Kategorie-Archiv: Manuela Murauer

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Sonnentanz

In staubigen Mokassins betrat Pa-Akanti den großen Platz, der sich kreisrund inmitten der zahlreich angeordneten Tipis seines Stammesvolkes bildete. Vor der Lagerfeuerstelle machte er Halt. Die langen schwarzen Haare hingen windzerzaust über seinen Rücken, die reichverzierte Lederkleidung wirkte etwas mitgenommen. Der Schamane des Kiowa-Stammes mit dem bedeutenden Namen „Stürmischer Stier“ war ein imposanter Mann mittleren Alters, hochgewachsen, schlank und sein Körper durch viele Stunden am Pferderücken stählern muskulös.
„Sei gegrüßt, Pa-Akanti. Endlich bist du zurückgekehrt von deinen geheimen Zeremonien!“ Dohasan, der Häuptling des Stammes, trat auf den Schamanen zu und klopfte ihm brüderlich auf die Schulter. Auch Dohasan machte den Kiowas alle Ehre mit seiner vornehmen Erscheinung.

Hinter den Tipis spielten Kinder, sie liefen um die Wette, manche von den Buben bedienten schon Pfeil und Bogen und wieder andere waren bereits richtig gut im Reiten. Als nun alle Pa-Akanti entdeckten, kamen sie angelaufen und brachten Holz für das Lagerfeuer, sie breiteten Bisonfelle aus, und die Frauen des Stammes kümmerten sich um Essen und Getränke. Dohasan holte seine Pfeife aus dem Tipi, und die Ältesten gesellten sich ebenso zu der Runde.
Im Hintergrund funkelte der Canadian River, der sich ruhig durch die markanten Sandsteinfelsformationen schlängelte. An den Hängen in Ufernähe wuchsen vereinzelt Kieferbäume und Wacholderbüsche, deren Duft ständiger Begleiter des Stammes war.

„Hattest du eine Vision während deiner Sonnentanz-Zeremonie, Pa-Akanti?“, richtete der Häuptling das Wort an den Heimgekehrten. Die Stammesmitglieder, die nun alle dicht gedrängt im Kreis am Boden saßen, lauschten aufmerksam.
„Diesmal bat ich die Schutzgeister, mir in einer Vision zu zeigen, welche Krankheiten uns heimsuchen könnten in den nächsten Wintern und wie ich unser Volk davor beschützen könnte. Ich hatte eine ganz besonders anstrengende Visionsreise während meines Fastens. Ich weiß nicht, welches wundersame Kraut mir Meda da in die Pfeife gepackt hat?“, er zwinkerte der alten Medizinfrau zu. Sie lachte und entblößte dabei eine Reihe von Zahnlücken.
„Ich habe in meiner Vision nicht nur die kommenden Jahreszeiten bereist, es wird wohl einige hundert Winter dauern, bis es zu solchen Bedrohungen kommt, wie ich sie gesehen habe. Dort habe ich Völker erahnt, die gänzlich verschieden leben im Vergleich zu unseren Stammesvölkern hier in der Prärie. Es herrschte Angst und Schrecken unter ihnen, sie liefen mit verhüllten Gesichtern durch den Tag. Ich sah nur ihre Augen, der Rest blieb mir verborgen. Manche hatten ängstliche, weit aufgerissene Augen, als wäre der Grizzly hinter ihnen her. Andere hatten einen verschlagenen, respektlosen Ausdruck. Doch eines war ihnen gemeinsam, sie wurden von einer unsichtbaren Krankheit bedroht, die kein Medizinmann und keine Medizinfrau abwenden konnten. Manche erkrankten so schlimm, dass sie daran starben. Andere hatten nur eine leichte Schwäche oder etwas Fieber.“

Der kleine Manipi kletterte wendig auf den Schoß des Schamanen, seine schmutzigen Hände streichelten über Pa-Akantis Gesicht.
„Wieso haben sich die kranken Menschen nicht an so einen klugen Mann wie dich gewandt? Er hätte ihnen bestimmt helfen können, Onkel.“ Ein Lächeln huschte über die Indianergesichter.
„In meiner Vision schien es, dass niemand diese unsichtbare Bedrohung abwenden konnte. Diese Krankheit schlich sich leise und unsichtbar an wie ein Puma, um dann wie ein Tornado durch das Land zu fegen.“
Meda, die alte Medizinfrau, nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife und entgegnete mit krächzender Stimme.
„Gegen Fieber wird es doch immer ein Heilkraut geben?“

Es wurde still um das Lagerfeuer, nur das Knistern des Holzes und der rauschende Fluss waren zu hören.
Langsam erhoben sich einige Frauen des Stammes und holten Maisbrot und getrocknetes Büffelfleisch. Die Kinder bevorzugten Wildbeeren, welche in Holzschalen herumgereicht wurden. Mit einem behutsamen Nicken bedankten sich die Männer und Ältesten bei den Frauen für die Fürsorge.
„Konnten denn keine Häuptlinge und Krieger diese Gefahr abwenden?“, erkundigte sich aus den hinteren Reihen eine junge Indianerin mit pechschwarzen Haaren, die kunstvoll geflochten ihren Rücken bedeckten. Pa-Akanti blickte ihr tief in die Augen und dachte lange über die Frage nach.
„Ihre Pferde waren nicht schnell genug und sie konnten sie nicht reiten, Niyaha!“, antwortete der Schamane schließlich.

Eine lange Pause entstand. Der Schamane schloss die Augen und summte eine leise Melodie. Sein Oberkörper bewegte sich im Rhythmus der Flammen, mit der geöffneten rechten Handfläche fächelte er sich Rauch über Gesicht und Haupt. Sein Ausdruck war gequält und angestrengt. Immer lauter wurde sein Summen und Singen, seine Hand zitterte kaum merklich.
„Nicht die unsichtbare Bedrohung der Krankheit wird diese Menschen zerstören. Nein, es ist ihre Lebensart, die viel gefährlicher ist. In der Früh verlassen sie ihre Behausungen, in alle Himmelsrichtungen verstreuen sie sich. Die Kinder verbringen den Tag über unter ihresgleichen, die Alten leben in extra für sie vorgesehenen Einrichtungen und nicht, wie bei uns hier, hochgeachtet unter uns. Alle scheinen sie auf der Flucht zu sein, wie eine Herde ungestümer Pferde! Nichts geschieht behutsam und bedacht bei ihnen, ihre Herzen schlagen laut und beinahe rasend, wie eine Büffelherde. Es wird eine schreckliche Zeit werden, sage ich euch.“

Der kleine Manipi, der an der Seite seines Onkels aufmerksam zugehört hatte, beugte sich über das Feuer und stocherte mit einem Stock die Flammen erneut an.
„Was suchen sie denn nur? Sind sie Jäger?“, fragte er kopfschüttelnd.
„Ja, sie werden auf der Jagd sein. Nach Gold und Silber und Reichtum. Damit sie es eintauschen können in immer größere Behausungen mit immer kleiner werdenden Clans. Sie werden einsame Wölfe sein und jaulen die halbe Nacht. Und niemand wird sie hören.“

Langsam zog die Nacht über die Prärie und vereinzelt war das Rufen der Coyoten zu hören. Die Sonne tauchte den Canadian River in ein dunkles Orange und die Pferdeherde des Stammes zog langsam und stetig das Ufer entlang auf der Suche nach Futter.
Nach und nach verließen die Stammesmitglieder das Feuer und zogen sich zurück in ihre Tipis. Nur Meda, Dohasan und Pa-Akanti saßen zuletzt noch am Lagerfeuer und hingen ihren Gedanken nach.
„Der Letzte macht das Feuer aus“, flüsterte Meda und erhob sich etwas schwerfällig von ihrem Platz.

Manuela Murauer
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www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será?  Inventarnummer: 20123

Die letzte Fahrt

Er stand am Bug des Schiffes und hielt sich mit einer Hand am Tau der Takelage fest. Der Wind peitschte ihm erbarmungslos die Gischt ins Gesicht, seine dunklen Locken klebten auf der Haut. Seinen Kopf gegen den Himmel gerichtet, flehte er die Götter an, die Meeresbewohner zu beruhigen.
Die Ruderer an Bord kamen schwer voran, manche riefen ihm zu:
„Orpheus, hilf uns doch! Musiziere und beruhige die Götter!“ Mit Mühe kletterte er auf den rutschigen Dielen zu seiner Lyra und begann zu musizieren. Im Rhythmus gab er den Seemännern den Takt vor, besänftigte das wütend gewordene Meer und endlich konnten sie bei ruhiger See durch die Ägäis segeln.
„Das war knapp“, meinte ein Ruderer später und klopfte Orpheus freundschaftlich auf die Schulter. Die Sonne erhellte wieder das Firmament und trocknete die Kleidung der Seefahrer, die bis auf die Haut nass geworden waren. Zum Dank spielte er weiter auf seiner Lyra und bald erreichten sie die Insel Lesbos.

Reges Treiben herrschte im Hafen und nach einem kurzen Marsch kamen sie in eine kleine Stadt. Sie wollten sich stärken nach der anstrengenden Fahrt, und entlang der Stadtmauer wurden die ersten Waren feilgeboten.
Orpheus fiel eine bedrückte Stimmung auf, ganz anders als auf den anderen Inseln, die sie bisher erreicht hatten. Die Landwirte mit ihren Eselskarren, Töpfer und Schmiede, die Frauen an den Ständen, in kümmerliche Kleider gehüllt, hatten alle einen abweisenden Gesichtsausdruck. Oder war es gar Trauer, die Orpheus in ihren Augen sah?
„Was ist den Menschen hier widerfahren?“, wandte er sich fragend an einen Mannschaftskollegen.
„Lesbos ist bekannt dafür, dass die Menschen hier sehr arm und unglücklich sind. Es fehlt ihnen an den schönen Dingen des Lebens. An Musik, Kunst, Vergnügen.“
Sie saßen an einem kleinen, wackeligen Holztisch, verspeisten Oliven und Schafskäse und tranken jeder einen Becher Wein. Die gedämpften Stimmen der Händler im Hintergrund boten Waren feil und wurden nur wenig von den Vorbeimarschierenden beachtet, die alle mit gesenkten Köpfen ihren Blick auf die staubige Straße richteten.

„Meiner Frau Eurydike, die Götter mögen sie selig ins Reich aufgenommen haben, versprach ich am Sterbebett, meine Musik weiterzuführen und Gutes zu tun. Meint ihr, ich könnte hier auf der Insel mit meiner Lyra die Leute wieder fröhlicher stimmen?“
Die Seeleute erhoben ihre Weinbecher und prosteten ihm zu:
„Ja, Orpheus! Wunderbar!“ Ein junger Matrose sprang auf eine kleine Steinmauer und rief den Menschen zu:
„So kommt und hört! Orpheus ist auf eurer Insel und wird euch mit seinem Gesang den Tag erhellen und erträglicher machen. Kommt herbei!“ Euphorisch die Hände schwingend, bedeutete er den Bewohnern, näherzutreten. Orpheus nahm seine neunsaitige Harfe und begann zu musizieren.
Bald drängten Männer, Frauen und Kinder mitsamt Eseln und Ochsen um den kleinen Platz und lauschten seiner Stimme. Manche hatten Tränen in den Augen, andere tanzten zur Musik, wieder andere nahmen ihre Mitbürger bei der Hand oder fielen einander in die Arme. Den ganzen Nachmittag erfreuten sich die Bewohner der Stadt an der Darbietung von Orpheus.
Auch nächsten Tag und übernächsten Tag konnten es die Menschen kaum erwarten, ihn zu hören. Er hatte große Freude daran, die Einwohner glücklich zu sehen, und in Gedanken war er bei seiner verstorbenen Frau Eurydike.
Die Bewohner sprachen mit leiser Stimme:
„Mit seinem Gesang und der Dichtkunst kann er Götter betören, auch Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine. Bäume neigen ihm sich zu, wenn er spielt, und die wilden Tiere scharen sich friedlich um ihn.“

Nach einer Woche stand Orpheus im Hafen und verabschiedete sich von seinen Seefahrern.
„Dies war meine letzte Fahrt. Ich werde hier bleiben, es ist wohl meine Bestimmung.“
„Wir werden wiederkommen, Orpheus. Dann lass uns die Weinbecher erheben und uns deiner Gesangskunst lauschen.“ Die Mannschaft bestieg das große Schiff, nahm an den Rudern Platz und verließ den Hafen.

Bei seinem nächsten Auftritt bemerkte Orpheus unter den Zuhörern eine Frau, sie verweilte in der hintersten Reihe und beobachtete das Treiben. In einem ultramarinblauen seidenen Kleid mit aufgestickten fünfzackigen Sternen aus feinsten Goldfäden stand sie reglos in der Menge, mit versteinerter Miene. Ihr blondes langes Haar wehte im Wind und sie wirkte erhaben und elegant. Sie tanzte nicht, lachte nicht und sie sprach auch nicht mit den anderen. Manchmal blickte sie Orpheus tief in die Augen, als wolle sie ihn verführen. Entgegnete er mit einem Lächeln diesen Blick, wandte sie den Kopf ab und verschwand.

Jeden Tag kam sie auf den Vorplatz an der Stadtmauer, und während einer Mittagspause, als es unerträglich heiß wurde, drängte er sich durch die Menge auf die betörend schöne Frau zu. Mit einer leichten Verbeugung stellte er sich vor und fragte nach ihrem Namen.
„Ich heiße Europē“, entgegnete sie mit kräftiger Stimme.
„Nun, Europē, wie kommt es, dass du täglich meiner Darbietung lauschst, obwohl sie dir augenscheinlich nicht gefallen mag?“, fragte er gutmütig. Sie verzog ihren Mund zu einem abscheulichen Lächeln. Schlagartig war ihr Gesichtsausdruck nicht mehr feminin und zart, er glich eher einer Fratze. Mit spitzer Zunge und bebender Stimme antwortete sie:
„Ich bin lediglich hier um zu beobachten. Es interessiert mich nicht, wie du Menschen betörst und ihnen den Kopf verdrehst. Auf mich wirkt das nicht, es ist geheuchelt und ich harre der Dinge, die da kommen mögen!“, fauchte sie ihn an. Bei ihren Worten wich Orpheus jäh zurück und er konnte nicht fassen, was er gehört hatte.
„Aber ist es denn so schlimm, Gutes zu tun? Den Menschen wieder Zuversicht, Freude und Glück zukommen zu lassen? Viele Bewohner hier leiden Hunger und sind von Kriegsfahrten heimgekehrt, haben schreckliches Elend gesehen. Was ist verkehrt daran, ihnen mit ein wenig Gesang, Musik und Dichtkunst den Weg zu ebnen nach den reinen, feingeistigen Freuden und nach der Liebe?“

Lange Zeit starrte sie ihm in die Augen. Der Wind schien stillzustehen und es war, trotz der Mittagshitze, eine frostige Kälte zu spüren. Die Menschen, die vorher den Platz gesäumt hatten, hatten die Worte von Europē gehört und liefen eilig weg aus Angst.

„Liebe, Mitgefühl, Empathie kann man nicht erzwingen, du Narr!“, entgegnete sie giftig und verließ den Platz.

Manuela Murauer
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www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 20111

 

 

 

 

 

 

Der Weisenrat

Ihre Kleider hingen in Fetzen an ihrem gebrechlichen, mageren Leib hinunter. Die Löcher im Gewand gaben den Blick frei auf zahlreiche Wunden. Manche eiterten, andere waren stark gerötet und wollten nicht verheilen. Bei den Bewegungen ihrer Glieder machte sich Mief in der Umgebung breit, sie stank aus jeder Pore. Viele Knochenbrüche hatte sie schon erlitten, an den Bruchstellen, die nicht mehr zu gesunden schienen, entstanden Schwellungen.
Etliche Krankheiten hatte sie überstanden, für ihr Alter war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte. Zäh war sie und an ein Aufgeben war nicht zu denken. Von Burn-out über Dehydration bis hin zu Sepsis und Beinahe-Organversagen, alles hatte sie einstecken müssen.
Ihre Freunde und Weggefährten machten sich unglaubliche Sorgen.
„Lang wird sie das nicht mehr machen, wir müssen jetzt einschreiten!“, schrieb der Chef des Weisenrates an seine Kollegen.

Eine Woche später trafen sich die Experten an einem warmen Frühlingstag und saßen auf der Wiese in einem großen Garten. In einem Fragenkatalog, der zuvor an die Mitglieder ergangen war, wurden etliche Punkte erörtert.
„Es wäre gut, wenn jeder für sich aus seinen Beobachtungen berichtet. Anschließend können wir Vorschläge einbringen, wie wir der Alten endlich zielführend helfen können. So wie es jetzt ist, steht sie kurz vor einem Kollaps, und niemand wird sie mehr auf die Beine bringen können.“ Der Vorsitzende sprach mit bedachter, gleichmäßiger Stimme und richtete den Blick seiner intensiv grünen Augen an jedes einzelne Mitglied in der Runde. Er war schon ein altes Semester, und zahlreiche Falten gruben sich in sein braungebranntes Gesicht. Die Haare an seinem Kopf waren spärlich und standen in kleinen, grauen Büscheln kreisrund ab, die Augenbrauen jedoch waren üppig und schienen, wie dicke Borsten aus Stroh, kaum zu bändigen zu sein.
„Magst du beginnen?“, fragte er seinen rechten Sitznachbarn.

Der Mann an seiner Seite hob träge seine alten Hände und räusperte sich. Seine Kleidung wirkte etwas schmuddelig, um nicht zu sagen schmutzig an manchen Stellen.
„Meine Beobachtungen? Es hat sich nichts geändert, muss ich sagen. Die kurze Verschnaufpause für die Alte, als sie auf Reha war, brachte nichts. Wenn wieder alle so weitermachen wie vorher, war das nur ein kurzes Abebben der Symptome. In meinem Ressort stehen schon wieder etliche der Spezies Schlange in den Häfen, um Kreuzfahrtschiffe zu besteigen, die Gewässer versinken schon wieder im Dreck, die Ressourcen werden knapp. Ich befürchte, der Countdown läuft, und die Tage sind gezählt.“

Schweigen in der Runde. Der zweite Redner hob die Schultern und schüttelte den Kopf, er richtete seinen Blick auf die Frau neben ihm und hob die Hand als Aufforderung, dass sie fortfahren solle.
Sie war eine bunte, kesse Erscheinung in grellen Kleidern. Ihre Haare glänzten in allen Farben des Regenbogens, vor langer Zeit waren sie jedoch noch viel prächtiger gewesen, man wusste nicht, war es Gefieder, Fell oder Haar. Ihr Gesicht hatte etliche unterschiedliche Züge, von katzenhaft über krötenähnlich bis hin zu einer schlangenartigen Spitzmündigkeit, alles in ständigem Wechsel.
„Leider muss ich auch Ähnliches berichten wie mein Freund hier. Die Fluchträume sind eingeschränkt, die Versorgung ist sehr schlecht. Es wird ausgebeutet und abgeschlachtet wie vor dem Shutdown, die Würde wird uns geraubt, und unser Lebensraum ist beinahe nicht mehr vorhanden.“

Wieder herrschte Unverständnis, bis ein kaum vernehmliches Krächzen von der nächsten Weisen in der Runde die Stille durchbrach.
„Habt ihr es nicht bemerkt? Die letzten Tage?“, flüsterte sie leise, und es schien, als hätte sie extreme Atemnot. Jedes Wort kam besonnen und mit großer Anstrengung über ihre spröden Lippen. Ihre Haut war fahl und farblos, die Augen von hellem Grau, das Haar hing in Strähnen über den krummen Rücken.
„Die Stadien sind wieder voll, Großveranstaltungen finden wieder statt, die Flughäfen sind auf Hochbetrieb, zahlreiche Flieger starten und landen. Die Spezies hat nichts verstanden. Ich denke, wir müssen zu unserem letzten Schritt übergehen, bevor uns die Alte krepiert.“
„Das Worst-Case-Szenario, wie wir das schon mal besprochen hatten? Ist das dein Ernst?“, fragte der Diskussionsleiter.
Ein Raunen und Schnauben ging durch die Runde.
„Wenn wir das jetzt nicht machen, bedeutet das auch unseren Untergang. Wir werden mit der Alten gemeinsam verrecken. Ist euch das klar?“, zischte die Atemlose ihre Freunde an.

Aus heiterem Himmel bog die Alte um die Ecke, sie stützte sich auf zwei Krücken und hatte große Mühe. Ein erbärmlicher Anblick bot sich dem Weisenrat. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
„Komm, lass dir helfen“, der Vorsitzende erhob sich und begleitete sie zu seinen Kollegen.
„Ihr habt wohl gedacht, ihr könnt ohne mich einen Plan aushecken?“ Sie schmunzelte, und man konnte erahnen, dass sie einmal eine stolze, wunderschöne Frau gewesen war. Aber das musste vor sehr langer Zeit gewesen sein.

„Meine Liebe, was sind denn deine Wünsche in Anbetracht der Situation?“, fragte der Vorsitzende.
„Ihr kennt meine Meinung“, antwortete sie röchelnd. „Noch schlägt mein Herz, tagein, tagaus. Meine Organe funktionieren und tun gefügig ihren Dienst, aber lange werde ich das nicht mehr schaffen. Ich will keine Kriege mehr schicken, keine Epidemien, keine Pandemien. Ich habe an die Spezies geglaubt und habe ihr vertraut, aber scheinbar lässt ihre Intelligenz sehr zu wünschen übrig.“

„Du weißt aber, was unser Worst-Case-Szenario bewirken könnte? Wir haben das hundertmal durchbesprochen. Die Konsequenzen sind von großer Tragweite“, meldete sich ein Mitglied zu Wort.
„Wir müssen es versuchen. Um unser aller Überleben willen!“, zischelte die schlangenhafte Gestalt.
„Ich werde euch sagen, was passieren wird“, sprach die Alte weiter. „Eine Katastrophe wird über die Spezies hereinbrechen, die einzelnen Facetten würden hier den Rahmen sprengen. Millionen werden obdachlos, in den Hospitälern geht den Notstromaggregaten nach 48 Stunden die vorgeschriebene Treibstoffreserve aus, Beatmungsmaschinen schalten sich ab, lebenswichtige Medikamente gehen zur Neige. Ärzten bleibt nur noch, ihren Patienten Sterbehilfe zu leisten. Unruhen brechen aus, bewaffnete Banden überfallen Krankenhäuser und Supermärkte, um Vorräte zu rauben. Notunterkünfte werden errichtet, dort greifen aufgrund fehlender Toiletten und Medikamente Krankheiten um sich. Nach ein paar Tagen erhalten Polizisten das Recht, wie in einem Krieg Plünderer zu erschießen. Es wird ein Holocaust. Langsam, aber sicher, wird die Spezies aussterben.“
„Ja, ein Holocaust, aber für uns bedeutet es, dass wir überleben!“, setzte der Vorsitzende fort.

Nach kurzem Expertenaustausch wurde einstimmig der Blackout beschlossen. Für mehr als 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde fiel an diesem Tag der Strom aus, das Treiben rund um den Globus stand abrupt still. Genau die Spezies, die sich am intelligentesten glaubte, stieß völlig an ihre Grenzen.

Und alle Weisen aus dem Stab, die in Vertretung für Pflanzen, Ozeane, Tiere, Sonne, Himmelskörper und Luft den Blackout beschlossen hatten, feierten bald mit der alten Mutter Erde, die sich von ihren Gebrechen langsam erholte, einen zweiten Geburtstag.

Manuela Murauer
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www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 20084

 

 

Eine Party auf der Wiese

Es war ein ungewöhnlich warmer, sonniger Samstag Anfang März im nördlichen Allgäu, als Mark auf die Veranda trat, um eine Zigarette zu rauchen. In Jeans und Polohemd schlenderte er an den großen Blumen- und Kräuterbeeten des geschmackvollen, etwas wild wirkenden Gartens vorbei. Seine dunklen Haare waren nass von der Dusche, die er zuvor genommen hatte. Aus der Küche drang geschäftiges Treiben, das Fenster stand weit offen und Mark beobachtete Maurizio und Sophie, die lachten und sich unterhielten.

Bunte Blumen reckten ihre Köpfe Richtung Sonne, er erkannte Schneeglöckchen, Leberblümchen, Märzenbecher, Schlüsselblumen und Löwenzahn. Die blühenden Kräuter waren ihm fremd, aber der Geruch, der von ihnen ausging, war betörend.

„Wunderschön, nicht wahr?“ Chiara, die Tochter von Maurizio, stand plötzlich hinter ihm. Ihr schulterlanges schwarzes Haar glänzte in der Sonne und ihre tiefblauen Augen strahlten Mark an. Sie trug ebenfalls Jeans und eine zartrosa Bluse, die ihren makellosen Teint unterstrich. In einigem Abstand folgte der Hund des Hauses ihr und beobachtete sie.
„Ja, bemerkenswert, was hier schon alles blüht um diese Jahreszeit“, entgegnete Mark.
„Der Winter heuer war sehr mild, darum ist die Natur schon weit fortgeschritten.“
„Aber was ist mit diesen Blumen hier, die sind wohl nicht ganz fit durch den Winter gekommen?“, fragte er und deutete auf einige krokusartige, verwelkte Blüten.
„Das ist Crocus sativus. Meine Großtante Sophie erntet daraus im Herbst Safran.“
Chiara schmunzelte bei dem verblüfften Gesichtsausdruck von Mark.

***

Maurizio und Sophie beobachteten die beiden und grinsten sich an.
„Was für ein schönes Paar sie abgeben würden, was?“, meinte Chiaras Vater.
„Es knistert gewaltig bei den beiden, aber sie sind viel zu schüchtern. Seit vier Wochen wohnt er nun bei uns hier im Gästezimmer, aber da rührt sich nichts. Ich denke, du wirst mit deinen Kochkünsten nachhelfen müssen, Maurizio. Immerhin bist du Italiener, also lass dir was einfallen!“

Sophie strich sich ihr langes, widerspenstiges Haar aus dem Gesicht und öffnete den Kühlschrank.
„Was führt ihr nun wieder im Schilde, ihr zwei?“ Katharina betrat die Küche und umarmte ihren Mann von hinten.
„Allora, dann lasst uns kochen aphrodisiaco!“.

***

Mark zündete sich eine weitere Zigarette an, und seine Gedanken schweiften ab. Er erinnerte sich gut, als er vor vier Wochen hier in Deutschland angekommen war aus Amerika und ein Zimmer suchte. Da war ihm Sophie das erste Mal begegnet. Wie aus dem Nichts stand da ein Hund am Hauseingang, stolz und erhaben kam er auf Mark zu und hielt einige Meter vor ihm an, musterte ihn, sein Fellkleid schimmerte in allen Brauntönen. Mark nahm befremdliche Duftnoten wahr, es roch intensiv erdig, nach Myrrhe und Moschus. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken, ihm wurde übel.

Dann vernahm er ein leises Zischen hinter ihm. Plötzlich stand sie da, ihre Augen geschlossen, ihre langen grauen Haare wehten im Wind, sie kräuselte fast unmerklich die Nase, ihre Nasenflügel bebten – als würde sie an Mark riechen, zog sie mit einem leisen Zischlaut die Luft durch den leicht geöffneten Mund ein. Dann lächelte sie und öffnete die Augen. Mark wich vor Schreck zurück, er hatte nie in seinem Leben solche Augen bei einem Menschen gesehen, bernsteinfarben!

„Deine Großtante ist eine sehr ..., wie sagt man, eigenartige Person? Mir fällt das richtige Wort nicht ein.“
„Ist sie dir unheimlich?“, fragte Chiara amüsiert.
„Am Anfang schon, ja. Aber nun wirkt sie eher geheimnisvoll auf mich. Vor allem ihre Augen, die ständig die Farbe zu wechseln scheinen. Und ich frage mich, wie alt sie sein mag. Manchmal wirkt sie beinahe jugendlich, dann wieder ziemlich alt.“
„Manchmal Elfe, manchmal Hexe. So ist sie, unsere liebe Sophie“, entgegnete Chiara.

„Hey, Americano, hilf mal den Tisch rauszutragen, wir essen heute in der Sonne, sui prati!“, rief Maurizio aus der Küche. Schnell wurden Tisch, Bänke, Stühle auf die Wiese getragen, eine weiße Leinentischdecke glattgestrichen und Katharina brachte große Teller und Weingläser.
„Kommen Gäste?“, wollte Mark wissen, als er die Anzahl der Gedecke sah.
„Ganz sicher“, entgegnete Chiara.
„Was feiert ihr denn?“, fragte er.
„La dolce vita, Mark! Wer weiß, wie lange uns das noch möglich ist? Es könnte ganz schnell anders sein.“ Sophie richtete ihren Blick Richtung Himmel und ein paar Sorgenfalten waren auf ihrer Stirn zu erkennen.

Kurze Zeit später trafen tatsächlich Gäste ein. Nachbarn, Bekannte, Freunde. Sie brachten selbstgebackenes Brot und Süßigkeiten mit. Wie selbstverständlich nahmen sie am Tisch Platz und unterhielten sich. Einige von ihnen musterten Mark und Chiara, die nun nebeneinander auf einer der Bänke saßen. Die ersten Platten wurden von Katharina und Maurizio rausgetragen, marinierte Erdbeeren, frittierte Artischocken, Sellerie mit Frischkäse, süßsaurer Orangensalat mit Basilikum und noch vieles mehr, die Primi Piatti nahmen den gesamten Tisch ein. Sophie brachte gekühlten Vermentino Wein und reichte den Gästen die Flasche. Sie war barfuß und ihr bodenlanges orangefarbenes Kleid wehte im Frühlingswind. Um ihre Taille war ein breiter Ledergürtel geschlungen, an dem mehrere kleine Leinenbeutel mit Kordel hingen. Sie griff in einen hinein und verteilte unbekannte Gewürze auf den Gerichten.

„Esst und trinkt, Freunde! Ich habe alles letzte Woche frisch aus meiner Heimat Ligurien geholt!“ Maurizio hielt ein Glas Wein in die Höhe und prostete in die Runde. Dann holte er tief Luft und begann zu singen:
„Una festa sui prati
una bella compagnia
panini, vino un sacco di risate
e luminosi sguardi di ragazze innamorate
ma che bella giornata
siamo tutti buoni amici …“

Mark genoss diese herrliche Stimmung am Tisch, er fühlte sich nach Italien versetzt und blickte in die gesellige Runde.
„Ich möchte wissen, was er singt? Alle lachen und ich kann nichts verstehen.“ Mark beugte sich zu Chiara und nahm ihren verführerischen Duft wahr. Ihre Lippen glänzten vom Olivenöl und Aceto Balsamico.
„Mein Vater singt von einer Party auf der Wiese, von einer netten Gesellschaft bei Essen und Wein, von strahlenden Blicken verliebter Mädchen, von guten Freunden, …!“
„Und weiter?“, Mark sah ihr an, dass sie absichtlich nicht alles übersetzte.
„Nun ja, von diesem Fest, das nicht enden soll, es solle das ganze Leben lang dauern, denn ist ein Fest der Liebe und der Liebenden ….“ Chiara senkte ihren Blick auf den Teller, ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund.

Mark rückte näher an sie heran, er wusste nicht, warum er plötzlich so beschwingt war. Vom Wein? Von Maurizios Gesang? Oder von Chiaras Anblick, der ihn mehr und mehr verzauberte. Eine wohlige Wärme erfasste ihn, und mit jedem Bissen dieser aromatischen Gerichte und mit jedem Glas Wein fühlte er sich glücklicher. So eine innere Zufriedenheit hatte er schon lange nicht mehr gespürt, dennoch war ihm auch etwas mulmig zumute.
„Ob sie ähnlich empfindet?“, fragte er sich. Um seine Beine schmiegte sich nun Sophies Hund, langsam legte er sich ins Gras, seinen Kopf auf Marks Turnschuh gebettet rollte er sich zusammen und schlief.

Nach einer Weile wurde feinstes Risotto Milanese gebracht. Sophie streute ihren selbst geernteten Safran über den Inhalt der riesigen Pfanne und aus einem anderen Beutel entnahm sie weitere Gewürze. Der Duft von Paprika, Kardamom, Chili, Ingwer und Koriander schwebte durch die Lüfte und die Gäste genossen mit „Aaah“ und „Ooooh“-Lauten und geschlossenen Augen dieses Aroma.
„Scharfe Sache!“, entfuhr es Mark, als er den ersten Bissen nahm und sich beinahe verschluckte.
„Ooooh ja, vorsichtig genießen, Mark. Sophie ist nicht zu unterschätzen“, flüsterte Chiara und zwinkerte ihm zu.

Immer näher rückten die beiden zusammen, zu fortgeschrittener Stunde, und nach einer betörenden Panna Cotta mit frischer Vanilleschote und Dessertwein betrachteten alle den prächtigen Sonnenuntergang.
„Wann ist dein Rückflug eigentlich geplant, Mark?“, wollte Katharina wissen.
„Meine Heimreise ist in zwei Tagen.“

Katharina reichte ihm eine Zeitung.
„Ich glaube nicht, dass das was wird. Dein Mister Präsident lässt keinen mehr ins Land reisen, der mit Ländern in Kontakt war, wo das Coronavirus umgeht.“
Mark überflog die Schlagzeile auf der Titelseite und musste lächeln.
„Willst du nicht hierbleiben, bei uns? Was hält dich in Amerika?“, fragte Sophie über den Tisch hinweg.
„Was mich hält? Wenn ich so recht überlege, hält mich dort gar nichts mehr. Mein Heimatland wird mir zunehmend fremd.“
Plötzlich spürte Mark die Hand von Chiara auf seinem Knie. Sie blickte ihm tief in die Augen:
„Bleibst du hier? Bei uns?“, flüsterte sie.
Mark legte seinen Arm um ihre Schultern und erwiderte ihren Blick.
Und aus dem Tiefblau ihrer Augen wurde unverhofft ein sattes Smaragdgrün mit einem bernsteinfarbenen Ring um den Rand der schwarzen Pupille.

Manuela Murauer
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 20039

Ehret die Ahnen!

Die Fensterläden klappern, ein Schneesturm tobt und es wirkt, als könne das kleine, in die Jahre gekommene Bauernhaus dem Getöse nur schwer standhalten.

Martina liegt schlafend auf dem alten Sofa in der Stube ihrer Großmutter, die Holzscheite im Ofen sind fast niedergebrannt und schicken nur mehr wenig Wärme und Licht in den dunklen Raum. Zu ihren Füßen liegt dicht zusammengerollt eine getigerte Katze. In der Küche, gleich daneben, pfeift der Wind durch den Kamin herein und das rot karierte Geschirrtuch, das am Griff des Backofens hängt, zittert sachte. Am Herd steht noch das Abendessen von Oma; der gusseisernen Pfanne mit Dampfnudeln und Soße entströmt ein zarter Duft nach Karamell und Vanille. Irgendwo tropft ein Wasserhahn, und in dem kleinen Stall, der unmittelbar an das Haus grenzt, liegen zwei Kühe wiederkäuend im Stroh.

Der Wind legt zu und ein lautes, ächzendes Geräusch lässt Martina aus dem Schlaf hochschrecken.
„Hallo? Wer ist da?“ Ihre brünetten langen Haare sind zerzaust und das weiße bodenlange Nachthemd zerknittert. Sie schlüpft in abgetragene Pantoffeln ihrer Oma und zieht sich einen tannengrünen Leinenschal fest um die Schultern. Mit vor Kälte zittrigen Fingern sucht sie nach dem Lichtschalter der Stehlampe. Die alte Leuchte kann den Raum nur spärlich erhellen. Die Pendeluhr an der Wand tickt im Rhythmus und Martina sieht die Zeiger kurz vor Mitternacht stehen.
Draußen tobt der Sturm weiter und rüttelt an den Dachschindeln. Martina schlurft zum Fenster und drückt ihre Nase an die Scheibe. Durch das dichte Schneetreiben kann sie die naheliegenden Straßenlaternen kaum ausmachen. Plötzlich nimmt sie Umrisse wahr!

„Was ist das?“, denkt sie sich und kneift die Augen zusammen. Große, schwarze Hunde rennen in einem Affentempo durch den Garten, ihre Zungen hängen seitlich aus dem Maul und leuchten dunkelrot ins Schneegestöber. Den Hunden folgen in einigem Abstand weitere Gestalten, Martina hält den Atem an.
„Um Himmels willen!“ Sie nimmt ihre Hand vor den Mund. Alte Frauen, Kinder, Katzen, Ziegen, Schweine und unfassbar ekelhafte Menschengestalten mit rasselnden Ketten ziehen durch die Nacht. Scheinbar mühelos halten sie dem Sturm stand und mit lautem Geschrei kommen sie näher. Mitten in dem Getümmel erblickt sie jetzt ihre Oma. Sie hat ein Lächeln im Gesicht und marschiert hinter einer hässlichen Greisin mit wirren Haaren, glühenden roten Augen und einer krummen Nase her. Die Alte hinkt und hat einen großen Buckel, an ihrer Seite läuft mit eingezogenem Schwanz ein kläffender, missgebildeter Köter.

Die nächste Windbö rüttelt wieder an den Fensterläden und die Gestalten nähern sich mit Gerassel, Schreien, Johlen, Jammern und Ächzen der Haustür. Martina stockt der Atem, sie starrt entsetzt auf die Türklinke. Ein paar Mal hämmert es kräftig, dann gibt die alte Holztür nach und mit Getöse betreten Menschen und Tiere das Haus. Martina ist wie erstarrt, ihr Herz rast und ihre Knie zittern. Die Hunde zerren an ihrem Nachthemd, stinkender Speichel tropft aus ihren Mäulern auf den Boden und die alte, grauenhafte Frau kommt näher.
„Oma! Was ist hier los? So hilf mir doch!“, schreit Martina heiser. Ihre Großmutter legt lächelnd eine Hand auf den Buckel der Alten.
„Sei milde mit meiner Enkelin, Perchta!“, flüstert sie dem Weib ins Ohr. Die Alte schaut zuerst noch grimmig drein, aber dann entblößt ein boshaftes Grinsen lange, gelbe Zähne. Martina dreht sich angewidert um und schlägt die Hände vors Gesicht.
„Wehe dem Weib, welches die Ahninnen nicht ehrt!“, krächzt Perchta.
„Schließe Frieden und verabschiede dich von dem faulen Geruch nach Hass, Neid, Missgunst. Ansonsten wird dich die Wilde Jagd noch öfter heimsuchen!“ Die Greisin schüttelt langsam den Kopf, geht einige Schritte zurück, bückt sich und mit Anlauf springt sie Martina in den Rücken.

„Neeeeeeeeeeeeeeiiiiiiin!“

****

„Hey, Liebes, das war nur ein Traum!“ Ralf nimmt Martina in die Arme. Schweißgebadet sitzt sie in dem schicken Boxspringbett und ringt nach Luft. Draußen ist es schon hell und durch die Terrassentür der Penthousewohnung sieht sie dichten Nebel über den Dächern der Stadt hängen.
„Wir hätten das Haus von Oma nicht verkaufen dürfen, Ralf! Das war nicht richtig!“
„Was, die alte Bude? Hattest du wegen dem Haus einen Alptraum, oder wie?“, fragt er kopfschüttelnd, schlägt die Decke zurück und steigt aus dem Bett.
„Sie hat es mir in gutem Glauben vererbt. Es war doch alles so liebevoll und wohnlich bei ihr und ich war als Kind so gerne dort am Land. Wieso haben wir es nicht restauriert?“ Sie schwingt ihre Beine Richtung Bettrand und möchte sich aufrichten.
„Aaaaaaah!“ Ein blitzartiger Schmerz durchzuckt ihre Lendenwirbelsäule und sie fällt zurück ins Bett.
„Ist dir die Hexe eingefahren?“, fragt er sie verblüfft. Martina legt eine Hand sachte in ihren Rücken und massiert die Stelle. Bei dem Gedanken an die Hexe muss sie schmunzeln und sie denkt an die grauenhaften Gestalten aus dem Traum.
„Die Hexe? Ja, die alte Perchta. Sie ist mir letzte Nacht ins Kreuz gesprungen.“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Eine überarbeitete Version ist im Schreiblust-Verlag erschienen.

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 20013

Herbstkind

Im wunderschönen Herbst
bin ich geboren
fühlte mich in dieser Zeit
niemals verloren

Diese Farben
Nuancen von Gelb und Rot, satt
Den Waldweg säumt jetzt
Blatt um Blatt

Es raschelt, riecht erdig
um mich herum
spüre Melancholie, ganz zart
macht mich stumm

Windstille
nur Mückenschwärme sind zu hören
Spinnwebenfäden
verfangen sich im Haar, sie stören

Wärmende Sonne
auf meinem Gesicht
vorm Haus die Linde
die zu mir spricht

Sanft reckt sie
ihre Zweige empor
Erinnerungen erscheinen
vom Jahr davor

Sehe ihn, den Ahornbaum
vorm Krankenzimmer
in unseren Gesichtern
schwindende Hoffnungsschimmer

Gefühle kommen hoch
etwas verschwommen
diese Zeit macht mich
nun so benommen

Pferdegewieher, Hundegebell
reißen mich aus den Träumen
zarte Windspiele ertönen
die den Holzbalken säumen

Vermisse dich so sehr
spüre den Schmerz
ein Herbstkind war ich
mit Leib und Herz

Ein Jahr zog ins Land
das Vergängliche ist gekommen,
Herbst! Wieso hast du mir
den Vater genommen?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 19138

Haus am Meer

Eine sanfte Brise lässt die Gardinen an der Verandatür flattern, Antonia genießt die kleine Abkühlung nach dem heißen Sommertag. Sie legt das Buch zur Seite und tritt auf die Terrasse. Nur das Rauschen des Meeres ist zu hören, dann senkt sich die Nacht über die kleine kroatische Insel.

Im benachbarten Gebäude sieht sie Licht im Obergeschoß, leise Musik ist zu hören.
Seit zwei Tagen ist sie hier.
„Mache Urlaub am Meer, das wird dir gut tun! Und lass um Himmels Willen Smartphone und Tablet daheim, du bist überarbeitet und kommst sonst noch auf blöde Gedanken“, meinte ihr Cranio-Therapeut bei ihrer letzten Sitzung. Er reichte ihr ein Prospekt, auf dem drei kleine Häuser direkt am Meer zu sehen waren. Sie sind in einem Halbkreis angeordnet und liegen ca. zehn Minuten Fahrzeit von einer kleinen Ortschaft entfernt. Antonia war sofort begeistert, sie liebt das Meer.

Gestern ist im Nachbarhaus jemand eingezogen, das dritte Haus steht leer. Antonia konnte nur kurz einen Blick auf die Frau werfen. Lange, mahagonifarbene Haare, die in leichten Wellen den ganzen Rücken bedecken, ein weißes, wehendes Sommerkleid um den schlanken, hochgewachsenen Körper und Flip-Flops an den zarten Füßen. Sie schätzt die Frau auf dreißig Jahre.

Ein lautes Klappern lässt Antonia hochschrecken. Die Frau im Nachbarhaus hat die Fensterflügel geöffnet und dabei eine Blumenvase umgestoßen. Kurz ist sie zu sehen, sie stützt sich mit einer Hand auf das Fensterbrett, mit der anderen hält sie eine Seite des Gesichtes bedeckt. Sie schüttelt sachte den Kopf. Die Musik dringt an Antonias Ohr. Sie erkennt „Die Moldau“ von Friedrich Smetana. Antonia geht zum Gartenzaun:
„Hallo? Ist alles in Ordnung?“ Die Frau erschrickt und starrt Antonia an, dann dreht sie sich um und verschwindet im Raum.
„Wer nicht will, der hat schon“, denkt Antonia kopfschüttelnd.

Am nächsten Morgen geht sie eine ausgedehnte Runde schwimmen. Das macht sie gerne vor dem Frühstück. Im Nachbargebäude ist es noch ruhig. Die Sonne glitzert im spiegelglatten Meer, es scheint wieder ein heißer Tag zu werden. Um die Mittagszeit, Antonia liest gerade in einem Buch, steht dann plötzlich die Frau im Garten und schaut auf das Meer hinaus. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand umwickelt sie Strähnen ihrer langen Haare, ihre Bewegungen sind monoton und der Blick ist starr aufs Wasser gerichtet. Leise summt sie ein Lied. Antonia macht sich durch ein Rücken des Gartensessels bemerkbar. Die Frau dreht sich um und lächelt:
„Ein schöner Tag, oder?“, ihre Stimme ist leise und zittrig.
„Guten Tag, ich heiße Antonia. Ja, es ist wunderschön hier auf der Insel.“
„Mein Name ist Elisa.“ Sie nähert sich dem Gartenzaun, hält den Kopf nun seitlich und begutachtet Antonias Verandatisch.
„Acht Stufen.“
„Wie bitte?“, fragt Antonia verwundert.
„Acht Stufen, vom Garten bis zum Meer. Endlich und unendlich. Eine magische Zahl.“

Antonia sieht nun die wunderschönen, smaragdgrünen Augen ihrer Nachbarin und den ebenmäßigen Teint. Sie wirkt zart und zerbrechlich. Ohne ein weiteres Wort verschwindet Elisa im Haus und dreht die Musik wieder an. „Die Moldau“, die mit einer Querflöte leise plätschernd beginnt und dann Fahrt aufnimmt. Antonia schüttelt den Kopf, geht ins kühle Haus, schließt Fenster und Türen und genießt die Ruhe.

„Jetzt reicht es aber!“ Sie kann es nicht fassen. Die Musik im Nachbarhaus will und will nicht enden, mit zunehmender Tageslänge steigt auch die Lautstärke des ewig gleichen Orchesterwerkes. Kurz vor Sonnenuntergang ist der Lärm unerträglich und Antonia geht in den Garten, will mit Elisa sprechen. Das Fenster des Schlafzimmers ist geöffnet und die Frau steht vor dem Spiegel, in einer Hand hält sie eine große Schere, in der anderen ihre Haare.

Antonia öffnet die Gartentür und betritt das Grundstück.
„Elisa! Hallo? Bitte könntest du die Musik leiser machen?“
Elisa reagiert nicht, langsam und mit konstanten Bewegungen schneidet sie Strähne für Strähne ihrer Haare ab. Tränen laufen über ihre Wangen, ihre Augen sind weit geöffnet und starren in den Spiegel, sie schneidet weiter ihre Haare, bis nur noch eine wirre, ungepflegte Kurzhaarfrisur übrig bleibt.
Antonia drückt die Türklinke nach unten, die Tür ist verschlossen. Sie klopft und ruft, doch Elisa hört sie nicht.
„Himmel noch eins!“ Wütend stapft Antonia wieder in ihr Haus.

Ein gellender Schrei lässt sie aus dem Schlaf hochschrecken. Sie lauscht. Hat sie geträumt? Sie hört nur das Meeresrauschen, plötzlich ein weiterer lang anhaltender, schriller Schrei, der die Nacht durchbricht. Sie tritt ans Fenster und späht ins Dunkel, kann nur einen hellen Farbklecks am Strand erkennen. Im Nachbarhaus ist es finster und der Schrei kam definitiv aus der Richtung des Meeres. Stille. Nur das leise Plätschern der Wellen am Felsen. Antonia wirft einen Blick auf die Uhr, es ist 03:30, sie beschließt, nochmal ins Bett zu gehen.

Das Badetuch umgehängt, in Badeanzug und Strandschuhen schlendert Antonia frühmorgens müde über die Stufen zum Strand. Sie erstarrt. Vor ihr liegt ein weißes Kleid auf den Felsen, daneben Flip-Flops und Unterwäsche. Es sind Elisas Sachen, das erkennt sie sofort. Antonia sucht das Meer ab, es ist niemand zu sehen, kein Schwimmer, kein Boot, nichts. Sie läuft die Treppe wieder hoch, sucht Garten und Umgebung des Hauses ab.

„Elisa?“, ruft sie durch das noch immer offen stehende Schlafzimmerfenster. Langsam drückt sie die Türklinke hinunter, es ist offen, sie späht in den Wohnraum. „Elisa?“, fragt sie nochmals. Sie sieht die Unordnung auf dem Sofa und dem Couchtisch. Leere, umgekippte Gin-Flaschen, benutzte Gläser, Kleider, Schuhe, alles wild durcheinander auf Boden und Möbeln. Antonia überlegt kurz, ob sie eintreten soll, entscheidet dann aber, dass sie zur Polizei fährt.

„Policajac Branko Paravić“, steht auf dem Schild an der Tür. Der Händedruck des Kommissars ist kräftig, seine dunklen Augen sind aufmerksam auf Antonias Gesicht gerichtet.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er in ausgezeichnetem Deutsch.
„Mein Name ist Antonia Steger. Ich habe ein Haus in der südlichen Bucht gemietet. Mit meiner Nachbarin muss etwas passiert sein, ihre Kleider liegen am Strand und sie antwortet nicht, wenn ich nach ihr rufe.“ Antonia spricht mit zittriger Stimme.
„Ah, in DER Bucht. Heißt ihre Nachbarin zufällig Elisa?“, fragt er.
„Ja, genau. Also ich kenne sie nicht so gut, sie ist erst seit zwei Tagen hier, aber irgendwas stimmt da nicht.“
„Ich werde mir das am besten vor Ort ansehen. Aber sie müssen wissen, dass uns diese Frau schon bekannt ist. Es gab wegen ihr so manche Anfragen, Beschwerden. Wissen Sie, wie die Bucht noch genannt wird?“
„Nein, das weiß ich nicht?“
„Die Bucht der Verrückten.“

Antonia richtet ihren Blick aus dem Fenster. Die bunten Häuser in der engen Gasse stehen dicht aneinandergereiht. Geklapper von Geschirr ist aus den Küchen zu hören und ein verlockender Geruch nach mediterranem Essen dringt an ihre Nase.
„Wir fahren jetzt gemeinsam zum Haus, in Ordnung?“ Der Kommissar nimmt den Autoschlüssel vom Schreibtisch und hält Antonia die Tür auf.

Branko Paravić hockt neben der Kleidung am Felsstrand. Antonia bemerkt den breiten, kräftigen Rücken des Mannes und die grau melierten, dichten Haare. Er macht einen sportlichen Eindruck, ein Mann in den besten Jahren, der sich fit hält.
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nun, ich wollte Elisa abends zur Rede stellen, weil sie die Musik so laut aufgedreht hatte ...“
„Die Moldau? Von Smetana?“, fragt Paravić und richtet sich wieder auf.
„Ja, genau. Dann habe ich beobachtet, dass sie sich die Haare ganz kurz geschnitten hat. Die schönen Haare …“
„Für mich hört sich das eher nach Suizid an, wenn ich ehrlich bin“, entgegnet der Kommissar.
„Aber warum dann die Schreie in der Nacht?“, fragt Antonia.
„Welche Schreie? Davon haben Sie nichts gesagt.“
„Ich bin um drei Uhr nachts wach geworden. Zweimal hörte ich eine Frauenstimme vom Meer herüber, die Stimme klang sehr ängstlich und beunruhigend!“
„Sind Sie ganz sicher? Nicht geträumt?“
„Aber ja!“

Der Kommissar legt Antonia die Hand auf die Schulter und führt sie über die Treppe in den Garten.
„Sie müssen wissen, diese Urlaubshäuser hier gehörten dem Mann von Elisa. Er ist leider vorigen Sommer mit dem Motorboot verunglückt. Seine Leiche wurde nie gefunden, das Boot ist am Festland gestrandet. Er ist spät abends alleine rausgefahren, nach einem Streit mit seiner Frau.“ Branko Paravić betrachtet die Häuserfassaden, massiert sich den Nacken und fährt fort:
„Darum kam ich auf den Gedanken, dass sich Elisa vielleicht das Leben genommen hat. Sie kam nicht darüber hinweg. Also, ich fahre jetzt mal ins Kommissariat und komme später nochmal vorbei. Geht es Ihnen gut?“
„Ja, ja, alles in Ordnung.“

Später holt Antonia ihre Badesachen, sie will noch eine Runde schwimmen nach diesem aufregenden Tag. Die angenehme Wärme des Wassers umhüllt sie, sie schwimmt hinaus, holt tief Luft, taucht unter und zieht kräftig ein paar Meter unter Wasser. Als sie auftaucht, spürt sie eine seltsame kalte Strömung an den Beinen, ein eigenartiger Wirbel umspült sie und zieht sie hinunter. Mit geöffneten Augen erkennt sie zahlreiche kleine Fische, die dem Strudel zu entrinnen versuchen. Sie kann wieder an die Oberfläche gelangen, schnappt nach Luft, nimmt die plötzliche Trübung des Meeres um sie herum wahr. Ganz verzweifelt paddelt sie mit den Armen, um ans Ufer zu gelangen. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie sehr weit vom Land entfernt ist. Wieder wird sie von einer unsichtbaren Gewalt in die Tiefe gerissen, tosendes Rauschen in ihrem Kopf, sie strampelt, paddelt mit aller Kraft, kommt wieder an die Oberfläche. Antonia sieht das Auto des Kommissars in die Einfahrt fahren, wieder scheint sie etwas an den Beinen zu fassen. Eine Hand, sie umklammert fest ihren rechten Knöchel, zieht an ihrem Fuß, sie taucht wieder unter, strampelt, kurz lässt die Hand ihr Bein los, um, nachdem sie für Sekunden auftauchen und schreien kann, sie wieder in die Tiefe zu ziehen.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 19137

Logbuch der Pinta

24. September 1492:

Noch immer kein Flaggschiff in Sicht. Seit Wochen durchqueren wir als Teil der Armada den Atlantik. Die Niña, navigiert von meinem Bruder, ist stets an unserer Seite. Meine Karavelle ist das schnellste der Schiffe. Als wir am Donnerstag, den 6. September von der Insel Gomera aus in See stachen, gab es noch eine heftige Debatte mit dem Flottenführer. Er hat mich zu überreden versucht, der Mannschaft stets viel weniger Seemeilen bekannt zu geben, als wir tatsächlich segelten, damit die Besatzung nicht den Mut verlieren würde, falls die Reise zu lange dauern sollte. Darauf wollte ich jedoch nicht eingehen. Die Santa Maria mit Flottenkommandant Don Cristóbal ward seither nicht mehr gesehen.
Täglich finden wir auf unserer Reise nun Hinweise auf Land. Gestern, gegen zehn Uhr morgens, ließ sich ein Pelikan auf den Hauptmast nieder. Diese Vögel pflegen sich nie mehr als 80 Seemeilen vom Lande zu entfernen. Vielleicht haben wir Indien bald erreicht.

Mein erster Offizier macht sich seine Gedanken wegen der Santa Maria.
„Was meinst du, Martin, wollte der Kapitän uns abhängen? Hat er bewusst eine andere, schnellere Route gewählt und uns eine alte Seekarte überlassen?“
„Warum sollte er das tun?“, frage ich etwas zweifelnd.
„Du hast die Rede des Herrscherpaares vor unserer Abfahrt gehört? Die Auszahlung eines lebenslänglichen Ruhegehaltes von 10 000 Maravedis an denjenigen, der zuerst Land entdeckt.“
Ich gehe nicht näher auf diese Gedanken ein und mache mich ans Navigieren. Weiß der Himmel, was Don Cristóbal ausheckt.

 

28. September 1492:

Endlich kreuzen wir mit der Santa Maria. Wir fahren mit Kurs West-zu-Nord und haben eine unstete Brise, kommen nicht vorwärts. Ich lasse mich heute mit einem Boot zur Santa Maria bringen. Kapitän Cristóbal erwartet mich bereits. Er hat ein argwöhnisches Grinsen aufgesetzt, als ich sein Schiff betrete.
„Mein lieber Martin! Na, wo warst du denn?“, begrüßt er mich. „Das frage ich dich, wenn es erlaubt ist“, entgegne ich und erweise mit einer höflichen, aber sehr kurzen Verbeugung meine Wertschätzung. Mein Bruder Vicente von der Niña steht bereits an seiner Seite und fragt:
„Könnten wir die Seekarten vergleichen, Don Cristóbal? Vielleicht klärt sich dann alles auf.“
„Meine geschätzten Kapitäne, wir vergleichen gar nichts. Wir segeln alle weiter in der Hoffnung, endlich Land zu sehen. Und seid euch gewiss – die Santa Maria wird als Flaggschiff die Aufgabe erfüllen! Von diesem Schiff aus wird auch Land entdeckt! Haben wir uns verstanden?“ Mit einer winkenden Geste gibt er uns zu erkennen, dass die Besprechung nun vorbei ist. Ich bin etwas verwirrt, um ehrlich zu sein.

 

1. Oktober 1492:

Wir sichten viel grünes Gras, es handelt sich um Gras, das in salzarmen Buchten wächst oder in Flussnähe, jedoch nicht am Meer. Auf die Pinta kam aus West-Nordwest wieder ein Pelikan angeflogen und setzte seinen Flug nach Südosten fort, woraus man entnehmen kann, dass er von in westnordwestlicher Richtung gelegenem Lande abgeflogen sein muss.
Die letzten Tage über herrschte Windstille, das Meer ist spiegelglatt, wie ein ruhiger Strom und die Luft weich und mild. Nun kommt aber endlich Wind auf, diesen habe ich unbedingt nötig gehabt, muss ich doch meine Mannschaft stets zur Weiterfahrt antreiben, da sie der Ansicht ist, dass in diesen Gewässern keine Winde gehen, die geeignet wären, die Schiffe nach Spanien zurückzubringen.

 

10. Oktober 1492:

Es ist ein Wunder geschehen! Bei Sonnenuntergang sehe ich vom Heck meiner Karavelle endlich Land! Ich rufe Don Cristóbal auf der Santa Maria zu, er möge mir die versprochene Belohnung zukommen lassen. Zuerst will er mir nicht glauben, aber als auch die Mannschaft der Niña meine Wahrnehmung bestätigt, wirft sich der Flottenführer auf die Knie, um Gott Dank zu sagen, meine Mannschaft betet zur gleichen Zeit das „Gloria in excelsis Deo“. Die dreißig Leute der Niña klettern sodann auf die Masten und Wanten und behaupten samt und sonders, Land vor sich zu sehen.

 

11. Oktober 1492:

Bei Sonnenaufgang hissen wir die Flagge am Großmasttop und feuern eine Bombarde als Signal ab, dass Land in Sicht gekommen sei. Der Flottenkommandant ordnet an, dass die drei Schiffe Seite an Seite fahren sollen. Weiters kommt die Anordnung, die westliche Kursrichtung aufzugeben und Kurs auf West-Südwest zu nehmen, was ich nicht verstehen kann.
Da meine Karavelle schneller ist und ich das Seite-an-Seite-fahren nicht halten kann, kommen wir zuerst nähe Landes.
Die ganze Besatzung der Armada singt laut und voller Ehrfurcht das „Salve Regina“. Wir holen alle Segel ein und fahren mit nur einem Großsegel. Dann legen wir bei und fahren mit Booten zu einer Insel, die in der Indianersprache „Guanahaní“ heißt.
Wir gehen an Land und erblicken in der Ferne nackte Eingeborene. Don Cristóbal Colón entfaltet die königliche Flagge und ruft:
„Im Namen des Königs und der Königin – ich, als Kapitän der Santa Maria, habe dieses Land entdeckt und ergreife Besitz hierüber!“ Ich staune nicht schlecht, war es doch nicht er, der zuerst Land entdeckte, sage aber nichts dazu, denn bald sammeln sich zahlreiche Inselbewohner um uns.

In den folgenden Wochen erkunden wir das Land und treffen uns immer wieder mit unterschiedlichen Anführern der Indianer, um uns auszutauschen. Es entstehen Freundschaften zwischen mir und den Häuptlingen, wo hingegen Don Cristóbal die Menschen herablassend behandelt. Ich bin auf der Suche nach Gewürzen, Seide und anderen Reichtümern, von denen er vor unserer Reise mir so ausgiebig vorgeschwärmt hatte. Immerhin bin ich nicht nur Kapitän der Pinta, sondern auch Kaufmann und Handelsherr.

 

18. November 1492:

Mein Unmut wächst von Tag zu Tag. Ich besegle unterschiedliche Inseln, derer hier zahlreich vorhanden sind, jedoch machen die Einheimischen ein Geheimnis daraus, wo sich denn nun Gold und andere Schätze befinden.

Don Cristóbal hat heute Abend zum Gespräch auf die Santa Maria eingeladen.
„Meine Herren! Ich hege einen Plan, den ich mit euch teilen möchte, da ich hierzu eure Hilfe benötige. Wir wurden die letzten Wochen nicht fündig an Schätzen und bin zu folgender Erkenntnis gelangt: Die Indianer gehen nackend umher, so wie Gott sie erschaffen, Männer wie Frauen. Sie sind Wilde und alle noch sehr jung, gut gewachsen, haben einen schön geformten Körper.“
„Worauf willst du hinaus?“, wende ich ein.
„Ich hege den Gedanken, einige dieser Eingeborenen nach Spanien mitzunehmen, habe mittlerweile schon welche ergreifen lassen und sie sollen dort unsere Sprache lernen und den christlichen Glauben annehmen. Die königlichen Hoheiten werden mir alsdann den Befehl erteilen, diese Leute im Namen Gottes wieder zurückzubringen und sie hier auf ihren eigenen Inseln als Sklaven zu halten und uns zu helfen, Kolonien zu erbauen.“
Der Kommandant redet sich zunehmend in Fahrt.
„Aber unsere Schiffe sind zu klein, um mit so vielen Indianern nach Spanien zu segeln. Wie soll das gehen?“, fragt nun mein Bruder.
„Wir lassen unsere halbe Besatzung hier, diese bauen unterdessen mit den Einheimischen gemeinsam Siedlungen und bereiten alles vor, bis wir unter Zusage unserer Hoheiten wieder nach Indien segeln. Vielleicht schon im nächsten Frühjahr. Dann müssen wir mit einer sehr großen Armada segeln, um Frauen, Männer, Kinder und Haustiere hierher zu bringen. Und wir verbreiten hier das Christentum. Mich dünkt, dass diese Wilden gar keine eigene Religion besitzen!“

Es herrscht betretene Stille! Ich kann es nicht fassen. Niemals war von solchen Plänen die Rede, als wir in See gestochen sind, um Indien zu suchen und Kostbarkeiten für den Seehandel in Gang zu bringen.
„Das ist Sklaverei und Menschenhandel! Davon war nie die Rede!“, antworte ich.
„Davon hast du keine Ahnung, Martin. Du bist ein einfacher Kaufmann und kannst wohl auch ein Schiff navigieren. Aber über Landeroberung weißt du gar nichts. Wir müssen unserer Krone zu großer Herrschaft verhelfen!“. Er scheint nun völlig von Sinnen, springt auf und läuft um den großen Tisch zu mir herüber, auf seiner hohen Stirn und auf der Adlernase sind Falten des Zornes ersichtlich.
„Ich bewundere deinen Entdeckerdrang und den Mut, in unbekannte Gewässer vorzustoßen, Don Cristóbal. Aber diese Vorhaben will ich nicht unterstützen. Dein religiöser Eifer wird in einer Katastrophe enden. Diese Menschen sind so völlig anders, sie sind glücklich mit ihrer einfachen Lebensweise. Lassen wir sie in Ruhe.“ Ich will gerade gehen, als er mich am Arm packt.
„Du verrätst das Land und die Krone? Du verweigerst die Ausbreitung des Christentums? Wahrhaftig? Verräter!“ Er faucht es mehr, als er es spricht.
Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die Santa Maria, kehre auf mein Schiff zurück, lasse noch in dieser Nacht Anker lichten und trete die Heimreise an.

***

Brief meines Freundes Bartolomé de Las Casas, im Jahre 1525:

„Mein lieber Freund Martin,
du hast es geahnt und es ist wahrlich so gekommen. Die Verwüstung Westindiens durch Massenmorde, Ausbeutung und Vergewaltigungen war in vollem Gange. Eingeschleppte Krankheiten durch die Spanier, die schonungslos des Goldes wegen hierher kamen und nicht, wie geplant, wegen Landwirtschaft und Kolonialisierung, ließen die Einwohnerzahl sinken. Die Pläne von Kolumbus lösten eine Katastrophe aus. Er hat durch seine Haltung und sein Verhalten den Grundstein für eine der größten Katastrophen aller Zeiten gelegt. Die Ureinwohner wurden beraubt, unterdrückt, ausgebeutet und ausgerottet. Die Bevölkerungszahl Hispaniolas sank von 400.000 auf heute kaum noch 200. Ich bin ehrlich, wenn ich dir meine Auffassung hier in größter Trauer mitteile: Die Motive von Kolumbus standen und stehen in engem Zusammenhang mit den Interessen der hierher nachfolgenden Konquistadores: Es geht um Macht und Gold! Nichts anderes ist ihr Ansinnen! In Erwartung eines baldigen Wiedersehens!“
Dein Freund Bartolomé

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19114

Der letzte Buckaroo

Hinkend lief Mark mit staubigen Reitstiefeln den Weg entlang. Mit einer Hand hielt er sich die Hüfte und er betrachtete das kaputte Smartphone in der anderen Hand.
„Verdammter Mistkerl!“, dachte er.
„Nugget! Komm zurück!“, rief er energisch. Er nahm den Cowboyhut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Stöhnend hielt er inne und lauschte Richtung Wald, der sich am Fuße der schneebedeckten Berge ausbreitete. Außer dem entfernten Rauschen des Wasserfalles in den nahegelegenen Mesa Falls war nichts zu hören. Mark musterte seinen zerrissenen Ärmel und die darunterliegende, abgeschürfte Hautstelle am Ellenbogen.
„Wenn ich den erwische, der kann was erleben!“, nuschelte er mit zittriger Stimme.

Plötzlich hörte er ein Knacksen.
„Nugget?“
Über eine Anhöhe, die in der Nähe des Waldrandes lag, kam ein Reiter auf ihn zu. An seiner Seite führte er Nugget als Handpferd. Der Mann mit dem breitkrempigen, dunkelgrauen Hut saß aufrecht im Sattel und hielt die edel geflochtenen Lederzügel sachte in den braungebrannten, gekrümmten Fingern der linken Hand. Sein Pferd glänzte in der Abendsonne, ein wunderschönes Tier mit eindrucksvollem Gehabe, einer dunklen Mähne und majestätischen Bewegungen. Mark hatte noch nie so ein elegantes, stolzes Pferd gesehen! Sie kamen näher, und Mark konnte nun auch das Gesicht des Mannes erkennen. Bärtig, braun und faltig, die Gestalt schmal und hager, mit gepflegten Lederchinks über den Jeans und mit einem roten Hemd und schwarzem Seidentuch um den Hals. Das Tuch wurde von einer silbernen Schmuckspange zusammengehalten, in der sich die Sonne spiegelte.

Er hielt neben Mark an, begrüßte ihn mit einem herablassenden Lächeln, mit dem selbstbewusste ältere Männer eben jüngeren Männern in Idaho begegnen, und fragte:
„Ist das dein Pferd?“
An der Seite von Mark wurde Nugget zunehmend unruhig. Sein Hals war schweißnass und sein Atem ging in schnellem Tempo. Mark näherte sich ungeschickt, wollte die Zügel fassen. Prompt wich der Rappwallach einige Schritte zurück, seine Augen waren geweitet und er schnaubte laut.
„Ja, Sir. Also eigentlich nein, Sir. Das ist das Pferd von Jim, ich hab es mir geliehen. Dort vorne hat mich dann der Gaul ohne Grund abgebockt und das Weite gesucht!“
„Soso, einfach abgebockt.“ Als Mark noch immer nicht in der Lage war, nach den Zügeln zu greifen, geschweige denn in den Sattel zu steigen, ritt der alte Mann, wieder die Zügel von Nugget haltend, einfach los.
„Folge mir.“

Mark lief, so schnell ihm das möglich war, hinterher.
„Moment, Hallo! Wohin denn? Kann ich nicht aufsitzen? Ich bin verletzt.“
Der Reiter reagierte nicht und ritt Richtung Wald.
Nach etwa zehn Minuten erreichten sie eine kleine Lichtung. Der Mann stieg ab und führte beide Pferde zu einer abgebrannten Feuerstelle, auf der eine alte Kaffeekanne stand. Mark warf den Hut in die Wiese, stützte seine Hände auf die Knie und atmete lautstark.
„Komm und sattle dein Pferd ab“, murmelte der Mann.
„Ich sollte jetzt aufbrechen und heimreiten, meinst du nicht?“

Der Mann wandte sich um und sah Mark mit zusammengekniffenen Augen direkt ins Gesicht. „Okay, mein Einwand scheint nicht geduldet zu sein“, dachte Mark.
Mit vor Erschöpfung zittrigen Fingern näherte sich Mark dem Sattelgurt, Nugget wich sogleich zur Seite.
„Mensch, Nugget, jetzt halt doch mal still. Das kann doch nicht wahr sein! Was ist denn heute bloß los mit dir? Lass dir mal …“
„Hör auf mit dem Gequatsche. Das interessiert ihn nicht!“

Der alte Mann legte seinen Sattel sorgsam auf eine Decke und ging zu Nugget, sattelte ihn ab und verstaute alles am Boden, dann nahm er dem Pferd die Trense aus dem Maul. Nugget hielt völlig still und senkte den Kopf.
„Aber wenn sie nun frei sind, laufen die dann nicht weg?“, fragte Mark.
„Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir“, entgegnete der Mann.
„Ich erwähnte bereits, dass er nicht mir gehört“, wandte Mark ein.
„Lass ihn mal den Kopf frei bekommen. Das hat er dringend nötig.“

Als sich der Mann zur Lagerstelle begab, gingen beide Pferde ruhigen Schrittes grasen. Jetzt bemerkte Mark den gebückten, unsicheren Gang des alten Herren und dessen O-Beine.
„Im Sattel stolz und anmutig, zu Fuß ein alter, gebrechlicher Mann“, stellte Mark in Gedanken fest. Menschen zu beobachten, war Marks Job und er konnte das gut.
„Ich heiße Dave. Willst du Kaffee?“. Der Mann bückte sich zur Kanne und goss in eine alte Tasse etwas braune Brühe ein.
„Nein, danke. Ich heiße Mark und sollte jetzt wirklich aufbrechen. Jim wird sich Sorgen machen.“

Dave setzte sich auf einen Baumstumpf und nahm einen Schluck aus der Tasse.
„Du bist also bei Jim drüben auf der Ranch. Bist du Tourist?“
Mark trat von einem Bein auf das andere, beobachtete die Pferde, die nun etwas weiter weg Richtung eines Bachlaufes marschierten und dort vom Wasser tranken.
„Nein, Jim und ich sind alte Jugendfreunde. Ich wohne bei ihm für eine Weile, um hier zu arbeiten.“
„Was ist das für eine Arbeit?“, wollte Dave wissen.
Mark holte tief Luft, eigentlich war er nicht in Stimmung für Small Talk. Dennoch nahm er gegenüber dem alten Mann auf einem weiteren Baumstumpf Platz.
„Ich arbeite an einem Buch. Es handelt von Cowboys im Westen. Bin etwas unter Zeitdruck, weil mir der Verlag schon auf die Pelle rückt. Es ist sehr hilfreich, dass ich bei Jim arbeiten kann, wollte nämlich auch auf dem Pferd sitzen, damit ich meine Protagonisten hautnah beschreiben kann.“

Dave schmunzelte ein wenig, zündete sich mit arthritischen Fingern eine Zigarillo an und betrachtete die Pferde.
„Nugget ist ein feiner Kerl. Sehr sensibel und aufmerksam.“
„Kennst du ihn schon länger?“, wollte Mark wissen.
„Ich brauche ihm nur in die Augen zu sehen.“
Mark scharrte etwas verlegen mit einem Stiefel im Staub.
„Wie war das mit dem Bocken? Erzähl mal.“
„Naja. Ich ritt so des Weges im gemütlichen Schritt. Bin ja schon öfter mit ihm geritten die letzten Wochen. Bekam dann eine Mail auf mein Handy und hab nachgesehen. Auf einmal wurde Nugget nervös und tänzelte und wurde zappelig. Hab dann versucht, ihn am Zügel zu bremsen, und Jim meinte, manchmal schadet ein kleiner Sporeneinsatz nicht, um ihn wieder runterzuholen.“
Dave fing sachte und aus tiefer Kehle an zu lachen.
„Und dann hat er einfach so gebockt, was?“ Er lachte weiter und wischte sich eine Träne ab.
Die Pferde waren mittlerweile in den Wald verschwunden, nur ab und zu war ein leises Knacken zu hören. Dave beunruhigte das in keiner Weise, nur Mark stand auf und hielt Ausschau.
„Was stand denn da so in der Nachricht auf dem Telefon?“, fragte Dave.
„War geschäftlich. Wieder der Verlag, der endlich einen Vorentwurf braucht. Ich komme aber nicht weiter. Hänge diesmal gewaltig fest mit der Story.“
„Wie hast du dich gefühlt, als du die Nachricht gelesen hast?“ Mark setzte sich wieder und dachte ein Weilchen nach.
„Weiß nicht, geärgert habe ich mich wahrscheinlich.“

Dave beugte sich zu seiner Satteltasche und kramte einen silbernen Flachmann hervor. Er reichte sie Mark.
„Hier, nimm einen Schluck und versuche zu entspannen.“
Mark fühlte die ölige, intensive Flüssigkeit die Kehle hinuntergleiten. Ein angenehmer, kräftig-beeriger und rauchiger Geschmack machte sich breit, feinster Whisky!
„Bist du nun bereit für ein paar Worte?“, fragte Dave. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter.
„Entspannung gepaart mit gegenseitigem Vertrauen sind die Standbeine der Ruhe im Pferd. Setze dich nie in Hektik in den Sattel. Übertrage keine unnötigen Erregungen auf das Tier. Es gibt immer einen Grund für jede Bewegung, Regung und Handlung des Pferdes. Nur, wer sich Zeit und Mühe nimmt, wird Erfolg haben. Ein richtiger Horseman benimmt sich nicht dominant und aggressiv. Und bedenke: Dein Pferd ist dein Spiegel. Es schmeichelt dir nie. Es spiegelt dein Temperament. Es spiegelt auch deine Unsicherheiten, deinen Frust. Ärgere dich nie über dein Pferd, du könntest dich genauso gut über dein Spiegelbild ärgern! So einfach ist das, Mark.“

Dave schaute Mark fest in die Augen. Es war ein wissender, sanfter Blick mit enorm viel Wärme. Plötzlich bemerkte Mark auch den Schalk, der in den graublauen Augen des alten Mannes aufblitzte, ein lebensfroher Mensch mit einer großen Verbundenheit zu den Pferden. Mark meinte sogar, die Silhouette eines Pferdes zu erkennen, die sich nun in den Augen spiegelte.
„Na, da seid ihr ja!“, sprach Dave und erhob sich. Nugget und das Pferd von Dave standen hinter Mark. Völlig ruhig und entspannt, Mark hatte sie nicht einmal kommen hören.
„Dann wollen wir Jim nicht länger warten lassen“, meinte Dave.
Die Männer sattelten ihre Pferde und Nugget hielt jetzt ganz still.
„Ich werde dich begleiten“, meinte Dave. Mit einer geschmeidigen, ruhigen Bewegung stieg er in den Sattel und wartete auf Mark.
„Bescheidenheit und Demut, Mark. Reite dein Pferd stolz und mit Würde. Lass es strahlen!“
Mark wurde plötzlich ganz mulmig zumute. Wieso hatte er sich nie näher Gedanken über das Wesen der Pferde gemacht?

Der Ritt über den Waldweg und später über die staubige, schmale Landstraße verlief in völliger Ruhe. Dave sprach kein Wort. Er streichelte manchmal unauffällig über den Widerrist des Pferdes und nun war er auch nicht mehr der alte Mann, er war eine Einheit mit seinem Wallach, und beide, Pferd und Reiter, wirkten unglaublich imposant und erhaben. Nugget trottete aufmerksam hinter ihnen her.
Jim stand in der Einfahrtsstraße zu seiner Ranch und wartete. Dave hob die Hand zur Hutkrempe und tippte kurz daran:
„Jim!“
„Dave. Es ist mir eine Ehre!“
Mark stieg vom Pferd und bedankte sich für die Begleitung. Es war ihm seit langer Zeit endlich warm ums Herz, und er spürte eine unendliche Zufriedenheit. Sanft strich er über Nuggets Hals und schaute Dave nach, der wieder seines Weges ritt.
„Na, Mark? Alles okay bei dir? Wo hast du denn Dave aufgegabelt? Ihn sieht man sehr selten. Er ist einer der letzten Buckaroos hier bei uns und ein unglaublich guter Horseman.“
„Ja, ich weiß. Und ich weiß jetzt endlich, wie ich mein Buch schreiben werde.“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 19113

Piano Man

Die Nacht bricht langsam herein, breitet sich wie ein dünner Schleier vor ihm aus. Der Highway scheint nicht enden zu wollen. Sein Nacken schmerzt, die Lider werden zunehmend schwer.

„Mist, ich brauche eine Mütze voll Schlaf“, murmelt er in das dunkle Innere des Mietwagens. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm des Navigationssystems lässt seine Hoffnungen jedoch schwinden. Nichts weit und breit. Null! Nada! Keine Tankstelle, kein Parkplatz, keine Häuser, gähnende Leere und Öde rundherum. Er tritt aufs Pedal.

In der Ferne plötzlich Lichter! Nicht weit entfernt vom Highway. Ein paar Bäume säumen die Zufahrt. Kontrolle am Bildschirm des Navis. Eigenartig, hier ist nichts verzeichnet, denkt er.

„Motel“ steht auf einer verrosteten, altertümlich wirkenden Tafel neben der staubigen Zufahrt. Die Lichter der Autoscheinwerfer fangen ein altes, dunkelrot gestrichenes Gebäude mit schwarzen Fensterläden ein. Der Parkplatz davor ist leer. Wenigstens sieht er Beleuchtung hinter den Fenstern im Erdgeschoß. Tom greift nach seiner Reisetasche am Rücksitz und freut sich auf eine Dusche und ein gemütliches Bett.

Ein leiser Klingelton ist zu hören, als er die knarzende Holztür öffnet. Ein schwach beleuchteter Gang führt zu einem Pult, dahinter steht mit dem Rücken zu Tom ein weißhaariger Mann, er trägt einen Frack. Tom schmunzelt bei dem Anblick. Der Mann, wohl der Portier, dreht sich um. Tom weicht einen Schritt zurück.

„Oh!“, entfährt es ihm unabsichtlich. ‚Der Typ sieht eins zu eins aus wie Anthony Hopkins‘, denkt er bei sich.

„Guten Abend, Sir. Sie sehen müde aus. Ein Zimmer gefällig?“, entgegnet der Portier mit den blauen Augen. Erst jetzt bemerkt Tom leise Musik im Hintergrund, sieht den schmalen Gang, die alten Bilder an den Wänden, er nimmt einen eigentümlichen Duft wahr, der ihm einerseits bekannt ist, aber nicht vertraut. An der Decke hängt ein riesiger Kronleuchter, der nur fahles Licht von sich gibt. Eine schlanke Frau mit schwarzen, rückenlangen Haaren in einem weißen, bodenlangen Kleid betritt den Gang und kommt auf ihn zu. Ihre Lippen sind blutrot geschminkt, dunkle, große Augen strahlen ihn an, ihr Teint ist makellos, wie Alabaster. Unter der feinen Spitze des Oberteiles zeichnen sich verführerisch die prallen Brüste ab, Tom zwingt sich, nicht hinzusehen.

‚Kein Büstenhalter, krass!‘, denkt er sich. Die Frau lächelt ihn an, reicht ihm die feingliedrige Hand.

„Ich zeige dir gleich das Zimmer!“ Während sie von Anthony einen alten Schlüssel mit einem großen Holzanhänger, auf den die Sieben aufgedruckt ist, entgegennimmt, steigt Tom erneut dieser Geruch in die Nase.
‚Cannabis, oder?‘, fragt er sich und schmunzelt.

Tom folgt der Frau wortlos über die Treppe, sie schließt Zimmer Nummer Sieben auf. Er bemerkt die weißen Plateauschuhe, in denen sie, sanft wie eine Feder, Richtung Fenster zu schweben scheint. Sie zieht die Gardinen zur Seite und öffnet einen Fensterflügel. Die Musik ertönt jetzt lauter, sie muss wohl von einem Hinterhof kommen. Aus einem schwarzen Schrank entnimmt sie eine Flasche und zwei Kristallgläser, füllt ein tiefrotes Getränk in die Gläser und reicht ihm eines.
„Herzlich willkommen, Fremder!“, haucht sie ihm ins Ohr, „du kommst uns noch besuchen, ja? Wir sitzen im Garten.“ Sie leert das Glas in einem Zug und verlässt das Zimmer.

,Holla, die Waldfee! Wo bin ich denn da gelandet?‘ Tom schüttelt den Kopf und nimmt einen großen Schluck. Bitteres Zeug, lauwarm, er hat sowas noch nie getrunken. Er sieht aus dem Fenster. Im Hof, an der Rückseite des Motels, sitzen einige Männer um einen großen Tisch. Sie sind eigenartig gekleidet, manche in Schlaghosen und ärmellosen Pullis über bunten Hemden mit langen Kragen, einige haben altmodische Haarschnitte und alle himmeln die bildschöne Frau an, die soeben wieder zu ihnen zurückgekommen ist. Sie setzt sich keck auf den Schoß eines Mannes und küsst ihn leidenschaftlich auf den Mund.

Hinter dem Grünstreifen des Gartenlokales sieht Tom jetzt einen Parkplatz. Mehrere Autos älteren Baujahres stehen ordentlich nebeneinander, genau genommen sechs Stück. Die Autos scheinen zu den Männern zu passen. ,Maskenball oder Junggesellenabschied?‘, fragt er sich. Die Musik wird lauter, und die Fee erhebt sich und tanzt elfengleich.

Tom wird komisch schwindelig, alles um ihn herum beginnt sich zu drehen. Sein Herz pocht beim Anblick der tanzenden Frau, die Musik dröhnt in seinen Ohren, die Gerüche dringen intensiv in seine Nase, scheinen im Kopfinneren zu explodieren, die Farben rundherum werden grell und verschmelzen ineinander wie in einem Aquarellgemälde. Tom stolpert aus der Tür, über die Treppe hinunter, sucht den Ausgang zum Garten und kommt atemlos im Freien an. Die sechs Männer am Tisch verstummen, alle Augen sind auf Tom gerichtet. Einige nicken ihm zu und lächeln, die Fee hält im Tanzen inne und bewegt sich geschmeidig auf Tom zu.

„Schön, dass du bei uns bist, Fremder!“, haucht sie in den Sommerabend.

„Was wird denn hier gefeiert?“, fragt Tom, noch immer außer Atem. Ein brünetter, schlanker Typ mit Pilzkopffrisur wendet sich an Tom:
„Wir feiern das Leben! Jeden Tag aufs Neue!“

Die Fee tanzt zu einem kleinen Tisch an der Hausmauer, daneben sieht Tom ein Piano stehen und weiter rechts davon eine Jukebox. Am Tisch steht ein hoher Wasserbehälter mit mehreren Hähnen, sieben antike Kristallgläser mit einer grünen Flüssigkeit sind unter diesen platziert, auf den Gläsern liegen gelochte Silberlöffel mit einem Stück Zucker darauf. Die Fee dreht einen Hahn des Wasserbehälters auf und jeder Tropfen, der in das darunter stehende Glas fällt, hinterlässt in der grünen Flüssigkeit milchige Spuren, sie wirken wie feine Nebelfäden, die langsam mit dem Grün verschmelzen. Tom beobachtet das Schauspiel, kalte Schauer laufen über seinen Rücken, gleichzeitig ist ihm heiß, und er fühlt sich wie benommen. Die Fee nimmt das Glas und reicht es Tom. Sie streichelt mit den rot lackierten Fingernägeln langsam über die nackte Haut seines Unterarmes, über seine Schulter hinweg bis zum Hals und hält an seinem Ohr inne. Sie beugt sich vor und flüstert:
„L‘heure verte“. Tom versteht nur Bahnhof. Die Berührungen machen ihn halb verrückt. „Trink, Fremder!“, fordert sie ihn auf. Ihr Atem riecht nach Kräutern, irgendwie nach Anis, Fenchel …

Tom nimmt einen Schluck und seine trockene Kehle verlangt nach mehr. Nach mehr Flüssigkeit, nach mehr Berührung.
„Komm! Setz dich ans Piano und spiele für uns!“
„Es ist ewig her, seit ich das letzte Mal gespielt habe … aber woher weißt du …?“, will Tom einwenden.
„Sing us a song, you‘re the piano man …“, fangen die Männer am Tisch zu singen an.

Die Frau setzt sich ans Piano neben Tom und streichelt seinen Rücken. Toms Finger scheinen nun wie selbstverständlich über die Tasten zu fliegen, machen sich selbständig. Ein Mann am Tisch zieht eine Mundharmonika aus seiner Hosentasche.
„… well we’re all in the mood for a melody and you’ve got us feelin’ alright … la la la …“, stimmen nun alle mit ein.

Tom spielt und alle singen, die Frau tanzt und verführt, neckt die Männer. Ein lauer Nachtwind kühlt die erregten Gemüter, lässt Toms Schweißperlen trocknen. Er weiß nicht, wie spät es ist, er weiß nicht, wo er ist, er weiß gar nichts mehr. Die Fee zieht ihn vom Piano weg, die Musik endet trotzdem nicht, die Tasten bewegen sich wie von Geisterhand. Sie tanzt mit ihm durch den Abend, drückt sich fest an ihn, er spürt jede Faser ihres schlanken Körpers, er ist elektrisiert.

„Wirst du mich retten, Piano Man?“, fragt sie ihn plötzlich mit trauriger Stimme. „Ja … ja, natürlich. Aber …?“, stottert Tom.
Stille.
Tom öffnet die Augen. Sein Kopf brummt, ein fahler Geschmack macht sich in seinem Mund breit, leichte Übelkeit überkommt ihn. Er sieht zerwühlte Bettlaken neben sich, versucht, sich zu erinnern, es ist zwecklos.
„Was zum Geier …?“

Das Fenster steht noch immer offen, eine zarte Melodie dringt an sein Ohr. Tom steht vorsichtig auf, er hat Angst, dass sich wieder alles um ihn herum drehen könnte. Er läuft nackt ans Fenster und glaubt, seinen Augen nicht zu trauen. Sein Mietwagen ist nun neben den anderen Autos geparkt. Wie ist der bloß dahin gekommen? Sein Blick schweift in den Garten, dann sieht er sie. Die dunkelhaarige Schönheit, heute in einem roten, bodenlangen Kleid. Sie trägt einen geflochtenen Korb und pflückt Blumen, die sie liebevoll in diesen platziert, sie summt ein Lied ... „Piano Man“ …
„Mein Gott, sie ist so wunderschön!“ Ihr Anblick verursacht Herzrasen bei Tom.

Er läuft durchs Zimmer, zieht sich an und verlässt mit Reisetasche und zerwühlten Haaren den Raum.
„Ich muss weg von hier, verflucht!“, flüstert er mit zittriger Stimme. Er sucht den Autoschlüssel in der Jackentasche, findet ihn nicht, rennt zum Pult am Eingang und drückt mehrmals wie von Sinnen die Tischklingel.
„Verdammt! Hallo? Ist hier jemand?“

Anthony kommt aus einer Seitentür und lächelt ihn an.
„Sir, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich will auschecken, schnell. Und wer hat meinen Autoschlüssel?“ Tom stottert weiter, ihm wird wieder schwindelig. Die Fee betritt den Gang, lächelt ihn an, küsst ihn auf den Mund.
Wortlos stellt sie die Blumen auf das Pult.
Anthony sieht Tom tief in die Augen, beugt sich etwas nach vorne und flüstert:
„Du bist Nummer Sieben in der Runde, es ist vollbracht. Dieses Hotel kannst du nie mehr verlassen, du gehörst jetzt ihr, für immer!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag
(Die Geschichte hat im Schreiblust-Verlag Monat März zum Thema „Schneewittchen“ unter 40 Geschichten Platz 1 erreicht und wird im Jahrbuch 2019 abgedruckt – erscheint voraussichtlich Anfang 2020).

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