Kategorie-Archiv: Angelika Holl

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Die verkrüppelte rechte Hand des Gesetzes

Sitzt sie da, tief über ihre Unterlagen gebeugt, mit feister, dennoch konzentriert wirkender Miene. Tief in den Schminkkasten getaucht. Mit Tinkturen beschmiert, die nach und nach ihre Tiefenwirkung entfalten sollen. Kaum ahnen könnend, was sich hinter dieser noch vor dem Zerbröckeln geschützten Fassade abspielt, sitzen wir da und schauen.

Nach oben gehievt gibt es nun keine Möglichkeit mehr, die Schuld einzugestehen. Trotz oder gerade wegen des Wissens eines jeden. Von dieser Warte aus ist sie gewissermaßen unangreifbar, was ihr jedoch Hohn und Spott, wenn auch offenen nicht, keineswegs erspart.
Das Gesicht hast du längst verloren.
Warum man dir noch nicht auf offener Straße die Augen ausgekratzt hat, bleibt jedoch unbegreiflich.

Staunen darüber, dass als nebensächlich betrachtet wird, was uns als notwendig erscheint.
Staunen darüber, dass als Schönheitsfehler qualifiziert wird, was sich uns als Brandwunde aufdrängt. Ein Darüberhinweggehen ist es, welches du praktizierst. Als würde von vornherein angenommen werden, dass die Vorfälle in Vergessenheit gerieten.
Sie geraten nicht in Vergessenheit.
Das ist nicht der Fall.
Ein einzelner reicht aus, um unerbittlich und unermüdlich und immerwährend an die Dreistigkeit der legitimierten schwachen Spitze zu gemahnen.

Der Fall wird neu aufgerollt.

Erhebt sie sich, schwerfällig, beherrscht, Haltung einnehmend. Bemüht um Haltung, die mühelos Korrumpierbare. Gewissenlosigkeit zerrt an ihr, zieht sie hartnäckig in die Tiefe. Das deformierte Rückgrat kaum verbergen könnend im fraglich gemusterten Einteiler, wankt sie mehr schlecht als recht durch die Dienstgänge der eigenen Verantwortungslosigkeit.

Solange der Rubel rollt, rollt auch sie sich weiter durch ihre täglichen Pflichten.
Vergessen und rechtfertigen. Rechtfertigen und Vergessen. Standhaft rechtfertigen, die skandalöse fettäugige Giermonströsität, die angefressen immerwährend Tribut fordert.

Kreuzen sich schließlich und immer die Wege mit dem angelachten und angelernten ökonomischen Emporkömmling, dessen Statur und ansprechendes Äußeres noch nicht die hohlen, versifften Innenräume verrät.
Noch wird alles zusammengehalten.
Irgendwie.
Mit gutem Glauben und Hoffnung. Mit Hoffnung und gutem Glauben.
Im seriösen Dreiteilerzwirn schlängelt er sich katzengleich durch die wogende Masse der Immergleichen, um sich ihr an die Brust zu werfen, der Ziehmutter, der geistigen. Sie bereits aus der Ferne mit Luftküssen begrüßend, bewegt er sich auf sie zu, zielstrebig, ein sonniges, weltzugewandtes und ach so unschuldiges Lächeln auf den hübschen, anzüglichen Lippen. Dient er sich an ihr hoch, der hohle Günstling. Arbeitet er sich an ihr ab, der welken Fassade. Lässt sie ihm höhere Weihen zuteilwerden.
Zieht er an ihr vorüber, blickt sie ihm nach wie ein Mädchen, hoffnungsfroh, verzweifelnd, ungerührt.

Man weiß um eure verdorbenen Spielchen hinter verschlossenen Türen.
Man weiß um eure verwerflichen Vereinbarungen, die euer Fortkommen sichern sollen.
Man weiß um die verruchten zwielichtigen Ecken, wo ihr euch gegenseitig gern den Garaus macht.
Die Gerüchteküche kocht.
Die Gerüchteküche schmeichelt unseren Gäumchen und versorgt uns mit immer neuen entsetzlichen Kreationen, deren lustfördernde Wirkung nicht zu unterschätzen ist.
Als wäre es nicht schon genug gewesen.
Es war schon genug.
Kocht er dich ein, langsam, gründlich, bis nichts mehr übrigbleibt außer deinem versiegenden Röcheln und den vielfarbigen Nichtigkeiten, nichtssagend aufgehend und vergehend im kalten Meeresschaum.

Die Geburt ist angesetzt.

Es macht schon lange keinen Sinn mehr und hat trotzdem noch nicht aufgehört zu funktionieren. Mühelos und routiniert werden die täglichen Rituale aufrechterhalten. Gekürzt, gestrafft, verschlankt und beschnitten, gekürzt, gestrafft, verschlankt und beschnitten soll sie werden, die Essenz, die Basis eurer Rechtfertigung, während du bereits aus allen Nähten platzt und auf zeitiges Erbarmen hoffst.

Erbarmungslos brennt es auf dich hernieder, das Licht der späten Aufklärung. Brandlöcher mannigfaltig im Kunststoffüberzug deiner geschmacklosen Kostümierung. Lässt du die Asche achtlos auf den Boden fallen, schwer wie Zementsäcke. Glüht im Halbdunkeln noch der obligate Glimmstängel, den du dir notgedrungen als effektive Beruhigungsmaßnahme regelmäßig zwischen die aufgedunsenen Lippen schiebst.
Wo war ich nochmal?
Nur nicht hier.
Weiter weiter.
Walz. Walz. Walz.

Traudi, magst du mir mal zur Hand gehen? Erschallt die greinende süßliche Stimme der blonden Beleidigung. Da ereignet sich gerade eine mittlere Katastrophe. Lacht er mit gespieltem Entsetzen und fröhlich intoniertem Wellengang. Ich komme schon. Und walzt an unter kaum zu unterdrückendem Dampfen und Stöhnen.
Dampfplauderer. Dampfplauderer. Dampfplauderer.

Walzt durchs All und um die Ecke, wo sie ihn antrifft, den sklavisch Untergebenen, der mit nichts bekleidet als einem neckischen Kropfband, den Kopf entschuldigend zur Seite geneigt, ein niedliches Lächeln auf den Lippen, nach oben deutet. Folgt sie seinen Fingern im Zeitlupentempo, vorsichtig, zweifelnd, ahnungsvoll.
Den Kopf weit in den Nacken legend. Und noch weiter.
Bricht das Rückgrat. Ein, zwei, drei Mal. Bricht es endlich richtig.
Dann kann sie es auch sehen.

Schwarz angelaufen ist er, der Plafond. Mühsam reckt sich ein verkrusteter Krater aus der Decke hervor, Gift und Galle speiend. Bröckelt es. Bröckelt es hernieder auf den illegitimen Grund und Boden.
Da ist was aus den Fugen geraten, meine Liebe, verzärtelt das Blondtier seinen Auswurf.
Wirft sich in zierliche Posen für unbekannte Beobachter, während sich am Himmel immerwährend dicke, schmierige Brandblasen aufwerfen und senken. Aufwerfen und senken.

Wo ist der Kitt, der alles zusammenhält?

Du sollst hier drinnen nicht rauchen. Das weißt du doch. Was sollen die Kinder denken?
Vorwurfsvoll blickt er sie an, aus großen, schönen, blauen, traurigen Augen.

Ungerührt weiterposierend, einem abwesenden Herrn huldigend, trollt sich der körperbetonte Königsanwärter, um aus dem benachbarten Zimmer gekränkt verlauten zu lassen: Und hier erst, Traudi. Schau dir mal dieses Schlamassel an. Da werden wir ja unseres Lebtags nicht mehr froh.
Dumpf tönen ihre schweren Schritte in der spätsommerlich beschienenen Kammer, als sie sich aufmacht zu neuen Ufern.
Kaum die Schwelle überschritten, steht er schon da, verrucht, verklärt, verirrt, verliebt.
Angelehnt und abgestützt. Abgewinkelt und angespitzt. Aufgebauscht und abgelöst.
Ächzt es, das Wandregal, voll überbordend schöner Wälzer.
Ächzt es unter der Last des besseren Wissens.
Kein Rahmen hält das mehr aus.
Dieser Rahmen hält das nicht mehr aus.
Gespielt empört richtet er sich auf, der entblößte halbgare Luftikus mit eindringlichen Worten.
Ein Mahnmal, ein Denkmal, ein Monument, überschlägt sich seine kleine Stimme.
Mein Land, mein Gesetz, mein Recht, setzt er noch eins drauf.
Stampf. Stampf. Stampf.
Das ist doch nicht dein Ernst.

Reich mir deine helfende Hand, Traudi! Reich sie mir im Bund der festgeschriebenen Ehe. Ehern und unverbrüchlich soll es sein, das Bündnis unserer fortschreitenden Verbrechen. Gemeinsam schaffen wir das!, frohlockt er und beginnt sogleich, sich an dem Gestell zu schaffen zu machen, die unheilvoll gebleckten Zähne nie von ihr abwendend.

Du stehst nur da, unfähig, unbewegt, unberührt zuschauend, verfolgend, frontal, während er seine kümmerlichen Muskeln spielen lässt, während er seine vergeblichen Urteile vollstreckt.
Wirst du wohl. Wirst du wohl. Wirst du wohl.
Es ist zu spät.

An allen Ecken und Enden fehlt es. An allen Ecken und Enden.
Und dann ist es endgültig zu spät.

Mit vor unmenschlicher Anstrengung verzerrter Miene versucht er es aufrechtzuerhalten, das Gerüst der eigenen Verantwortungslosigkeit. Doch der Druck ist zu groß. Der Körper zu schmächtig. Nach und nach knallen sie ihm alle auf den nachgiebigen Schädel, begraben ihn, der sich vergeblich windend, krümmend aus den Bergen zu retten versucht, unter sich, bis zuletzt der Rahmen selbst bricht und ihm die Pfähle in den Leib rammt. Auf platzt die Bauchdecke, entlassend ins unbekannte Freie die verschlungenen Gedärme der eigenen unauflösbaren Widersprüche.

Wie vom Donner gerührt steht sie da, die rechte Hand des Vorstandes.
Viel zu spät war es.

Während er sich langsam in seine Bestandteile auflöst, bückt sie sich zur Erde, um einen der berüchtigten Wälzer aufzuheben. Kaum schlägt sie ihn auf, schon erschlägt sie der fette Großdruck, der maximalen Raum einnimmt. Seitenweise Buchstaben um Buchstaben um Buchstaben.

Unrettbar. Unrettbar verliebt war ich in dich. Sagt sie sich.
Aber es macht alles keinen Sinn. Sagt sie sich.
Diese Worte machen keinen Sinn. Sie ergeben keinen Sinn.

Verleg dich aufs Beten! Schnell!!

Du krachst mit deinen Knien auf die Erde. Du raufst dir die Haare, unrettbar.
Du schlägst verzweifelt die Hände vor der Brust und über dem Kopf zusammen.
Du krampfst akut, während dir die Tränen heiß hinter die Fassade steigen.

Vergib mir oh Vater im Himmel für meine zahlreichen Sünden, die ich hier als dein unbescholtener Diener begangen habe! Vergib mir oh Sohn am Kreuz, dem falschen Götzen des Mammons gehuldigt zu haben, während ringsum die Türme in Schutt und Asche gelegt wurden! Vergib mir, oh Geist in der Leere, dass ich dich verunreinigt habe, mit meinen Gedanken, Worten und Werken.
Vergib mir schon! Vergib mir endlich, du zweifelhaftes Produkt meines unstillbaren Größenwahns!!

Es ist noch nicht vorbei.

Rings um dich hat sich ein purpurner See gebildet, der noch das letzte Licht von draußen zu reflektieren vermag. Und dich. Und auch du spiegelst dich wider im dickflüssigen Saft deiner letzten Mahlzeit. Dreh dich, wende dich, verwerte dich nach allen Seiten. So haben wir es gern. So soll es sein.
Schön sollst du sein im Abgang.

Langsam erhebst du dich aus der Sickergrube. Dein Ende ist ein anderes. Unbekümmert tröpfelt es dir aus den Stofffalten, den Fingerspitzen, dem gespannten Nylon an den feisten Waden. Ohne ein Gefühl für die Zeit watest du schließlich durch die Räume zurück in den einstmaligen Dienstgang, der nun sehr entblößt vor uns liegt.

Dunkel ist es allmählich geworden. Dunkler ist es geworden. Orientierung fällt schwer. Du tastest dich entlang an den Wänden, Ritzen und offenen Fragen, den unmöglichen Antworten, den unidentifizierbaren Gesichtern. Die immer nur das Profil preisgeben. Die sich immer entziehen. Das Antlitz gottesgleich immer millimeternah am frischen Putz. Erlösung suchend. Die Lippen immer Millimeter entfernt vom chemischen Einerlei. Der Geschmack von grotesker Freiheit.

Und bald ist er da, der verheißungsvolle Ausweg, die noch verschlossene Tür zum tödlichen Finale.
Und tödlich muss es sein. So viel ist gewiss.
Im Finsteren gibt man sich leichter den Illusionen hin, den kleinen Irrlichtern, die einen betören und verführen. Die einem den roten Teppich ausrollen ohne Frühjahrsputz. Samtig wogend über Leichenberge lässt er sich überraschend leicht beschreiten, der Pfad der Gewissenlosen. Der Pfad der Könige. In der Erbfolge stehst du an vorderster Stelle. Ein Spitzenplatz ist dir gewiss.
Dem allen ist nun der Garaus gemacht.
Niemand weiß das besser als du.

Hier gibt es nichts mehr für dich.

Doch schau einmal da.
Was hat es damit auf sich?
Wohin wandern die dubiosen Gesellen, wenn nicht hierhin?

Ungläubig, ermattet fällt dein Blick auf die Schwelle.

Vergessen, leugnen und rechtfertigen. Vergessen, leugnen und rechtfertigen.
Hattest du fast vergessen, dass es sich vermehrt hatte, das Unwesen, der Untrieb.
In ein oder zwei oder drei oder vier Schäferstündchen.
Hattest du es tatsächlich vergessen?
Es war ja nicht umsonst gewesen. In deinen Augen.
Wie hübsch er da gelegen hatte, der vom Rahmenwerk Zerteilte. Wie hübsch er sich verausgabt hatte, der Blut Lassende. Wie brav er sein Erbe in dir hinterlassen hatte. Auf der Schwelle hinterlassen hatte.

Ob es gut oder schlecht oder nichts ist, kann nun heute keiner mehr so genau sagen. Es ist auch einerlei. Verzecht wurde alles. In der ewigen Nacht, die sich nun langsam dem Ende zuneigt.
Und du neigst dich hinab zu dem unbestimmten Nachfolger, der noch nicht die unübersehbaren Male der Versehrtheit aufweist. Der noch nicht gezeichnet ist von eurem Versagen. Aber bald ein Zeichen setzen könnte. Für und wider. Für oder wider.

Es ist einerlei. Bald hast du ausgedient.

Es ist der letzte Weg, der beschritten werden muss.

Verbeugst dich in einem vollendeten Diener vor deinem in Vergessenheit geratenen Kind.

Es streckt dir die Arme entgegen und du streckst es nieder. Mit einem Mal. Mit einem Biss. Einem Schluck. Ist es vollbracht, das meisterhafte Verbrechen der Verantwortungslosen. Es ist dahin, sie ist dahin, die glücklose Zukunft, der noch niemand die Pforten geöffnet hat. Es ist vorbei und vollendet.

Von Übelkeit übermannt und schwer zu benennender Befriedigung erfüllt, lässt du dich hinuntergleiten am Rahmen deines Vollzugs.

Das muss erst einmal verdaut werden.

Bevor der Sterbeprozess einsetzen kann.

Angelika Holl

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17197

Alte Bündnisse

Unvermittelt drückte sie ihr Gesicht in den groben Stoff des ockerfarbenen Mantels, welcher noch den Herbst mit sich hereingetragen hatte, und wollte sterben.
Der Todesmarsch hatte schon begonnen. Das Ziel war in Sicht.
Mit beiden Händen umklammerte sie die Ärmel, vergrub ihr Gesicht noch tiefer in dem Kleidungsstück und füllte ihre Lungen mit dem Geruch von Frost und Eis und noch etwas anderem.
Halb registrierte sie, wie sich langsam ein feuchtwarmer Film auf der Oberfläche des Mantels bildete, und in Zeitlupentempo löste sie ihre Lippen von dem groben Material. Es arbeitete in ihr. Die Zahnräder der Maschine hatten sich in Bewegung gesetzt und mahlten. Mahlten unentwegt.
Ihre Augen dampften, ihr Kopf rauchte. Ihr Magen rumorte, ihr Herz hämmerte. Ich bin ein Stahlwerk, sagte sie sich, ein Stahlwerk. Kurz vor dem Niedergang. Es rette sich, wer kann.
Abrupt ließ sie den Mantel los und rückte ab. Die Arme angewinkelt, die Hände abwehrend vor der Brust, sank sie fröstelnd zu Boden.
Welcher Teufel hatte sie geritten?

Sie hörte, wie er die Tür hinter sich schloss und den schweren Mantel abstreifte. Grußworte aussprach und nach ihr fragte. Sie hörte, wie er leise den Flur entlangschritt, und fühlte, wie er sich unentwegt nach allen Seiten wandte, aufmerksam, nach Kontakt suchend in den alten Gemäuern.

In Panik war sie aufgesprungen. Der Stuhl knallte zu Boden. Und zur Hintertür hinaus, durch den leeren Hof, den leeren Schweinestall, und ins Freie. Über die Felder hin zu den Wäldern. Durchschneidend die Wälder, bis hin zur Lichtung. Im Schock verharrend. Keuchend. Rasselnd in den Lungen, schwerer Atem. Jammernd in den Baumkronen bunte Singvögel. Hochblickend in den Himmel. Verfing sich das Licht der kalten Mittagssonne in der finsteren Iris.
Keine Antworten.
Kein Erinnern.

Die Küche war erfüllt von ihrer Abwesenheit, als er sie betrat. Den Knauf fest umklammernd, öffnete er die Küchentür nur einen Spalt, bevor er einen Fuß hineinsetzte. Es umfing ihn die alte modrige Vertrautheit und plötzlich eine unerklärliche Traurigkeit, als er mitten in der Küche stand. Er blickte hoch zur Decke. Eine nackte Glühbirne brannte in der lampenschirmlosen Halterung. Ein Stuhl war zu Boden geknallt und durch die offene Hoftür blies ein eisiger Wind. Er hörte, wie die Küchentür hinter ihm mit einem leisen Klick ins Schloss fiel. Langsam bückte er sich, ging zu Boden, hob den Stuhl behutsam hoch und stellte ihn zurück an den Tisch, auf dem noch aufgeschlagen ihr Buch lag. Die Seiten stoßweise wild durchkämmt von stürmischen Böen.

Brachland. Stilles, stetes Brachland.
Brich dich auf und frei und nieder.
Brich dich wieder und wieder.
In die alten, warmen Lieder.

Entzifferte er. Die Seiten waren vergilbt und abgegriffen, die Ränder stumpf und ausgefranst. Die Druckerschwärze schien allen Raum für sich einzunehmen. Und die Notizen links, rechts, oben, unten, über den Zeilen, unterhalb der Zeilen. Rufzeichen, Fragezeichen, Kringel, scharfkantige Figuren, Schraffierungen, Schattierungen.

Er klappte das Buch zu.

Er ging zur Hoftür, stellte sich in den Wind und blickte in die kahle Leere.
Ein klagender Schwall fuhr ihm hart ins Gesicht und durch die dunklen Haare. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück, zurück in die warm modernde Küche.
Und stemmte sich mit aller Kraft gegen die knarzende Tür, bis auch sie widerwillig ins Schloss fiel.
Unerhört.
Unannehmbar.

Den unheimlichen Pfad des größten Widerstandes hatte sie beschritten. Heim. Begleitet vom Rauschen der Wälder. Dem Schwirren der Blätter und Tiere. Dem Mut der Natur. Oben zogen die Sturmwolken im Zeitraffer dahin, unten wühlten sich Nager durchs Erdreich.
Kein Weg daran vorbei. Kein Weg vorbei.

Sie tritt zur Vordertür ein, schließt diese unhörbar und lauscht den gedämpften Stimmen, die aus der Küche zu ihr durchdringen.

Das liederliche Leben, Bub. In der Stadt.
Was willst du da? Da findest du doch keine Frau.
Überleg dir das noch einmal. Das ist doch keine Arbeit.
Am Hof ist immer Arbeit. Der Vater kann dich brauchen. Gell, Vater.

Kein Mensch weit und breit. Kein Hof im Umkreis von Kilometern. Keine Arbeit weit und breit. Keine Tiere, keine Felder. Nichts zu bestellen, nichts zu empfangen. Nur die unendliche Ödnis.

Sie hört ihn leise antworten. Entgegnen. Sich widersetzen. Ankämpfen.
Sie hört seine leise, warme, dunkle Stimme ankämpfen. Gegen den Moder und Überdruss. Gegen die Muster und Schimäre. Gegen den schleichenden Tod und das aufbrechende Leben.

In der Garderobe hängt sein Mantel.

Benommen erhebt sie sich und geht gemessenen Schrittes den Flur entlang, bemüht um Haltung, bemüht um Fassung. Des Herzens, des Verstandes, des Körpers. Des Körpers, des Körpers, des Körpers.

Die will keinen, die Elisabeth, sagt der Vater.
Alle nicht gut genug. Was die will?!
Wird schon sehen, was die davon hat.
Immer so viel wollen.
Mehr Bescheidenheit tät ihr gut.

Er erwidert nichts.

Sie geht den Flur entlang, majestätisch, erhobenen Hauptes, gemessenen Schrittes, aus den Augenwinkeln die Tapetenwände abgrasend. Ausflüge, Porträts, Hochzeitsfotos, Totenbilder. Das tödliche Übereinkommen. Die Fluchtlinien verengen sich, der Flur kontrahiert, Finsternis.

Er erwidert nichts.

Und blickt zur Tür.
Sie steht im Türrahmen.

Wo warst du denn, die Mutter.
Wir haben dich vermisst.
Komm herein.
Wie du ausschaust.

Er versteift sich unmerklich. Blickt sie an. Lächelt breit.
Vergessen.

Nichts merken, nichts anmerken, gar nichts anmerken lassen. In Mantras sprechend beschwört sie sich, während ihr Blick durch den Raum schweift und hängen bleibt, an der nackten Glühbirne, der geschlossenen Hoftür, dem geschlossenen Buch auf der Anrichte, dem königsblauen Hemd zwischen Vater und Mutter, den hellen Augen.

Sie lächelt, geht zum Tisch und begrüßt ihn. Küsst ihn auf beide Wangen. Er umarmt sie und streicht mit einer Hand leicht über ihren warmen Rücken. Die obersten zwei Knöpfe seines Hemds sind geöffnet.

Jetzt habt ihr euch auch schon lange nicht mehr gesehen, die Mutter. Schön, dass wir alle wieder zusammen sind.

Gut schaust du aus, sagt er.
Du auch. Lächelt. Wie lange bleibst du da?
Nur bis morgen. Dann muss ich wieder arbeiten.

Was für eine Arbeit denn? Der Vater, verächtlich.

Du musst mich bald besuchen kommen.
Wir könnten ins Theater gehen und essen.
Unbedingt.

Er blickt sie an, fast hilfesuchend. Er sucht etwas in ihren Augen. Sie weiß was.
Er riecht nach frischen Laken und noch etwas anderem.

Ich erinnere mich, sagt der Körper. Ich erinnere mich.
Und du dich auch.

Angelika Holl

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17184