Kategorie-Archiv: Michael Timoschek

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Wandern

Samstagmorgen. Ich konnte nicht weiterschlafen. Gudrun hatte das Bett, in dem wir die letzten fünf Nächte verbracht hatten, früh verlassen. Ich stieg aus dem warmen weichen Bett, welches an Wärme und Weichheit gewinnt, wenn sie ebenfalls darin liegt, ging in die Küche, küsste sie, brühte mir einen Kaffee, rauchte eine Zigarette mit ihr auf dem Balkon, verrichtete dann meine Notdurft und stellte mich unter die Dusche.

Gudrun fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr zum Haus ihres Vaters zu fahren, es würden Fotos angefertigt werden von den Mitgliedern der Familie zum Zweck der Behübschung der Einladungen für das bevorstehende Gartenfest. Ich bejahte, fuhr mit ihr (um präzise zu sein, fuhr sie mit mir - ich befinde mich nicht in Besitz einer Fahrerlaubnis), ihrem Bruder Clemens und dessen Freundin Kathi zum Haus ihres Vaters, vermied, allzu hingebungsvoll, was großflächig miteinschließt, von Lara, dem Familienhund, abgeleckt zu werden (das freundliche Wesen eines Hundes ist für Menschen überaus angenehm - Allergiker weinen in diesem Fall aus vor Freude strahlenden Augen) und durfte mit auf ein Foto, natürlich gemeinsam mit der Tochter des Hauses.

Nach dem Verzehr von Grünzeug (auf Gudruns Seite) und Fischsuppe (auf meiner) auf in den Süden. Die Fahrt ereignislos, die Musik eher die dunkle - was heißt unerwiderte oder verlorene - Liebe be-, aus- und fallweise das Lebenslicht zu Ende leuchtend; das undefinierbare Gefühl, das einen beschleicht, wenn man Lieder hört, die einen Ausweg be- und ausleuchten, den man selbst unzählige Male in Betracht gezogen hat.
Einige kleine Ortschaften, sogenannten ‘Kaffs’ nicht unähnlich, sogar noch schlimmer als das Kaff, das mich hervorgebracht hat, Werbebanner auf den übermannshohen Umfriedungen aus Maschendraht für die örtlichen Sportplätze (meist handelt es sich bei diesen um Fußballplätze, die sich durch eine Rasenqualität auszeichnen, die der von Übungsgolfplätzen nicht unähnlich ist, auf welchen blutige Anfänger Abschläge üben. Es ist nun nicht so, dass der Rasen an den in einem Gehege für Erdmännchen gemahnt. Gott bewahre! - Aber beinahe...).

Die Werbebanner machen, logisch, Werbung. Nicht für Rolex, Apple oder Mercedes Benz, vielmehr für örtliche Gewerbebetriebe. ‘Frisör Sabine’ ist beispielsweise in ruraler Gegend oft zu lesen. (Ich kenne durchaus Frauen, die Sabine heißen, doch keine von ihnen geht dem Beruf der Frisörin nach. Offenkundig verhält es sich in ländlicher Gegend - und Gesellschaft - vulgo Provinz - so, dass der Berufsstand in den Augenblicken festgelegt wird, in welchen die Taufkerze entzündet und dem Säugling geweihtes Wasser über den Kopf gegossen wird. Ein weiblicher Säugling, der den Namen Sabine erhält, ist, so sieht es aus, auf den Beruf Frisörin abonniert, während ein männlicher, der Manfred getauft wird, sein Leben allem Anschein nach entweder auf einem Rohbau, um diesen fertigzustellen oder in diesem zu wohnen und zu trinken, oder, wenn er motorisiert ist, auf einem Gabelstapler zuzubringen hat. - Ich persönlich würde diese Berufsbestimmung vermittels Vornamen als ‘Das Gesetz der Provinz’ bezeichnen.)

Gleinstätten - ein erster Höhepunkt! Die durch den Ort führende Straße ist zweifarbig. Zum einen ist sie in der als gewöhnlich - also normal - zu bezeichnenden Farbe von Asphalt gehalten. Zum anderen ist sie - und das ist das Außergewöhnliche - in Teilen von ockergelber Farbe. Noch heute frage ich mich, was es mit dieser Zweifarbigkeit auf sich hat. Die Antwort, die mir als erste durch den Kopf schoss (es handelt sich um eine Art ‘Rauschparcours’ für die bekanntermaßen notorisch dem Alkohol zusprechende Landbevölkerung: Auf dem Weg vom Gasthaus in das traute Eigenheim gilt es - selbstverständlich ohne zu mogeln! -, sich an folgende Vorgabe zu halten: Die dunklen Stellen der Straße durch den Ort dürfen auf allen Vieren zurückgelegt werden, während der trinkende - oder getrunken habende - Gleinstättener die hellen Stellen aufrechten Gangs hinter sich zu bringen hat), halte ich nach reiflicher Überlegung für unbefriedigend. Auch andere Antworten bringen mich nicht weiter bei der Frage nach dem Sinn der Zweifarbigkeit dieses Straßenabschnitts.
Vielleicht hat der Gleinstättener Bürgermeister auch einfach eine Wette verloren, oder der wohl größte ortsansässige Betrieb plant, sämtliche Straßen nach und nach in eine Art (vielfarbiges?) Schachbrett zu verwandeln, um auf diese Art und Weise den durch den Ort fahrenden staunenden Nicht-Gleinstättenern die Vielfalt an Farben darzulegen, in der seine Dachziegel zu fertigen er in der Lage ist.

Gleinstätten - ein zweiter Höhepunkt! Gleinstätten verfügt über einen See! Nun ist dieser nicht so groß wie andere Binnengewässer, aber dennoch groß genug, um an dessen Ufer (geschätzte Ufer-Gesamtlänge: 150 - 200 Meter!) ein sogenanntes ‘Uferfest’ auszurichten. (Ich persönlich fühlte mich beim Anblick dieses Gewässers an eine von Dachsen ausgehobene Grube erinnert. - Nicht an einen Dachsbau, in welchem diese Tiere zu schlafen und ihren Nachwuchs auf die Freuden und Fährnisse seines zukünftigen Lebens als Dachse vorzubereiten pflegen. - Der Gleinstättener ‘See’ erinnerte mich vielmehr an die Grube, die die reinlichen Dachse ein wenig abseits ihres Baus ausheben.) Jedenfalls, es wird am Ufer ein Uferfest zelebriert.

Die beiden Tretboote, die auf diesem Gewässer bequem, also ohne zu kollidieren, ihre Kreissegmente ziehen können, werden, so nehme ich an, anlässlich dieses Großereignisses mit Werbebannern beklebt werden. (Eines mit dem Schriftzug des örtlichen Ziegelwerks und vielleicht mit dem Logo des örtlichen Dachdeckers - ’Meister Hannes deckt am besten!’ -, das andere anzunehmenderweise mit Werbung für Bier - ’Murauer Bier wünscht Gleinstätten - einen Abend, einen netten!’) Ich werde nicht die Gelegenheit haben, diesem Uferfest beizuwohnen, und insgeheim bedaure ich diesen Umstand. Ich würde gerne Frisörin Sabine beobachten, wie sie Staplerfahrer/Hauserbauer und -besetzer/Trinker Manfred die neuesten Frisurentrends aus Paris näherbringt, auch würde ich gerne Manfreds Blick sehen, ob er Sabine enerviert in die Augen oder freudig erregt auf ihr Dekollete blickt. Auch Meister Hannes würde mich interessieren, wie er der Köchin und Haushälterin - in Personalunion! - des örtlichen Pfarrers seine Erfahrung und Leidenschaft bezüglich des Deckens schmackhaft macht.

St. Ulrich im Greith - die(!) ‘Museumsstadt’! Eine Ausstellung, Dali bis Picasso, die, nun ja, ganz nett ist. Eine Vielzahl an ‘Hauptwerken’ dieser Künstler ist zu bestaunen und auch zu bewundern. Eine in offensichtlich mühevoller kunsthistorischer Kleinarbeit zusammengetragene Sammlung von Drucken (hätte der Sammler Konzertflügel oder Streich- oder andere Saiteninstrumente hergestellt, anstatt Saiten zu produzieren - wie würde sich die Sammlung dann wohl präsentieren? Und wo?). Auch ein Giacometti ist dabei. (Auf Papier, was offenbar haltbarer als Bronze ist.) Ebenso wie einige unaufgeregte Werke von Warhol, die gut in jedes Schlafzimmer passen würden (Junge Frau, Sie haben Schwierigkeiten einzuschlafen? Kein Problem! Besuchen Sie mein Schlafzimmer, sehen Sie sich meine Bilder von Warhol an und ich verspreche Ihnen ...).
Da ich nicht die Zeit hatte, mich auf die in der Ausstellung gezeigten Werke, hinsichtlich ihrer Bedeutung und Bestimmung in kunsthistorischem Sinn, vorzubereiten, musste ich Gudrun, was mir grässlich unangenehm und sogar peinlich war, gestehen, dass ich ihr die Werke nicht erklären konnte.

Danach begaben wir uns auf Wanderschaft. Zwölf Kilometer sollte uns die Wanderroute über Ast und Stein, Hügel hinauf und wieder hinab führen. Sie in Wanderschuhen, die ohne Weiteres auch zum Bergsteigen geeignet sind, ich in den Feldschuhen der französischen Fremdenlegion (Ehrensache).
Der Waldweg, der vom ersten Teich (es handelt sich bei sämtlichen Teichen entlang des Wanderwegs, der ‘roten Route’, um solche, die der Aufzucht von Fischen verschiedener Art dienen - selbstverständlich zur späteren Verwendung in der Küche oder auf dem Grillrost im Garten) wegführt, war auf seiner linken Seite bestanden von einer geringen, doch für zwei Personen beinahe ausreichenden Anzahl Eierschwammerl, die ich sogleich an mich nehmen musste (der alte Pilzesammler in mir wurde in dem Augenblick des Erkennens, was da am Wegesrand wuchs, zu neuem Leben erweckt).
Mangels eines Behältnisses, wie Korb, Plastik- oder Stoffsack, entledigte ich mich meines T-Shirts, das ich unter meinem (grün-weiß karierten - ich bin Steirer!) Hemd trug, verknotete dessen Ärmel und den Rundkragen (Gudruns Expertise, was die Einsatzmöglichkeiten eines gewöhnlichen Haargummis anlangt, ist nicht hoch genug einzuschätzen) und legte die kleinen gelben Waldgewächse in den improvisierten Stoffsack. Wir hielten es in weiterer Folge so, dass sie auf dem Waldweg wanderte, während ich mich einige Meter von ihr entfernt auf einem steilen Waldhang nach Pilzen suchend vorwärts bewegte. Ich fand an diesem Tag keine weiteren Pilze.

Stets den Blick auf den Boden (Pilze!) gerichtet, folgten wir dem roten Pfeil, der uns zum nächsten führte, dieser wiederum führte uns zum übernächsten usw. Gestärkt von Grünzeug und Fischsuppe und begünstigt vom Wetter (obgleich ein Tag in der Mitte des Sommers, war die Temperatur nicht zu hoch, auch wurde die Sonne von Wolken, die wie Regenwolken aussahen, ihr Nass aber für sich behielten, daran gehindert, die bisweilen unerbittliche Intensität ihrer dehydrierenden Strahlen auf unsere Körper loszulassen), wanderten wir weiter.

Die Landschaft war (und ist!) wunderschön. Mir schien, als würden sich zwei, drei Familien je einen Hügel samt darunterliegendem Tal teilen, denn allzu viele Häuser gibt es dort nicht. Die zahlreichen Teiche für die Fischzucht, an den Rändern der Wäldchen oder in der Mitte von Wiesen gelegen, fügten sich harmonisch in das Gesamterscheinungsbild der Landschaft (ich bin, obgleich ich nicht zur Schwärmerei neige, versucht zu sagen: in die Idylle). (Ich vermute, dass ich dieses Bild der Idylle dem Eindruck der Harmonie zu verdanken habe, den das satte Grün der Nadel- und Laubbäume, das der Wiesen und das grüne Wasser der Fischteiche in mir hervorriefen. Oder, dies vermutlich in größerem Ausmaß, weil ich, oft Hand in Hand mit meiner Freundin, diese Landschaft durchwanderte. - Ich glaube, dass dies der Hauptgrund ist.)

Die Menschen, die in dieser Gegend wohnen (ich denke, dass das Ergebnis aus der Anzahl der Menschen zum Quadrat in etwa die Anzahl der dort lebenden Katzen ergibt - dies nur am Rande, ich mag Katzen nicht besonders, doch akzeptiere ich sie), sind nett. Sie grüßen freundlich und lächeln dabei (ob diese Freundlichkeit in ihrer natürlichen Veranlagung begründet liegt, oder ob sie bloß hintanhalten wollen, von ihren Nachbarn beim Nichtgrüßen oder gar Unfreundlich-Dreinblicken beobachtet zu werden - um hernach von diesen ‘ausgerichtet’ zu werden, also eine schlechte Nachrede ‘angehängt’ zu bekommen -, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch als stets positiv denkender Mensch gehe ich davon aus, dass diese Hügel- und Talbewohner von Natur aus friedlich und in gewissem Maße auch zutraulich sind).

Ich muss festhalten, dass auch Gudrun und ich stets entgegenkommend gegrüßt haben (wenn man in ein fremdes Habitat eindringt ist es besser, sich so zu verhalten) und uns zutraulich gaben - die Hunde haben es uns gedankt und sich ebenso friedfertig gegeben (bis auf einen - der hat uns verbellt! Ich denke jedoch, dass ich dies dem Hund nicht verübeln darf. - Je näher ein Hund nämlich, hinsichtlich Körperbau und/oder äußerem Erscheinungsbild, einer Ratte steht, desto ausgeprägter ist sein Hang zum Kläffen).

In einem der Teiche schwamm eine große Zahl an Goldfischen. Ich erkannte sogleich (jedoch bin ich mir heute nicht mehr so sicher, dass meine Theorie richtig ist), dass es sich bei diesen Goldfischen, die ja mit Karpfen verwandt sind und somit eigentlich genießbar sein sollten, um die Hauptingredienz des ‘Luxustellers’ handeln musste, der, so nehme ich an, auf dem Gleinstättener Uferfest den zahlungskräftigen Gleinstättener Großbürgern serviert werden würde. (Sabine und Manfred dürften sich mit gewöhnlichen Karpfen begnügen, also solchen ohne Epidermis aus Gold; dafür erhalten sie nach dem Verzehr des gewöhnlichen Karpfens eine kostenlose innerliche Schlammpackung. - Auch nicht schlecht!)

Gudrun und ich sprachen viel miteinander, wir redeten über vieles, küssten uns oft, wobei (aus meiner Sicht) dem Küssen eines verschwitzten Gesichts und Halses, noch dazu wenn man die durchaus anstrengende und schweißtreibende Tätigkeit des Wanderns über Ast und Stein gemeinsam ausführt, der eine somit, zu einem gewissen Grad zumindest, mitverantwortlich für das Schwitzen des anderen ist, eine hocherotische Komponente innewohnt.

Aus ornithologischer (ich war, und bin, immer gut bei Vögeln) Sicht war die Wanderung unergiebig. Ich konnte Gudrun einen vorbeifliegenden Terzel der Gattung Turmfalke zeigen, doch da diese kleinen Greifvögel die Tendenz haben, sich in schnellem Flug fortzubewegen, wenn sie nicht im sogenannten ‘Rüttelflug’ in der Luft ‘stehen’, um nach Beutetieren Ausschau zu halten, war dieses Vergnügen verständlicherweise von kurzer Dauer. Sie, die um meine Liebe zu Greifvögeln weiß, freute sich für mich, dass ich wenigstens einen Greifvogel zu Gesicht bekam, was wiederum mich sehr freute und auch rührte.

Einen Augenblick lang sah ich die Silhouette eines Mäusebussards, ich hörte auch die Rufe des Vogels, ebenso die seiner Partnerin oder seines Partners, doch war er verschwunden (wahrscheinlich hatte er sich auf einem Ast eines Baumes in dem Waldstück, über dem er gekreist war, niedergelassen), bevor ich ihn meiner Freundin hatte zeigen können. Einen Fasan erkannte ich an seinem Ruf, doch wir konnten ihn nicht sehen.
Ein Reh bekamen wir dafür zu Gesicht, doch als es mich sah (vor Gudrun hatte es mit Sicherheit keine Furcht gehabt - sie ist Veganerin), wurde ihm offenkundig bewusst, dass es von einem Karnivoren beäugt wurde, der große Stücke auf die Leber von Rehen hält, und es flüchtete.

Wir gingen und vergingen uns, wir kamen zu einem Bauernhof, vor dem nicht ganz billige Autos aus verschiedenen Teilen des Landes geparkt waren (dieser Umstand ließ mich vermuten, dass es nicht bloß ein Bauernhof, sondern auch eine Pension war und ist), eine Musikgruppe bot gar grässliche volkstümliche Schlagermusik dar, und aus dem Stall des Bauernhofs drang das Geschrei von Schweinen. Dieses Geschrei wirkte auf uns wie Lautäußerungen, die von Tieren ausgestoßen wurden, die den eigenen Tod vor Augen hatten (beispielsweise wenn ein Schwein sieht, wie seinem Mitschwein ein Messer an die Kehle gesetzt wird, schlicht um es zu schlachten).
Gudrun isst kein Fleisch, ich schon, somit war ihr dieses Geschrei unheimlich, dies konnte ich dem Blick entnehmen, den sie mir zuwarf, selbst mir war nicht allzu wohl bei dem Gedanken, was in diesem Stall vor sich gehen mochte. Ich habe überhaupt kein Problem, den Tod von Tieren in Kauf zu nehmen, damit Menschen (also auch ich) Fleisch auf dem Teller haben, doch unmittelbarer Ohrenzeuge muss ich nun wirklich nicht sein.

Wir gingen mit schnellen Schritten weiter und - vergingen uns. Wir gingen eine, man kann es beinahe so nennen, Ellipse und kamen (nur dieses Mal - logisch - von der anderen Seite) wieder zu dem Bauernhof mit dem Schweinegeschrei. Dieses hatte sich in der Zwischenzeit gelegt, es war in eine Art zufriedenes Grunzen übergegangen, was uns vermuten ließ, dass die Schweine keine Angst vor dem Tod gehabt, sondern dass sie es vielmehr nicht mehr hatten erwarten können (zum Futter für die Menschen würden sie zu einem anderen, späteren Zeitpunkt werden), gefüttert zu werden.

Die volkstümlichen Musikanten gaben ein weiteres Lied zum Besten (Der Edeltraud, der hat noch nie vorm Zipf gegraut - oder so was in der Art), wir fragten nach dem Weg, erkannten, dass wir einen roten Pfeil schlicht übersehen hatten (dieser Pfeil ist aber auch wirklich unprofessionell platziert! Folgendes an den Setzer dieses Pfeils: Nicht genügend, setzen!) und waren wieder auf dem richtigen Weg.
Am Ufer des Teichs, der in der Nähe des Schweinegeschreihofs ausgehoben war, standen zwei Sessel, die nirgendwo sonst auf dieser Welt noch hätten Verwendung finden können, sie waren alt, ihr metallenes Gestänge rostig an den Stellen, an welchen die schützende Lackschicht abgeblättert war, doch waren sie uns zwei willkommene Sitzgelegenheiten; wir ließen uns nieder, tranken aus unseren mit auf die Wanderung genommenen Flaschen, rauchten und küssten uns.

Wir setzten unsere Wanderung entlang der roten Route fort. Auf einer vor Kurzem gemähten Wiese sahen wir in einiger Entfernung einen sich offensichtlich auf der Suche nach Nahrung befindenden Steinmarder, ein an sich schon kleines (und durch die Entfernung noch kleiner erscheinendes) Raubtier, und ich fragte mich, natürlich ohne Gudrun meine Überlegung mitzuteilen - ich wollte sie nicht schockieren oder nachdenklich (oder gar traurig) machen -, wie es denn mit den Kragen der Wintermäntel der dort wohnenden Damen aussieht (ob das wirklich alles Kunstpelz ist?).

Nach einer weiteren Verirrung (an den Setzer der roten Pfeile: ein weiteres Mal: Nicht genügend, setzen!) kamen wir zum Ausgangspunkt unserer Wanderung über zwölf Kilometer, rauchten, tranken (Gudrun fällt das Rauchen schwer, wenn sie keine Flüssigkeit aufnimmt), küssten uns, verstauten die Eierschwammerl im Kofferraum ihres Wagens und machen uns auf den Rückweg aus der Hochprovinz nach Graz.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17096

 

Ein einsames Gespräch

Was starrst du mich so an?
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Was ist? Was?
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Antworte mir!
-
Sag etwas. Bitte!
-
Seit Wochen sprichst du nicht mit mir.
-
Ich bin deine Frau. Du sollst mit mir reden. Du musst!
-
Weißt du noch, welch gute Gespräche wir früher geführt haben?
-
Wir haben nächtelang geredet.
-
Über alles. Einfach alles.
-
Was hat sich geändert?
-
Ich bin immer noch dieselbe Frau. Deine Frau.
-
Ich liebe dich doch!
-
Wie an dem Tag, als wir uns kennengelernt haben.
-
Seit mehr als sechs Wochen sprichst du nicht mit mir!
-
Sag, liebst du mich eigentlich noch?
-
Nicht einmal jetzt sagst du etwas!
-
Früher warst du kommunikativer. Und liebevoller.
-
Denkst du etwa an eine andere Frau?
-
Ich weiß, ich kann dir keine Kinder schenken.
-
Aber das habe ich dir zu Beginn unserer Beziehung gesagt.
-
Und du hast gesagt, dass das kein Problem ist.
-
Sag was. Rede mit mir. Bitte!
-
Du isst auch nicht mehr.
-
Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?
-
Jeden Tag koche ich ein Gericht, von dem ich weiß, dass es dir schmeckt.
-
Und du isst nichts! Jeden Tag muss ich die Hälfte wegwerfen.
-
Ach, es ist schlimm mit dir. Willst du mich überhaupt noch?
-
Seit Wochen hast du mich nicht mehr berührt.
-
Kein Kuss, kein Streicheln, kein Beischlaf.
-
Findest du mich denn gar nicht mehr anziehend?
-
Jedenfalls lasse ich mich nicht gehen!
-
So wie viele Frauen in meinem Alter.
-
Und so wie du!
-
Du hast schon recht gehört!
-
Jeden Tag mache ich mich für dich schön. Und was tust du?
-
Du lässt dich gehen! Wann hast du dich das letzte Mal rasiert?
-
Wann hast du dir zum letzten Mal die Haare gewaschen? Wann die Zähne geputzt?
-
Du siehst aus wie ein Penner!
-
Und du riechst auch so. Wenn nicht schlimmer!
-
Du stinkst! Wenigstens nicht mehr nach Bier und Schnaps.
-
Ich bin ja glücklich darüber, dass du nicht mehr säufst.
-
Trotzdem stinkst du. Wie ein nasser Hund.
-
Nein, wie ein Iltis! Und du hast auch schon Krallen wie ein solcher.
-
Wann hast du dir das letzte Mal die Fingernägel geschnitten?
-
Ich liebe dich sehr, aber in diesem Zustand widerst du mich an.
-
Seit Wochen kann ich meine Freundinnen nicht einladen.
-
Ich kann ihnen doch nicht zumuten, dich so zu sehen.
-
Ich will mich nicht für dich schämen müssen!
-
Früher warst du ein attraktiver Mann.
-
Und ein gepflegter. Und heute?
-
Wann hast du zuletzt die Kleidung gewechselt?
-
Vor Wochen, möchte man meinen.
-
Nein, so geht es nicht weiter. Ich liebe dich, aber so kann es nicht weitergehen.
-
Ich habe alles versucht. Wirklich alles! Was soll ich denn noch tun?
-
Dass ich dir vorgestern ein Büschel Haare ausgerissen habe, tut mir leid.
-
Du hast nicht einmal reagiert. Keinen Ton hast du von dir gegeben.
-
Gestern erst habe ich sechzehn Fliegen auf deinem Kopf erschlagen. Sechzehn!
-
Ich weiß nicht mehr weiter! So kann es nicht weitergehen. Ich muss mich von dir trennen.
-
Ja, das muss ich tun. Um mich selbst zu schützen.
-
Glaube aber nicht, dass ich das Haus verlassen werde!
-
Du wirst das Haus verlassen!
-
Ich werde dir dabei helfen. Weil ich dich immer noch liebe.
-
Ich gehe dabei sogar so weit, dich zu tragen.
-
Ich trage dich in den Garten. Noch heute Nacht.
-
Ich habe dort ein Loch gegraben.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17085

Verwirklichung

Sonja begann zu schreiben. Sie hatte keine Erfahrung mit Schreiben oder mit Kindern. Dennoch begann sie, eine Erzählung für Kinder zu schreiben. Über Tage hatte sie sich die Handlung ihrer Erzählung zurechtgelegt. Sie sollte von Mark handeln, einem Menschen, der im Wald von einem aus dem Nichts auftauchenden schwarzen Wolf verfolgt wird. Mark kann sich das Auftauchen der Bestie nicht erklären und versucht, ihr zu entkommen.

‘Mark ging durch den von Buchen bestandenen Wald, es war der achtzehnte März, als der Waldboden vor ihm eine riesige und grässlich anzusehende Bestie freigab.’
So lautete der erste Satz der Erzählung. Sonja tippte ihn in ihren Computer und fühlte Beklommenheit. Nicht die Art Beklommenheit, die sie aus verschiedenen Gründen schon gefühlt hatte. Es war eine grauenhafte Art von Beklommenheit, so eine hatte sie nie zuvor gefühlt.

Sie saß in ihrer geräumigen Altbauwohnung mit hohen Decken vor ihrem Computer und versuchte, dem ersten Satz einen zweiten hintanzustellen. Logischerweise kannte sie dessen Inhalt. Sie hatte ihn im Kopf, wusste, aus welchen Worten er zu bestehen hatte, auch über die Syntax war sie sich im Klaren, doch konnte sie den Satz nicht schreiben.

Sie fühlte grauenvolle Beklommenheit, wollte sich an jemanden lehnen, sich in die Arme dieses Jemand fallen lassen. Allein, es war niemand anwesend. Sie war alleine.
Ihr langjähriger Freund hatte sie verlassen, als Grund hierfür hatte er ihre Oberflächlichkeit angeführt.
Sie presste ihren Oberkörper in die weiche Lederpolsterung ihres Schreibtischstuhls, um zumindest irgendeine Art von Halt zu finden. Sonja fühlte Grauen, als ob ein schwarzer Wolf jeden Augenblick vom Parkettboden freigegeben werden würde.

Sie wollte telefonieren. Jemand anrufen und mit ihm reden. Doch aus zwei Gründen konnte sie nicht. Zum einen lag ihr Mobiltelefon etwa einen Meter von ihr entfernt auf der Tischplatte, Sonja jedoch erschien dieser Meter wie  deren  fünf. Somit war ihr Telefon unerreichbar.
Zum anderen hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wen sie anrufen sollte. Allen ihren Freundinnen und Freunden hatte sie sich als lebenslustige, stets positiv denkende Person präsentiert. Sie  hatte  nicht  gelogen,  hatte  sich  ihnen  schlicht so präsentiert, wie sie sich selbst gesehen hatte. Stets hatte sie es abgelehnt, Gedanken und Gefühle zuzulassen, die nicht lebenslustig oder die negativ waren. Diese passten schlicht nicht in das Bild, das Sonja von sich selbst hatte. Nun jemand anzurufen und von dem Grauen zu erzählen, brachte sie nicht fertig.

Sie versuchte, mit den wenigen und unzureichenden Mitteln einer diesbezüglich unerfahrenen Person, die Ursache des Grauens auszumachen, doch konnte sie es nicht. Sie beschloss, an einem Punkt der Erzählung weiterzuschreiben, an dem der schwarze Wolf keine allzu große Rolle spielte.
‘Mark hatte sich von Frida losgesagt. Er wollte sie niemals wieder sehen, nie wieder mit ihr sprechen. Er hatte sich gesagt: ‘Die Sache mit dieser Verrückten ist für mich abgeschlossen!’ Der Nachteil dabei war, dass Mark nun alleine im Wald stand. Nun, da er Frida am dringendsten gebraucht hätte, war sie weg. ‘Was auch immer du machst, mach es gut!’, hatten seine letzten Worte an sie gelautet.’

Sonja tippte die Sätze in ihren Computer. Dann begann sie zu weinen. Dicke Tränen rannen in großer Zahl ihre Wangen hinab. Sie erkannte, dass sie sich selbst an dieser Stelle ihrer Erzählung porträtiert hatte. Denn sie hatte sich auf die selbe Art und Weise verhalten. Sie hatte die Person aus ihrem Leben ausgeschlossen, die als einzige jederzeit zu ihr geeilt wäre, um sie in den Arm zu nehmen. Sie dachte daran, diese Person anzurufen, doch hatte sie deren Nummer aus dem Speicher ihres Telefons, das gefühlt bloß noch anderthalb Meter entfernt vor ihr lag, gelöscht. Sonja verfluchte sich dafür, anderen Menschen gegenüber so verschlossen gewesen zu sein.

Um sich abzulenken, übersetzte sie den eben geschriebenen Absatz ins Englische. Da sie studierte Dolmetscherin war, fiel ihr dies allzu leicht und brachte sie nicht auf andere Gedanken. Sie zwang sich, langsam zu atmen und eine weitere Passage ihrer  Erzählung  einzutippen.
‘Ein  schwarzer  Bussard  mit orangen Augen stieß herab und landete auf seiner Schulter. Mark sah den Vogel an, erschrocken, doch nicht ängstlich, und sagte: ‘Nun, Bussard, wie geht es weiter?’ Der Raubvogel sah ihm lange in die Augen und antwortete: ‘Du, Mark, willst dem Wolf entkommen. Ich kann dir dabei helfen. Doch wisse: Mein Preis ist hoch!’ ‘Was, Bussard, verlangst du für deine Hilfe?’ ‘Deine Zukunft, Mark.’ Mark sah den schwarzen Vogel fragend an. Er verstand nicht, was der Bussard meinte. ‘Künftig wirst du mein Gefährte sein.’ ‘Wie soll ich das verstehen?’ ‘Ich werde dich vor dem Wolf retten, und danach lasse ich dich nicht alleine ziehen. Ich werde dir Sicherheit und Halt geben. Dafür bleibst du bei mir.’ ‘Aber das­’’

Wieder weinte Sonja. Sie meinte, tapsende Laute zu vernehmen, wie von den Pfoten eines großen Hundes. In diese Laute mischte sich das Kratzen, das lange Krallen auf hölzernen Böden verursachen. Sonja wandte sich langsam um, sah in die Richtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen und erwartete, einen riesigen Wolf zu sehen. Sie zitterte vor Angst, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Allein, es befand sich kein Wolf im Raum. Sie war alleine.
Sie schloss die Augen und erwartete, das Heulen der eingebildeten Bestie zu vernehmen, doch der Raum war erfüllt von Stille. Von tiefer Stille, die lediglich von ihrem schnellen Atem durchbrochen wurde. Sonja zwang sich ein weiteres Mal zum ruhigen Atemholen und beschloss, den letzten Satz ihrer Erzählung für Kinder einzutippen.
‘Mark und der schwarze Bussard verbrachten viele Jahre gemeinsam, der schwarze Wolf war besiegt.’

Sonja war erleichtert, diese positiven Worte niederschreiben und auf dem Bildschirm ihres Computers lesen zu können. Sie hatte ihre Erzählung zu einem guten Ende gebracht, auch wenn sie tatsächlich erst wenige Sätze geschrieben hatte.
Sie ging in ihre unaufgeräumte Küche, um sich einen Kaffee zu brühen, dann setzte sie sich mit der Tasse in der Hand guten Mutes wieder vor ihren Computer. Sie beschloss, nun die gesamte Erzählung einzutippen.
Sie las den ersten Satz, wollte eben den zweiten, den Folgesatz, beginnen, als sie ein ohrenbetäubendes Geheul vernahm, das sich hinter ihr erhob. Dieses Geheul wurde von kehligem Knurren unterbrochen, so böse und Unheil sowie Tod verheißend, dass Sonja erstarrte. In der Hoffnung, wieder bloß den leeren Raum zu sehen, blickte sie über ihre Schulter. Da sah sie ihn.

Ein riesiger schwarzer Wolf stand im Raum und heulte. Dann knurrte er aus tiefer Kehle. Sein Fell war verklebt, Sonja erkannte, von Blut, seine Augen waren von funkelndem Grün, und seine Reißzähne rot von Blut und Fetzen von Fleisch. Und der Wolf war nicht alleine gekommen.
Um seinen Hals lag eine aus scharfkantigen Gliedern zusammengesetzte Kette, deren Ende eine menschliche Gestalt in Händen hielt. Sonja erkannte die Gestalt sofort. Es handelte sich um Mark, den Helden ihrer Erzählung. Sein Erscheinungsbild glich dem, das sie vor ihrem geistigen Auge gehabt hatte, als sie ihn erschaffen, ihn sich ausgedacht hatte. Als sie jedoch ihrem Helden in die Augen sah, erkannte sie, dass diese nicht grün waren, wie sie sie  sich ausgemalt hatte. Sie waren schwarz. Glanzlos schwarz, aus ihnen sprach der Tod.

Sonja wollte etwas sagen, doch sie brachte keine Silbe über ihre Lippen. Sie schloss die Augen, hoffte, die Gestalten wären weg, wenn sie sie wieder öffnete. Doch sie blieben. Und sie kamen näher. Sonja wusste keinen anderen Ausweg aus ihrer Lage.
Sie sprang auf und lief zum Fenster des Zimmers. Sie öffnete es, stieg auf das Fensterbrett und sah nach unten. Ihre Wohnung befand sich im vierten Stockwerk. Sie wandte sich um, hoffte, die Gestalten wären verschwunden. Waren sie aber nicht. Sonja sprang aus dem Fenster. Sie dachte, dies war ihr letzter Gedanke, noch an einen schwarzen Bussard, der sie retten würde. Allein, die Uhr zeigte zweiundzwanzig Uhr dreizehn an.
Und Bussarde sind tagaktiv.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17084

Konfrontation im Salzamt

1

Der Mann war unbemerkt in den Raum gekommen. Er hatte die Eingangstüre geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen. Er stand eine Minute regungslos im Raum, dann wandte er sich um, kam an meinen Tisch und sagte: „Ist niemand hier?“
Damit meinte er, dass keine Kellnerin hinter der Bar stand und Dienst versah, und ihm dies offensichtlich missfiel.
„Das Mädchen schreibt gerade die Speisekarte“, gab ich zur Antwort.
Mein Freund Peter, der an meinem Tisch saß, musterte den Mann aufmerksamer, als er es für gewöhnlich bei fremden Menschen machte.
„Ich warte“, sagte der Mann, wandte sich zur Bar und steckte sich eine Zigarette an.

Peter sah mich fragend an. Sein Blick, das erkannte ich sofort, diente bloß einem Zweck. Ich schüttelte den Kopf und gab ihm damit zu verstehen, dass ich den Mann nicht kannte. Da ich in diesem Restaurant, das Salzamt heißt, Stammgast bin, war Peter davon ausgegangen, dass ich den Fremden kennen müsste.
Dieser stand an der Bar, sog den Rauch ein, presste ihn mit merklichem Genuss wieder aus seiner Lunge und sah sich im Raum um.
Er war um die fünfzig Jahre alt, etwa einen Meter achtzig groß und trug sein graues Haar akkurat kurz geschnitten. Seine Kleidung war von der Sorte, die man nicht in gewöhnlichen Geschäften kauft. Sie war maßgeschneidert, wie auch seine schwarzen Lederschuhe Maßanfertigungen waren. Trotz des offensichtlich hohen Preises seiner Ausstattung wirkte er keineswegs abgehoben, sondern leger. Er trug eine lockere Haltung zur Schau, die aus seinem Inneren kam und nicht aufgesetzt war, das merkte ich sofort.

„Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?“ Die Kellnerin war mit der Speisekarte fertig und in den Raum zurückgekommen, in dem sie Dienst tat.
„Guten Abend, Fräulein“, sagte der Mann freundlich. „Ich möchte einen Tisch für Donnerstag reservieren. Wir werden fünf Personen sein. Zwanzig Uhr wäre ideal.“
Das Mädchen trug die Reservierung in den eigens dafür bereitliegenden Kalender ein.
„Vielen Dank. Bis Donnerstag“, sagte er und machte sich auf den Weg zur Türe. Bevor er sie öffnete, blickte er mich an und zwinkerte mir zu. „Wir sehen uns, Michael“, sagte er, dann verließ er das Salzamt.
Nachdem er gegangen war, sagte mein Freund Peter: „Ich dachte, du kennst ihn nicht.“
„Ich - kenne - ihn - auch - nicht“, sagte ich leise und langsam.

Es hatte etwas in den Augen dieses Mannes gelegen, als er mich das zweite Mal angesprochen hatte, das mich beunruhigte. War er beim ersten Mal freundlich gewesen und hatte ein gutmütiger, beinahe warmer Blick seine Augen erleuchtet, so hatte seine Stimme kurz darauf einen bösen, kalten Ton angenommen. Weit mehr noch als seine Stimme hatte mich der Ausdruck in seinen Augen irritiert, und sogar verängstigt.
In diesen Augen hatte etwas gelegen, das ich nie zuvor gesehen hatte. Es war ein beinahe animalischer Ausdruck, etwas Unmenschliches, das zum freundlichen Blick von vorhin nicht gepasst hatte.
Außerdem hatte dieser Mensch meinen Namen gekannt, obwohl ich nicht damit angesprochen worden war, weder von der Kellnerin noch von meinem Freund.

„Was ist los mit dir?“, fragte Peter. „Geht es dir nicht gut?“
Ich atmete tief ein und behielt die Luft zehn Sekunden in mir - das ist meine Art, mit Panikattacken fertigzuwerden. Es funktionierte, ich wurde innerlich wieder ruhig und steckte mir eine Zigarette an.
„Es ist alles in Ordnung, Peter“, gab ich zurück.
„Woher kennt der Mann deinen Namen?“, fragte er, doch ich ging nicht auf seine Frage ein.
„Sag, Peter, hast du seine Augen gesehen, als er sich an der Türe umgedreht und mich angesprochen hat?“
„Natürlich. Sie waren gleich freundlich wie zuvor, als er mit dem Mädchen gesprochen hat.“
„Hast du eine Veränderung in seiner Stimme bemerkt?“
„Nein, habe ich nicht“, sagte er. „Was war denn mit seiner Stimme?“
„Sie war verändert. Sie klang eiskalt.“
„Eiskalt?“, wiederholte Peter verwundert. „Sag, bist du betrunken?“
„Nein, bin ich nicht. Lassen wir das Thema.“

Der Abend nahm den gewohnten Lauf aller Abende im Salzamt. Ich unterhielt mich mit meinem Freund, wir tranken Bier und konnten die Kellnerin dazu überreden, an unserem Tisch Platz zu nehmen.
Peter, der, anders als ich, einer geregelten Arbeit nachging, verließ das Restaurant um Mitternacht, und ich blieb mit dem Mädchen am Tisch sitzen. Nachdem die beiden anderen Stammgäste, die jeden Abend an der Bar stehen, das Lokal verlassen hatten, fasste ich mir ein Herz und fragte die Kellnerin: „Martina, ich möchte nicht neugierig erscheinen, und ich weiß dass mich das nichts angeht, aber ich habe eine Frage.“
„Ja?“, sagte sie und sah mich erwartungsvoll an.
„Hat der Mann, der den Tisch für Donnerstag reserviert hat, seinen Namen genannt?“
„Nein, hat er nicht. Weißt du denn nicht, wie er heißt? Er schien dich jedenfalls zu kennen.“
„Ich kenne ihn aber nicht. Sag, ist dir etwas an seiner Stimme aufgefallen, als er gegangen ist?“
„Nein, gar nichts.“

Zur Sperrstunde verließen wir das Salzamt, und ich ging nach Hause. Dort lag ich noch eine halbe Stunde wach im Bett und zermarterte mir den Kopf, was es mit diesem Mann auf sich haben konnte.
Kurz bevor ich einschlief, beschloss ich, bis Donnerstag nicht mehr an ihn zu denken.

2

Am Donnerstag betrat ich das Salzamt um siebzehn Uhr und setzte mich an meinen Lieblingstisch. Ich schlug mein Schreibheft auf und begann an einer Kurzgeschichte weiterzuschreiben, die ich Tage zuvor begonnen hatte. Claudia hatte Dienst an der Bar, was mir sehr gelegen kam. Sollte sich nämlich Ähnliches zwischen dem Mann und mir ereignen wie vor zwei Tagen, hätte ich eine unvoreingenommene Person bei der Hand.
Ich schrieb bis Viertel vor acht, dann legte ich den Stift weg und wartete auf das Eintreffen des Mannes mit seiner Entourage. Pünktlich um acht betrat er in Begleitung von vier Frauen seines Alters das Restaurant. Er würdigte mich keines Blickes, ließ sich bloß zu einem knappen Gruß an Claudia herab und ging schnurstracks in den Gastraum.

Ich war ein wenig enttäuscht, doch auch erleichtert. Ich versuchte an der Kurzgeschichte weiterzuarbeiten, doch fiel mir nichts ein, das es wert gewesen wäre, niedergeschrieben zu werden. Innerlich fragte ich mich in einem fort, was ich denn erwartet hatte, welche Handlung dieses Mannes.
Gegen zweiundzwanzig Uhr verließ er das Lokal samt seinen Begleiterinnen. Als er an meinem Tisch vorbeikam, legte er wortlos und ohne mich anzusehen eine in der Mitte gefaltete Papierserviette auf diesen.
Ich nahm die Serviette und klappte sie auf. Mit schwarzer Tinte stand darauf geschrieben: ‘Wir sehen uns, Michael Timoschek. Morgen - Salzamt - 21.00 Uhr - alleine!’

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Schrift hatte gleichzeitig etwas Feierliches und etwas Bedrohliches. Feierlich, denn Tinte auf einer Serviette wirkt edel, wie ich finde, und bedrohlich, weil die feinen Verästelungen in schwarzer Farbe, für die die Saugfähigkeit der Papierserviette verantwortlich war, mich an die Äste von dürren, abgestorbenen Büschen erinnerten, jenen auf Friedhöfen gleich, die auf verlassenen, ungepflegten Gräbern wachsen.
Claudia war nicht entgangen, dass der Mann mir eine Nachricht hatte zukommen lassen und dass ich diese gelesen hatte.
„Hat er dir seine Telefonnummer gegeben, Michael?“, fragte sie keck.

Ich faltete die Serviette zweimal und steckte sie in meine Hosentasche. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihr die Wahrheit zu sagen, doch dann beschloss ich zu lügen. Ich fürchtete nämlich, die Kellnerin würde die Sache nicht verstehen und mich für endgültig übergeschnappt halten.
„Ja, Claudia, das hat er. Er hat mir auch seine E-Mail-Adresse aufgeschrieben.“
„Wer ist er?“, fragte sie. „Er scheint reich zu sein.“
„Er ist sogar sehr reich“, fabulierte ich. „Ihm gehört ein großer Verlag, und ich habe ihm einige Manuskripte geschickt.“
„Das ist gut, Michael. Wird er ein Buch von dir herausbringen?“
„Ich hoffe es, Claudia. Morgen treffen wir uns hier und werden wohl wichtige Details besprechen. Es erfordert nämlich viele Gespräche, bis so ein Projekt auf Schiene ist, musst du wissen“, sagte ich.
Ich gab mich erfahren im Literaturbetrieb, obwohl ich kaum Ahnung davon hatte und habe.
„Das freut mich ja so für dich!“, rief sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Zur Feier des Tages geht dein nächstes Bier aufs Haus.“

Ich fühlte mich plötzlich mies. Ich hatte die herzensgute Claudia angelogen, weil ich zu feig war, die Wahrheit zu sagen - und als Lohn für meine Lügen sollte ich ein Freibier erhalten. Es schmeckte ausgezeichnet.
Nachdem ich das Glas ausgetrunken hatte, gesellte ich mich zu den beiden Stammgästen an der Bar und führte ungezwungen Konversation mit ihnen. Ich wollte mich von den Gedanken abbringen, die ständig durch meinen Kopf waberten - Gedanken an den nächsten Abend und an das, was der Mann von mir wollen mochte.

3

Am nächsten Tag konnte ich keine feste Nahrung zu mir nehmen, so aufgeregt war ich. Ich lief in meiner Wohnung umher, ich versuchte es mit einem Spaziergang am Donaukanal, doch nichts half. Ich überlegte, ob es Sinn machen würde, Peter anzurufen und ihn einzuweihen, doch entschied ich mich dagegen. Er hätte mir womöglich unterstellt, die Serviette selbst beschriftet zu haben. Fernsehen half ebenso wenig wie das Bügeln meiner Hemden, also verbrachte ich den Großteil des Tages im Bett und las.

Um zwanzig Uhr betrat ich das Salzamt und setzte mich an meinen Tisch. Brigitte hatte Bardienst. Sie war neu, und wir kannten uns noch nicht gut, also blieb sie an ihrem Platz hinter der Bar und setzte sich nicht zu mir. Dies war mir nur recht, denn ich war innerlich höchst angespannt und wollte meine Ruhe haben.
Um neun Uhr betrat der Mann das Lokal und setzte sich neben mich auf die Bank aus braunem Leder.
Ich schwieg, wollte ihn den Anfang machen lassen.
„Michael Timoschek“, sagte er.
„Und mit wem habe ich die Ehre?“, fragte ich.
„Mit dir selbst“, gab er zurück.

Ich blickte ihn verdutzt an, dann bedeutete ich der Kellnerin, an meinen Tisch zu kommen. Der Mann bestellte Bier. Ich machte ein paar Scherze, als Brigitte das Glas brachte, und sie lachte. Es ging mir nicht darum, das Mädchen zum Lachen zu bringen, ich wollte bloß Zeit gewinnen; Zeit, um mir eine Reaktion auf seinen Satz zu überlegen.
„Okay“, sagte ich und legte einen Tonfall in meine Stimme, als hätte ich es mit einem gefährlichen Irren zu tun, dem man mit Vorsicht begegnen sollte, um ihn nicht zu reizen.
„Schreiben, trinken, um Geld betteln. Das ist dein Leben“, stellte er fest.
„Nun“, mehr konnte ich nicht dazu sagen. Er hatte recht.
„Oberflächlichen Gören nachlaufen, faulenzen, dich in Träumereien verlieren. Auch das ist dein Leben“, fuhr er fort.
Ich schwieg.
„Wo führt das hin?“

Nun sah ich meine Chance gekommen, etwas über den mysteriösen Fremden in Erfahrung zu bringen.
„Ich vermute“, sagte ich, „dass es dahin führen wird, dass ich in etwa fünfzehn Jahren in einem Maßanzug und in Maßschuhen herumlaufen werde.“
Erst lachte er, dann trat wieder der unmenschliche Blick in seine Augen.
„Wer sind Sie?“, fragte ich. „Und woher zum Teufel wissen Sie, wer ich bin?“
„Ich bin Gustav Fischer. Und ich weiß, wer du bist. Ich weiß auch, was du bist.“
„Was bin ich denn?“
„Zur Zeit ein Poète maudit, das bist du.“
„Was sind denn Sie?“
„Ein Mensch, den du viele Jahre lang enttäuscht hast.“

Ich fühlte, wie sich eine gewisse Ungeduld in mir auszubreiten begann. Wenn ich Informationen erhalten möchte, schätze ich es nicht, auf diese warten zu müssen.
„Dann könnte ich auch ebenso gut Vater zu dir sagen“, fauchte ich. Die förmliche Anrede schien mir einfach nicht mehr angebracht. „Mein Alter ist auch von mir enttäuscht.“
„Ich bezweifle, dass er der Einzige in deiner Familie ist.“
Da wurde es mir zu bunt.
„Jetzt pass auf, du Anzugträger!“, sagte ich in aggressivem Ton. „Entweder du sagst mir sofort, wer du bist, oder zu sein glaubst, und was du von mir willst, oder ich zerre dich an deinen Ohren nach draußen!“
„Gemach, Herr Autor, gemach!“, murmelte Gustav Fischer. „Ich habe viele Jahre lang mein Talent vergeudet. Die Tatsache, dass ich heute Kleidung trage, die du dir selbst nach drei Jahren des Sparens nicht leisten könntest, sollte dir zu denken geben.“
„Ach. Und warum?“
„Weil ich eines Tages aufgehört habe, mein Talent zu vergeuden, und dann bin ich erfolgreich geworden.“
„Auf welchem Gebiet, wenn ich fragen darf?“

Es interessierte mich nicht wirklich, in welchem Bereich der Mann tätig war, doch wenn er sich schon dazu berufen fühlte, mir Vorhaltungen zu machen, sollte er wenigstens ein bisschen von sich preisgeben müssen.
„Wirtschaft, Bankvorstand“, sagte er knapp.
„Habe ich bei deiner Bank etwa auch Schulden?“, fragte ich. „Groß wundern würde es mich nicht.“
„Nein, Timoschek, hast du nicht.“
„Was willst du, Fischer?“
„Du bist der Teller, der einen Sprung hat“, begann er. „Der im Regal ganz hinten steht, weil er niemandes Augen mehr zugemutet werden kann, weil er eine Schande für die Familie ist, in deren Haus er steht. Bloß ab und zu holt man ihn hervor, um Speisereste auf ihm abzulegen.“
„Das kenne ich“, sagte ich gelangweilt. „Ich habe den Text gelesen.“
„Du bist der bis zur Krone im Morast versunkene Baum. Kennst du das auch?“
„Nein, aber sprich weiter“, murmelte ich und simulierte Gähnen. „Es klingt überaus interessant.“
„Du träumst von einem guten Auskommen, von Ruhm und Geld. Doch am öftesten träumst du von einer Person, die dich an der Hand aus deinem Morast herausführt.“

Ich schwieg. Gustav Fischers Worte hatten ins Schwarze getroffen.
„Und jedes Mal, wenn du die Hand ausstreckst nach einer solchen Person - was passiert dann?“
„Keine Ahnung“, sagte ich lakonisch. „Ich werde an der Hand herausgeführt?“
„Nein, Timoschek. Es passiert etwas anderes: Dein Traum zerplatzt.“
„Woher willst du wissen, dass es sich wirklich so verhält, Fischer?“
„Das sind doch deine Themen, an welchen du dich abarbeitest. Mit welchen du dein Talent vergeudest. Die dich dazu bringen, zu billigen Tricks und Rhetorik zu greifen.“
„Wie kommst du darauf?“, rief ich entrüstet.

Ich war keineswegs der Meinung, dass ich mein Talent vergeudete.
„Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, dass in der Kunst alles erlaubt ist, Gustav Fischer?“, fragte ich zornig.
„Erlaubt ist alles, Timoschek. Aber es ist bei Weitem nicht alles Erlaubte auch gut!“
„Dann erzähl mal, womit du dein Talent vergeudet hast. Nachdem du heute angeblich Bankvorstand bist, kann es bei dir mit dem Talent ja nicht allzu weit hergewesen sein.“
„Das tut hier nichts zur Sache!“, knurrte er und sah mich aus seinen unmenschlichen Augen an, in welchen ich eine gute Portion Verachtung erkannte. „Es geht hier um dich!“
„Na schön!“ Ich gab auf. „Lies mir die Leviten! Sag mir, was du zu sagen hast, Fischer!“
„Du musst aufhören, dein Werk zu verpfuschen!“
„Ja, mit billigen Tricks und Rhetorik. Das hatten wir schon.“
„Warum machst du damit weiter?“
„Womit denn?“ Ich begann die Beherrschung zu verlieren.
„Mit den Tricks und dem Geschwafel!“
„Wo kommt so etwas denn vor?“, rief ich.
„Wo Schachtelsätze bei dir vorkommen? Überall!“

Ich dachte nach. Er hatte recht, doch konnte ich das nicht so einfach zugeben.
„Na und?“
„So etwas will niemand lesen! Und was soll der Schwachsinn mit den Türkentauben?“
Ich schwieg.
„Warum tauchen diese Vögel in so vielen deiner Werke auf? Wahrscheinlich weil du einem Rock nachläufst, der diese Viecher gern hat!“
Ich schwieg weiter.
„Und erst das, was du aus vorgegebenen Themen machst! Ein wenig Fantasie könnte nicht schaden! Nie versuchst du, das Unmögliche möglich zu machen! Die Vermutung, dass der Alkohol nicht ganz unschuldig daran ist, liegt weiß Gott nahe!“, herrschte er mich an.

Die Tatsache, dass ein Fremder mir Vorhaltungen bezüglich meiner Kunst machte, trieb mir die Zornesröte ins Gesicht. Dennoch war ich unfähig, etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen.
„Denk darüber nach, Timoschek! Fantasie und kurze Sätze - mehr braucht es nicht, abgesehen von einer Änderung deiner Lebensführung, und zwar einer radikalen Änderung!“
Der Mann trieb mich zur Weißglut, doch hatte ich seinen Worten nichts entgegenzusetzen.

Ich trank den Rest meines Bieres in einem Zug, erhob mich und drückte der Kellnerin einen Geldschein von ausreichendem Wert in die Hand.
Dann ging ich zum Tisch zurück, sah dem Mann tief in die Augen und wandte mich um. Im Hinausgehen machte ich kehrt, um ihm eine letzte Frage zu stellen.
„Bevor ich gehe, habe ich noch eine Frage an dich“, sagte ich.
„Nur zu!“
„Wer bist du wirklich?“
„Dein Leser.“

Michael Timoschek

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Landluft

Brise 1
Die Zeitungsgeschichte

Der Steirer sitzt am Morgen bei Häferlkaffee und Grammelschmalzbrot am Tisch und arbeitet sich durch die aktuelle Ausgabe der größten kleinformatigen Tageszeitung der Steiermark.
Die Schlagzeile ‘Wütende Kuh tötet Bauer auf der Suche nach Frau’ versetzt ihn in Schrecken.
„Nicht einmal die Kühe …“, sagt er sich.
Als er zu den Todesanzeigen kommt, liest er: ‘Herwig Pachern, aus Edelschrott, 35 Jahre.’ und ‘Edeltraud Puchern, aus Vasoldsberg, 36 Jahre.’ und sagt sich: „Guter Durchschnitt, 37 Jahre.“

Regieanweisung: während er sich der Ermittlung des Durchschnittsalters der beiden vor der Zeit verblichenen Menschen widmet, vernimmt er das Summen einer Fliege. Er sieht das Insekt und erkennt hirschfängerklingenscharf, dass es sich bei diesem um jenes Tier handelt, das seinem Haus seit bereits drei Tagen das Stigma der Unhygiene verleiht. Er zieht also seinen rechten Holzpantoffel aus, klopft zweimal darauf - denn Glück kann der Mensch stets brauchen -, zielt und wirft.
Die Fensterscheibe bricht, und der über einhundert Jahre alte Spruch ‘Deus Semper Maior’ liegt in Scherben auf dem Boden verstreut. Der Steirer ist nun einigermaßen traurig und grunzt entsprechend, hat doch seine Ururgroßmutter, die einst Kleinmagd war und dann durch eine geschickte voreheliche koitale Spätfolge Großbäuerin wurde, das Fenster einsetzen lassen. Der selige Altpfarrer des Dorfes, der von allen immer der ‘Geistreiche’ genannt wurde, und von wenigen zu vorgerückter Stunde der ‘Geistvolle’, hat das Fenster mit den Worten: „Oh Gott! Rette dieses Haus und seine Bewohner!“ geweiht. Bevor sich der Steirer an die Beseitigung der Scherben macht, befestigt er einen hübschen Plastiksack von Kastner und Öhler im nun scheibenlosen Fensterrahmen und brummt: „Der Löwe lacht immer.“

 

Brise 2
Die Vaterschaftsgeschichte

Der über sechzig Jahre alte Steirer denkt sich: ‘Ein Baby wäre schon eine feine Geschichte. So könnte ich ein Leben sich entwickeln sehn. Und einen kleinen Menschen nach meinem Vorbild formen. Mein Mäderl ist eh noch jung, also haben wir beide was davon. Und so gute Gene, wie ich sie habe, müssen weitergereicht werden.’

Regieanweisung: Der Steirer steht vor dem Hormonexperten und denkt sich: ‘Was wird der Herr Doktor mir wohl sagen?’
Der Hormonexperte steht vor dem Steirer und denkt sich: ‘Wieder so ein alter Mann, der kurz vor seinem offensichtlich in Bälde zu erwartenden Ableben selbst aufgegebenes Fruchtbarkeitsterrain zurückgewinnen möchte.’
Der Steirer fragt: „Was wird mich das kosten?“
Der Spezialist antwortet: „Anzunehmenderweise werden die Kosten der Hormonbehandlung höher sein als der Betrag, den Sie für Ihr Kind noch werden ausgeben müssen.“
Der Steirer denkt sich: ‘So ein billiges Kind!’ und sagt: „Passt! Dann mal los!“
Der Spezialist sagt: „Aber natürlich!“ und denkt sich: ‘Ein Prachtexemplar von einem Kunden. Wenn ich Glück habe, benötigt er drei Behandlungen.’

 

Brise 3
Die Zeltfestgeschichte

Der Steirer besucht das Zeltfest in Stiwoll und freut sich auf die Musik der volkstümlichen Gruppe ‘Die Lustigen Buam’.
Er steht an der Bar, trinkt aus einem irdenen Maßkrug der Raiffeisenkasse Stiwoll und betrachtet die anwesenden Frauen. Eine gefällt ihm besonders gut, und er nähert sich ihr mit offensichtlichen Absichten.
Der Gefährte der jungen Frau beginnt zu bellen: „Was willst Du von meiner Vroni? Ein Bier willst du ihr bezahlen, ha? Wart nur, den Kelch dazu kannst du gleich haben!“, und erhebt sich.

Regieanweisung: Vroni bittet ihren Begleiter, den werbenden Steirer nicht körperlich zu schädigen, doch vergebens.
In Stiwoll hat gekelcht zu werden, vor allem, wenn Zeltfest ist.
Vor dem Zelt stellt der Begleiter den Steirer vor die Wahl: „Nase oder Eier?“
Der Angesprochene überlegt, doch zu lange für den Geschmack des Pächters von Fräulein Vroni.
Es setzt zwei Hiebe, und das lange Überlegen hat sich gerächt.
Zur Sicherheit wird ein drittes Mal zugeschlagen, und auch der Magen fährt für eine gewisse Zeit in die Grube ein.

 

Brise 4
Die Studiengeschichte

Der Steirer steht vor der Grazer Universität und will Angewandtes Brauchtum studieren, doch in der Steiermark ist das korrekte Tragen von Lederhose und Dirndlkleid noch keine Studienrichtung.
Er steht in seiner Tracht vor der Alma Mater und lamentiert: „Meine Tracht - Vom Opa gemacht - Sie ist nix wert - Drum bleib ich gschert!“

Regieanweisung: Der Dekan der Fakultät für Kulturanthropologie hört das steirische Lamento und wählt instinktiv die Nummer des Dekans der Fakultät für Soziologie und flüstert in sein Telefon: „Herr Kollege, bitte kommen Sie schnell zum Universitätseingang. Ich denke, wir haben ein Exemplar gefunden, das bestens geeignet ist für unseren Versuch, eigene Studienrichtungen für Randgruppen einzuführen. Ein Prachtexemplar, möchte ich sagen!“

 

Brise 5
Die Jagdgeschichte

Der Steirer hält die Bestie in der Hand, betrachtet ihren Kopf und denkt sich: ‘Du Biest, du kommst auf den Rost! Du ärgerst meine Mutter nicht mehr, dafür werde ich schon sorgen!’

Regieanweisung: Die dem Skimmer des Teiches entnommene Ringelnatter zappelt und züngelt und zischt in der Steirerhand, während deren Besitzer dem Reptil streng in die Augen blickt.
„Bestie“, sagt er dann, „du wirst meiner werten Frau Mama nie wieder die Freude am Baden in ihrem schönen Teich verderben! Um dies sicherzustellen, werde ich dich noch heute grillen!“
Die Schlange sieht ihn an, und auf einmal weiß er, was sie ihm mitteilen möchte: „Großer Steirer, bitte verschone mich! Ich bin noch jung, keine zwanzig Zentimeter lang, also fast noch ein Kind!“
Es entspinnt sich ein Dialog.
„Du bereitest meiner Frau Mama Kummer!“
„Ich bin unschuldig, großer Jäger! Ich wurde von meiner Mutter an diesen Teich geführt.“
„Und meine ekelt sich vor dir!“
„Töte mich nicht! Wenn du mich verschonst, hast du drei Wünsche frei!“
„Gut. Erstens: Mach mir diesen Teich mit Obstler voll!“
„Realistische Wünsche.“
„Dann mit Bier. Aber Gösser!“
„Noch realistischer.“
„Das führt zu nichts! Du wirst sterben!“
„Aber ich könnte eine schöne Schlange werden, die viel Ungeziefer vertilgt.“
Das leuchtet dem Steirer ein, als er vom Vertilgen des Ungeziefers hört.
„Du wirst nie wieder im Teich meiner werten Frau Mama schwimmen! Wenn du Ungeziefer vertilgen willst - nur zu! Merze es aus! Aber bedenke: Ich möchte nicht sehen, wo und wie du das machst!“
„Versprochen. Bin ich nun frei?“
„Ja, bis zu dem Tag, an dem du stirbst. An diesem Tag wirst du nämlich hierher zurückkommen, und deine Haut wird mir ein geziemender Leibriemen werden!“, ruft der Steirer und entlässt die Bestie in die Freiheit.

 

Brise 6
Die Rauschgiftgeschichte

‘Ich rauch ein Gras und bring’s zu was’, denkt sich der Steirer und versucht zum dritten Mal an diesem Abend, sich eine Haschischzigarette zu drehen.
Letzten Endes inhaliert er sein im Grazer Stadtpark gekauftes Haschisch und übergibt sich.

Regieanweisung: Nachdem der steirische Drogenaspirant drei fehlgeschlagene Versuche, einen Joint zu drehen, mit der Zufuhr von insgesamt zehn Doppelstamperln Obstler kompensiert hat und auf diese ursteirische Art und Weise zu einem, wenn auch gut bekannten, Hochgefühl gelangt ist, will er es dennoch wissen.
Er leert schnell eine Dose Gösser und raucht das Rauschgift aus der Dose.
Da das Haschisch sich mit dem ihm bestens bekannten Bier vermischt, geht es ihm erst gut.
Als das Bier jedoch verdampft und das Rauschgift seine Wirkung entfaltet, und weil Steirerblut eben kein Wiesensaft ist, vomiert er in hohem Bogen und ziemlich zielgenau erst auf, dann in seine Haferlschuhe.

 

Brise 7
Die Elektrizitätsgeschichte

Der Steirer trällert bei dem Lied ‘Ja lustig ist’s im Steirer-’, doch -’land’ muss er ohne die Unterstützung seines Kassettenradios singen, da ihm offenbar der Strom abgedreht wurde.
‘So ein Unglück!’, denkt er sich.

Regieanweisung: Er weiß, dass sein Radio ein Batteriefach hat, aber da Batterien mit Strom zu tun haben und ihm der ja abgedreht wurde, geht er zu seinem nunmehr lichtlosen Kühlschrank und holt aus diesem seine Spezialbatterie, nämlich die, die ihn selbst wieder auflädt, und das immer.
Nachdem er allen zehn Zellen dieses Kraftspeichers den Saft, nämlich Gösser Märzen, entnommen hat, schläft er ein.
Als er aufwacht, funktioniert sein Radio wieder und sein Nachbar hat ihm auf dem Jogltisch einen Zettel hinterlassen, auf dem steht: ‘Strom gibt’s wieder - bis sie uns das nächste Mal draufkommen. Also: Angezapft ist wieder - Prost!’

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt |Inventarnummer: 17060

Grauskopf

Mein Name ist Dr. Igor Kushkurow und ich bin Professor für angewandte Kreativität an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität.
Für gewöhnlich forsche ich zu Themen wie ‘Die Vor- respektive Nachteile der bodennahen Haltung Schwarzrussischer Finkenbärbiber in außergewöhnlich gestalteten Käfigen oder Gehegen’, oder ‘Wie hat der schwarzrussische Literaturbetrieb auf ein Buch zu reagieren, welches kein Wort enthält?’. Ich darf diese beiden Forschungsgebiete kurz erläutern.

Ein Autor reicht zwanzig unbeschriebene Seiten beim Staatlichen Schwarzrussischen Literaturgroßverlag ein und möchte sein Werk als Roman veröffentlicht sehen. Nun, ich habe den Autor zum Essen eingeladen. Es hat mich zwar einige Mühe gekostet, aus den zwanzig Blatt Papier, die mir der Großverlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, eine schmackhafte Suppe zuzubereiten, doch letztlich habe ich es fertiggebracht. Der Autor dieser zwanzig Seiten wollte sein, wie er es nannte, Hauptwerk erst nicht zu sich nehmen, doch als ich ihm sagte, dass ich meinen Schwarzrussischen Wolfseber holen würde, was diesen grässlich in Harnisch hätte geraten lassen, aß der Literat auf. Ein Wolfseber ist nämlich ein durchaus ernstzunehmender Gegner. Der Literat sah schließlich ein, dass ein Roman zumindest aus dreiundzwanzig Wörtern zu bestehen hat. Ich halte diese Anzahl für ausreichend.

Der Schwarzrussische Finkenbärbiber wiederum ist ein mittelgroßes, gesellig lebendes Wesen, dem allerdings um die Zeit des Vollmondes ein ausgeprägter Hang zum Kannibalismus immanent ist, solange er bodennah gehalten wird. Ich habe ein vollautomatisches Käfig- und Gehegesystem konstruiert, welches die unmittelbaren Folgen dieses Hangs, nämlich den Tod dieser Lebewesen, hintanhält.

Meine letzte Forschungstätigkeit hatte das Problem ‘Die galoppierend zunehmende Kraushaarigkeit weiblicher schwarzrussischer Jugendlicher als Problem auf dem Staatlichen Schwarzrussischen Verehelichungsmarkt, und mögliche Abhilfen’ zum Inhalt, und es handelt sich dabei fürwahr um ein großes Problem. Als Folge einer offenkundigen genetischen Mutation kamen zehntausende weibliche Jugendliche kraushaarig zur Welt. Meine erste Vermutung, alle diese Mädchen hätten den selben Vater, stellte sich als falsch heraus, denn mein guter Freund Dr. Dmitar Schwengeloff, seine beiden Ehefrauen nennen ihn oft ‘wilder Eber’, und er ist selbst kraushaarig, versicherte mir, dass er seine Gattinnen nie betrogen hatte.

Als Ursache dieser Mutation konnte ich letztlich den Verzehr Schwarzrussischer Bockkarpfen ausmachen. Diese Fische ernähren sich vorzugsweise von Schwarzrussischen Gänsefalken, die sie unter Wasser ziehen und mit ihren neunundachtzig messerscharfen Zähnen zerteilen. Die Gänsefalken ernähren sich pflanzlich, sie fressen Wassertulpen und Sumpfagaven. Diese beiden Pflanzenarten sind stark mit DAP, einem Pestizid bester schwarzrussischer Provenienz und Permanenz, was die Dauer der Wirksamkeit anlangt, kontaminiert. Sofort ließ ich den Fang der Bockkarpfen untersagen. Ich halte das für ausreichend, um die Ausbreitung der Kraushaarigkeit einzudämmen.

Danach stand ich vor dem Problem der Kraushaarigkeit zehntausender Mädchen.
Die Schwarzrussisch-Orthodoxe Glaubensfirma lehnte es ab, eine Art Riesenkloster für die Kraushaarigen zu errichten, der Großpatriarch bezeichnete mich gar als endgültig übergeschnappt.
Der schwarzrussische Vizeminister des Inneren weigerte sich, einen von mir vorgeschlagenen Gesetzesentwurf überhaupt zur Debatte zu stellen, wonach sich alle kraushaarigen Mädchen jede Woche zweimal in der jeweils nächstgelegenen Kaserne einzufinden gehabt hätten, um sich das Haupthaar scheren zu lassen. Der Vizeminister nannte mich einen verrückten Zwangsenthaarer. Ich selbst rasiere mir nämlich zweimal den Kopf. Und das jeden Tag. Obwohl ich nicht kraushaarig bin.

Auf dem Staatlichen Schwarzrussischen Verehelichungsmarkt, der am Rande der Großhauptstadt gelegen ist, lehnten es die dort amtierenden Verehelichungsfachmänner ab, neue Kategorien wie kraushaarig-blond, -rot oder -schwarz einzuführen. Selbst mein Vorschlag, diese Kategorien umzubenennen, in krond oder krot, fand kein Gehör.
Mein Freund Dr. Schwengeloff, der Eber, brachte mich in einem langen Gespräch auf die Lösung des Problems. Danke, Dmitar, und prost!

Mein Vetter Narbert Olgach, er ist reich, hatte sich dankenswerterweise bereit erklärt, eine großangelegte Werbeaktion zu finanzieren. Die Sache, also der Krause den Kampf anzusagen, liegt mir nämlich sehr am Herzen. Im gesamten schwarzrussischen Staatsgelände ließ ich riesige Plakate anbringen, auf welchen in Signalfarbe geschrieben steht: ‘Krause muss nicht sein - weder zuhause noch daheim - wenn ihr böse Krausen seht - sollt ihr sprechen ein Gebet!’

Ich durfte nämlich in zahllosen Selbstversuchen herausfinden, dass Gebete helfen, die täglichen Probleme des schwarzrussischen Lebens zu beseitigen. Sie werden jetzt lachen, genau so, wie mich der Großpatriarch ausgelacht hat, als ich ihm meine Erkenntnis mitgeteilt habe. Aber es stimmt. Mein Freund, der Eber, hatte recht, als er meinte, dass ich wohl nur noch durch das Gebet zu retten wäre. Ich kann nicht verstehen, dass mir das nicht selbst eingefallen ist. Dabei wurde ich schon so oft durch Gebete gerettet.

Wie damals, als ich meinen Bruder schabernackiert hatte. Ich hatte die Blößen der Frauen in seinen geliebten Magazinen übermalt, die der Männer jedoch ließ ich stehen. Mein Bruder geriet so sehr in Harnisch, dass ich befürchtete, er würde mich schlagen. Also betete ich. Und meine Gebete wurden erhört. Unsere Mutter kam und entdeckte die eindrucksvolle Sammlung an Magazinen im Lernzimmer meines Bruders. Daraufhin verschwand sie mit meinem Bruder, den sie, wie ich mich erinnere, an seinem Ohr in sein Lernzimmer zog, und ich war gerettet.

Oder als ich einen lebenden Nachtklauengreifer, eine wirklich fürchterliche Bestie, in die Schule mitgebracht habe und der Vogel vor der Zeit aus seiner Betäubung erwachte. In diesem Augenblick haben, so glaube ich, alle im Klassenzimmer gebetet. Und es ist wirklich nichts passiert. Ich glaube aber, dass unser Professor der Biologie nicht richtig gebetet hat, denn er wurde nach diesem Vorfall versetzt. Wenn er nicht schon pensioniert ist, mäht er immer noch den Rasen vor der Schule.

Sie sehen, Gebete helfen. Und nachdem sie mir stets helfen, helfen sie auch allen anderen Menschen, selbst den Krausköpfigen.
Mir ist natürlich bewusst, dass viele der jungen Frauen ihre Erlösung nicht im Gebet suchen werden. Da ich jedoch ein guter Mensch bin, dessen größte Freude es ist, anderen Menschen Gutes zu tun, bin ich außerstande, die jungen Frauen, die nicht beten, mit ihrer Krausköpfigkeit einfach im Stich zu lassen.
Aus diesem Grund habe ich mir von meinem reichen Vetter Narbert, er verdient sein Geld übrigens mit der Herstellung von Pestiziden, eine wirklich große Summe, um präzise zu sein handelt es sich um zwei Milliarden Schwarzrussische Rubel, geliehen.
Mit diesem Geld habe ich eine Kette von Haarschneideläden gegründet und eine Fabrik, in der Mützen und Hauben hergestellt werden, erbaut.
Sie sehen, mein Kampf ist noch nicht zu Ende.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17061

 

Ein loses Band

Einleitung

Konrad, so hieß der Mann, von dem diese Erzählung handelt, war sowohl ein Alkoholiker als auch ein Befehlsempfänger allererster Güte. Zum Zeitpunkt seines Todes war er zweiundsechzig Jahre alt.
Diese Erzählung gibt die letzten drei Tage seines Lebens wieder.

1

„Diese Ware ist unbrauchbar!“, fauchte Konrad. „Sie ist eine Missbildung der Natur!“
„Ich sehe das anders“, gab sein Vetter zurück. Miro, so wurde er gerufen, war der Besitzer der Firma, bei der Konrad beschäftigt war. „Die Ware ist durchaus in Ordnung! Du bist bloß wieder einmal zu betrunken, dies zu erkennen. Wie so oft in letzter Zeit.“
„Was sprichst du da?“, fragte Konrad in einem Tonfall, der sowohl Beleidigung als auch Unverständnis zum Ausdruck brachte.
Doch dieser verfing nicht. Miro kannte seinen Vetter ein Leben lang, die beiden waren schließlich gemeinsam aufgewachsen, sie hatten sogar im selben Haus gewohnt. So war es kein Wunder, dass er diesen Tonfall oftmals gehört hatte, wenn sein alkoholkranker Verwandter versucht hatte, Tatsachen, die ihm unangenehm waren, aus dem Weg zu gehen.

Miro bewunderte Konrad auf der einen Seite für den stets gleichen Versuch, sich mit gespielter Kindlichkeit herauszureden, aber auf der anderen Seite verachtete er ihn auch dafür. Er selbst war nämlich Geschäftsmann, musste also nüchtern kalkulieren und oft auch harte Entscheidungen treffen, somit hatte er gar kein Verständnis für solch infantile Verhaltensweisen, die bloß verhindern sollten, sich wichtigen Dingen zu stellen und sie aus der Welt zu schaffen. Vor allem wenn er getrunken hatte, verfiel Konrad in diese Unart.
„Lass das, Konrad!“, sagte Miro barsch. „Die Ware ist in Ordnung und wird uns gutes Geld einbringen. Du hast also keinen Grund - nicht den geringsten! - dich über sie zu beschweren!“
„Ich bin schon lange in diesem Geschäft!“, protestierte Konrad und versuchte vom Tisch, an welchem beide saßen, aufzustehen. Da er jedoch stark alkoholisiert war, brachte er dies erst beim zweiten Versuch zustande, nachdem er sich mit einer Hand auf der Tischplatte abgestützt hatte. „Ich weiß schon selbst, wann die Ware gut ist, und wann nicht!“ Er wurde laut. „Und überhaupt - wie sprichst du mit mir?!“

Den Hang zum Poltern hatte Konrad schon immer in sich gehabt. Sobald er bemerkte, dass er mit seiner gespielten kindlichen Unschuld nicht durchkommen würde, wurde er laut, und ab und zu sogar gewalttätig. Dann konnte es durchaus vorkommen, dass er Ohrfeigen verabreichte oder gar Faustschläge austeilte.
Miro wich einen Schritt zurück. Er war bereits einmal von seinem Vetter geschlagen worden. Diesem Vorfall war ein Streit über die strategische Ausrichtung der Firma vorangegangen, aus welchem deren Besitzer trotz der Ohrfeigen als Sieger hervorgegangen war.
„Wie ich mit dir spreche, fragst du?“
Nun wurde auch Miro laut. „Wie der Boss mit einem Angestellten, der sich nicht auskennt! Wie der ältere Cousin“, nun brüllte er „mit dem jüngeren, den er einfach nicht rauswerfen kann! Weil er dessen Mutter“, nun schrie er, „seiner lieben Tante“, nun gestikulierte er auch noch wild mit seinen Armen, „versprochen hat, auf ihren Buben“, nun überschlug sich seine Stimme, „der ein Al-ko-ho-li-ker ist“, er betonte jede Silbe, „auf-zu-pass-en!“ Dann schnappte er nach Luft.

Konrad blickte betreten drein und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
Sein Vetter ließ seine Faust auf die Tischplatte krachen und schnaubte: „Nein, mein Herr! Du bleibst jetzt hier! Ich bin noch nicht fertig mit dir!“
Konrad zögerte ein paar Sekunden, setzte sich aber wieder an den Tisch. „Was gibt es denn noch?“, seufzte er.
„Abgesehen davon, dass du wieder einmal zu besoffen bist, um die Qualität der Ware richtig einzuschätzen: Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, in die Personalpolitik meiner Firma einzugreifen? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
Seinen Unterkiefer hatte Miro weit nach vorn geschoben, was Konrad zeigte, dass sein Vetter fürchterlich böse war.

2

Konrad hatte sich zwei Wochen zuvor erdreistet, personelle Umstrukturierungen vorzunehmen, ohne Miro, den Besitzer der Firma, um Erlaubnis zu fragen.
„Du warst ja nicht da“, sagte Konrad schnell. Und dann, mit Unschuldsmiene: „Also musste ich tätig werden.“
Miro lief purpurrot an. „Weil ich im Urlaub war!“, schnaubte er.
„Eben. Du warst nicht da. Wieder einmal!“
Wieder begann Miro zu brüllen. „Wieder einmal? Wieder? Ich habe in den letzten vier Jahren keinen Urlaub nehmen können, weil ich dich nicht alleine lassen konnte!“
„Aber warum denn nicht?“ Wieder die Unschuldsmiene.
„Weil du ein völliger Alkoholiker bist!“ Faust auf den Tisch. „Und wenn du gesoffen hast“, er verdrehte die Augen und seine Stimme gellte, „was täglich zweimal vorkommt, bist du nur sehr bedingt einsatzfähig“, wieder die Faust, „und zurechnungsfähig!“
Konrad schwieg.

„Wie kommst du eigentlich auf die Idee, Maria zu kündigen und zwei neue Arbeiterinnen einzustellen? Wo ich dir doch ausdrücklich aufgetragen hatte, den laufenden Betrieb in der Firma bloß zu überwachen, und ja nicht in diesen einzugreifen!“
„Aufgetragen - wie das klingt!“
Mit sanfter Stimme pflichtete Miro seinem Vetter bei: „Du hast recht, Konrad, das klingt nicht gut“, um gleich darauf wieder zu brüllen: „Befohlen habe ich es dir! Be-foh-len!“
Konrad war in der Tat der geborene Befehlsempfänger. Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, war er im Betrieb seines Vetters untergekommen. Er war Angestellter ohne eigentlichen Aufgabenbereich, sozusagen das Männchen für alles. Er verdiente gut, wenigstens gut genug, um sich jeden Tag zwei Räusche finanzieren zu können.
Einmal hatte er geheiratet, doch nach bereits zwei Jahren wurde die Ehe geschieden, denn er hatte sich in deren Verlauf mehrere Male als gewaltbereit erwiesen.

3

Konrad hatte Maria gekündigt, und das ohne Grund. Sie war die Leiterin der Arbeitsgruppe 1 in Miros Firma gewesen, und das seit dreiundzwanzig Jahren.
Eines Tages hatte Konrad sie an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht, mit ihr zu brüllen begonnen und sie aufgefordert, ihre Papiere zu holen.
Miro hatte in seinem Urlaubsdomizil Wind von der Sache bekommen, jedoch nicht darauf reagiert.
Konrad hatte nach Marias Rauswurf zwei junge und durchaus attraktive Frauen an den freigewordenen Arbeitsplatz gesetzt, die er im Zuge einer ausgedehnten Tour durch etliche übel beleumundete Bars kennengelernt hatte.

4

„Ja, befohlen hast du mir stets etwas!“, fauchte Konrad. „Einfach, weil ich der Kleine bin!“
„Das ist keineswegs der Grund, und das weißt du ganz genau! Ich musste dir stets Befehle geben, ansonsten hättest du einfach nicht funktioniert! Weil du gänzlich unzuverlässig bist, wenn du trinkst. Und das bist du ständig, unzuverlässig.“ Wieder brüllte er. „Weil du ständig besoffen bist, mein Lieber!“
Konrad erhob sich schwerfällig und verließ den Raum. Im Hinausgehen wandte er sich um, zeigte mit dem Zeigefinger auf Miro und sagte grinsend: „Wenigstens hat einer von uns beiden begriffen, worum es im Leben wirklich geht!“
Der Angesprochene sah erbost auf und schleuderte die Schnapsflasche, die Konrad ausgetrunken hatte, in dessen Richtung. Konrad zog schnell die Türe hinter sich zu, sodass die Flasche an dieser zerbarst.
Er ging schnurstracks nach Hause und öffnete eine weitere Flasche Schnaps, die er in einem Zug zur Hälfte leerte. Er drehte sich zwei Haschischzigaretten, rauchte sie und ließ sich, angezogen wie er war, auf sein Bett fallen.

5

„Warum rufst du mich schon um sechs Uhr an?“, fragte Konrad mit belegter Stimme.
„Komm sofort ins Lager!“, befahl Miro barsch.
Der Empfänger dieses Befehls sah an sich herab, stellte fest, dass er immer noch bekleidet, und sogar beschuht war, verrieb etwas Zahnpaste auf seinen Zähnen und verließ seine Wohnung.
Vor dem Lager wartete Miro bereits auf dem Parkplatz auf seinen Vetter. Als er dessen Wagen kommen sah, wurde seine Miene finster, sein Kopf hochrot und er begann, wild mit den Armen um sich zu schlagen und sprang sogar zweimal in die Luft, um seinem Ärger Ausdruck zu verleihen.

Konrad zündete sich eine von sechzig Zigaretten an, deren Rauch er täglich in seine Lungen sog, und blieb vorerst im Auto sitzen, was Miro nur noch wütender werden ließ.
Er lief zum Wagen, trat ein paarmal gegen dessen rechtes Vorderrad, veranstaltete mit seinen Fäusten eine Art Trommelwirbel auf der Motorhaube und riss die Fahrertüre auf.
Konrad, der eben seine Zigarette zum Mund geführt hatte, um an ihr zu ziehen, vergaß vor Schreck, sie wieder aus dem Mund zu nehmen, und sah seinen Vetter aus weit aufgerissenen Augen an, während die Zigarette aus der Mitte seiner Lippen ragte, von diesen fest umschlossen.

Mit beiden Händen packte Miro Konrad an den Schultern und riss ihn mit einer ruckartigen Bewegung aus dem Fahrersitz, um ihm sogleich zwei Maulschellen zu verabreichen.
„Also!“, setzte der Geschlagene zu einem Protest an, wurde jedoch von Miro jäh unterbrochen.
„Was habe ich dir gesagt?“
„Ich weiß gerade nicht, worauf du anspielst!“, gab Konrad mit nervöser Stimme zurück.
„Ich habe dir aufgetragen, das Lager zu reinigen!“
„Das habe ich doch gemacht!“
„Und wie hast du das gemacht, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe erst den Boden gefegt und dann die Waren gereinigt.“
„Womit hast du den Boden gefegt?“
„Mit dem Hochdruckreiniger.“
„Gut. Du hast also“, Miro wurde laut, „den Boden meines Lagers mit Wasser gereinigt?“
„Ja. Ich wollte Zeit sparen.“
„Also auch die Zeit, dir in Erinnerung zu rufen, dass sämtliche Waren im Lager leicht verderblich sind?“
„Miro, ich habe den Boden mit Wasser gereinigt. Was ist daran verkehrt?“
„Was daran verkehrt ist?“ Miros Stimmlage näherte sich der Grenze zum Gebrüll. „Dass sämtliche Waren in Stoffsäcken gelagert werden, das ist verkehrt!“ Er begann mit den Augen zu rollen. „Und dass diese Stoffsäcke nun einmal auf dem Boden stehen. Das ist auch verkehrt!“ Nun hatte seine Stimmlage die Grenze überschritten. „Mehr als die Hälfte der Ware ist verdorben! Verfault, oder gerade am Verfaulen! Das ist am verkehrtesten!“
„Dann ist das Wasser eben nicht abgeflossen!“, versuchte Konrad sich zu verteidigen.
„Wie hätte es denn abfließen sollen, Konrad?“
„Na, durch den Abfluss!“
„Hast du einen solchen ausgehoben?“
„Nein.“
„Dann hatte und hat dieses Lager keinen Abfluss!“
„So teuer ist die Ware auch wieder nicht!“
„Teuer genug war sie jedenfalls!“
„Wir werfen sie einfach weg und bestellen neue. Was hältst du davon?“
„Bestellen werde ich sicherlich neue Ware! Und die Ware, die noch brauchbar ist, wirst du zum Marktplatz bringen und dort verhökern! Und zwar du selbst!“
Konrad murrte, doch fügte er sich.

6

Auf dem Marktplatz bot Konrad die Ware, die nicht völlig verdorben war, zu einem Spottpreis feil, doch konnte er bloß wenig davon an den Mann bringen.
Aus Furcht vor dem neuerlichen Zorn seines Vetters legte er eine Summe eigenen Geldes in die Handkasse. Den Großteil der Ware entsorgte er in den Mülltonnen des Marktes.
Als er Miro die Kasse aushändigte und dieser das Geld darin zählte, bemerkte dieser den Schwindel sehr wohl, doch verlor er kein Wort darüber.
„Konrad, du hast den Schaden, den du angerichtet hast, wenigstens zu einem Teil wieder gutgemacht! Vergessen wir den Vorfall. Für den Rest des Tages gebe ich dir frei.“
Konrad fuhr nach Hause und trank Schnaps, bis er bewusstlos auf den Boden fiel.

7

„Du bist zu spät!“
„Ich musste mir noch die Zähne putzen.“
„Eine Dusche hätte dir auch nicht geschadet!“
Konrad sah Miro fragend an.
„Du stinkst nach Schnaps wie ein Pennbruder!“
„Ich habe gestern noch einen Drink genossen, was ist daran verkehrt?“
„In deinem Fall nichts mehr, mein lieber Vetter. Aber heute besucht ein wichtiger Kunde meine Firma, also hättest du dich beim Alkohol ruhig etwas zurückhalten können.“
„Ich werde einen Kaugummi kauen.“
„Ich fürchte, der wird deine rote Nase nicht verdecken können.“
„Also was soll ich tun?“
Miro zog seine prall gefüllte Geldbörse hervor, entnahm ihr sechs Scheine, reichte Konrad diese und sagte: „Geh in deine Lieblingsbar und mach dir dort einen schönen Tag.“
Konrads Miene erhellte sich. Er nahm das Geld, steckte es in die Hosentasche und fuhr zum einzigen Nachtclub der Umgebung, in welchem man auch am Tag verkehren konnte.

8

Dort wurde er mit zwei ukrainischen Mädchen schnell handelseins und folgte ihnen in das mit einem Whirlpool ausgestattete Luxusséparée.
Die drei saßen in der geräumigen Wanne und waren gerade dabei, sich gegenseitig mit Badeöl einzureiben, als Konrads Mobiltelefon klingelte.
Er sprang aus dem Wasser, kramte das Telefon aus seiner Jackentasche und nahm den Anruf entgegen.
„Konrad, du Idiot! Was hast du dem Kunden letzte Woche in Aussicht gestellt?“
„Ich habe ihm Rabatt angeboten.“
„Und warum gleich vierzig Prozent?“, schnaubte Miro.
„Ich habe mir eben gedacht, er kauft seit drei Jahren bei uns ein, also wäre ein bisschen Entgegenkommen nur fair.“
„Fair? Das Doppelte des üblichen Rabatts?“, brüllte Miro.
„Dann sage ihm eben, dass er doch nur zwanzig Prozent bekommt!“
„Das habe ich!“
„Dann ist doch alles in Butter.“
„Ja, in ranziger Butter! Er ist abgesprungen.“
„Das tut mir leid, ehrlich.“
„Es ist mir egal“, brüllte Miro, „womit du gerade beschäftigt bist, oder mit wem! Du kommst sofort her, damit ich dir eine Abreibung verpassen kann!“, und beendete das Gespräch.
Konrad verabschiedete sich hastig von den Mädchen, zog sich an und lief die steile Treppe, die zu den Zimmern führte, hinab.

Sein offenes rechtes Schuhband bewahrte ihn vor der ihm drohenden Abreibung durch seinen Vetter und auch vor allen weiteren Abreibungen, die in den nächsten Jahren gewiss noch erfolgt wären.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17062

 

Ein hochwissenschaftliches Experiment

Nachdem ich oft gefragt werde, ob bei gewissen Getränken tatsächlich die Wirkung eintritt, die ihnen zugeschrieben wird, habe ich mich zu einem hochwissenschaftlichen Experiment durchgerungen.
Als Proband stand mir mein guter Freund Pavel Shitlick zur Seite, dem ich an dieser Stelle besonderen Dank aussprechen möchte.
Pavel Shitlick ist 23 Jahre alt, von bester Gesundheit und slowakischer Vizemeister im Schlammtauchen. Darüber hinaus ist er Träger zahlreicher nationaler Auszeichnungen, wie der 'Flachen Hand in Gold' und des 'Rudelbocks in Silber'. Er studiert animalische Heilkunde in Bratislava und hat mir Zugang zu seiner 'Hütte für die Betätigung im Rudel' gewährt, in welcher ein Großteil dieses Experiments stattfand.
Dank gebührt an dieser Stelle auch Milorada Fucksalot.

 

Versuch 1

Annahme: Trinkst ein Gösser, wird er größer.
Ort: Pavel Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel, Slowakei
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek
Verwendete Mittel: 12 0,5 Liter Dosen 'Gösser Märzen'

Proband Pavel Shitlicks Penis misst in erschlafftem Zustand 12,3 cm, in erigiertem Zustand 17,8 cm.
Proband Shitlick, ohne Hosen, lediglich mit Hemd und Socken bekleidet, trinkt eine Dose Bier der oben angeführten Marke. Sein Penis misst danach in erschlafftem Zustand 11,8 cm, erigiert 16,7 cm.
Nach dem Konsum von drei Dosen desselben Bieres ist keine Veränderung der Penislängen festzustellen.
Nach dem Konsum von 10 Dosen Bier übergibt Proband Shitlick sich. Sein Penis misst nun in erschlafftem Zustand 10,7 cm, eine Erektion stellt sich, trotz guten Zuredens, nicht zur Gänze ein, in semierigiertem Zustand misst der Penis 13,8 cm.
Nach dem Konsum von zwölf Dosen Bier, somit 6 Litern, fällt Proband Shitlick in Ohnmacht. Sein Penis misst in erschlafftem Zustand nun 7,4 cm. Eine Erektion stellt sich nicht mehr ein.

Fazit: Durch den Konsum von Bier der Marke 'Gösser' wächst der Penis nicht.
Er beginnt vielmehr, sich um sich selbst zu krümmen, also sich einzuringeln.
Die Annahme ist falsch.

 

Versuch 2

Annahme: Trinkst ein Fanta, steht er wie ein Glander. (Umgangssprachlich für Geländer)
Ort: Pavel Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel, Slowakei
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek
Verwendete Mittel: 2 1,5 Liter Flaschen 'Fanta Orange'

Als Vergleichsmaß herangezogen wird das aus Kiefernholz gefertigte Geländer der Veranda von Proband Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel. Das Geländer wird an seinem westlichen Ende mit einem Gewicht von 100 kg in Form handelsüblicher Hanteln aus Stahl beschwert. Ich halte diese Masse für ausreichend. Das Geländer hält dieser Belastung stand.

Proband Pavel Shitlick trinkt 0,25 Liter der oben angeführten Marke. Durch das Blättern in der November-Ausgabe der amerikanischen Herrenzeitschrift 'Hustler' stellt sich eine Erektion beim Probanden ein. Ein Gewicht von 10 kg wird an Proband Shitlicks erigiertem Penis befestigt. Der Penis neigt sich in Richtung des Bodens, das Gewicht fällt zu Boden.
Nach dem Konsum von 1,5 Litern der oben angeführten Marke wird ein Gewicht von 8 kg an Proband Shitlicks wieder erigiertem Penis befestigt. Wieder fällt das Gewicht zu Boden.
Nach dem Konsum der beiden Flaschen, somit 3 Litern der oben angeführten Marke, wiederholt sich das Zu-Boden-Fallen des Gewichtes von 8 kg.

Fazit: Proband Shitlicks Penis hielt zu keinem Zeitpunkt der Belastung stand. Durch den Konsum von 'Fanta' erhöht sich die Standfestigkeit des Penis nicht.
Die Annahme ist falsch.

 

Versuch 3

Annahme: Trinkst ein Sprite, spritzt er weit.
Ort: Pavel Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel, Slowakei
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek
Verwendete Mittel: 2 1,5 Liter Flaschen 'Sprite'

Proband Pavel Shitlick hat vor der Durchführung dieses Versuchs versichert, dank seiner hervorragenden körperlichen Verfassung drei Ejakulationen innerhalb von 90 Minuten hervorrufen zu können.
Ejakulation 1, ohne vorherige Einnahme des Getränks der oben angeführten Marke, ergibt eine Weite von 1,8 Meter. Diese Weite kann als Proband Shitlicks Standardweite hinsichtlich seiner Ejakulation angenommen werden, somit als Referenzweite.
Nach dem Konsum von 1,5 Litern der oben angeführten Marke ejakuliert Proband Shitlick auf eine Weite von 1,3 Metern. Es ist festzuhalten, dass die Menge an Ejakulat beim zweiten Austritt aus Proband Shitlicks erigiertem Penis bedeutend geringer ist als beim ersten Austritt.
Nach dem Konsum der gesamten Menge der oben angeführten Flüssigkeit, somit 3 Litern, erzielt Proband Shitlick, bei verschwindend geringer Menge an Ejakulat, eine Weite von 0,8 Metern. Es ist festzuhalten, dass Proband Shitlick bei dieser dritten Ejakulation erhebliche Schwierigkeiten hat, da sein Penis lediglich die Hälfte des Grades an Steifheit aufweist, die für das ordnungsgemäße Ejakulieren erforderlich ist. Proband Shitlick wendet außerdem bei dieser dritten Ejakulation eine spezielle rektale Technik der Masturbation an, die er laut eigenen Äußerungen selbst entwickelt hat.

Fazit: Die Weite der männlichen Ejakulation wird durch den Konsum der Flüssigkeit 'Sprite' nicht vergrößert. Sie wird vielmehr verringert, und die Menge an Ejakulat nimmt ab.
Die Annahme ist falsch.

 

Versuch 4, a

Annahme: Trinkst du Sekt, wird er geschleckt.
Ort: Diskothek 'Zur drallen Pomeranze', 0815 Blasendorf
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek, drei unbekannte Pomeranzen vom Land
Verwendete Mittel: 2 0,75 Liter Flaschen 'Henkell Trocken'

Proband Pavel Shitlick kommt mit einer der drei Pomeranzen vom Land ins Gespräch. Er erzählt ihr von sich und konsumiert zwei Gläser der oben angeführten Marke, somit 0,3 Liter. Als die Sprache auf Proband Shitlicks Aktivitäten im Rudel kommt, bezeichnet ihn die Pomeranze vom Land als abartig und geht weg.
Proband Shitlick trinkt zwei weitere Gläser, somit weitere 0,3 Liter, der oben angeführten Marke und kommt mit der zweiten Pomeranze vom Land ins Gespräch. Da die junge Frau vom Land nicht imstande ist, die Termini 'oral' und 'anal' der Realität entsprechend einzuordnen, bezeichnet sie Proband Shitlick als schlimmen Stinkefinger und geht weg.
Proband Shitlick konsumiert die ihm zur Verfügung stehende Menge der oben angeführten Flüssigkeit, somit 1,5 Liter, und kommt mit der dritten Pomeranze vom Land ins Gespräch. Proband Shitlick, merklich illuminiert, fordert unmissverständlich sofortigen Oralverkehr ein. Die Pomeranze vom Land verabreicht ihm an Oralverkehrs statt eine Maulschelle und geht weg. Proband Shitlick sucht die Toilette auf und bleibt für fünf Minuten in dieser, um mit gerötetem Kopf wiederzukehren.

Fazit: Der Sekt verhindert den Oralverkehr. Er bewirkt Ablehnung und Maulschellen.

 

Versuch 4, b

Annahme: Trinkst du Sekt, wird er geschleckt.
Ort: 'Tante Paulas Bordell', 4711 Ständerdorf
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek, Milorada Fucksalot
Verwendete Mittel: 2 0,75 Liter Flaschen 'Hochriegl Trocken'

Proband Pavel Shitlick bestellt eine Flasche der oben angeführten Marke. Die in 'Tante Paulas Bordell' verkehrende Milorada Fucksalot setzt sich an seine Seite. Sie leeren die Flasche gemeinsam, somit konsumiert Proband Shitlick die Hälfte der Flüssigkeit, 0,375 Liter, und sie werden handelseins.
Proband Shitlick befindet sich in der Zwangslage, eine weitere Flasche der oben angeführten Marke bestellen zu müssen, um mit Frau Fucksalot auf ein Zimmer gehen zu dürfen. Er borgt sich von mir 500 Euro und begibt sich mit Frau Fucksalot ins Separee.
Als er nach zwei Stunden wiederkehrt, erklärt er auf Nachfrage, dass er Oralverkehr gehabt habe.

Fazit: Der Fall ist somit klar. Sekt generiert Oralverkehr. Gegen Bezahlung, wohlgemerkt.
Die Annahme ist teilweise richtig.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ü18 |Inventarnummer: 17063

 

An der Bar

Der Stammgast lehnt lässig an der Bar seiner Lieblingskneipe und versucht, die hübsche Frau, die er in diesem Lokal nie zuvor gesehen hat, dazu zu bewegen, die Nacht mit ihm zu verbringen.

Er schmeichelt ihr, erklärt ihr, dass an dieser Theke noch nie eine Frau gestanden hätte, deren Schönheit der ihren geglichen hätte. Er bietet ihr an, noch am selben Abend Gulasch für sie zu kochen. Bislang hätte sein Gulasch jeder Frau gemundet, er würde es nämlich in solcher Perfektion auf den Tisch bringen, dass es den Geschmack aller Menschen träfe. Es würde selbstverständlich kein Problem für ihn darstellen, wenn sie den Wunsch äußerte, bei ihm zu übernachten. Er lebte zwar mit seiner Mutter in einem Haus, doch der von ihm bewohnte Bereich wäre großzügig angelegt, sodass sie ungestört wären. Sollte ihr der Sinn nach erhöhtem Alkoholkonsum stehen, so würde ihn dies freuen, Schaumwein der besten Provenienz hätte er stets reichlich zu Hause, und darüber hinaus auch ein hervorragendes deutsches Auto, mit welchem er sie am nächsten Morgen gerne heimbringen würde, und wegen der Abgaswerte bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen.

Die attraktive Frau steht in aufrechter Haltung an der Bar und versucht, ernst zu bleiben. Sie befindet sich zum ersten Mal in diesem Lokal. Vor drei Wochen ging sie eine Beziehung mit dem Barkeeper ein und wurde vor ihrem ersten Lokalbesuch über den Stammgast aufgeklärt, und auch über dessen tatsächliche Lebensumstände.

Sie erfährt, dass sie die schönste Frau ist, die der Stammgast in den letzten drei Tagen zu Gesicht bekommen hat. Es schmeichelt ihr, der Veganerin, auf ein Gulasch eingeladen zu werden. Dass dieses Gericht aus seinem Kochtopf den Geschmack der meisten Menschen trifft, erscheint ihr nicht verwunderlich - nicht umsonst ist die Firma, die die von ihrem Verehrer bevorzugten Konservendosen befüllt, so erfolgreich. Sie weiß, dass sie ohne Weiters bei ihm übernachten könnte. Die beiden müssten dem Liebesspiel bloß leise frönen, denn das Kinderzimmer, das er im winzigen Häuschen seiner Mutter noch immer bewohnt, liegt neben deren Schlafgemach. Die alte Frau schätzt Damenbesuch keineswegs, und es kam bereits einige Male vor, dass sie den weiblichen Frühstücksgästen ihres Sohnes eine Standpauke bezüglich unentgeltlicher Prostitution hielt.

Der jungen Frau, die nur wenig Alkohol trinkt, graut bei der Vorstellung, eine Flasche billigsten Sekt nach der anderen mit ihm zu leeren, doch lässt sie sich nichts anmerken. Als ihr auch noch angeboten wird, im kleinsten Modell aus dem Hause Opel nach Hause gefahren zu werden, beginnt sie zu lachen.

Der Stammgast blickt sie erschrocken an und will sich Hilfe suchend an den Barkeeper wenden, der den Monolog mitgehört hat. Doch dieser befindet sich mittlerweile in der Küche des Lokals, aus der schallendes Gelächter zu hören ist.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17064

 

 

 

Martin Maipolds Weg

„Guten Tag, Herr Diplomingenieur. Mein Name ist Doktor Georg Holter.“
Martin Maipold erhob sich, um dem Mann, der soeben den Raum betreten hatte, die Hand zu geben.
„Maipold, grüß Gott. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“
„Das ist meine Aufgabe. Aber bitte“, Holter wies auf den in englischem Stil gepolsterten braunen Ledersessel, „setzen Sie sich wieder.“

Martin ließ sich nieder, atmete zweimal tief durch und sah den Arzt mit einer Mischung aus Furcht und gespannter Erwartung an. Dieser nahm gegenüber Maipold Platz, in einem Fauteuil gleicher Machart, ein runder Tisch aus Acrylglas stand zwischen ihnen, darauf lag ein Stoß Papiertaschentücher.
Georg Holter trug schwarze Schuhe aus Rauleder, eine graue Anzughose und ein weißes Hemd ohne Krawatte, darüber einen weißen Kittel. Martin Maipolds dunkelgrüne Wollstutzen steckten in schwarzen Haferlschuhen, des Weiteren hatte er eine Lederhose und ein grün-weiß kariertes Hemd an.

„Nun, Herr Maipold, was führt Sie zu uns?“
Der Patient räusperte sich.
„Mir wurde gesagt, dass diese Einrichtung die beste ist.“
„Das freut mich zu hören. Es ist wirklich schön hier. Sie werden eine gute Zeit bei uns haben, glauben Sie mir.“
„Das hoffe ich. Eine Auszeit habe ich dringend nötig.“
„Erzählen Sie mir bitte, was vorgefallen ist.“
„Wo soll ich anfangen?“
„Wo Sie möchten. Wir haben genug Zeit, um herauszuarbeiten, wo der Kern Ihres Problems liegt.“
„Dann fange ich am Anfang an. Mein Name ist Martin Maipold, ich bin sechsundvierzig Jahre alt und von Beruf begeisterter Bauer.“
Holter hob die Augenbrauen, lächelte und sagte: „Das ist gut, dass Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht. Das höre ich leider viel zu selten.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Viele Menschen sind unzufrieden mit ihren Jobs. Bei mir ist es anders, ich wollte von klein auf Bauer werden.“

Martin war durch eine Hausgeburt auf dem Hof seiner Familie zur Welt gebracht worden. Dieser lag am Rande einer kleinen Ortschaft im steirischen Hügelland und wurde von seinen Eltern geführt. Sie hatten Kühe, Schweine, Hühner, Haushasen und zwei Ziegen. Ein Hund zur Bewachung fehlte ebensowenig wie zwei Katzen, welche die Zahl der Mäuse gering hielten.
Sein Vater, Peter Maipold, hatte die Wirtschaft von seinen Eltern übernommen, seine Mutter, Aloisia, war die Tochter von Landwirten aus dem Nachbarort. Martin war ihr einziges Kind. Obwohl Peter und Aloisia sich weitere Kinder gewünscht hatten, war es ihnen nicht vergönnt, eine Schar eigene Kinder auf dem Hof herumtollen zu sehen.

„Hätten Sie gerne Geschwister gehabt?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe so etwas wie einen Bruder, bloß dass er kein leiblicher ist. Er heißt Alois Wurm und stammt vom Nachbarhof.“

Alois wurde drei Wochen nach Martin geboren und war ebenfalls ein Einzelkind. Obgleich die Wurms von beinahe allen Ortsansässigen gemieden wurden, so auch von den Maipolds, freundeten sich die beiden Buben schnell an und wuchsen zusammen auf wie echte Brüder. Vater Wurm war ein im ganzen Dorf bekannter Trinker und Schläger, der seine Wut gerne an jedem ausließ, der gerade in seiner Nähe war. Selbst vor seiner Ehefrau schreckte er nicht zurück, und schon gar nicht vor seinem Sohn. Diesen schlug er am häufigsten, da er schwach und außerdem stets verfügbar war, wenn seinem Vater der Sinn nach einer Tracht Prügel stand.

„So war es kein Wunder, dass Alois jede Gelegenheit genutzt hat, auf unseren Hof zu kommen.“
„Wurden Sie von Ihren Eltern auch geschlagen?“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, je misshandelt worden zu sein.“

Martin war ein Kind der Liebe, und seine Eltern waren gut zu ihm. Ermahnungen und strenge Blicke reichten aus, um ihn in die Schranken zu weisen. In seinen ersten Lebensjahren waren solche oft vonnöten, denn die Tiere, die auf dem Hof lebten, übten eine starke Anziehungskraft auf das Kind aus. Es war ihm streng verboten, sich den großen Arten von Vieh zu nähern, mit den Hasen, dem Hund und den Katzen durfte er jedoch spielen. Nach einer Weile wurde ihm dies aber zu langweilig, und der Reiz des Verbotenen zu groß.
Martin stand oft vor dem engmaschigen Zaun des Hühnergeheges und beobachtete die Vögel beim Herumlaufen und beim Baden in der vom Scharren sandigen Erde. Eines Tages betrat er den Auslauf, um mit den Hühnern zu spielen. Die liefen davon und wollten sich nicht einfangen lassen, also erkor der Bub den farbenprächtigeren der beiden Hähne als Spielgefährten aus und trieb ihn kurzentschlossen in eine der Ecken des Zaunes. Der Hahn geriet in Panik und brachte Martin mit seinem Sporn eine lange und tiefe Wunde auf der Wange bei. Weinend lief der Junge zu seiner Mutter, die ihn sogleich ins Auto setzte und mit ihm zum Dorfarzt fuhr, welcher die Wunde reinigte, desinfizierte und vernähte.

„Wie hat Ihre Mutter auf die Missachtung ihres Verbots, mit den Hühnern zu spielen, reagiert?“
„Gar nicht. Die Hühner waren nicht explizit als tabu bezeichnet worden. Wahrscheinlich haben meine Eltern geglaubt, dass ich an den Vögeln ohnehin kein Interesse haben würde.“
„Wie ist es weitergegangen?“

In der Volksschule saß Martin neben Alois, seinem besten Freund, der zugleich sein einziger war. Sie hatten nicht viel mit den anderen Kindern in ihrer Klasse zu tun, weder im Unterricht noch privat. Sie waren sich selbst genug. Alois kam oft auf den Hof seines Kumpels, um dort zu Mittag zu essen und danach mit diesem gemeinsam die Hausaufgaben zu machen. Beide lernten leicht und schlossen die vierte Klasse mit guten Noten ab.

„Ich hatte damals oft das Gefühl, dass Alois die Zeit bei uns guttat. So konnte er seinem Vater entkommen.“
„Ich verstehe, was Sie meinen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Jetzt verstehe ich nicht mehr, was Sie meinen“, sagte der Psychiater lächelnd.
„Bei Alois ging es in derselben Tonart weiter, das mit den Schlägen. Aber ich konnte ihn nach der Volksschule nicht mehr vor diesem üblen Gesellen schützen, denn unsere schulischen Wege trennten sich.“

Martin besuchte das Gymnasium eines zehn Kilometer entfernten Dorfes, während Alois von seinem Vater auf die Hauptschule geschickt wurde. Mit Leichtigkeit hätte er die Mittelschule abgeschlossen, doch sein Erzeuger erachtete Bildung als unwichtig.
Nach dem Unterricht half Martin seinen Eltern bei der Arbeit und wuchs mehr und mehr in das Leben als Bauer hinein, welches er bald als das für ihn richtige erkannte. Er fütterte das Vieh, mistete die Ställe aus, und auch die großen Gärten für Gemüse und Obst lernte er zu bewirtschaften.
All das geschah jedoch ohne Druck oder gar Zwang vonseiten seiner Eltern. Oft wiesen sie ihren Sohn darauf hin, dass sie mit jeder Berufswahl einverstanden wären, die er treffen würde. Martin aber begann sich schnell als Bauer zu sehen und lernte fleißig in der Schule, denn er hatte vor, nach der Matura ein landwirtschaftliches Studium zu absolvieren.

„Alois wurde von seinem Vater gezwungen, eine Lehre zum Metzger zu machen. Darunter hat er sehr gelitten, denn er wollte auch maturieren“, seufzte Martin Maipold.
„Haben Sie sich in dieser Zeit oft gesehen?“
„Nicht wirklich oft. Nach den Hausübungen haben wir ja beide auf unseren Höfen geholfen. Ich freiwillig, Alois leider nicht. Der wurde so lange geprügelt, bis er sich fügte und die Arbeiten verrichtete, die sein Vater nicht machen wollte. Das war auch der Grund, warum bei ihm mit Mädchen nichts lief.“
„Was war der Grund?“
„Die Schläge, beziehungsweise deren sichtbare Spuren. Er hatte oft ein blaues Auge, und mit so etwas wollte ihn klarerweise keine haben.“

Bei Martin lief es in dieser Hinsichtnicht anders. In der vierten Klasse verliebte er sich in seine Sitznachbarin, doch Anna, so hieß sie, beachtete ihn nicht. Sie war die Tochter einer Zahnärztin und sah auf ihn herab, wie sie es bei allen machte, die in ihren Augen gesellschaftlich schlechter gestellt waren. Eines Tages, kurz vor dem Ende des Sommersemesters, fragte er sie, warum sie seine Avancen durch Nichtbeachtung ins Leere laufen ließ. Sie sagte, dass er nach Kuhstall roch und sie mit so einem Jungen nichts zu tun haben wollte. Tief verletzt, entwendete er am nächsten Morgen einen Flakon aus dem Badezimmer seiner Eltern. Bevor er das Haus verließ, sprühte er sich reichlich mit Parfum ein. Im Klassenzimmer fragte er Anna mit triumphierendem Blick, ob sie immer noch der Meinung war, neben einem wandelnden Stall sitzen zu müssen. Sie prustete los und meinte, dass er wie ihre Mutter roch.

„Haben Sie sich dann, nach den Sommerferien, besser mit Anna verstanden?“, fragte Holter.
„Ja. Nach den Ferien haben wir ein paarmal miteinander geredet und sind draufgekommen, dass wir in vielerlei Hinsicht gleich denken.“
„Und so sind Sie Freunde geworden?“
„Nicht nur das. Wir waren damals drei Jahre lang ein Paar.“

Er und Anna verstanden sich gut in dieser Zeit, doch dann wandte sie sich einem Jungen zu, der ihrer Klasse zugeteilt worden war. Erst verstand Martin die Welt nicht mehr, aber nach wenigen Tagen war die Sache für ihn abgehakt. Dabei half ihm einerseits Alois, mit dem er reden konnte, und andererseits die Arbeit auf dem Hof. Er übernahm immer größere Aufgaben. Oft ging er in die Ställe, bevor er sich auf den Weg zur Haltestelle des Schulbusses machte. Dass er nach Stall roch, kümmerte ihn nicht mehr, denn zu diesem Zeitpunkt sah er sich bereits als Bauer, und nicht als Maturant oder angehender Student.
Alois Wurm schloss seine Fleischerlehre ab und entsprach dem Willen seines Vaters. Er führte den Hof der Familie, ständig überwacht von seinem Erzeuger. Machte er etwas falsch, wenigstens in den Argusaugen dieses Mannes, wurde er mit Ohrfeigen bestraft. An den Abenden, wenn Alois Zeit hatte und auf den Hof der Maipolds kam, saßen die beiden Freunde oft vor dem Wohnhaus auf einer Bank, tranken Bier und redeten.

„Dann haben Sie die Matura abgelegt“, stellte der Psychiater fest, der offenbar rascher in Martins Lebensgeschichte vorankommen wollte.
„Ja, sogar mit ausgezeichnetem Erfolg.“
„Und dann sind Sie wahrscheinlich zum Bundesheer eingerückt.“
„Nein, das ist mir erspart geblieben. Ich bin nach Wien gegangen, um Landwirtschaft zu studieren.“
„Gut. Das Studium haben Sie abgeschlossen. Wann haben die Probleme angefangen?“
„Das war in meinem ersten Studienjahr.“
Der Arzt seufzte. „Herr Maipold, möchten Sie eine Pause machen?“
Martin sah ihn erstaunt an. „Nein, warum?“
Holter erkannte, dass Martin zum ersten Mal in seinem Leben dabei war, über das zu sprechen, was sich in diesem ereignet hatte, und über den Grund, aus dem er sich in die Klinik hatte einweisen lassen.

Durch die Intervention eines Cousins seiner Mutter blieb ihm der Dienst an der Waffe erspart. Er lernte Tanja kennen, die gerade mit ihrem Vater aufs Land gezogen war. Ihre Mutter hatte sich in Graz das Leben genommen, worauf ihr Vater das Haus verkaufte und mit ihr regelrecht aus dieser Stadt floh. Er war Steuerberater und eröffnete eine Kanzlei im Ort. Tanja jedoch gefiel es anfangs überhaupt nicht in dem kleinen Dorf. Sie hasste alles Ländliche und sonderte sich von allen Ortsansässigen ab. Ihre Abneigung brachte sie auch durch die Wahl ihrer Kleidung zum Ausdruck, die stets schwarz war, wie auch die Farbe ihrer Haare.
Dennoch brachte Martin es fertig, das Herz der jungen Frau zu erobern. Da er wusste, wo sie oft im Gras saß und in ihren Büchern las, änderte er einfach die Route, wenn er mit seinem Hund spazieren ging. Eines Tages setzte er sich zu ihr und begann ein Gespräch. Anfangs gab sie sich reserviert, doch bald fasste sie Vertrauen, und es dauerte nicht lange, bis sie ineinander verliebt waren.

„Sie haben sie also davon überzeugen können, dass Sie, obwohl ein Bauer, kein schlechter Mensch sind“, stellte Holter fest. „Das ist doch schön.“
„Ja“, sagte Martin knapp. Er sah für einige Sekunden aus dem Fenster des Raumes, flüsterte „Darf ich?“ und nahm ohne eine Antwort abzuwarten ein Taschentuch vom Tisch, um seine feucht gewordenen Augen zu trocknen.
„Was ist geschehen?“

Martin hatte es fertiggebracht, dass Tanja ihre Einstellung bezüglich des Landlebens änderte. Sie war oft auf seinem Hof, streichelte die Hasen und Ziegen, und freute sich, von Aloisia in die Zubereitung typisch ländlicher Gerichte eingewiesen zu werden, denn sie liebte es zu kochen.
Trotzdem war sie froh, mit Martin nach Wien ziehen zu können. Er schrieb sich an der Universität für Bodenkultur ein, sie an der medizinischen Fakultät. Eines Tages eröffnete sie ihm, dass sie sich unwohl fühlte, und zwar so, wie sich ihre Mutter jahrelang gefühlt hatte. Er bat sie, sich Hilfe zu suchen.

„Hat sich Ihre Freundin psychologisch oder ärztlich behandeln lassen?“
„Ja“, seufzte Martin. „Leider hat es bloß für kurze Zeit etwas gebracht.

An einem sonnigen Frühlingstag betrat Martin die gemeinsame Wohnung und fand seine Freundin tot auf, sie hatte sich erhängt.
In den ersten Wochen nach Tanjas Tod war er zu nichts fähig. Er lag lethargisch im Bett, aß kaum und an den Abenden trank er sich in den Schlaf. Er meldete sich von den noch ausstehenden Prüfungen ab und verbrachte den Sommer zu Hause bei seinen Eltern. Die Arbeit auf dem Hof, die er so liebte, vermochte ihn jedoch ebensowenig aus dem Loch zu reißen, in dem er gefangen war, wie die Gespräche mit seinem besten Freund, der ihn besuchte, wann immer er die Zeit dazu hatte.

„Haben Sie damals erwogen, sich auch umzubringen?“
„Anfangs schon. Ich wollte Tanja folgen, bei ihr sein. Doch das hätten meine Eltern nicht verkraftet. Also habe ich mir auf andere Art und Weise Trost verschafft.“
„Mit Alkohol.“
„Ja, ich habe getrunken. Was ich damit sagen will: Ich habe bis vor wenigen Tagen getrunken. So lange, bis es nicht mehr ging.“

Nach den Sommerferien fuhr Martin nach Wien und nahm sein Studium wieder auf.
Den Alkohol erkor er zum geeigneten Mittel, um den Schmerz loszuwerden, der seit Tanjas Tod in ihm loderte. Er war jedoch kein gewöhnlicher Trinker, keiner von der Sorte, die von früh bis spät trinken. Diese sah er in Wien zuhauf, und sie ekelten ihn an. Tagsüber brauchte er Beschäftigung, um von seiner Trauer abgelenkt zu sein, doch an den Abenden, nach den Vorlesungen, fiel er zurück in sein Loch und trank so lange, bis er nichts mehr fühlte.

„Sie wissen, was man sagt, Herr Doktor: Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.“
„Ich kenne dieses Zitat, Herr Maipold. Und ich glaube, wir wissen beide, welche Auswirkungen der Alkohol auf dessen Schöpfer gehabt hat.“

Da Martin selbst an den Wochenenden das Trinken am Tage ablehnte, war er gezwungen, an den Abenden umso mehr Alkohol zu konsumieren, um die für ihn erforderliche Menge aufzunehmen. Er überlegte, wie er dies bewerkstelligen könnte, ohne öffentlich als saufender Student auffällig zu werden, und auch ohne zu viel Geld für seine Zechen, üblicherweise setzten sich diese aus Bier, Wein und Schnaps zusammen, ausgeben zu müssen. Ein Kommilitone lud ihn in das Haus einer Studentenverbindung ein. Dort wurde viel getrunken, und nach wenigen Besuchen stellte Martin einen Antrag auf Mitgliedschaft. Er musste nicht viel für das Trinken bezahlen und traf auf Gleichgesinnte.

„Ich verstehe“, meinte Holter und musterte die linke Wange seines Patienten.
Dieser verstand, welche Annahme der eingehenden Betrachtung zugrunde lag, und sagte schnell: „Nein, nein, Herr Doktor. Das war eine nichtschlagende Verbindung. Den Schmiss, den Sie zu erkennen glauben, habe ich von unserem Hahn verpasst bekommen.“
Der Arzt lachte und ging nicht weiter darauf ein.

Martin schloss sein Studium bloß zwei Semester über der Mindestzeit ab, und das obwohl er sich beinahe jeden Abend besinnungslos trank.
In den Jahren seines Studiums legte sich die Trauer über den Verlust Tanjas, doch konnte er keine andere Frau für sich gewinnen. Es blieb bei, letztlich flüchtigen und kurzlebigen, Liebeleien, denn sobald eine Frau das wahre Ausmaß seines Alkoholkonsums erkannte, lief sie ihm davon.

„Und nach Ihrem Studium haben Sie den Hof der Eltern übernommen?“
„Ja.“
„Und der Alkohol? Haben Sie weiterhin so viel getrunken?“
„So viel nicht gerade. Noch viel mehr“, antwortete Martin leise.

Sein Vater überschrieb ihm das Gehöft, und Martin trank weiter. Er sorgte gut für die Tiere und führte seinen Betrieb ertragreich, doch seine Abende gehörten dem Alkohol, welchem er in immer höherem Ausmaß frönte. Alois Wurm leistete ihm bei diesen Gelagen oft und gerne Gesellschaft. Dessen Vater war aus unerfindlichen Gründen in einen Silo gestürzt und darin erstickt, somit besaß auch Alois einen eigenen Hof. Beide hatten sie keine Frau, und sie wollten auch keine. Die Gefahr, dass eine solche dem alkoholschwangeren Treiben an den Abenden Einhalt geboten hätte, erschien ihnen einfach zu groß. Wollten sie sich in weiblicher Gesellschaft entspannen, fuhren sie nach Graz und kehrten in bestimmte Bars in gewissen Bezirken ein, in welchen Frauen verkehrten.

„Sie haben Ihr Leben Ihren Trinkgewohnheiten angepasst“, stellte der Psychiater fest.
„Stimmt, das habe ich.“
„Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?“
„Sie haben versucht, mir ins Gewissen zu reden, doch nach einer Weile haben sie es aufgegeben und meine Trinkerei akzeptiert.“
„Was hat Sie bewogen, zu uns zu kommen, um einen Entzug zu machen?“
„Zwei Menschen und eine Krankheit.“

Anna, die Frau, mit der Martin in seinen Jugendtagen liiert gewesen war, war nach ihrer Scheidung und dem plötzlichen Tod ihrer Mutter zurück in ihr Heimatdorf gezogen und stand eines Abends vor seiner Haustüre. Sie redeten die ganze Nacht und beschlossen, es ein zweites Mal miteinander zu versuchen, nun als Erwachsene. Anna hatte ihre Tablettensucht überwunden und versprach Martin, ihm bei einem Entzug zur Seite zu stehen.
Am Tag darauf hatte Alois einen Unfall. Er fiel betrunken von einer Leiter und brach sich dabei drei Rippen und den linken Arm. Martin besuchte ihn gemeinsam mit Anna, und nach einem langen Gespräch entschloss sich auch sein bester Freund zu einer Entziehungskur.
Hatte Martin erst Angst vor einem Leben ohne den Alkohol, der viele Jahre integraler Bestandteil seines Lebens gewesen war, so verflog diese, als er von seinem Hausarzt erfuhr, dass seine Leber durch das Trinken mittelschweren Schaden genommen hatte.

„Herr Maipold, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen“, sagte der Arzt.
„Ja, das habe ich wohl. Allzu lange hätte es nicht mehr gedauert, und meine Leber wäre schwer geschädigt, hat mir der Dorfarzt gesagt.“
„Hat Ihr Freund Alois bereits mit seinem Entzug begonnen?“
„Nein, noch nicht. Sein anonymes Erstgespräch mit Ihnen, Herr Doktor, findet morgen um vierzehn Uhr statt.“

Michael Timoschek

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