Kategorie-Archiv: Fritz Schuler

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Sturz

Alles in Ordnung. Das war es, was alle dachten. Bis zu jenem Zeitpunkt, als sein Bruder Torsten anrief und ihm erzählte, wie ihr Kopf auf die Stufen aufgeschlagen war. Und das Blut runtergeronnen war. Was für ein Schock war das für Fred. Und doch keine Überraschung. Eher logische Folge. Das Ungeheuerliche war nur, dass niemand dagegen etwas unternehmen konnte. Nicht einmal sie selbst! Immer tiefer hatte sich Mutter in ihr Drama verstrickt. Wie ein Wollknäuel in Widerhaken. Fred und seine Geschwister, die als Zuseher heranwuchsen, hatten es irgendwann aufgegeben einzugreifen. Jegliche Versuche ihr zu helfen wehrte sie ab. Jede Tragödie wird irgendwann langweilig!, dachten sie. War sie noch so brutal. Konnte man sich den Ausgang auch ausmalen, keiner wollte den mehr mitansehen. Irgendwann jedoch würde er kommen müssen, der Aufprall am Boden. Die Frage war nur: wann?

Abend war’s, als Torsten sich meldete. Und das hieß nichts Gutes. Wenn er sich meldete, dann gab es immer einen Grund; Fred konnte nicht behaupten, dass in seiner Familie einfach so miteinander geredet wurde. Da musste schon etwas Krasses vorgefallen sein! Und diesmal berichtete der Bruder von Mutter und seinem Besuch bei ihr vor ein paar Tagen anlässlich des Muttertags.

Fred hatte den Muttertag schon hinter sich. Ein Pflichttermin auf seiner To-do-Liste. Glücklicherweise war er zu ihr ins Geschäft gegangen, überreichte ihr übers Verkaufspult hinweg seinen Blumenstrauß, drückte ihr Küsschen auf die Wangen und pflegte ein wenig Smalltalk mit ihr. Besser gesagt übte er sich in der Rolle des Zuhörers; denn Mutter riss – wie so oft – sogleich das Wort an sich und ließ es nicht mehr los. Bei diesem Besuch konnte er nichts Besonderes feststellen, neben gewohnten Merkwürdigkeiten. Mehr als eine halbe Stunde werde ich das nicht aushalten können, wusste er schon und hatte sich davor ein Limit gesetzt. Während seines Zuhörens hatte er die Uhr stets im Auge behalten, um ihr genau diese Zeit zu geben. Und keine Sekunde mehr.

Kurz vor Sperrstunde bin ich ins Geschäft rein, setzte sein Bruder Torsten fort. Ein Mann war noch da, mit dem sie sich unterhielt. Gemeinsam kippten sie Wermut. Freilich war mir das schon aufgefallen: sie und der Wermut. Der angeblich ihre Schmerzen im Kreuz und weiß der Teufel, wo sonst noch, lindern und Durchblutung fördern sollte. Aber ich dachte mir nichts dabei. Ihr Geschäft schließlich! Ihr Leben! Was soll man ihr da verbieten? Zumal sie ja eigentlich schon in Pension und auf das Geschäft nicht mehr angewiesen war.

Wir plauderten noch eine Weile, sagte Torsten. Aber am Zungenschlag konnte man schon merken, dass sie betrunken war. Bis zum Zeitpunkt, als sie ‚Sperrstunde’ sagte, war alles in Ordnung. Dann ergriff sie ihre Autoschlüssel. Und ab da ging es los. Was, du willst heimfahren, fragte ich sie. Nach Hollabrunn? In deinem Zustand? – Was heißt in meinem Zustand?! – Mama, du bist betrunken, vollkommen betrunken! Merkst du das nicht? – Ach, Blödsinn! Misch dich da nicht ein! Mir geht’s bestens. Plötzlich ergriff der Mann zu Gast Partei für Mutter: Torsten bräuchte sich keine Sorgen zu machen, seiner Mutter ginge es gut. Wer er war, wollte Torsten wissen, und wie er dazu käme, derartige Aussagen zu machen. Und schon war eine handfeste Diskussion im Gange.

So konnte ich sie unmöglich ins Auto steigen lassen, fuhr sein Bruder fort, er forderte die Autoschlüssel. Gib sie her, die Autoschlüssel. Ich fahre dich nach Hause. – Aber kommt doch nicht in Frage! Mir geht’s gut. Ich kann alleine fahren. – So lass ich dich sicher nicht fahren. Du bist eine Gefahr! Nicht nur für dich, auch für andere. – Die anderen sind mir egal. Ich geb dir den Schlüssel nicht! Und wenn du Kopf stehst. – Na gut, sagte Freds Bruder. Dann fahren wir eben mit der U-Bahn. – Wohin?, fragte sie, ganz erstaunt.
In deine Wiener Wohnung.
Da kann ich nicht hin, erwiderte sie.
Warum denn nicht?, fragte Torsten.
Da herrscht Chaos. Großes Durcheinander.
Macht nichts, entwaffnete er sie. Ein Bett zum Schlafen wird sich schon finden.

Und, was hast du dann gemacht, fragte Fred. Ich habe sie geschnappt und bin mit ihr zur U-Bahn gewankt. Wie naiv von mir. Bei den Stiegen zum Aufgang zur U-Bahn stolperte sie und landete auf ihrem Mund. Direkt auf ihrem Mund! Erst krabbelte sie hilflos wie ein Käfer herum. Und ich versuchte, ihr wieder aufzuhelfen, setzte sein Bruder die Schilderung fort. Blut rann ihr vom Mund übers Kinn den Hals runter. Sie hatte sich die Lippe aufgeschlagen. Schauerlich! Die Passanten starrten uns an, ehe sie sich wegdrehten. Ich kramte nach einem Taschentuch. Überall suchte ich nach einem Taschentuch, während das Blut … Schnell! Ein Taschentuch, verdammt noch mal! Wo ist jetzt ein Taschentuch?! Da fiel sie wieder hin. Nur wegen dieses verdammten Taschentuchs habe ich jetzt nicht aufgepasst. Diesmal mit dem Gesäß auf die Treppe. Und weil die so abschüssig und ihr Körper so unkontrolliert war, rutschte sie gleich ein paar Stufen weiter hinab. Ihr Hinterkopf schlug auf die Stufen. Diese verdammten Stufen. Tock, machte es. Tock! Was für ein Geräusch! Der Unterkiefer schlug gegen den Oberkiefer. Mutter, die Arme, ächzte nur und stöhnte. Dann bewegte sie sich wie in Zeitlupe, um sich aus ihrer misslichen Lage aufzurichten. Energisch schnappte ich sie mir, hatte aber meine Not diesen schlaffen Körper richtig zu fassen und auf die Beine zu bringen. So sind wir dann zu ihr in die Wohnung. Du kannst dir nicht vorstellen, so sein Bruder weiter, was das für ein Theater war, den Schlüssel zu finden. Ewig fand sie den Schlüssel nicht! In all ihren Taschen kramte sie nach ihrem Schlüssel. Alle Schlüssel, die sie fand, drückte sie mir in die Hand und meinte, ich solle endlich aufsperren. Und wenn ich sagte, jener Schlüssel sei nicht der richtige, behauptete sie, sie hätte mir schon den richtigen gegeben. Schließlich sagte Torsten, sind wir hinein und legte ich sie in ihr Bett.

Er hat dann noch Betty, seine Schwester verständigt, die sich Mutter medizinisch angesehen hat. Als Ärztin ist sie die Einzige, die sie an sich ranlässt. Sonst lehnt sie alles ab! Aber Fred, du kannst dir nicht vorstellen, wie es in der Wohnung aussah. Total verwahrlost! Und nichts funktionierte: kein Warmwasser, überall dreckiges Geschirr in der Küche. Nicht mal händisch abwaschen ging, weil Siphon samt Boiler kaputt waren.

Freds Geschwister haben sich daraufhin getroffen. Zum ersten Mal in ihren Leben Krisensitzung. Um herauszufinden, was passiert war, wie es so weit kommen konnte. Warum ließ sich ihre Mutter nur so gehen? Warum sagte sie nicht einfach, dass sie Hilfe brauchte? Fragen dieser Art schwebten im Raum. Alle waren so betroffen, dass sie nicht einmal den Versuch unternahmen, es sich gegenseitig zu erklären und nach Antworten zu suchen. Irgendwie waren sie alle unfähig, über diese Dinge zu reden. Waren sie allzu sehr betroffen? - Als zum Beispiel ihr Vatergestorben war, hatten sie nie darüber geredet. Dabei wusste jeder von ihnen, wie es sich anfühlte. Nie aber hatte jemand von ihnen darüber geredet. Nie!

Sie ist meine Mutter. Das wird sie immer bleiben. Sie hat mich auf die Welt gebracht, sagte Fred. Worauf sein Bruder Walter plötzlich heftig wurde: Was das soll, diese Ansage von ihm. Sie wäre doch alt genug, er empfände keinerlei Verpflichtung ihr gegenüber. - Aber sie sei krank, hat ein Nervenleiden und merkbare Demenz, warf Betty sachlich ein. Ich werde sie zu einem Facharzt bringen, ob sie will oder nicht. - Tatsache ist, dass sie immer mehr zum Pflegefall wird, sagte sein ältester Bruder Torsten abschließend. Besser wird’s sicher nicht werden.

Sie einigten sich darauf, zuerst die Sanitärsachen, also den Wasserzu- und Ablauf samt Untertischboiler von einem Installateur reparieren zu lassen. Einen Kostenvoranschlag für die Heiztherme einzuholen und einen gemeinsamen Putzeinsatz in der Wohnung zu starten, um das Schlimmste zu beheben. Damit Mutter die Wohnung wenigstens wieder nutzen konnte, wenn ihr Zustand sich verschlimmern sollte. Als Ausweichort, um nicht den weiten Weg nach Hollabrunn im Auto antreten zu müssen.

Als Fred die Wohnung, in der er groß geworden war, zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder betrat, war er um einiges früher da als der Installateur. Er wollte sich zuerst einmal allein einen Eindruck verschaffen. Gleich beim Eingang im Vorzimmer stand ein alter, hoher Kühlschrank, der das Fenster verstellte und nur wenig Licht hereinließ. Das Vorzimmer war seiner Erinnerung nach immer so hell gewesen … und der lange, schöne Perserteppich, den seine Mutter einmal angeschafft hatte, war jetzt mit einer ekligen Staub- und Dreckschicht bedeckt. Scham und ein bitterer Geschmack von Trauer überkamen ihn. Überall an den Bodenrändern lag der Lurch in Bahnen. Ein großer Haufen alter Schuhe lag herum. Die Vorhänge hingen grau und dreckig vor den Fenstern.

In seinen schlimmsten WG-Zeiten sahen die Küchen nicht so aus wie diese hier. Das Geschirr war aufgetürmt. In den Küchenkästen gab es kein einziges sauberes Teil mehr, das man hätte entnehmen können. Dem Installateur wollte, konnte er diese Wahrheit nicht vorsetzen. Unmöglich! Er genierte sich und erzählte ihm, dass seine Mutter die Wohnung vermietet gehabt und jetzt zurückbekommen hatte, eben in diesem erbärmlichen Zustand, wie er sähe. - Machen Sie sich nichts draus, hatte der darauf gesagt, habe schon Schlimmeres gesehen. - Er solle sich nur die kaputten Teile anschauen und ihm einen Kostenvoranschlag zukommen lassen.

Nachdem der Warmwasserboiler samt Armatur in der Küche repariert worden war, veranstalteten seine Geschwister und er eine Putzaktion. Nur die über dreißig Jahre alte Heiztherme im Badezimmer hatten sie nicht tauschen lassen. Viertausend Euro war ihnen allen zuviel. Hatten ihnen schon die anderen Kosten für die Küche genügt. Seine Schwester stürzte sich auf das Badezimmer, sein Bruder Walter auf den Boden. Torsten und Fred begannen in der Küche das aufgestapelte Geschirr wegzuwaschen, um später die horizontalen und vertikalen Flächen der Kästen zu reinigen. Besser nicht denken, sagte er sich. Was machte das alles für einen Sinn? Zu viele unbeantwortete Fragen erzeugten ihm nur Kopfschmerzen. Wenn man darüber nachdachte, konnte einem das den Lebensnerv rauben. Dennoch machte es traurig. All die verpassten Situationen.

Fred erinnerte sich, als er mit Mutter einmal über Glück sprach. Sie erzählte ihm, wie sie kurz vor ihrem Abschluss der Matura-Klasse stand und den Sommer über Geld verdienen wollte. Am besten in einer großen Versicherung, dachte sie. Nur auf dem Bewerbungsformular stand, dass man mit dem Ausfüllen gleichzeitig der sozialistischen Partei beitrat, und damit hatte sie ein Problem. Darüber wollte sie mit dem Personalchef nochmal reden. Alles war hier so aufregend und neu für sie. Und während sie sich in der Schule als die Wissende und erfolgreiche Maturantin fühlte, kam sie sich hier so klein und unwissend vor. Als sie in diesem Gebäude herumirrte, sprach sie ein freundlicher Herr an: Wo wollen Sie denn hin? - In den sechsten Stock zum Chef der Personalabteilung. - Zuvorkommend zeigte er ihr den Weg. Sie kam bis zur Sekretärin, dort war Endstation. Er ist nicht zu sprechen. In einer wichtigen Konferenz, sagte die Sekretärin. – Gut, dann warte ich eben draußen. Drei Stunden wartete sie, bis sie empfangen wurde. Der Personalchef war der Neffe des damals amtierenden Bundespräsidenten, ein großer schlanker Mann mit höflichem Umgang. Mutter spielte das kleine Mädchen aus armer Familie. Geduldig nahm er ihre Daten auf. Danach fragte sie, was jetzt. - Ja, Sie sind genommen. Sie werden von uns noch schriftlich verständigt. Der Beitritt zur Partei war auf einmal unter den Tisch gefallen.

Sie fragte sich, wie man es anders als Glück bezeichnen konnte; denn dass sie ohne Parteizugehörigkeit und Bestechung einen Job bekommen hatte, war damals ein Wunder, nicht nur in ihren Augen. Zufrieden wollte sie sich trotzdem nicht geben. Noch eine andere Möglichkeit fiel ihr ein. Sie hatte da so eine Bank im Kopf. Da würde sie vielleicht sogar noch besser verdienen können. Ein Freund einer guten Bekannten, die bei ihrer Familie ein und aus ging, arbeitete dort. Und er war es auch, der sie auf die Idee brachte, sich dort zu bewerben. Als es dann wirklich dazu kam, war dem wohlsituierten Herrn aber auf einmal gar nicht mehr wohl. Ganz aufgeregt hatte er Mutter zu sich gerufen und ihr ins Gewissen geredet, sie solle ihm auf gar keinen Fall Schande bereiten.

Zu dieser Zeit war Mutter gerade mit ihrem Bruder Fritz zerstritten. Wenn er nach Hause kam, verschwand sie in ihr Kabinett. Ihre Mutter hat immer zu vermitteln versucht: Schau, was die Lisi jetzt macht. Sie hat sich in der Bank beworben. Und als Fritz, der fertige Jurist, den Bewerbungsbogen in die Hände bekam, um einen Blick drauf zu werfen, fiel sein Blick gleich auf einen Fehler: Statt dem abgefragten Mädchennamen der Mutter hatte sie den Vornamen der Mutter hingeschrieben. Gleich machte er ihr eine Szene, was sie nicht für ein Trampel wäre, der nicht einmal die einfachsten Dinge wusste.

Die Beleidigungen ihres Bruders nahmen kein Ende und drangen bis in ihr Zimmer vor, in das sie sich wieder einmal geflüchtet hatte. Und sie ärgerte sich derart, dass sie beschloss, sich einen neuen Bewerbungsbogen zu besorgen. Bei dieser Gelegenheit zeigte ihr die Sekretärin den Stapel an Bewerbungen und meinte, dass es sowieso aussichtslos wäre. Da traf sie zufällig auf einen netten Mann, der auch zum Personalchef wollte. Sie blieb mit ihm draußen vor der Tür am Gang stehen und begann, mit ihm ein Gespräch über Schmetterlinge und Botanik zu führen. Sie erzählte ihm, dass Tintenflecken ihren Bewerbungsbogen verschmutzt hätten und sie deswegen einen neuen benötigte. Als die vorbeilaufenden Leute den Mann devot und freundlich grüßten, wunderte sie sich. Was sind denn alle Menschen hier so nett, fragte sie sich. Erst später erfuhr sie, dass dieser Mann auch eine Führungskraft war. Und Mutter fragte sich, was sie damals nur an sich gehabt hatte, dass sie auch diesen Job bekam, obwohl sie ein Niemand war. Wenn nicht einmal die Tochter vom Chef der Rechtsabteilung in dieser Bank unterkam.

Fred stand mit seinem Bruder, der sich das Geschirr vorgenommen hatte, in der Küche, während er die mit dunklem Holz furnierten Kästen samt Metallgriffen putzte. Er versuchte es zumindest; denn so einfach ging der Dreck nicht weg. Es war so verschmutzt, als ob man mit klebrigen Fingern alles abgegrapscht hätte. Wie war das nur möglich, fragte er sich. So was hatte er noch nie erlebt! Nur die stärksten, aggressivsten Mittel konnten da helfen. Schau, sagte sein Bruder, da sind Ananasdosen - über zwanzig Jahre alt! - Was ist nur alles passiert seither? - Was spielt das schon für eine Rolle, sagte Fred. Hier ist gestern wie heute. Erinnerst du dich, als die Oma noch lebte und wir mit ihr durch die Wohnung jagten. Sie mit dem Teppichpracker hinter uns her. Nie hat sie uns erwischt. Warum war Großmutter bloß so verbittert? – Verbittert, fragte sein Bruder. Das weiß ich gar nicht. - Doch das war sie, sagte Fred. Kennst du das Foto anlässlich ihres 75. Geburtstags, zwei Jahre vor ihrem Tod? – Nein, kenn ich nicht. Hab ich jetzt nicht vor Augen. - Ich aber. Da steht sie da in ihrem besten Kleid mit Goldkette um den Hals und posiert mit fest zugekniffenen Lippen, dass einem Angst und bang werden könnte. Verstehst du das? An ihrem Tag, ihrem Geburtstag! Sie steht da, als ob sie total sauer wäre. Auf was? Auf wen? Unter der Oberfläche explodierte sie förmlich. Vielleicht hatte alles mit dem übertriebenen Ehrgeiz seiner Großmutter begonnen, dachte Fred. Als Oberschwester im Spital, die einen Arzt heiraten wollte. Der hatte sie jedoch wegen Standesunterschieds abgewiesen. Was für ein Schlag, was für eine Kränkung!

Schließlich hat ihr Leben eine völlig andere Richtung genommen. Sie hat einen Polizisten geheiratet und drei Kinder geboren. Während Großmutter zu Hause das Kommando nicht aus den Händen gab, flüchtete sich ihr Mann in die Arbeit oder die Natur. Ein gemütlicher Mann, der sich bei der Polizei als Hundeführer verdingte. Hunde und Natur liebte er über alles. Ihren Ehrgeiz steckte Großmutter von nun an in ihre beiden Buben: Leopold und Fritz. Ihnen wurde jede Unterstützung zuteil, während für Mutter, die Jüngste und obendrein ein Mädchen, nichts mehr blieb. Die beiden Buben nahmen ihre Chancen auch wahr. Leopold wurde Primararzt und Fritz erfolgreicher Wirtschaftsanwalt. Mutter blieb auf der Strecke.

Weißt du, hat Mutter einmal zu Fred gesagt, ich habe in meiner Jugend so viel Glück gehabt. Glück kommt mir vor wie ein Bankkonto. Anfangs hatte ich viel davon. Aber irgendwann, ich weiß nicht genau wann, war es auf einmal leer. Mein Glück war einfach zu Ende, aufgebraucht: Glücksende. Seither habe ich nie mehr den Dreh gefunden, das Konto wieder aufzufüllen. - Schrecklich, dachte Fred. Glück nur im Außen zu sehen: im Job, im Geld, in der Partnerschaft. Ohne Hoffnung und ohne Aussicht auf Änderung. Gleichzeitig aber spürte er eine Gewissheit in sich, dass sich etwas in ihm gegen diese Aussichtslosigkeit auflehnte. Ist Glück nicht mehr im Innen zu suchen?, fragte er sich. Mehr ein Lebenszustand, den man sich auf ewig bewahren kann?

Fritz Schuler
(Anfangskapitel aus dem Roman „Glücksende“ - in Entstehung)

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise |Inventarnummer: 16149

Laufen

Franz liebte es zu laufen. Seit seiner Jugend. Laufen, um den Müll des Alltags abzuschütteln, wieder frisch zu werden, sich zu spüren und lebendig zu bleiben. Besonders nach der Arbeit und dem Stress. Aber nach jenem Tag verging ihm diese Lust. Er wollte nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr frisch machen für Dreckskerle, die es nicht verdient hatten. An jenem Tag, an dem er seinen Job verlor, hatte ihm das Leben eine Lektion verpasst. Gehörig! Freitag der 15. Mai, einer der ersten warmen Frühlingstage des Jahres, war auch der erste Tag seit Langem, an dem sein Chef, Heinz, das Gespräch mit ihm suchte.

„Ich muss mit dir sprechen“, hielt er sich kurz. „Um 10 Uhr bei mir im Büro.“
Endlich, dachte er und hatte sich gefreut, nur weil sein Chef mit ihm reden wollte. Es war absurd, aber Heinz hatte das Wochen, ja Monate zuvor vermieden. Jedenfalls saß er Schlag 10 Uhr in seinem Zimmer. Auch Heinz war gerade eingetroffen. Von einem seiner Termine draußen. Da war er meistens. Kein Mensch wusste, was er den lieben langen Tag so tat. Und kaum hatten sie zu reden angefangen, da drängte seine Sekretärin bei der Tür herein und machte ihm klar, dass einige Entscheidungen unbedingt jetzt erledigt werden mussten. Hektisch lief er wieder aus dem Zimmer und ließ Franz an seinem Besprechungstisch allein zurück.
„Du weißt ja …“, lachte Heinz.
„Natürlich“, lächelte Franz verkrampft zurück, um Lockerheit zu zeigen.
Die Sonne knallte in ungewohnter Stärke durch die Scheibe und wärmte ihm den Arm. Frühling …, endlich Frühling, wird ja auch Zeit. Wie beruhigend!

Als Heinz nach wenigen Minuten wieder hereinkam, ging er hinter seinen Schreibtisch und begann gleich im Stehen: „Du weißt ja, in den letzten Wochen hat es immer Schwierigkeiten gegeben, und deswegen will ich da gar nicht lange herumreden. – Ich glaube, es ist besser, wir trennen uns.“
Franz war sprachlos. - Andererseits war es endlich raus.
„Ich weiß, arbeitsmäßig kann ich dir nichts vorwerfen“, sagte er ruhig. „Du hast deine Arbeit immer ordnungsgemäß erledigt …- Vor drei Monaten habe ich dir die Position des Gruppenleiters angeboten. Und du hast sie nicht angenommen. - Wird schon, hast du gesagt. – Ich versteh dich. - Ich hätte das auch nicht angenommen an deiner Stelle. - Aber so kann es auch nicht weitergehen.“
Stimmt, so konnte es nicht weitergehen, das dachte Franz auch. Dennoch war er überrascht.
„Hier – ich habe alles vorbereitet“, setzte Heinz zügig nach und legte ihm ein Schriftstück vor: „Auflösungsvereinbarung“.
„Lies es dir durch und wenn du einverstanden bist, dann unterzeichnest du einfach. – Ich würde es bevorzugen, wenn du keine Schwierigkeiten machst und zustimmst. - Die offizielle Version ist, dass du dich mit unserer neuen zweiten Geschäftsführerin Frau Piller nicht verstanden hast. – Das entspricht doch den Tatsachen. Oder?“

Nachdem Franz dieses läppische Blatt Papier durchgelesen hatte, lehnte er sich gefasst zurück. Und wenn er auch für andere durch die Glasscheiben des Büros betrachtet einen gelassenen Eindruck machte, wurden in diesem Moment seine Gedanken wie Teilchen beschleunigt, die verzweifelt in ihrer Raserei zu ergründen versuchten, wie es bloß so weit kommen hatte können … Sicher, er musste dem Schreiben nicht zustimmen! Könnte auch kämpfen. Aber was bedeutete das? In den nächsten Tagen, Wochen, vielleicht Monaten eine giftige Atmosphäre ertragen? In der man alles gegen ihn auslegte, bis er schließlich irgendwann selbst das Handtuch warf? - Auch wenn er sich Schützenhilfe vom Betriebsrat holen könnte. Letztlich war es doch nur eine Frage der Zeit. - Was sonst?

Dieser Mistkerl von Heinz, der ihn vor einem Jahr erst geholt hatte, wollte ihn jetzt einfach so im letzten Moment an einem Freitag zu Mittag entsorgen. Auf die Schnelle. Als er ihn ansprach, war er in leitender Position eines Mitbewerbers tätig: hochangesehen und erfolgreich. Franz wollte ihm Dienstleistungen anbieten. Heinz aber trieb im Kaffeehaus das Gespräch in eine andere Richtung, nachdem er zuvor sein Vorhaben einfach abgeschlagen hatte.
„Daraus wird nichts“, unterbrach ihn Heinz bald.
„Ich werde einen Mitbewerber wie dich mit meinen Aufträgen nicht großziehen. Das wirst du doch verstehen. – Aber…“, setzte er fort, „ … so wie ich das sehe, kannst du nicht zufrieden sein mit deinem Job“, begann er und zählte drei Gründe auf, warum er seiner Meinung nach nicht in der damaligen Funktion glücklich sein konnte.
„ … und habe ich recht?“, endete Heinz und schaute ihn fragend an.
Das traf. Und in Franz drin gab es tatsächlich so etwas wie Resonanz. Zweifellos war es seiner langjährigen Branchenkenntnis zuzuschreiben. Sein Mund verneinte jedoch, wollte Heinz in keinem Fall recht geben. Wenn er zuerst nicht wusste, worauf er hinauswollte, stellte sich jetzt doch heraus, was er nicht glauben wollte: „Wir suchen einen so wie dich. Als Abteilungsleiter. – Überleg dir, ob das was für dich ist.“

In den nächsten Tagen, in ruhigen Momenten dachte er noch einmal seine Situation durch: Er war in ein Unternehmen gekommen und hatte in einem turbulenten Jahr das Unternehmen aus der Kostenfalle herausgeführt. Hatte dabei Personal entlassen müssen, was nicht lustig gewesen war, aber die notwendige Antwort war auf den Reformstau, den sein Vorgänger hinterlassen hatte. Nur die Abhängigkeit vom größten Kunden, der um seine Stellung wusste und diese maßlos ausnutzte, blieb erdrückend. Von diesem Druck wäre er befreit, wenn er wechselte. Das wäre gewiss. Aber der nächste Druck würde folgen. Wenigstens käme er in ein großes, bekanntes, strukturiertes Unternehmen mit Background und Wachstumspotenzial. Was aber den Ausschlag gab, war, dass Franz sich geschmeichelt fühlte, gefragt worden zu sein. Obwohl ihn seine Branchenkollegen gewarnt hatten: dass Heinz ein Wendehals sei. Ganz nach dem Winde rede und handle. Aber er stürzte sich hinein in das Neue. Zuerst auf jene Dinge, die vom Vorgänger liegengeblieben waren, und er versuchte sie möglichst rasch einer Lösung zuzuführen. Ganz wie man es von einem Manager erwartete. Vor allem für Kurt, den Mann aus dem Controlling, war er der ersehnte Neuzugang. Kurt, der interimistisch die Dinge erledigte, konnte es schon nicht mehr erwarten, einen wie Franz in die ersten Schritte des Unternehmens und der Systeme einzuführen. Und er konnte es auch nicht mehr erwarten, ihm all jene Themen umzuhängen, die ihm allzu lange schon lästig waren. Dafür war er für alle Fragen und Themen, die aus dem Tagesgeschäft entstanden und über die Franz noch nicht Bescheid wissen konnte, sein Ansprechpartner.

Das Tagesgeschäft lief rund, bis völlig unerwartet viereinhalb Monate später der zweite Geschäftsführer abhanden kam. In der einen oder anderen Bemerkung hatte es sich zwar schon einige Zeit davor abgezeichnet, dass neben Heinz, dem ersten Geschäftsführer, sich ein zweiter als Kontrahent gegen Heinz von Tag zu Tag mehr in Stellung brachte. Franz hielt sich geflissentlich aus diesem Konflikt heraus und war schließlich doch überrascht, wie es ausgehen sollte.

Der zweite Geschäftsführer, ein Mann mit traurigem Blick und steifem Genick, gab aufgrund seines höheren Alters mit vielleicht 55 Jahren und einem Mehr an Erfahrung stets vor, die Nummer eins in der Geschäftsführung zu sein. Er wäre auch vom Vorstand geholt worden, um Ruhe in das Unternehmen zu bringen und die ständige Abwesenheit des ersten Geschäftsführers auszugleichen. Früher war er beim Heer bei den Fallschirmspringern gewesen und einer der Ersten, der mit den damals schweren Kameras am Helm die Sprünge filmte. Bei den Landungen hatte er sich – nach seinen Erzählungen – regelmäßig die Halswirbel gestaucht. Dieser Mann beschuldigte also Heinz, für seine Mitarbeiter nicht ausreichend da zu sein und lieber bei Kunden extern oder bei den Konzernbossen intern ständig dem Lobbying nachzugehen.

Heinz, zehn Jahre jünger als der zweite Geschäftsführer, war ein Mann mit geschwellter Brust. Wenn er dastand, streckte er seine Beine durch, so dass die ganze Energie nach oben stieg und nicht wieder nach unten fließen konnte. Diese Eigenschaft sollte ihm zu gegebener Zeit entsprechend helfen, sich aufzublasen und seinem Gegner Angst einzujagen. Wie jetzt - da er Kampfansagen nicht duldete. Heinz war äußerst zuversichtlich, die wahrgenommenen Schwächen des anderen eines Tages ausnutzen zu können, um ihn schließlich mit seinen guten Kontakten aus dem Feld zu schlagen.

Der Geschäftsführer mit dem traurigen Blick kam eines Morgens um 7 Uhr 30 Uhr mit seinem neuen Audi A6 in eine Besprechung und musste keine drei Stunden später das Unternehmen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln verlassen. Sein Vorgesetzter und zugleich Eigentümervertreter jenes Unternehmens, der ihn erst vor Kurzem eingestellt hatte, hatte ihn völlig überraschend dienstfrei gestellt und aufgefordert, unverzüglich alle Arbeitsmittel zurückzugeben. Das Gespräch, in dem ihm das mitgeteilt wurde, hatte gerade mal dreißig Minuten gedauert. Natürlich hätte es niemand für möglich gehalten, dass ihn dieses Schicksal in seinem Alter je ereilen würde. Danach rief er seine Assistentin an sowie seine ihm unterstellten Mitarbeiter und machte sich unverzüglich auf den Weg, sein Büro zu räumen.

In den ersten Gesprächen hatte er noch kampfeslustig erklärt, dass er die Nummer eins der Geschäftsführung wäre. Und jetzt musste er einsehen, doch am anderen gestrauchelt zu sein. Obwohl man ihm anfangs eine Aufgabe anvertraut hatte: nämlich seinem Geschäftsführer-Kollegen auf die Finger zu schauen. Offenbar hatte er seine Job-Description falsch verstanden!

Es dauerte keinen Monat, da wurde bekannt, dass mit Frau Piller, seiner Nachfolgerin aus dem Konzern mit Schwerpunkt auf das Kaufmännische, frischer Wind in das Unternehmen kommen würde. Im Eiltempo setzte sie eine strenge Kostenkontrolle durch, eine striktere Außenständeverfolgung und vieles mehr. Von Statur war sie eine große, unübersehbare Frau mit vehementem Ausdruck, die es liebte, das letzte Wort zu haben. Einige ihrer Maßnahmen bedeuteten auch eine Delegierung von kaufmännischen Aufgaben in die nächstuntere Hierarchie-Ebene, was bei den operativen Mitarbeitern Jammern und Klagen hervorrief: Wären sie doch für die Durchführung zuständig und nicht für so viel kaufmännischen Kram.

Während Heinz seine Anfangsschwierigkeiten mit Frau Piller eingestehen musste, ließ er sich dadurch nicht verunsichern, hatte er doch genug Raum, ihr auszuweichen, indem er es weiterhin vorzog, „draußen am Markt“ seiner Arbeit nachzugehen. Währenddessen durchforstete Frau Piller die Zahlen des Unternehmens und verschaffte sich durch ihre fordernde Art zur Umsetzung der Maßnahmen Schritt für Schritt mehr Respekt. Nur dann und wann streifte sie ihre Stöckelschuhe unter ihrem Schreibtisch ab, stürmte von ihrem Zimmer zur Toilette, um sich gleich darauf wie eine Spinne wieder in ihre Befehlszentrale zu begeben. Bald schon schüttelten jene Mitarbeiter, die sie beobachtet hatten, ihre Köpfe. Im Konzern war man sich bewusst, dass ihre kaufmännisch-harte Art gerade jetzt nicht so falsch sein konnte. Und gerade in der Zeit der Wirtschaftskrise waren genauere Kostenkontrolle und Sparstift keine Fehler. Nicht nur Investitionen wurden gestoppt, sondern auch Neuaufnahmen, wenn sie nicht unbedingt notwendig oder vorher budgetiert waren. Franz jedenfalls hatte ihr und ihren Maßnahmen ohne Wenn und Aber Unterstützung und Schützenhilfe zu leisten.

Mit ihrem Erscheinen hatte sich auch die Zuständigkeit und Zuordnung seiner Funktion geändert: Obwohl ab sofort Heinz für Franz zuständig war und dieser sich bei offenen Punkten an ihn zu wenden hatte, musste er sich in der Realität mit Frau Piller besprechen, weil Heinz praktisch nie da war. Frau Piller tat aber nur ungern die Arbeit anderer. Nicht nur deswegen war ihr Ton stets ein ungehaltener und schroffer.

Während in der Anfangsphase sein Kontakt zu Heinz und Kurt eng war, und er mit ihnen immer wieder zu Mittag aß, wurde dieser mit der Zeit immer weniger, bis Franz schließlich ganz auf sich allein gestellt war. Damit nahmen auch die Möglichkeiten sich abzustimmen rapide ab. Schmerzhaft in einer Zeit, wo die Probleme bei Kunden extern und intern aufgrund der Sparmaßnahmen an Zahl und Auswirkung zunahmen, und er nicht befugt war, Entscheidungen allein zu treffen.

Zwischen Frau Piller und Heinz musste im Hintergrund etwas besprochen worden sein; denn Problemfälle, die aus dem Tagesgeschäft bei ihm landeten, wurden von Heinz plötzlich gegen seine sonstige Gewohnheit kontrolliert und nachgefragt. Meldungen über Teilfortschritte interessierten nicht. Man wollte Vollzugsmeldungen und pflegte dabei Druck zu machen. Franz spürte, wie sich die Atmosphäre in eine angespannte, feindselige wandelte, wie mit einem Mal die schützende Hand von Heinz über ihm weg war. Auch bei den wöchentlichen Fußballtrainings außerhalb der Arbeitszeit drehte er sich weg, mied jeden Kontakt. Eines Tages, bei einem der wöchentlichen Abteilungsmeetings mit Heinz und den Verantwortlichen aus seinem Bereich, fiel ihm auf, wie sehr diese Meetings von Heinz und seinem Lachen dominiert waren. Und wie alle dem Lachen des Königs huldigten.

Das Lachen von Heinz war sein Markenzeichen. Und so bald er im Büro war, zeigte sein Lachen, dass er anwesend war. Während er durch die Büroräume zog, verstreute er weithin sein Lachen. Wie ein Hund sein Herrchen an den Schritten erkennen konnte, so konnte man ihn erkennen: am lauten, ungebremsten, Raum füllenden Lachen. Mit seinem Lachen markierte er sein Revier. Kunstvoll verstand er es, sein Lachen mit immer neuen Witzen zu füttern, für die er sich seine Zuhörer suchte. Seine Auserwählten. Zu ihnen gehörte Franz nicht mehr. Seine geschäftlichen Punkte, wie immer sie ihm auch unter den Nägeln brannten, waren für Heinz nicht relevant. Er ignorierte sie, wie er ihn ignorierte. Gelang es Franz einmal, Heinz ihre Dringlichkeit klar zu machen, tat Heinz so, als ob er mit lästigen Dingen gestört würde, die jeder andere besser entscheiden könnte.

Von Mal zu Mal kam Franz dieses Lachen herrischer, diktatorischer und ausschließender vor. Und Franz begann, diesem Lachen zu misstrauen, weil es ein so beklemmendes und kein erlösendes war. Nein, eines, das den Dingen etwas abringen wollte. Mit seltsamer Absicht. Als angelernte Strategie, die er sich irgendwann angeeignet hatte. Weil er irgendwo gelernt haben musste: Lachen kommt gut. Gut einsetzbar als Auflockerung für überforderte Mitarbeiter, als willkommenes Geschenk an Aufmerksamkeit und natürlich als Eisbrecher. In seinem Verhalten war Heinz derart firm, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass nichts sein Lachen verstimmen konnte, es vielmehr von ungeheurer Selbstsicherheit und Selbstvertrauen zeugte, dessen man nur allzu gern ein Teil sein, Auserwählter sein wollte.

Mit seinem Lachen wurde scheinbar die Subordination außer Kraft gesetzt. Das äußerte sich in einem ernsten Unernst oder unernsten Ernst, aus dem sich der Geist in jede Richtung gehen ließ, bis alles denkbar wurde, aber nichts mehr galt. Den harten Wahrheiten nahm er damit den Wind aus den Segeln. Allenfalls Andeutungen, Hinführungen, Umschreibungen, um weder Aufruhr noch Empörung zu erzeugen. Franz kam es so vor, als wollte Heinz mit seinem Lachen zeigen, dass nur Schönwetter geduldet und Unangenehmes nicht erwünscht war. Der Oberfläche war nichts anzumerken, sie blieb im Komfortbereich. Ein bisschen Kacke am Dampfen – schnell ein bisschen Lachen. Passt! Nur keine anderen Emotionalitäten, nur keine Empörung, nur kein Ärger, sondern Lachen. Lachen. Lachen.

Als dann Frau Piller bei einer Abteilungsleitersitzung in einem Detail-Punkt nachhakte, deren Zusammenhänge sie auch nach näheren Erklärungsversuchen nicht verstehen wollte, spürte Franz, dass ein Moment gekommen war, da sie ihn abgeschrieben hatte. Ab jetzt wäre er ein totes Pferd, auf das niemand mehr setzte. Und Heinz, der neben ihr saß und keine Rettung, keine Verteidigung, keine Erklärung gab, dachte vermutlich ebenso. Franz war seltsam zumute: Seine Anwesenheit in diesem Hause hatte ein spürbares Ablaufdatum, das nur noch nicht ausgesprochen war.

Und Franz hatte keine Idee, was er gegen diese Feindseligkeit tun konnte. Er fühlte sich in einer Sackgasse. Verzweifelte Denkschleifen nach Auswegen vernebelten ihn und dominierten nicht nur tagsüber seine Welt. Ein seltsames Gefühl der Schwere überkam ihn mit seinen langsamen Sinus-Schwingungen, das ihn ans Bett fesseln wollte. Und da er sich selbst nicht mehr helfen konnte, beschloss er, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Aber sobald er vor dem Coach saß, wusste er nicht mehr, wie er anfangen, davon erzählen sollte. Im Grunde schien ihm alles so lächerlich. Wären denn Worte kraft- und machtvoll genug, noch irgendetwas an den Dingen zu ändern? Oder war nicht schon längst alles entschieden?
Der Coach gab ihm den Rat, in sich einen lichten und fröhlichen Ort zu finden und sich mehr darauf zu fokussieren, als sich von der Realität erdrücken zu lassen. Er riet ihm auch, Dinge zu unternehmen, die ihm Spaß machten und sich nicht von seinen Pflichten auffressen zu lassen.

Aber Schmerz und Ärger waren real und pulsierten in ihm, blähten sich auf und wurden größer und größer. Wollten sie ihn beherrschen, ja verbrennen? Er fühlte sich ihnen ausgeliefert. Es zog ihn in einen Strudel hinein, riss ihn vom Sockel herab ins hilfloseste Dasein, dem er sich unterwerfen musste, so wie man sich am Ende von unmöglich gewordenen Protesten sogar der Unwahrheit beugt. Und hier war die Wahrheit keine andere als das Verschmelzen mit dem Furchtbaren. Kein Ausweichen war möglich. Kein Draußenbleiben, kein Darüber und kein Daneben.

Je mehr sich Franz bemühte, einen guten Job zu machen, desto mieser fühlte er sich behandelt und kälter missachtet. Der gute Draht zu seinem unmittelbaren Umfeld war so gut wie abgerissen. Selbst inoffizielle, kollegiale Gespräche mit seinen Vorgesetzten fanden nicht mehr statt. Und dieses Schweigen wurde von beiden Seiten nicht behoben. Franz konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, es mit gemeinen und durchtriebenen Menschen zu tun zu haben, die etwas gegen ihn im Schilde führten. Ohne Aussicht auf Veränderung, die von keiner Seite in Angriff genommen wurde. Und Franz fühlte sich außerstande, etwas daran zu ändern. Über diesen Schatten konnte er nicht springen. Wenn es seinen Vorgesetzten ebenso erging, dann standen beide Seiten jetzt vor düsteren Gefühlswolken, die sich unheilvoll wie ein Gewitter zusammenbrauten.

Erst war es so gewesen, dass er jegliche Bemühungen auf Veränderung nicht auf sich nehmen wollte, weil er keine Notwendigkeit sah. Und als diese offenkundig wurde, konnte er nicht mehr, ließ es laufen. Aber zu welchem Zeitpunkt war denn die Entscheidung, ihn loszuwerden, getroffen worden? Oder war etwa gar keine Strategie dahinter? Egal. All diese Fragen konnte er ohnehin nicht mehr klären.

Oder aber war es doch anders: Gerade weil er seine Arbeitswelt für feindselig hielt, dass sie sich diesem Bild anpasste wie eine Self-fulfilling Prophecy: Das Äußere spiegelte unbewusst seine Überzeugung wider. Fakt war, dass sich ihm in diesem Unternehmen die Brust zusammenschnürte, sich ein nagendes Gefühl des Unbehagens in seinen Magen fraß. Und all die Phasen des Reflektierens, Analysierens, bewussten Entspannens, ja sogar Meditierens hatten ihm nicht geholfen, obwohl er absolut überzeugt davon war, dass ihm Meditation helfen würde, sein Herz zu beruhigen. Jeden Morgen drückte er sich in irgendeine Seitengasse in der Nähe seines Büros an den Straßenrand, um noch ein paar Runden zu meditieren, bevor er sich in seine Hölle wagte. Aber er schaffte es nicht, sich von seinem Ärger und seiner Wut zu lösen. Er blieb ihr Gefangener.

Als schließlich ein Gruppenleiter mit dem Entschluss an ihn herantrat, eine Hierarchie-Stufe zurückzutreten, weil er Probleme mit dem Herzen hatte und seine Digitalis-Dosis erhöhen musste, bekam Franz von Heinz auch noch den Vorwurf, seine Mitarbeiter in die Überforderung zu treiben. Schließlich legte Heinz ihm nahe, von seiner Position als Abteilungsleiter zurückzutreten und jene des scheidenden Gruppenleiters zu übernehmen.

Irgendwo in seinem Inneren hatte es Klick gemacht. Als ob sich sein Leben an einer Sollbruchstelle entzweit hätte. Und das fühlte sich nicht gut an. Gar nicht gut. Als ob sein Wille, seine Arbeit sauber und fair abzuliefern, zerbräche. Arbeit, auf die nicht nur er stolz sein konnte. Arbeit, nach der man sich ohne schlechtes Gewissen im Spiegel ansehen konnte. Arbeit, die keine verbrannte Erde hinterließ, die niemanden ausbeutete. Arbeit, die allen Gewinn und Nutzen brachte. Das alles zählte nichts mehr. Nichts. Hier zählte etwas anderes. Alles nur keine faire Arbeit. Nur noch, wie man seine eigene Haut rettete. Egal wie. Egal auf wessen Kosten.

Das Gute an dieser Situation war, dass sie ihm die Möglichkeit bot, einmal drei Wochen Urlaub am Stück mit seiner Frau zu nehmen. Was er sich sonst nie erlaubt hätte. Er schmiss die hinteren Sitze aus seinem Van, ließ sich eine passende Schaumstoffmatratze zuschneiden, und fertig war das Schneckenhaus für seine Frau und ihn, mit dem sie ab nach Südfrankreich düsten.
Auf dieser Reise durch Südfrankreich wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wie hart es für ihn sein würde zu genießen. Dass er etwas so Einfaches wie „Genießen“ vergessen hatte. Nicht einmal an einem der schönsten Strände konnte er es sich gemütlich machen. Bald hatte er entweder von der Sonne genug oder konnte nicht still liegen oder sitzen. Und in den Städten, die sie besuchten, war er in eine Art Freizeitstress verfallen, der ihn ständig weiterdrängte, diese und jene Sehenswürdigkeiten zu besuchen und abzuhaken. Aber darum ging es hier nicht. Franz tat sich schwer zu verstehen, dass sein Körper keine Maschine war.

Er wollte sich nicht eingestehen, dass die ungemütlichen Steine und Piniennadeln ihm schwerstens auf die Nerven gingen und er Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Er musste nicht immer am Boden hocken. Er könnte sich auch mit einem Gegenstand wie einem Liegestuhl behelfen, der ihm das Leben erleichtern konnte. Der „Chaise de plage“ war eine durchaus sinnvolle Anschaffung seiner Frau und wurde zum Sinnbild ihrer Reise, die ihn auf eine andere Ebene erhob. Nämlich es sich wert zu sein, Dinge, die es gab, voll zu nutzen, um das Leben besser genießen zu können.

Wieder zu Hause begab er sich auf Arbeitssuche, und es ergriff ihn der Blues. Quälende Fragen holten ihn ein: Was nun? Wie wird das ohne Job? Wann werde ich wieder einen finden? In Zeiten der Finanzkrise! Und wenn - welchen? Falls aber nicht? Wie werde ich meine Familie erhalten können? Wäre es vielleicht das Gesündeste gewesen, sich mit flegelhaftem Unmut zu erheben und seiner Raserei freien Lauf zu lassen? - Stattdessen hielt er sich vielmehr an eine schicksalsergebene Erdulder-Haltung, die zu nichts anderem gut war, als seine Betroffenheit zu verbergen.
„Ich fühle mich nicht gut“, hatte er irgendwann seiner Frau gestanden.
„Wie wär’s, wenn du wieder mal laufen gehst? Dich einfach auslüftest?“
„Keine Lust“, sagte er abwesend.
„Davon wird es auch nicht besser.“
Nach Monaten rief ihn ein Freund an: „Und wie sieht’s aus? Gehst du wieder einmal mit mir laufen?“
„Nein. Nie wieder!“
Verwundert über diese rigorose Aussage fragte der Freund nach. Und Franz erzählte ihm von seiner Situation.
„Warum passiert das alles ausgerechnet mir, kannst du mir das erklären?“
Natürlich konnte sein Freund das nicht erklären. Franz wollte sich einfach nur beklagen - und ertappte sich dabei, immer wieder zu jammern.
„Ich finde, dass die Welt dasteht wie ein Haus, in dem sich einerseits Menschen um einen Futtertrog zusammendrängen, während andere mit hoffnungsvollem Blick draußen stehen und chancenlos in das Haus wollen. Als teilte sich die Welt in jene, die drinnen und jene, die draußen sind. Und ich gehöre nicht mehr zu jenen, die drinnen sind. – Ich bin raus“, sagte Franz resigniert.
Der Freund, erschlagen von seinem Gerede, fragte nur:
„Wann warst du das letzte Mal laufen?“
„Weiß nicht.“
„Ich weiß nicht Franz, ob das so klug ist, was du da machst. - Mir kommt das eher wie ein Knieschuss vor. Du pinkelst dir doch nur selber ans Bein. Merkst du das nicht?“
Das hatte gesessen. Das war in Franz eingefahren. Aber wozu hatte man denn Freunde?!

Seine Arbeitssuche gestaltete sich folgendermaßen: Am Samstag sammelte er die Karrierebeilagen aus ein paar Zeitungen und dem Internet. Und am Mittwoch suchte er sich dann Stellen heraus, die für ihn in Frage kamen. An diesem Tag nahm er sich vor, seine Bewerbungen abzuschicken. Diesen Ablauf hielt er beinahe generalstabsmäßig ein. Struktur, sagte er sich, war jetzt das Wichtigste in jenem seltsamen Vakuum, in dem er sich befand. Außerdem stand einmal im Monat oder alle sechs Woche der Besuch bei seinem Betreuer im Arbeitsmarktservice auf dem Plan. Einem Mann, etwas jünger als er selbst, der von den Schicksalen, die ihm gegenübersaßen, nichts wissen wollte und nicht gerade vor Positivität sprühte. Die Grundhaltung seiner Aussagen war angstbesetzt und besorgniserregend: „Jeden Tag, den Sie länger in der Arbeitslosigkeit verbringen, verlieren Sie an Marktwert. Sind Sie sich dessen bewusst?! – Sie sind nicht mehr in der Position, Forderungen zu stellen. – Sie müssen nehmen, was Sie kriegen können.“

Papperlapapp. Aussagen dieser Art, wie auch die ständig wachsende Anzahl an Absagen, die er zurückbekam, kotzten Franz an. Wie auch die vereinzelten Einladungen zu Gesprächen, die dann nach ein bis zwei Runden ebenso in Absagen mündeten. Wie war es denn möglich, dass man auf einmal auf einen wie ihn, der vierzig Mitarbeiter geführt und zehn Millionen Euro verwaltet hatte, so leichtfertig verzichten konnte? Was machte er falsch in seinen Bewerbungen? Was erwarteten die Unternehmen denn? Und was konnten Bewerber, die ihm vorgezogen wurden, denn so viel besser als er? Gedanken des Vergleichens begannen an ihm zu nagen. Wozu war er denn noch nütze im Leben? – Aber auch zukunftsgerichtete Gedanken tauchten in ihm auf: Was machte ihm denn Spaß? Was war seine Mission im Leben? Was konnte er besonders gut? Was war seine Leidenschaft? Fragen dieser Art hatte er sich lange nicht mehr gestellt.

Dann musste er an seine Frau denken, die ihm einmal gesagt hatte: „Ist das Leben nicht ein einziger Wechsel von Aufstieg und Fall? - Du steigst auf und dann fällst du. Na und? Und wenn du gefallen bist, stehst du einfach wieder auf. Wie ein Kind, das laufen lernt. Auch wenn es mühsam ist. Was ist schon dabei?“ Und als seine Frau einmal nicht zu Hause war, schlüpfte er in seine alten Joggingschuhe und drehte seit Langem wieder einmal eine Runde. Seine Runde.

Fritz Schuler

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16139

 

Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau

Dass die mich nicht eingelocht und freigesprochen haben, war kein Glück, das war Können. Wegen Unzurechnungsfähigkeit zur Tatzeit. Sonst würde ich jetzt noch in der Anstalt hocken. Und ... das mit dem Bild, das habe ich mir reichlich überlegt. Ich meine, da habe ich ein Bild beschädigt und dann stürzen sich alle auf mich wie auf einen Massenmörder. Da kann es schon mal passieren, dass ich total durcheinanderkomm und irgendwas daherplappere. Die tatsächlichen Gründe sind mir damals auch gar nicht klar gewesen. Nicht so wie jetzt. Über die könnte ich ein Buch schreiben.

Was die Zeitungen gebracht haben, war ja sowieso alles Mist. Das war wieder typisch. Von „zerhacken“ konnte ja keine Rede sein. Ich meine, „Irrer“, das kann von mir aus durchaus zutreffen.

Aber irgendwie trauere ich der Zeit noch immer ziemlich nach, in der ich mich regelrecht paradiesisch gefühlt habe. Ich habe jetzt fast das Gefühl, dass derjenige, der da letzten Sommer die Aktion gemacht hat, ein anderer war. So kommt mir das fast vor. Das war ein Sprung aus 30 Metern Höhe mit dem Kopf voran ins kalte Wasser. Überhaupt komm ich mir heute ganz anders vor. Ich kann es gar nicht recht fassen, dass ich das wirklich war. Der, der bin ich nicht, das war ein anderer. Aber wer bin ich denn eigentlich? Meine Geschichte – die klingt wie die eines jeden, irgendwie langweilig. Fast habe ich den Eindruck, die Leute interessieren sich mehr für erfundene Geschichten, für spektakuläre. Sie rechnen sogar damit.

Geboren bin ich in einer kleinen Gemeinde mit 8.000 Einwohnern. Vier Geschwister habe ich noch und davon bin ich der Älteste. In der Schule war ich nicht schlecht, aber das war nicht so wichtig. Meinen Eltern jedenfalls nicht. Sie wollten nur, dass man mehr oder minder ein ordentlicher Kerl wird. Da kommen so Sachen ins Spiel wie Pflichterfüllung. Dass man ehrlich ist. So was in der Richtung. Nach der Matura hab ich dann mit Medizin begonnen. Am Anfang meines Studiums habe ich noch Idealvorstellungen gehabt. Aber ich war von dem, was dort an der Uni gelaufen ist, ziemlich enttäuscht. Ich habe die Art der Leute überhaupt nicht gemocht. Was sich die erwartet haben, hat mit mir überhaupt nicht übereingestimmt. Die hatten vor, ein dickes Auto zu fahren oder sich irgendwelche Annehmlichkeiten zu leisten. Es hat mich regelrecht angeekelt. Die hatten wirklich nur Geld, Autos, Tennis und Mädchen im Kopf. Meinen Eltern war das egal, was ich mache. Die stehen nicht so auf Prestige-Dinge. Aber sie hätten es doch ganz gerne gesehen, wenn ich weitermachte. Ich bin dann nämlich auf Veterinärmedizin umgestiegen. Das Verhältnis zu meinen Eltern? Vater, bestens – mein einziges Vorbild, und Mutter? Sie opfert sich für die Kinder auf.

Jedenfalls zu der Zeit damals habe ich mich wohlgefühlt. Ich kam mir irgendwie als Krönung der Schöpfung vor. Da gab es keine Vorbilder. In so einer Euphorie, da will man vom Arzt nichts wissen, da fühlt man sich kerngesund. Da sind dann automatisch alle Leute, die einen bewegen wollen, zum Arzt zu gehen, vollkommen schwachsinnig. Das gute Gefühl hat man von vornherein. Da braucht eigentlich kaum mehr etwas zu passieren. Das kann gar nicht mehr gesteigert werden. Man ist dauernd fit. So eine Art Schlaflosigkeit und Getriebenheit. In den Zeiten ist das überhaupt kein Problem – wie man so sagt – irgendwelche Frauen aufzureißen. Es geht dann alles wie von selbst. Insofern trägt das noch weiter zur Steigerung von diesem Hochgefühl bei. Der Kopf, der war unheimlich frei. Man hat wesentlich besser denken können. Es waren massenhaft Assoziationen da, und es kam mir so vor, als hätte ich dreimal so schnell gedacht wie irgendwelche anderen Leute. Aber das ist nur für einen selber so.

Man steht vollkommen über allem. In so einem Zustand habe ich in einem nagelneuen weißen Anzug einen Fluss durchquert, weil mir die nächste Brücke zu weit weg war. Ein anderes Mal habe ich Leuten Zigaretten besorgt: Da standen massenhaft Leute vorm Bahnhof, die auf einen Zug gewartet haben. Und die haben mich nach Zigaretten gefragt. Ich hatte keine, weil ich zu der Zeit praktisch kaum geraucht habe. Also habe ich was besorgt. Habe einen Automaten kaputtgeschlagen und den Leuten die Päckchen gebracht. Das war genau gegenüber dem Polizeirevier. Und fünf Minuten später haben die mich eingelocht. Wenn möglichst alle Leute in diesem Zustand wären, dann würde das auf den ersten Blick ziemlich chaotisch ablaufen, das Leben. Aber andererseits doch ziemlich geregelt und regelrecht paradiesisch, weil man sich wohlfühlt und man in diesem Zustand gar nicht in der Lage ist, jemandem richtig weh zu tun.

Ich war vorher schon, ich glaube so zwei Monate vorher, mehr oder minder zufällig in die Nationalgalerie geraten. Und dann war es diese Absperrung, ja erst diese Plastikabsperrung halbkreisförmig um das Bild herum am Boden, die mich so richtig aufmerksam gemacht hat. Was soll das denn, hab ich mich gefragt: Soll das ein Bild schützen oder was? Ich fand das richtig komisch, ich meine, so was findet man ja gewöhnlich auf Parkplätzen. Aber in einem Museum Autos, die Bilder beschädigen, also das finde ich ziemlich komisch. Wie die ein Bild vor seinen Liebhabern schützen! Und dann diese drei Flächen Farbe. Das muss man sich erst einmal vorstellen: ein Riesending mit bloß drei Flächen Farbe drauf. Wenn du davorstehst, kommst du dir richtig klein vor.

Ich habe es mir also angesehen und dann den Wärter gefragt, was das sein soll. Und der gibt mir zur Antwort: Wenn es drei Millionen gekostet hat, dann muss es ja Kunst sein – und dabei hat er sogar noch geschmunzelt. Drei Millionen - habe ich gedacht – ein Wahnsinnspreis. Da muss es etwas Besonderes sein, und hab mir dann das Bild noch einmal aus allen Perspektiven angeguckt. Als ich praktisch in der Mitte vor dem Bild stand, direkt vor der Absperrung, da hatte ich irgendwie so ein ganz seltsames Gefühl. Da hat mich was durchzuckt. Ich verspürte in irgendeiner Form Furcht davor. Für einige Momente bekam ich regelrechte Angstzustände. Ich bin mir da selber nicht sicher, ob man das Gefühl Angst nennen kann. So was Ähnliches. Jedenfalls rein vom Verstandesmäßigen her habe ich überhaupt keine Erklärung.

Im Gegensatz zur Nationalgalerie kenne ich das Dahlemer Museum von verschiedenen Besuchen. Wenige Tage vor der Sache in der Nationalgalerie bin ich da gewesen. Mir ist dort besonders Giovanni Battista Moronis Gemälde aufgefallen: Der Herzog von Albuquerque. Also das war für mich unheimlich lächerlich! Da ist der Don Gabriel auf dem Bild mit einem irgendwie ängstlichen Gesichtsausdruck und darunter auf dem Postament steht: Hier stehe ich ohne Furcht, und der Tod schreckt mich nicht. Unheimlich lächerlich! Ja, das Bild zweifellos, das Bild ist gut. Nichts gegen den Maler, der beherrscht seine Kunst. Aber diese jämmerliche Gestalt des Herzogs hat mich an manche Bücher und Schallplatten erinnert, die ich in der Zeit ebenfalls für Lug und Trug hielt. In meiner Wohnung hatte ich gerade eine Art Ausmistung vorgenommen, alles was Pseudokultur war. Darunter auch sämtliche Bücher von Thomas Bernhard. Ich hatte nämlich den Eindruck, die Leute werden regelrecht an der Nase herumgeführt. Ich weiß bis heute nicht, was ich von dem Bernhard zu halten habe. Einiges von ihm habe ich gelesen und konnte mit nichts auch nur das Geringste anfangen. Aber trotzdem hat er mich irgendwie interessiert. Ich habe gedacht, vielleicht schreibt der so tiefgründig und tiefschürfend, dass man eine Weile braucht, das zu verstehen. Aber gerade zu der Zeit hatte ich das Gefühl, der schreibt so einen Mist, und die Leute mögen das, obwohl es ihnen genauso geht wie mir. Dabei verstehen sie nicht, was er überhaupt bringen will.

Ein Buch muss ein Schlag auf den Kopf des Lesers sein, hat Kafka einmal gesagt – meine Hochachtung vor dieser Feststellung – aber es gibt viel zu wenig Menschen auf dieser Welt mit Wunden auf den Köpfen. Jedenfalls eingeschnürt wie ein Sack habe ich dann den ganzen Schrott in ein Bettlaken und dem Herzog von Albuquerque vor die Füße kippen wollen, weil er die Leute in derselben Art zum Narren hält: dieser ganze Habitus und dazu dieser Wahnsinnspreis. Mit meinem Kulturbeutel haben die mich dort gleich abgewiesen. Und so hab ich das Bündel an der Garderobe abgeben müssen. Wenigstens wollte ich dem scheinheiligen Herzog ein Buch widmen: Watten von Thomas Bernhard habe ich erwischt, um symbolisch etwas dort zu lassen. Ich wollte gerade das orangerote Buch in den Rahmen stellen, da hat mich wieder so ein Wärter ermahnt. Okay, okay ist ja schon gut, denke ich mir. Ich wollte nicht groß mit dem diskutieren, und so habe ich das Buch eben vor das Bild auf den Boden gelegt. Das wird wohl noch erlaubt sein. Es schien mir dann sauberer zu sein nach dieser Art Ausmistung. Gewissermaßen ein kleiner Beitrag zur Sauberkeit für die Wohngemeinschaft.

In der Zeit über Ostern bin ich praktisch allein in der Wohngemeinschaft gewesen. Alle anderen waren weg, und ich war ohne jeden Pfennig Geld, weil ich nicht zur Bank konnte. Ich hatte mit dem Karfreitag nicht gerechnet. Saß also hier rum und war vollkommen pleite. Und weil ich so kribbelig war, konnte ich unmöglich in der Wohnung sitzen bleiben und bin deswegen raus. Ich wollte einfach unter Menschen. Raus, raus, raus. War laufend auf Achse. Mehr oder minder zu Fuß zum Kudamm gezogen und dergleichen ... Dabei bin ich unheimlich geladen gewesen, weil das mit dem Geld nicht geklappt hatte. Ich hatte zwar Schecks, doch damit konnte ich mir nichts kaufen. Ich war fast am Verhungern und Verdursten. Es hat mich fix und fertig gemacht, dass dieses Scheißgeld überall im Weg war. Übrigens, das Geld mache ich oft verantwortlich für alle möglichen Missstände, weil ja die Weltordnung auf dem Kopf steht. Als Inbegriff von diesem ganzen Chaos habe ich dann auch dieses Bild gesehen.

Ich will jetzt nicht das Bild abwerten, aber es geht jetzt rein um den materiellen Wert von diesem Ding. Wenn für so etwas fast drei Millionen Mark bezahlt werden und sonst irgendwo müssen Kinder verhungern, dann ist das doch eine unheimliche, fragwürdige Angelegenheit. Da kann das Bild noch so gut sein, dann müsste es verboten sein, gesetzlich verboten, dass so ein Bild erworben werden darf. Es sei denn, jeder hat ausreichend zu essen. – Das sind alles Sachen, die sind nicht durchzuführen. Aber wieso eigentlich nicht?

Ich bin bereits einen Tag vorher, in der Nacht von Ostersonntag auf Montag, wie in Trance zur Nationalgalerie gegangen. Ich habe in der Nacht Halluzinationen gehabt, weil ich so lange nichts geschlafen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass mich ein Engel oder so etwas zum goldenen Kalb führt, um das die Berliner herumtanzen. Und da war für mich schon klar, dass ich in der Nationalgalerie was machen wollte. Nur war mir da immer noch nicht so recht klar, was. Meine Gedanken kreisten nur noch ums Geld. Wenn man kein Bares hat, dann ist man vollkommen aufgeschmissen. Diese Bedürftigkeit habe ich Ostern über am eigenen Leib richtig erfahren und damals geglaubt, man kann sie den Leuten in einer Aktion irgendwie nahebringen.

Am Morgen hat mir jeder Schritt furchtbar wehgetan. Durch das nächtelange Herumziehen quer durch Berlin waren meine Beine angeschwollen. Ich hatte eine Funkstreife angehalten: Können Sie mich zur Nationalgalerie fahren? Ich hatte einfach kein Geld für ein Taxi. Und wie die mich bemerkt haben, gucken die mich an wie einen Marsmenschen. Was ist denn jetzt los? Wie es bei mir gefunkt hat, waren die schon wieder weg. Einfach abgehauen. Ich hatte ganz das Ding am Kopf vergessen, den blauen Bauhelm. Warum ich den noch aufhatte, weiß ich nicht. Vielleicht fühlte ich mich sicherer. Jedenfalls diese drei Flächen Farbe ließen mir keine Ruhe. Drei Flächen Farbe für 2,7 Millionen DM!

Ich musste es dem Bild einfach zeigen und der ganzen Scheinheiligkeit, der Verlogenheit. Überhaupt der Skrupellosigkeit der Mächtigen. Da kam mir die Idee, ein paar Sachen unter das Bild zu legen. Vielleicht zu den Farben passende Sachen. Da war einmal Rot. Insofern hat mir da die rote Liste schon ziemlich gut hingepasst. Die ist doppelt so dick wie die Bibel mit rund 70.000 Arzneimitteln drin. Die hat jeder Arzt. Mir ist augenfällig, dass die Pharmaindustrie jede Menge Gelder zur Verfügung hat, mit deren Hilfe sie dementsprechend über ihre Lobby in den Gesetzen rumpfuschen kann. Blau – der Spiegel. Auf dieser Ausgabe war die Margaret Thatcher als Jeanne d’ Arc. Das fand ich ein wenig unerhört, obwohl ich von politischen Zusammenhängen kaum was weiß. In Ritterrüstung war sie abgebildet vor dunkelblauem Hintergrund, wie sie mit Glorie in den Falkland-Krieg zieht. Ich habe nur den Eindruck gehabt, dass die Berichterstattung nichts als Lügen gewesen ist. Deshalb hat der Spiegel mir gut in den Kram gepasst für den blauen Teil in diesem Bild. Ich habe wirklich gedacht, die jubeln die Thatcher da hoch zu einer Art Heiliger. Zu der Zeit habe ich das ganz wörtlich verstanden. Beim Gelb habe ich an das gelbe Haushaltsbuch unserer Wohngemeinschaft gedacht, das wir hier seit vier oder fünf Jahren geführt haben. Das erschien mir wesentlich mehr wert, ein Kunstwerk genannt zu werden – und alles was damit zusammenhängt – wie dieses Bild. Für mich ist dieses unscheinbare Haushaltsbuch so ein Symbol von Zusammenleben. In gewissem Sinne ist das für mich – jetzt einmal höher betrachtet – so eine Art unverkäufliches Kunstwerk und die Wohngemeinschaft so was wie ein Gesamtkunstwerk.

Das ist natürlich Blödsinn. Aber es hat für mich größere Bedeutung als so ein Machwerk in dieser Richtung.

Ich weiß, dass mein Rumflippen, bevor es durch die Sache in der Nationalgalerie regelrecht kriminell wurde, anderen Leuten auf den Wecker gegangen ist. Ich bin in einem solchen Zustand dann nämlich auch übermäßig kritisch. Ich habe den Leuten alles Mögliche an den Kopf geschmissen. Teilweise auch Sachen, wo sie arg betroffen waren. Sachen, die man nicht ausspricht.

Und ich weiß ja selber, dass ich in so Zuständen manchmal meine Mitbewohner ganz link behandelt habe, wenn sie mir kritisch gegenübergestanden sind – und das müssen sie ja. In dem Zustand musste laufend etwas los sein. Zumal ich jede zweite Nacht wachgeblieben bin. Die sind ja gar nicht mehr zum Schlafen gekommen. Wenn ich drei Tage lang wach war, dann waren die es auch. Da kam es dann zu ziemlichen Problemen.

Ich habe mich zu der Zeit einfach dermaßen wohlgefühlt, immer permanent wohlgefühlt, dass ich das Bedürfnis hatte, ich müsste anderen Leuten zu diesem Zustand verhelfen. Ich dachte, ich bin im Besitz der absoluten Wahrheit, wie man es machen muss, um richtig zu leben. Ich habe fast auf eine so brutal schulmeisterliche Art und Weise den Leuten dahin helfen wollen. Da kam es oft genug dazu, dass ich nach einer Weile, wenn ich gemerkt habe, die Leute, die ändern sich nicht, die sind nach wie vor in irgendwelche nebensächlichen Sachen verrannt, dass ich die dann irgendwie durch so einen gewissen heilsamen Schock dazu bringen wollte, dass sie genauso drauf kommen werden, wie ich drauf war.

Als ich Dienstagabends also zum Museum komme, ist der Haupteingang verschlossen. Ich hab damals nicht gewusst, dass da eine Ausstellung abgebaut wird. Aber ich hab die Menschen im Inneren des Gebäudes gesehen und bin zum Hintereingang gegangen: Vielleicht ist da offen. Da war so eine kleine Glastüre, da stand „Kein Eingang“ drauf. Und da habe ich mir gedacht, bei den Künstlern, wenn da steht „Kein Eingang“, dann kann man da bestimmt rein. Da war auch prompt offen. Eine Menge Arbeiter waren damit beschäftigt, ein Ausstellungsstück abzutransportieren. Das muss ziemlich empfindlich gewesen sein. Später hab ich irgendwo erfahren, dass das ein 20-Tonnen-Stück war von Joseph Beuys „Unschlitt“. Ich bin da nicht weiter aufgefallen unter den Arbeitern. Habe ja ausgesehen wie die mit meinem blauen Schutzhelm auf und der ausgemusterten Ledertasche. Die haben mich schon gesehen. Aber die waren mit dem 20-Tonnen-Stück beschäftigt. Ich bin weiter so durch die Ausstellungshalle geschlendert, und da stand eine Rolle mit Verpackungsmaterial.

Ich war unheimlich gut drauf, und diese Rolle stand gerade richtig. Wenn man mit einem Fuß so dagegenschlägt, wird die Rolle richtig saftig gefällt. Das hat einen ziemlichen Krach gemacht auf dem Granitfußboden, und die haben sich alle nach mir umgedreht und mich böse angesehen, als würde ich sie bei der Arbeit stören. Irgendeine Entschuldigung habe ich vor mich hingemurmelt und das Ding wieder aufgerichtet: Eventuell ist das ja auch ein Kunstwerk, habe ich gesagt, da hätte ich wohl mehr aufpassen müssen, so was in der Art.

Die Arbeiter haben sich nichts weiter dabei gedacht. Vielleicht dass das nur ein Versehen war, und dann waren wieder alle konzentriert auf diese gewaltigen Fettblöcke, die man langsam mit Öldruckwinden angehoben hat. Das muss ja ungeheuer schwer sein, dachte ich, so wie das aussieht, oder die Maschine ist schlecht. Auf jeden Fall dauerte das eine Ewigkeit. Ich ging auf dieses fünfteilige Ding zu und bin da stehengeblieben, sah eine Weile zu und hab dann auch auf und nieder gesagt: auf – nieder – auf, auf – nieder ... Aber irgendeinem Typen bin ich auf die Nerven gefallen: Wenn Sie hier Kommando geben, dann kann ich ja gleich nach Hause gehen!

Okay, okay, ich geh ja schon. Der hat mir richtig den Spaß verdorben. Die Wärter müssen mich offenbar für einen Transportarbeiter gehalten haben, denn als ich an ihnen vorbeigegangen bin, haben die nichts gesagt. Also wenn ich da gleich aufgefallen wäre und die hätten mich rausgeschickt, dann – ich weiß nicht – dann hätte ich es vielleicht noch mal ausprobiert. Aber ich wäre nicht traurig gewesen. Aber so ...

Im Souterrain der Nationalgalerie befindet sich die ständige Sammlung. An dem Tag war das Haus für Publikum geschlossen, und da haben sie auch die Ausstellungsräume verriegelt und das Licht abgedreht bis auf die Notbeleuchtung. Aber ich wusste ja, wo das Bild zu suchen war und fand mich trotz des Dämmerlichts zurecht. Zum Glück war der Beckmann-Raum, in dem sich das Bild befindet, unverschlossen. Wahrscheinlich war da für eine Putzfrau oder so aufgesperrt worden. Jedenfalls hatte ich unwahrscheinliches Glück. Alles ging so leicht.

Ich bin da runter in diesen mittleren Raum, und da war es ziemlich finster. Da war es ganz schön düster, sodass ich die Farben als Farben gar nicht mehr gesehen habe, nur verschiedene Grautöne. Es war irgendwie ganz seltsam. Dieses Gefühl der Beklemmung von der ersten Begegnung mit dem Bild war wieder da. In diesem Augenblick habe ich Angst gehabt und deshalb laut geschrien. Ich habe aus Leibeskräften gebrüllt. Ich kann es gar nicht fassen, dass mich da niemand gehört hat. Ich war unheimlich laut. Auch schon als ich reingegangen bin, weil ich Angst hatte, dass mir irgendetwas passieren kann. Ich meine, es klingt jetzt vielleicht lächerlich: Was sollte mir schon passieren ... Aber es ist schlecht zu sagen, dass da irgendwelche Gespenster drin hausen ... nichts Artikuliertes, lauter unartikuliertes Zeug. Das Brüllen hab ich als befreiend empfunden. Es hat mir Mut gemacht. Ich wollte zuerst nur die Sachen, die ich in der Ledertasche mit in die Nationalgalerie gebracht hatte, dort hinwerfen und dann wieder gehen. Doch da hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich dagegen wehren muss. Und aus einer gewissen Angst heraus bin ich dann gegen das Bild vorgegangen. Zuerst ein Faustschlag ins Gelbe. Wie so ein Punchingball hat das Gemälde nachgegeben. Das hat bestimmt so einen halben Meter zurückgefedert – vielleicht bilde ich mir das auch nur ein – und hat meine Faust wieder herausgedrückt. Aber es hat sich ganz seltsam und unheimlich zäh angefühlt. Dass es nicht kaputtzubekommen war, hat mich nach diesem ersten Schlag fuchsteufelwild gemacht. Das war so, als würde es sich wehren gegen mich. Dann habe ich diese Stange vom Boden herausgerissen und damit mitten ins Blaue gedroschen. Ich habe gedacht, wenn ich damit dagegenschlage, dann ist es endgültig kaputt. Ich wollte es gar nicht unbedingt kaputtmachen! Ich hatte nur für einen Moment so das Gefühl: Ich muss mich regelrecht dagegen wehren. Deswegen auch der Fußtritt ins Rote. Das war dann nur noch der Rest. Ich muss das jetzt noch mal sagen: Ich habe das alles ja nicht so vollkommen überlegt und geplant gemacht. Das ist im weitesten Sinn ein Unfall gewesen. Ich wollte es dem Bild zeigen. Das habe ich auch denen bei der Vernehmung gesagt.

Auf die dunkelblaue Bildfläche habe ich einen Zettel geklebt mit dem Spruch: Wer es bis jetzt noch nicht versteht, soll dafür bezahlen. – Ein kleiner Beitrag zur Sauberkeit. Der Titel sollte mehr oder minder ironisch ausdrücken, dass ich den ganzen Kunstrummel idiotisch finde. Aber wer eben meint, diese Aktion sei irgendetwas wert, der könne sie mit seinem Geld erwerben und der soll ruhig schon mal dafür bezahlen.

Vor dem roten Teil habe ich die rote Liste hingeworfen. Vor den blauen den neuesten Spiegel und vor den gelben Teil: das gelbe Haushaltsbuch und drauf den zweiten Zettel mit meiner Anschrift. Dann habe ich noch mein rotes Sparbuch dort gelassen und einige Schecks, die ich mir am Morgen geholt habe. Zu holen war da sowieso nichts. Ich war ja total abgebrannt.

Beim Rausgehen hatte ich nicht das Gefühl, ich muss dahinschleichen – überhaupt nicht. Was sollte mir schon passieren! Ich muss dazu auch sagen, wenn das nichts geworden wäre, wäre es mir auch egal gewesen. Ich wollte für mich dadurch nicht irgendwie einen befriedigenden Zustand erreichen. Ich war so gut drauf, mir ging es so gut, dass es kaum zu steigern war.

Als ich plötzlich aus dem Beckmann-Raum gekommen bin, stand ein alter Wärter vor mir und sagte: Im Museum haben Sie nichts zu suchen. Ich war sehr ruhig und gelassen. Nach der Erregung und dem Gebrüll hatte ich überhaupt keine Angst mehr vor irgendwelchen Konsequenzen. Der hat mich dann in die obere Halle zurückgeführt und am Haupteingang auf die Straße gesetzt. Vorher hatte er noch meine Ledertasche kontrolliert. Da war mittlerweile nichts mehr drin – bis auf so ein paar Schecks.

Ich kann mir die Situation gut vorstellen, während ich in aller Ruhe verschwunden bin, macht er das Licht an und sieht auf seine alten Tage genau das, was er immer verhindern wollte. Das ist die Angst eines Museumswärters.

Als die ganze Sache dann gelaufen war, war ich irgendwie so benommen, als ob ich gerade aus dem Kino käme. Der Typ, der „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ geschrieben hat, wie heißt er doch gleich, der ... der ...  ist ja egal, der sagt doch das Gleiche wie der Kafka. Er denkt, es wäre hübsch, wenn die Leute beim Verlassen des Theaters auf die Fahrbahn wanderten und von einem Taxi überfahren werden würden. Natürlich möchte er nicht, dass sie sich dabei verletzen, aber besser wäre, so aus dem Theater zu kommen als mit dem einzigen Gedanken: Wo hatte ich bloß mein verdammtes Auto geparkt? Und genauso war es bei mir.

Noch am selben Abend haben sie dann in der Wohngemeinschaft über moderne Künstler geredet. Es war nur zum Kopfschütteln. Einem habe ich erzählt, dass ich in der Nationalgalerie ein Happening veranstaltet habe. Der hat mich so doof angeguckt, dass ich ihm drauf erklären musste: Andere Künstler haben sich besonders wüst gebärdet und sind als Künstler anerkannt worden. Vielleicht gelingt mir das auch eines Tages. Was andere Künstler gemacht haben, das bringe ich bestimmt!

Auf der Polizei – wie die mich vernommen haben – da habe ich irgendwie Angst gekriegt. Ich wusste ungefähr, wie die denken und was die hören wollen: „Das Bild ist meiner Meinung nach eine Perversion der deutschen Flagge und soll den Deutschen Angst machen.“ So was in der Art. „Ich habe dem Bild mitten in die Visage gespuckt, weil es eine Schande für die Nationalgalerie ist. Auch andere Bilder in der Nationalgalerie gehören meines Erachtens da nicht hin.“ Das hat denen so gut gefallen, da hat es mir Spaß gemacht, so weiterzuspielen.

„Ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Menschheit darauf aufmerksam machen zu müssen, dass Steuergelder in Millionenhöhe für solche das deutsche Volk beleidigenden Bilder nicht ausgegeben werden dürfen.“ Ich hatte das Gefühl, das hat denen so gut gefallen, die haben mir fast rechtgegeben. Ich will jetzt nicht behaupten, die Polizisten wollten mir irgendwas in den Mund legen. Ich hatte nur den Eindruck, die checken das nicht ab, wenn ich denen groß und breit erkläre, was mich wirklich dazu gebracht hat und was ich da beabsichtigt hatte. Das hatte ja mit dem deutschen Volk überhaupt gar nichts zu tun. Ich bin ja kein Rechter oder ein Kriegstreiber. Immerhin habe ich zwei Anträge auf Wehrdienstverweigerung gestellt. Und nach Berlin bin ich auch gezogen, damit ich nicht zum Bund muss. Das mit dem deutschen Volk war ja alles nur Masche. Aber die haben sie vor allen Dingen auch sofort begriffen. Letztlich ist es mir völlig gleichgültig gewesen, was ich da unterschrieben habe. Hauptsache war, dass wir mit diesem blödsinnigen Papierkram fertig wurden. Das Rumsitzen bei der Vernehmung hat mich unheimlich genervt.

Ich habe ganz genau gewusst, dass die mich in eine Anstalt stecken wollen. Aber das wollte ich nicht. Dazu muss ich auch sagen, dass ich mich zu der Zeit, wenn es notwendig war, auch vollkommen ruhig geben konnte. Ich war nicht immer nur total hektisch und aufgedreht. Das lag mir schon am Herzen, der Amtsärztin klarzumachen, dass ich in diesem Zustand vollkommen normal bin.

Das war mein Glück. Und so haben sie mir ein paar Wochen Ruhe gelassen. In der Zeit habe ich Leserreaktionen in der Presse verfolgen können. Einer hat geschrieben, man soll diejenigen, die das aufgehängt haben, ebenfalls aufhängen. Oder ein anderer: Wir nehmen uns vor, dieses primitive Bild erneut zu zerstören – aber total! Ein anderer wieder hat geschrieben: Ich teile Ihnen hiermit mit, dass ich auch Lust hätte, irgendwelchen abstrakten Scheiß zusammenzuschlagen. Wenn ich einen Künstlerfarbenkasten bekommen hätte, stünde ich der abstrakten Weltspitze keineswegs nach; damals in der Schule habe ich auch gemalt. Ich konnte genauso wenig wie z. B. der Hans Hartung, hatte aber keine Chance mit so einem Kack von Pelikan Wasserfarben. Damit war ich unterprivilegiert.

Aber das Ärgste, was ich gelesen habe: Der Bürgermeister bei uns zu Hause soll mich für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen habe. Ich mit dem Bundesverdienstkreuz! Und das, weil ich was kaputtgeschlagen habe. Also wenn das nicht komisch ist, dann weiß ich nicht.

Nach ein paar Wochen haben sie mich dann doch in die Psychiatrie gesteckt. Der Nervenärztin habe ich erklärt: Ich bin selbst in der Lage, ein vergleichbares Gemälde für einen Bruchteil des Ankaufspreises herzustellen. Durch mein Vorgehen habe ich dem Bild erst Bekanntheit und Wert vermittelt, und die Differenz des Kaufpreises zum jetzigen Wert müsse man mir eigentlich auszahlen. Ich habe ihr auch – so wie ich gelesen habe – erklärt: In Wirklichkeit hat „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ bei der Witwe Barnett Newmans nur 100.000 Dollar gekostet. Das sind 250.000 DM. Wer weiß, wer sich da das andere Geld eingesteckt hat!

Knapp ein Vierteiljahr nach der Sache habe ich dann dem Direktor der Nationalgalerie geschrieben und der Witwe Barnett Newmans. Die wollte ich natürlich auch kennenlernen. Wenn sie schon meine Sache so ausgeschlachtet und heftig verurteilt haben wie „Kulturschande“, „furchtbare Untat“, dann wollte ich auch mit denen reden ...

Also habe ich geschrieben: Ich bin mir fast sicher, dass Sie – wie die meisten, die mich nicht persönlich kennen – ein falsches Bild von mir haben. Und dass ich derzeit noch der Einzige bin auf der ganzen Welt, der dieses physio-psychologische Gemälde erkannt hat usw. und so fort – egal. Jedenfalls geschrieben haben sie mir bis heute nicht.

Beim Prozess haben sich mich dann freigesprochen. Nur – im Falle einer Wiederholung wollen sie mich dann einlochen. Aber – alles Quatsch. Ich bin ja sowieso davon überzeugt, dass der Newman eigentlich, wenn er noch leben würde, mit mir einer Meinung wäre. Und vielleicht überhaupt nichts dagegen gehabt hätte, dass das so gelaufen ist. Vorausgesetzt man hätte mit ihm sprechen können. Aber natürlich geht das nicht, wenn die Leute aus den Zeitungen irgendwelchen Stuss erfahren.

Ich habe auch so das Gefühl – ich muss ja auch sagen, ich kenne den Newman überhaupt nicht – aber ich habe so das Gefühl, dass das Bild jetzt durch diese Sache, die ich da gemacht habe, erst richtig vollendet ist. Und dass das, was ich da gemacht habe, den Leuten einiges erst richtig klarmacht oder das Bild erst richtig klarmacht. Ich war damals auch wirklich der Meinung, man würde meine Aktion im Nachhinein auch als so eine Art Aktionskunst, Happening, akzeptieren, das hab ich auch der Nervenärztin erklärt.

Immerhin die ganze Sache ist jetzt schon eine Weile her, aber ich finde, diese Aktion müsste – wenn man sie jetzt in Verbindung sieht mit den Sachen, die ich eigens dafür mitgenommen habe – eigentlich jeder, der davon hört, unheimlich gut finden. Wenn nicht, dann hat er von dieser Aktion oder überhaupt von diesem Ding nichts, aber schon gar nichts kapiert; wer dieses Bild kapiert, muss es einfach zerstören. Und die, die das nicht tun, zerstören es noch viel mehr.

Fritz Schuler

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau'n | Inventarnummer: 16122

 

hamlet mein freund

siebzehn jahre habe ich alt werden müssen bis ich ein eigenes zimmer bekomme für andere vielleicht eine kleinigkeit für mich   s i e b z e h n   jahre mein ganzes leben jetzt wo mein zweiter bruder ausgezogen ist in eine kleine studentenwohnung ums eck bin ich in das kleine kabinett übersiedelt das ehemalige zimmer meiner schwester sie hat das große zimmer das frühere bubenzimmer bekommen wo ich früher mit meinem bruder hauste meinen schulkollegen traue ich mir das gar nicht zu erzählen peinlich oder meinen wenigen freunden die verstehen das voll nicht da haben alle seit ihrer geburt ein eigenes zimmer aber was soll‘s lauter verwöhnte fatzkes

in meinem neuen reich bleiben zwar die möbel wie sie sind weißer schleiflack standen früher im schlafzimmer meiner eltern nicht gerade cool aber ganz okay das wichtigste ist doch die tür die ich hinter mir zumachen kann wann ich will

als ich mit vierzehn vom internat nach hause kam hatte ich nicht mal ein eigenes bett schlief in einem klappbett das weiß der teufel wie alt war total durchgeritten die federn quietschten wenn ich mich bewegte und egal wie ich mich legte letztendlich rollte ich immer in die mittelrinne des bettes deswegen ist jetzt mein eigenes zimmer der hammer

seither hat sich eine menge bei mir zu hause getan nach dem tod meines vaters und meines stiefvaters gibt es jetzt einen neuen mann einen werner der bei uns ein- und ausgeht tut mir leid ich kann mir nicht helfen ein unsympathischer kerl mir ist vollkommen unbegreiflich was meine mutter an ihm findet das hirn zermartere ich mir was wohl an dem dran ist was nur denn verliebt ist meine mutter sicher nicht in ihn liebe sieht anders aus so viel weiß ich schon mit meinen siebzehn von liebe sind wir hier meilenweit entfernt er muss was anderes an sich haben was auch immer bevor er sich bei uns vorstellte hat sie ein paar brocken von ihm erzählt er hat auch ein paar elektrofachgeschäfte wie meine mutter und das wird es wohl auch sein geschäftliches kalkül zusammenlegung ja natürlich warum ich nicht gleich darauf gekommen bin meine mutter muss verdammt verzweifelt gewesen sein mit ihrem geschäft das sie weitergeführt hat nach vaters autounfall dabei hat sie nie ein sterbenswörtchen darüber verloren dieses weiterführen des geschäfts eine schnapsidee warum konnte sie es nicht so machen wie unsere bekannte deren mann steuerberater war und auf der straße überfahren wurde für sie aber war es null option die kanzlei ihres mannes zu übernehmen absolut keine sagte sie das finde ich vernünftig meine mutter hätte das auch nicht tun dürfen vaters geschäft weiterführen warum denn um sein erbe weiterzuführen ach hör mir auf so ein quatsch als sekretärin hätte sie weiterarbeiten sollen hätte hätte hätte was soll‘s jetzt ist es nun mal wie es ist

und jetzt haben wir diesen typen am hals diesen werner von dem ich nicht weiß wie ich es eine minute mit ihm allein aushalte mit diesem kleinen fetten sack der sich so was von aufspielt als wär er der große pascha aber bitte mutters entscheidung sie muss mit ihm klarkommen er ist nicht mein mann also wenn das nicht eine geschäftliche entscheidung ist dann weiß ich nicht mutter die bedrohte königin holt sich einen retter ins haus der selbst mit allen wassern gewaschen ist wenn er wenigstens nett wäre das kann nicht gut gehen nicht auf dauer nicht mit diesem typen vielleicht wenn er sich ändert und die moral von der geschichte ist überlege genau von wem du dich retten lässt ist es nicht so aber meine mutter beschloss irgendwann einmal sich voll und ganz in ihr geschäft zu stürzen als hinge ihr leben davon ab was es in gewisser weise auch tat als mutter und alleinverdienerin mit vier kindern aber sie ignorierte alles rundherum wirklich alles auch ihre familie nichts kann sie wahrnehmen vielleicht tue ich ihr unrecht und sie kann es doch aber warum hat sie sich dann trotzdem dafür entschieden trotz eines gefühls ein hoher preis oder mutter ist blind geworden durch die ständige bedrohung ihrer probleme sie arbeitet so viel und so besessen dass sie sich nie wirklich fragt wie es ihr geht aber sie spricht auch nie darüber nie mit niemandem

mir braucht kein geist zu erscheinen wie hamlet wo der geist des vaters den jungen hamlet auffordert ihn zu rächen mein vater ist ja nicht getötet worden aber ich lerne was aus seiner geschichte ich werde diesen werner töten und zwar ohne waffen mit meinen gedanken meinen bloßen gedanken

für gewöhnlich kommt er abends nach der arbeit nach hause holt sich sein von unserer haushälterin zubereitetes essen wärmt es in der mikrowelle mit dem er sich dann ins wohnzimmer setzt zum tisch wo er fernsehend sein essen verdrückt dieser typ werner ich werde ihm in der glotze sein leben auftischen so wie hamlet seinem mörderischen onkel und seiner mutter ihr leben es mit einer theateraufführung getan hat da kann er dann sehen was für ein erbärmliches leben er führt und ich werde ihn zwingen hinzusehen auch gegen seinen willen bis zum bitteren ende und er wird sich winden unter schmerzen und ärgstens krepieren ja genau so werde ich es machen genauso werde ich dieses schwein hinstrecken es ihm zeigen so einer wie er hat in unsere familie nichts verloren wirst schon noch sehen

als er nach hause kommt passiert es wirklich so wie ich es mir ausgemalt habe der fernseher dröhnt eine weile im wohnzimmer vor sich hin nicht zum aushalten
dreh bitte leiser sage ich zu ihm ich kann mich nicht konzentrieren ich muss lernen morgen habe ich schularbeit
dann lern was damit was wird aus dir sagt er und lacht blöd dann dreht er ein wenig leiser als ich mich wieder in mein zimmer verziehe
es dauert nicht lange da ist die lautstärke unerträglich wie zuvor und ich gehe wieder raus zu ihm
schon wieder zu laut sage ich so kann ich nicht lernen hast du nicht verstanden
was ist los mit dir es ist nicht laut ich habe schon leiser gedreht
und warum dröhnt es dann so laut in meinem zimmer du kannst dir das nicht vorstellen aber so geht das nicht also leiser verdammt
reg dich ab ist nur für kurze zeit
was heißt für kurze zeit egal ich brauch die ruhe jetzt nicht später willst du dass ich durchfalle bei dem lärm kann kein mensch lernen ein bisschen rücksicht wirst du noch aufbringen genervt ziehe ich mich zurück
und genervt dreht werner leiser

aber verdammt noch mal denkt sich werner wahrscheinlich warum soll ich mich von diesem burschen tyrannisieren lassen es ist viel zu leise die hälfte verstehe ich nicht vielleicht bin ich denn schwerhörig wenn schon aber ich habe ein recht zu verstehen schließlich wer bringt hier die brötchen heim den ganzen tag hart arbeiten was heißt tag ganze woche monat für monat und dann kommt so ein bursche und spielt sich auf nein so geht das nicht so kann es nicht sein der junge ist mir egal alle sind mir egal und so dauert es nicht lange dass er wieder lauter dreht

erneut schieße ich aus meinem zimmer was bist du nur für ein rücksichtsloses arschloch werfe ich ihm an den kopf zu laut ist zu laut geht das in deinen kopf setz dir kopfhörer auf oder sonst was aber lass mich in ruhe mit diesem scheißwirbel so kann ich nicht lernen
spinnst du was ist in dich gefahren so mit mir zu reden
ich rede wie ich will
du brauchst dich nicht so aufzuführen schleich dich in dein zimmer und halt die klappe
ich werde nicht eher gehen bis du diesen scheißfernseher leiser gedreht hast
aber kommt doch gar nicht in frage du blödmann
selber blödmann du bist ein mieses oberarschloch das unsere familie tyrannisiert geh mit deinem scheißleben zurück wo du herkommst niemand braucht dich du brauchst nicht hierbleiben hörst du
wenn du nicht sofort aufhörst dann kleb ich dir eine du rotzlöffel du frecher

das wird er nie wagen denke ich mir aber wie eine feder schnellt er plötzlich hoch stürzt sich auf mich was ich ihm nie zugetraut hätte und erwischt mich mit seinen offenen armen verpasst mir eine saftige ohrfeige die mich kurz orientierungslos zu boden schleudert jetzt spüre ich nur einen schweren körper auf mir der auf mich unkontrolliert einschlägt mit seinen fäusten die schmerzen mobilisieren ungeahnte kräfte in mir und ich drehe meine beine so dass sie gegen seinen oberkörper stemmen und ihn wegschleudern schnell rapple ich mich hoch schaffe es gerade in mein zimmer und schließe rasch hinter mir ab

wütend und schnaubend wie ein wildes tier wirft er sich gegen die dicken hohen flügeltüren zwei dreimal bis er einsehen muss dass ihm nichts anderes übrigbleibt als seine wut an der alten messingtürschnalle abzureagieren
warte nur ruft er na warte du wirst schon noch in meine gasse kommen dein benehmen werde ich dir noch austreiben
glücklich in meinem zimmer denke ich mir lass diesen idioten doch weiter toben er ist mir egal er kann verrecken ich kann den tag nicht erwarten aus diesem irrenhaus hier auszuziehen

nicht dass du glaubst diese situation ist die erste nein das hatten wir schon mal und wenn meine mutter nach hause kommt dann läuft das so dass ich ihr gleich über ihn mein leid klage davor aber hat sie schon seine version zu hören bekommen und dann sagt sie zu mir du musst dich mit ihm arrangieren ob du willst oder nicht damit musst du leben und zurechtkommen blablabla immer das gleiche sie ergreift natürlich partei für ihn und ich habe keine chance

in der schule lesen wir gerade shakespeare und ich verstehe hamlet immer besser
ihr sollt nicht vom platz nicht gehen bis ich euch einen spiegel zeige worin ihr euer innerstes erblickt
das sagt hamlet seiner mutter ich aber will werner einen spiegel vorhalten er soll sich und sein mieses getue im spiegel sehen nichts anderes wünsche ich mir

werner setzt sich wieder vor den bildschirm der ihn bald in eine andere welt schaukelt dann kann er wie unter hypnose seine arbeiten weitermachen und bilder im fernsehen zeigen einen kleinen gedrungenen mann der mit ein paar arbeitern herumkommandiert und dabei ein lager räumt man kann sehen wie diese arbeiter im ersten moment gleichsam von einer art schock erfasst sind aufgrund der unüberschaubar großen menge an sperrmüll und unkalkulierbarkeit an mühen die auf sie zukommen wie betrunken torkeln sie kopflos herum und der mann treibt sie an hand anzulegen aber sie tun nicht wie er will idioten seht ihr nicht das muss da her da her
sie können aber nicht wie er will sind keineswegs vorbereitet auf so ein unfassbares vorhaben
die männer sind wie eine fassungslose meute die neben dem rasenden klaus kinski stehen und nichts als staunen können wie ein wahnsinniger ein opernhaus mitten im dschungel errichten will
so ein idiotisches vorhaben ist das ein lager wie dieses an einem wochenende zu räumen für das man im normalfall ein bis zwei ganze wochen benötigt aber da sie nun mal mit dieser situation konfrontiert sind taumeln die arbeiter herum und werden zu willenlosen tölpeln eines verrückten der herumschreit und herumfuchtelt

werner sieht diese bilder und kann nicht fassen dass man ihn darstellt das ist er darüber kann es nicht den geringsten zweifel geben dieser mann sieht ihm sogar ähnlich wie er findet und die art der arbeiter auch die ist ihm bestens vertraut er erinnert sich sogar einige der eben gesehenen bilder schon einmal selbst erlebt zu haben
was soll das will man ihn bloßstellen woher hat man diese bilder diese situationen und dann gibt es noch eine andere szene in der werner sich auf seine lebensgefährtin stürzt und auf sie losgeht man sieht wie er auf sie einschlägt weil er es nicht ertragen kann dass sie sich weigert ruhig zu sein
diese verdammten autos sagt sie wie oft habe ich dir gesagt dass du sie nicht mehr anschauen sollst du wirfst das geld beim fenster raus für idiotische wracks
jetzt habe ich genug von dir ich werde dir dein loses mundwerk stopfen es geht dich gar nichts an was ich mit meinem geld mache
mein geld von wegen wer steht die meiste zeit im geschäft hält die stellung an der front das bin ich du bist doch meistens nie da fährst irgendwo in der weltgeschichte herum spielst den großen boss
halt‘s maul hab ich gesagt du blöde sau du halt’s maul hörst du nicht

werner wartet einen augenblick bis es ihm zu viel wird all das was ihm da bildlich vorgesetzt wird macht ihn nervös und er greift nach der fernbedienung und will das programm wechseln aber die fernbedienung funktioniert nicht dann will er die kiste ganz abdrehen aber auch das klappt nicht was ist jetzt los denkt er springt auf und will den fernseher händisch abdrehen aber etwa einen meter vor dem bildschirm stockt er und kann sich nicht mehr bewegen plötzlich steht er wie festgewurzelt an ort und stelle sein gesicht ist jetzt ganz auf den bildschirm gerichtet seine augen werden wie durch fremde macht gezwungen offen zu bleiben

das nächste was er sieht ist ein greller blitz der rechts aus dem fernseher schießt  und direkt in einen stapel alter zeitungen fährt von dem er sich nicht hatte trennen können den er sich irgendwann noch durchsehen wollte und jetzt am boden liegt nach schreien ist ihm zumute aber weder sich bewegen noch brüllen kann er mit dem blitz ist der fernseher mit seinen unverschämten bildern wenigstens ausgeschaltet aber wie er es auch anstellt sich zu regen oder zu artikulieren es gelingt ihm nicht nicht die kleinste regung nicht den leisesten ton kann er seinem körper abringen keine frage irgendeine seltsame kraft hat sich seiner bemächtigt und diese kraft breitet sich in ihm aus und löst tief in ihm eine fremde müdigkeit aus ja ich bin müde muss sich werner eingestehen jetzt auch das noch ich will nicht mehr kämpfen werner hat angst dass sein zorn seine wut wohl nicht mehr ausreichen ihn noch einmal anzutreiben ist das vielleicht sein ende dem er jetzt ins auge sehen muss ach was werner fühlt sich gerade wie ein boxer der getroffen am boden liegt und gerade noch dazu imstande ist zu merken wie er angezählt wird jedoch unfähig ist aufzustehen obwohl er sich der schwerkraft mit allen kräften widersetzt sein körper gehorcht einfach nicht mehr den befehlen seines verstandes

das feuer frisst sich vom zeitungsstapel in den boden die teppiche und die anstehend furnierten holzmöbel von dort züngeln die flammen höher und höher richtung plafond bis die karnischen aus holz und plastik erreicht sind immer noch kann sich werner nicht bewegen und muss beobachten welch gespenstisches spektakel sich vor seinen augen abspielt wie noch nie in seinem leben steht er so ruhig auf dem boden unfähig auch nur einen finger gegen andere zu erheben mit so einer wut im bauch im kopf und im herzen und ist verdammt zuzusehen wie das feuer genüsslich auf das zimmer übergreift hab und gut verschlingt auch wenn er sich nicht damit abfinden will werner spürt auch wie die hitze allmählich näher und näher kommt heißer und heißer das feuer sich an ihn heranfrisst und es züngelt auch schon nach ihm als ob es ihm in gemeiner absicht sagen will das beste zum schlussssssssss

dieses teuflische phlegma bemächtigt sich seines innenlebens und geht über in eine angenehme gefühllosigkeit ist das der zustand der sogenannten erleuchtung oder sonst was denn all sein ärger seine wut sind mit einem mal eingedämmt und lassen ihn die dinge in seltsamer gleichgültigkeit betrachten wie vorbeiziehende phänomene die ihn nichts mehr angehen als ob kein geschehnis positiv oder negativ bewertet werden kann ja er muss sich eingestehen dass jedes phänomen potenzial für beides in sich enthält wie ein haus das drauf und dran ist abzubrennen aber von dem man nicht sagen kann ob das gut oder schlecht ist denn anstelle eines abgebrannten hauses kann ja auch wieder ein schönes neues errichtet werden

in meinem kabinett höre ich vom wohnzimmer seltsame dinge ich bin mir nicht sicher ob sie aus dem fernseher kommen oder nicht werner schaut ja immer wieder die seltsamsten filme an diesmal aber klingen die geräusche anders und was mich auch stutzig macht ist dass es seltsam riecht nämlich verdammt nach brand irgendwo muss es brennen aber wenn in der stadt tiefdruck herrscht besonders in der kalten jahreszeit wie jetzt dann wird der geruch des hausbrands nach unten gedrückt was ekelhaft riecht diesmal aber riecht es intensiver stechender irgendwie nach plastik und zusammen mit den geräuschen ist alles doch sehr seltsam ich gehe erst zur tür und horche als ich ein sausen und knacken höre und auch ein knistern vorsichtig sperre ich die tür auf und werfe einen blick zuerst zum tisch wo gewöhnlich werner sitzt dort aber sitzt niemand dann wende ich meinen blick zum fernseher und da sehe ich wie sich feuer bereits am boden und an den möbeln festgefressen hat und was ist das werner steht umringt vom feuer wie eine statue still doch schreiend mit aufgerissenem mund und augen vor dem fernseher und fixiert ihn wie besessen der nur noch ein schwarzer unkenntlicher klumpen ist die flammen haben werner eingekreist und ich rufe mehrmals seinen namen jedoch ohne regung ein schauerlicher anblick sobald ich näher komme spüre ich die unausstehlich große hitze die mir entgegenschlägt ich schaffe es nicht näher an ihn ran alles geht so schnell wie konnte es nur so weit kommen es ist verdammt heiß was mir den schweiß auf die stirn treibt

wenn ich nicht zu ihm komme muss ich die feuerwehr rufen schnell ich sehe wie kleidungsfetzen an werners körper brennen und sich tiefer und tiefer in seine haut fressen braune flecken bilden wie ist es nur möglich denke ich dass er so still wie angewurzelt dasteht und diese katastrophe erträgt mein nächster impuls ist flucht hinaus aus der wohnung ins stiegenhaus aber verdammt auch das geht nicht mehr dazu muss ich an werner und dem feuer vorbei dort aber brennt es bereits so heftig dass ich nur noch zur balkontüre eilen kann mit meinem händen und armen meine augen schützend ich reiße die gekippte balkontür auf und flüchte mich ins freie kein telefon habe ich bei mir mit dem ich die feuerwehr verständigen kann ach was will ich doch gar nicht dass die feuerwehr kommt das feuer soll ihn fressen mit genuss diesen miesen typ mit haut und haar verzehren bis nichts mehr übrig bleibt ich will ihn nicht mehr sehen die feuerwehr darf nicht kommen soll nicht kommen

nervös tripple ich am balkon hin und her und versuche einen blick noch in das zimmer zu werfen aber die augen brennen mir sofort vom mittlerweile schwarzen giftigen rauch der ins freie qualmt kaum kann ich in dieser flammenhölle was erkennen aber ich bin mir sicher dass dort wo die flammen am höchsten schlagen dort steht einer den jetzt der superoxidationsprozess gerade in seine einzelteile zerlegt und du gutes feuer tu mir den gefallen nimm doch gleich die weißen schleiflackmöbel mit …

Fritz Schuler

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16114