Kategorie-Archiv: Angela Kreuz

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Der Mann mit dem Spatzenkäfig

Köhler passierte das gusseiserne Tor in der alten Stadtmauer und trat in den Rosengarten; in der Hand trug er einen Vogelbauer. Die Luft war frisch, und er spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er setzte sich auf die Bank neben dem Steinbrunnen, wo er jeden Morgen saß, und öffnete das Türchen. Nicco tschilpte und blickte ihn fragend an.

„Flieg nur“, ermunterte ihn Köhler und lehnte sich zurück. Er schob sich den Hut aus der Stirn. Der Brunnen plätscherte.

Nicco hüpfte aus dem Käfig und nahm zwischen den Beeten ein ausgiebiges Staubbad. Köhler lächelte. Wenn es dem kleinen Dreckspatz nur gut ging. Er sah seine Frau, wie sie an einer pfirsichfarbenen Rosenblüte roch; wunderbar lieblich war ihr Duft. In seiner Brust brannte es.

Der Spatz war zum offenen Fenster hereingeflogen, als Köhler am Bett seiner Frau gesessen und ihre kälter werdende Hand gehalten hatte. Er war auf seiner Schulter gelandet und seither bei ihm geblieben. Drei Jahre waren vergangen, und jeder Tag war ein Geschenk seines kleinen Freundes gewesen. Köhler hatte ihn Nicco getauft, da er zu Paganinis Geigenmusik zwitscherte; jeden Abend hörten sie sich eine Schallplatte an.

Nicco flog auf und schaukelte auf dem Ast eines leuchtendroten Ahorns. Zwischen den Zweigen schimmerte der Fluss in einem silbrigen Licht, das unter der Brücke hindurchfloss wie durch ein Tor zur Ewigkeit. Wenn nur der Spatz immer wieder zu ihm zurückkam; es war sein einziger Wunsch.

Um den Vogelbauer herum ließ sich ein Grüppchen Spatzen nieder und beäugte neugierig die hölzerne Konstruktion; jeder von ihnen war anders gezeichnet. Der Frechste sprang als Erster hinein und wühlte im Futternapf, dann wechselten sie sich ab. Köhler ließ sie gewähren, er hatte noch genug Sonnenblumenkerne zu Hause. Es war ein lebendiges Treiben, und bald war kein Körnchen mehr übrig.

Nicco landete auf dem Brunnen und trank von dem kühlen Wasser. Plötzlich machten die Spatzen ein Gezeter, doch er beachtete sie nicht. Als hätte er ihren Zorn provoziert, stürzten sie sich auf ihn. Köhler wollte die Angreifer vertreiben, doch ein stechender Schmerz raubte ihm den Atem. Er fasste sich ans Herz. Der kleine Vogel wehrte sich tapfer, obgleich er keine Chance hatte. Sie schrien, johlten und kreischten. Kalter Schweiß trat auf Köhlers Stirn, sein Herz stolperte wie ein elender Heimkehrer aus dem Krieg, und die bezwingende Enge in seiner Brust versetzte ihn in panische Angst. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an, bis der Lärm um ihn herum abebbte und sich in der Stille flirrende Geigenklänge und eine grenzenlose Leichtigkeit ausbreiteten. Unvermittelt stand ein strahlender Paganini im Gehrock vor ihm; er nahm die Geige vom Kinn und verneigte sich. Das Letzte, was Köhler sah, war ein zerzauster Spatz, der sich auf seine Hand setzte. Er schmiegte sich in die Kuhle seiner Handfläche und schloss für immer die Augen.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 18011

Pauli, Petko

Die Bauarbeiter stiegen vom eingerüsteten Glockenturm und setzten sich auf ein paar Holzkisten. Links über ihnen hing ein riesiges Banner von der Hauswand herab. Is there Beauty after Alleppo?
Wastl packte sein Pausenbrot aus und biss hinein. „Woher bist du, aus Serbien, eh?“ Eine halbe Essiggurke fiel zu Boden.
Jagoš zog an seiner Zigarette. „Kroatien.“

Der Kollege neben ihnen faltete die Bildzeitung auf und vertiefte sich in den Anblick eines halbnackten Fotomodels. Jagoš Blick schweifte durch das gusseiserne Tor. Der riesige Rasenmäher vor der Kirchenruine erinnerte ihn an sein Heimatdorf, er war oft Trecker gefahren und hatte Mutter bei der Ernte geholfen. Jagoš betrachtete die von Büchern überquellenden  Regale hinter den Fenstern des Rückgebäudes. Kurz vor Kriegsausbruch war er zum Studieren nach Zagreb gegangen, er hätte Ingenieur werden sollen, wie Onkel Zlatko. Doch nach ein paar Semestern hatte Jagoš abgebrochen und war nach Deutschland geflohen. Damals wollte er nur noch weg von dem Chaos. Drei Tage davor war sein kleiner Bruder ums Leben gekommen.

„Ma-ma!“ Ein Junge lief über den Platz und heulte.
Wastl schmatzte. „Der Dumme hat sich beim Taubenjagen verlaufen.“ Er schraubte eine Thermoskanne auf und schenkte sich Kaffee ein.
„Komm mal her“, sagte Jagoš. „Suchst du deine Mama?“
Der Junge nickte und ging zögernd auf ihn zu, seine Augen waren vom Weinen rot und an einem Nasenloch hing Rotz.
„Wie heißt du denn?“
„Pauli.“ Er zog die Nase hoch.

Petko war ungefähr in Paulis Alter gewesen, als er nach den Schüssen im Straßengraben gelegen hatte, ganz still, mit seinem Gesichtchen im Dreck. Mutter hatte es ihm weinend am Telefon erzählt, doch ihm war, als hätte er es selbst gesehen, eine unauslöschliche Erinnerung.

Paulis Hose hatte Grasflecken. „Weißt du, wo meine Mama ist?“
„Ich weiß alles“, scherzte Jagoš und raffte sich hoch. „Sollen wir sie suchen gehen?“
Er streckte Pauli die Hand hin. Die Finger des Jungen fühlten sich kalt und klebrig an, als hätte er Eis gegessen. Sie gingen quer über den Parkplatz. Als sie um die Ecke bogen, kam ihnen hastig ein Paar entgegen.
„Da bist du!“, rief der Mann. „Wenn du das noch einmal machst, dann –“
Pauli blieb abrupt stehen; sein kleiner Körper versteifte sich.
„Warum regen Sie sich so auf?“, sagte Jagoš. „Sie haben ihn ja wieder.“

„Warum bist du schon wieder weggelaufen?“, fragte die Frau; der Junge sah ihr auffallend ähnlich. Sie zupfte ein Taschentuch aus einem Päckchen und putze ihm die Nase. Ihre Zähne waren ein klein wenig schief und auf ihrer Wange hatte sie ein winziges Muttermal. Sie lächelte Jagoš an. Wie lange war es her, dass ihn eine Frau so angelächelt hatte. Er wusste es nicht. Nur, dass er mit ihr und dem Jungen bis ans Ende der Welt hätte gehen wollen. Stattdessen machte er sich von der kleinen Hand los, die seine Finger nach wie vor umklammert hielt, und steckte sich noch eine Zigarette an.

„Sag auf Wiedersehen zu dem netten Mann.“
„Tschüss“, sagte Pauli und winkte. Pauli, Petko.
Jagoš nickte ihm zu und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 18010

Bettelkönigin

Die kleine Hand war dunkel und ein wenig schmutzig; unter den Fingernägeln zeichneten sich schwarze Ränder ab. „One Rupee, one Rupee.“
„No.“ Unwirsch blätterte Isabella eine Seite um; sie wollte in Ruhe lesen und sich nicht schon wieder mit einem bettelnden Kind herumärgern.
„One Rupee.“
Sie musterte das Mädchen. Es war etwa acht Jahre alt und steckte in schmuddeligen Pajamas; die dunklen Augen voll fordernder Ungeduld.
„I don’t give children money.“ Isabella unterstrich ihre Worte mit einem Kopfschütteln.
Die Haare der Kleinen waren zerzaust und an einigen Stellen verfilzt. Sie sah nicht aus, als ob sie die Erklärung akzeptierte. Irgendwie war es immer falsch, was Isabella tat; gab sie den Kindern etwas, gingen sie erst recht nicht zur Schule; gab sie ihnen nichts, musste sie ein schlechtes Gewissen haben – wovon sollten sie denn sonst leben. Ständig fühlte sich Isabella hier schuldig, irgendwie kam sie mit der Armut nicht klar.
„One Rupee, pleeeeeease.“
Aber jeden Bettler zu unterstützen, weil der kapitalistische Westen immer an allem schuld war?
„No!“ Isabella wandte ihren Blick ab und lehnte sich zurück, die Tempelsäule fühlte sich kühl an. Wenn sie so bedrängt wurde, konnte sie stur sein. Eine Taube flog auf und landete auf dem Kopf eines steinernen Tempellöwen. Nach einer Weile machte das Mädchen kehrt und ging weg.

Prakriti zog sich in eine schattige Nische neben dem Goldenen Tor zurück. Unter einem Ziegelstein hatte sie ihre Einnahmen versteckt – alles war noch da. Die anderen Kinder respektierten sie, schließlich verdiente sie mit Abstand am meisten. Sie streunten in den angrenzenden Straßen herum und machten Beute. Zufrieden überblickte Prakriti den Durbar Square – der Platz gehörte ihr und niemand würde es wagen, ihn ihr streitig machen. Gerade kam eine japanische Touristin im Kimono aus dem Königspalast, während ihr Mann sie mit seiner riesigen Kamera von allen Seiten fotografierte.
Prakriti nickte Aruna zu, die ein paar Meter weiter eine leere Plastikflasche in einen Sack stopfte. Plötzlich kam ihr dieser halbnackte Security in den Sinn; sie wischte die ekelhafte Erinnerung weg, stand auf und gab Aruna eine Ohrfeige. Das kleine Mädchen weinte. Prakiti nahm sie auf den Arm und ging auf das Paar zu.
„Baby hungry“, jammerte sie und streckte die Hand aus. Die Touristin sagte etwas zu ihrem Mann, der umständlich in seinem Brustbeutel kramte und ihr ein paar Münzen gab.
„Baby hungry!“, wiederholte Prakriti zornig, der Trottel war wohl schwer von Begriff. Endlich fischte er einen Schein hervor. Sie schnappte ihn sich und schlenderte zu ihrem Platz zurück.

Das kleine Mädchen tat Isabella leid. Eigentlich taten ihr beide leid. Eltern waren keine in Sicht. Die Kleine schien zu spüren, dass Isabella sie beobachtete und näherte sich vorsichtig, während ihre Schwester eine ältere Amerikanerin mit Schirmmütze bearbeitete: „School book, one hundred Rupee, please.“
Die Kleine erklomm zielstrebig die Steintreppen. Isabella nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Wenn sie doch nur Bonbons dabei hätte oder wenigstens einen Keks. Vielleicht mochte die Kleine spielen? Sie schüttete den Rest Wasser auf den rötlichen Stein, tauchte ihren Finger in die Pfütze und malte kurzerhand das Haus vom Nikolaus. Das Kind sah sie groß an. Ein scharfer Pfiff hallte über den Platz. Die Kleine fuhr hoch und rannte zu ihrer Schwester. Die beiden verschwanden im nächsten Laden.

Pakriti drückte den Kleber aus der Tube und gab Aruna die zweite Plastiktüte; sie bliesen die Tüten auf und sogen die Dämpfe ein. Im Nu wurde Pakriti von einem Schwindel erfasst und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Sie schaute in den strahlendblauen Himmel, der intensiv leuchtete. Pakriti torkelte in die Mitte des Platzes, drehte sich im Kreis, dass die Pagoden nur so um sie herumflitzten, und glaubte für einen glücklichen Moment, abzuheben und davonzufliegen. Aruna gluckste; ihr Lachen war ansteckend und sie lachten beide grundlos und verrückt, bis sich der Rausch wieder verflüchtigte.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18009