem Kopf balancierend. Die Moskauer hätten ihre Großmutter verkauft, um an eine Karte der Wenskije Filgarmonisti zu kommen. Ich beobachtete tumultartige Szenen rund um die Türen. Unter Polizeischutz gelangte ich zur Künstlergarderobe, wo ich die Blumen endlich ablegen konnte, rote Rosen und weiße Lilien in einem Nest aus Philodendrenblättern, staatstragende Farben.

Als Staatsgast hatte ich einen Platz in der sechsten Reihe fußfrei, reserviert für die Prominenz. Er befand sich direkt unter dem Dirigentenpult. Die Philharmoniker marschierten unter dem frenetischen Applaus des Moskauer Publikums ein, gefolgt von Valerij Gergijew. Ohne einen Ton gehört zu haben, waren die Menschen schon außer Rand und Band, klatschten stehend und stampften mit den Füßen, dass es klang wie eine heranrückende Panzerarmee, unter der der Boden bebte. Die erste Hälfte war der Strauß-Dynastie gewidmet, die bekanntesten Ohrwürmer von der Blauen Donau, über Radetzki-Marsch, Kaiser-Walzer bis zu Polka schnell, Prater, Wienerwald, Champagner-Serenade und einigen Stücken, die Johann Strauß Sohn in Zarskoje Selo geschrieben hat.

In Moskau war es damals üblich, in Ermangelung eines Programmheftes, eine Ansagerin auftreten zu lassen, die in der übelsten Pathetik des Staatsfernsehens die Nummern ansagte, meiner Meinung nach eine unsäglich barbarische Sitte. Als der Vorschuss-Applaus endlich verstummt und Ruhe eingekehrt war, nach unzähligen Verbeugungen der 72 Männer (es gab damals noch keine Musikerinnen bei den Philharmonikern) alle Platz genommen hatten, erklangen die Walzermelodien.
Eine zweite Unsitte hatte in russischen Konzertsälen und Opern Einzug gehalten: Bei besonders bekannten Stücken mit hohem Erkennungswert auf offener Bühne zu klatschen und durch anhaltenden Applaus eine Wiederholung zu erzwingen. Aber die Wenskije verweigerten dies, da konnte Gergijew noch so sehr fuchteln und strampeln. Sie blieben ruhig sitzen und schauten in Pokerface-Manier ungerührt vor sich hin.

Ach, Gergijew, wie konnte man ihn nur den Philharmonikern vorsetzen? Wer hatte diese unsägliche Idee? Die Manager von Gazprom, die das Konzert gesponsert hatten? Aber von den Wienern wusste man, dass sie nicht nur sehr gut spielten, sondern auch gut rechnen konnten. Gergijew mochte noch so sehr rudern, die Philharmoniker spielten, wie sie immer und überall spielen. Sie brauchten auch überhaupt keinen Dirigenten, sie bildeten immer den gleichen genialen Klangkörper. Sie hätten auch im finstersten Verlies genauso gespielt. Gergijew, ein ossetischer Hüne von Gestalt, mühte sich redlich ab mit ausladenden Gesten und kam so sehr ins Schwitzen, dass die Schweißtropfen aus seiner langen Mähne und dem Gesicht bis in die sechste Reihe spritzten.
Ich hatte den Eindruck, dass die Musiker sich sogar den Spaß machten, ihm davonzugaloppieren wie eine Reitertruppe des Tschingis Khan oder in Ton und Tempo zurückzufallen zum zartesten Pianissimo, unabhängig davon, welche Anstrengungen und Verrenkungen er unternahm.

Aber, um Gottes willen, welcher Teufel hatte Gergijew geritten, sich nicht an die Kleidungstradition der Philharmoniker anzupassen, sondern in einem violetten Langhemd aufzutreten, in dem silbrige Lurex-Fäden glitzerten? Schon bald war es schweißdurchtränkt und zeigte dunkle Flecken auf dem Rücken und unter den Achseln. Er streckte sich oft so sehr in die Höhe, dass es hochrutschte, oder er ging so heftig in die Knie, dass die Mittelnaht der Hose zu platzen drohte. Sein Dirigat beschränkte sich nicht nur auf die Arme, sondern er setzte auch seine Füße ein, stampfte auf, schlenkerte sie so heftig vor und zurück, dass ich fürchtete, seine Hose würde gleich herunterrutschen, und er würde sich wie ein Riesen- Rumpelstilzchen in der Mitte auseinanderreißen und im Podium versinken.

Auch ich als unbeteiligte Zuhörerin war von dieser atemberaubenden Akrobatik schon schweißgebadet. Vielleicht nahm das alles nur mein böser Blick wahr, das Publikum jedenfalls war außer Rand und Band. Von den Gesichtern der Musiker konnte ich keine Gefühle ablesen, sie schauten stoisch vor sich hin, eine Phalanx aus gepflegter Langeweile – fadesse oblige. Nur ab und zu meinte ich, Anzeichen von unterirdischen Blitzen wahrzunehmen, ein lautloses Zucken wie in einer von weitem heranrollenden Gewitterfront. Welche Nervenstärke! Vielleicht standen sie das einzig beim Gedanken ans Konto durch, so wie eine fromme Ehefrau beim Beischlaf an die Jungfrau Maria.

Vielleicht ging ihnen gar nicht mal dieser Clown am Dirigentenpult am meisten auf die Nerven, sondern das noch kulturferne Gazprom-Publikum der Neureichen, das dem Gebrauch der gerade aufkommenden Handy-Kultur frönte. Geklingel, Gepiepse, Gespräche, kleine Blitze und blau leuchtende Bildchen zwischen den Reihen. Wer zahlt, schafft an. Ich habe vor Jahren einmal im Musikverein erlebt, wie sich das Orchester beim ersten Huster wie ein Mann erhob und abzog. Leicht benommen überstand ich die erste Hälfte und konnte in der Pause mit weichen Knien den Blumenstrauß an den Kapellmeister loswerden, zusammen mit den Grüßen des Botschafters, im Namen der Republik. Maestro Gergijew bekam von Gazprom ein noch dreimal größeres Bouquet, überreicht von einer wunderschönen jungen Frau, hart an der Grenze zur Edelnutte, wie man sie neuerdings in den Moskauer Hotel-Lobbys herumsitzen sieht.

Die größte Sünde haben aber meiner Meinung nach die Programmgestalter begangen – nach den Strauß-Melodien ein Tschaikowski-Potpourri anzusetzen. Und wieder erlaubten sich die Philharmoniker einen musikalischen Scherz: Wenn sie zeitweise den Strauß wie Tschaikowski gespielt hatten, schlugen sie bei Tschaikowski Strauß-Töne an. Gegen den Strich. So schaut die Rache der Philharmoniker aus, eleganter, lustiger und genialer geht es nicht. Auch nicht bösartiger und schräger, Strauß wie Tschaikowski und Tschaikowski wie Strauß klingen zu lassen!

Wieder einmal nur mein lange gepflegtes Vorurteil, dass ein einziger Strauß-Walzer mehr musikalische Einfälle enthält als eine ganze Tschaikowski-Symphonie? Er hat eine nette, eingängige Idee, die er dann vier Sätze hindurch variiert und auswalzt. Ich sehe immer den jungen Tschaikowski mit glühenden Ohren im Musikpavillon von Zarskoje Selo stehen, seine ersten Werke in den Händen drehend und auf einen Moment wartend, sie dem Maestro aus Wien übergeben zu dürfen.

Die Russen liebten und verehrten natürlich ihren Tschaikowski grenzenlos, sahen aber auch in Strauß einen Fast-Russen mit seinen 13 Saisonen in St. Petersburg und seiner angebeteten Fast-Verlobten Olga Smirnitzkaja. Da macht es nichts aus, dass deren Offiziers-Vater im weltberühmten Konzertmeister und Kompositeur Strauß einen dahergelaufenen ausländischen und ungläubigen Zigeuner sah und als Ehemann ablehnte. Einmal fiel das Gastspiel fast aus, weil die russischen Zöllner die Strauß-Truppe als zwielichtiges Gesindel, vermeintliche Landstreicher festhielten und nicht in dieses kultivierte Land lassen wollten. Nur durch die Intervention aus dem Sommerpalast trafen sie doch noch rechtzeitig zur 10. Saison in Zarskoje Selo ein.

Was sollte ich machen gegen meine in Wien trainierten Ohren, angefangen von der Familienmusik über die ungezählten Konzerte der Jeunesse musicale bis zu den Abonnementkonzerten das ganze Leben hindurch, ganz zu schweigen von allen Neujahrskonzerten seither. Man kann das Gehör, das genealogisch tiefste und älteste Organ, nun mal nicht ummodeln, das ist eine physiologische Tatsache, Vorurteile hin oder her. Das ist wie eine DNA.

Erinnert und aufgeschrieben nach dem Neujahrskonzert 22 mit den Wiener Philharmonikern unter Daniel Barenboim und am 2.1. unter der 9. Beethoven auf Ö1.

1./2.1.2022

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 22014