Kategorie-Archiv: Manuela Murauer

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Schneeschmelze

Rosa lief mit der Öllampe in der Hand durch die finstere Nacht, ein eisiger Wind peitschte ihr die Schneeflocken hart ins Gesicht und es fiel ihr schwer, durch die hohen Schneeverwehungen vorwärtszukommen.
„Schnell, Mädel, lauf zur Hebamme und bring sie her! S‘Nannerl bekommt ihr Kind!“ Mit diesen Worten hatte sie die alte Bäuerin mitten in der Nacht geweckt.

Die einzigen, knöchelhohen Paar Schuhe von Rosa waren abgetragen und löchrig, das dicke Leinenkleid hing nass und kalt an ihren schmalen Beinen, der Lodenmantel war fadenscheinig und wärmte nur wenig. Seit fünf Jahren war sie jetzt beim Seppenbauern als Dienstmagd angestellt, und in dieser Zeit, seit ihrem zwölften Lebensjahr, war sie nicht mehr richtig gewachsen. Sie sah auch nicht aus wie siebzehn, sie war klein, schmal und unterernährt. Rosa hatte jeden Tag Hunger, aber das interessierte niemanden.
„Sei froh, dass du ein Dach über dem Kopf hast und eine warme Suppe, bei deiner Großmutter wärst du längst verhungert!“, hatte sie die Altbäuerin mal geschimpft.

Endlich angekommen bei der Hebamme machten sich die zwei Frauen schnell auf den Rückweg zum Bauernhof, Rosa war keine Pause gegönnt. Gerade noch rechtzeitig zur Niederkunft kamen sie an. Für Rosa brach eine anstrengende Zeit an, sie musste die kommenden Wochen den Säugling hüten, damit sich die Jungbäuerin von der Geburt erholen konnte.

Um spätestens 21 Uhr fiel Rosa jeden Abend müde, abgekämpft und hungrig ins Bett, neben ihr schlief der Säugling in einem geflochtenen Korb. Sobald das Kind zu schreien anfing, brachte Rosa es zu Nannerl zum Stillen. Sie musste warten, bis es fertig getrunken hatte und nahm es wieder mit in ihre kleine Kammer. Es war eisig kalt, Rosa packte den Säugling ganz warm ein und achtete darauf, dass das Kind nicht fror. Um vier Uhr früh stand Rosa auf, heizte den Ofen in der Küche und der Stube und versorgte dann die Tiere am Hof. Der Wind pfiff um die Stallungen, Rosa zitterte am ganzen Leib. An den Kühen und Kälbern konnte sie sich wenigstens ein klein wenig wärmen, während sie den Stall ausmistete.
Nach der Stallarbeit gab es für alle ein kümmerliches Frühstück – lauwarme Milchsuppe mit etwas Brot. Die Dienstboten bekamen das alte, harte Brot von der Vorwoche, nur der Herrschaft war das frisch gebackene vorbehalten.

Nach diesen anstrengenden Wochen wurde Rosa krank. Sie hatte hohes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und sie hustete sich die Seele aus dem Leib. Der alte Knecht, Matthias, bemerkte Rosas glühende Wangen beim Frühstück und sprach die Altbäuerin an:
„Die Rosa gehört ins Bett und ein Arzt muss her. Seht euch das Mädel doch an? Die stirbt euch noch weg.“
„Das wäre ja noch schöner! Wer soll denn für die Arztkosten aufkommen? Die hat doch nichts Erspartes! Und bis Maria Lichtmess bleibt sie hier am Hof als Dienstmagd!“, keifte die Alte.
Der Seppenbauer funkelte Rosa streng an und spuckte abwertend auf die Holzdielen.
„Na, wo hast dich denn herumgetrieben, weil du plötzlich so krank bist?“, meinte er.
„Kann ich bitte heißen Tee haben und eine kräftige Suppe, Bauer? Dann werde ich sicher schnell wieder gesund“, flehte Rosa die Bauersleute an.
„Nichts da. Geh an die Arbeit. Wo kommen wir denn da hin, wenn plötzlich jeder eine Sonderbehandlung möchte?“ Die Bäuerin ging wieder zurück in die Küche an den Herd.

Matthias schüttelte den Kopf und nahm Rosa an der Hand.
„Komm, Rosa. Ich helfe dir.“ Am Vormittag musste Rosa immer die schweren Wasserkübel vom Brunnen in den Stall tragen und das Vieh tränken. Außerdem war noch das Getreide mit einem Dreschflegel zu schlagen, damit die Pferde am Hof Korn hatten.
Mit zittrigen Beinen und aus voller Brust hustend verrichtete sie ihre Arbeiten. Der Knecht half ihr, soweit es möglich war, denn er hatte selber noch einiges an Aufgaben zu erledigen.
Rosa konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Sie wollte am liebsten weglaufen, aber sie wusste nicht, wohin. Bis Anfang Februar war sie verpflichtet am Hof. Erst dann bekam sie ihren Lohn vom letzten Jahr ausbezahlt. Wenn es die Bauersleute gut mit den Dienstboten meinten, gab es zusätzlich vielleicht noch Schuhe oder neue Kleidung. Sie hielt das bei den Seppenbauern aber für sehr unwahrscheinlich.

Die Bettwäsche in der Kammer waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. In den Räumen der Dienstboten herrschte im Winter immer eisige Kälte. Rosa hielt es nicht mehr aus, sie schleppte sich in den Stall, legte sich neben die Kälbchen ins Stroh und deckte sich mit alten Leinensäcken zu. Bald fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Ganze vier Tage blieb sie so im Stall liegen, trank manchmal einen Schluck Milch aus dem Euter der Kühe und legte sich wieder hin. Niemand kümmerte sich um sie, aber zum Glück wurde sie auch nicht mehr aufgefordert, ihrer Arbeit nachzugehen.

Am fünften Tag ging sie verschmutzt, stinkend und abgemagert über den Hof zum Bauernhaus. Ein Pferdegespann fuhr gerade durch das Einfahrtstor und auf dem Kutschbock saß der Alois aus dem benachbarten Ort. Rosa kannte ihn schon länger, er holte sich immer Holz vom Seppenbauern. Er hatte sich vor einiger Zeit mit seiner Frau ein kleines Haus am Dorfrand gebaut, er war Hufschmied und verdiente sich damit mehr recht als schlecht den Unterhalt. Die meisten Bauern zahlten in Naturalien, er hatte wenigstens zu essen. Vor einigen Jahren war die Frau von Alois gestorben, an der Schwindsucht, wie es hieß.
„Rosa! Bist du das?“, rief er entsetzt. „In aller Herrgottsnamen, wie siehst du denn aus?“
„Ich war krank, Alois. Jetzt geht es mir aber wieder besser.“ Rosa war beschämt und schlüpfte schnell durch die Tür ins Haus.

Sie nahm einen Holzkübel, um Wasser zu holen. Der Brunnen lag außerhalb des Hofes, in der Nähe des Einfahrtstores. Aus dem Hofinneren hörte sie plötzlich laute Stimmen.
„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Die Rosa sieht ja schrecklich aus! Lässt du sie verhungern?“, hörte sie die Stimme von Alois.
„Das sind nicht deine Angelegenheiten! Die Rosa soll froh sein, dass sie bei uns ist. Ihre Großmutter kann sich nicht noch um ein weiteres Balg kümmern.“
„Am liebsten würde ich sie einpacken und mitnehmen. So kann das nicht weitergehen, Sepp! Soll ich dem Arzt sagen, er muss mal vorbeischauen? Dann wirst du aber dein blaues Wunder erleben!“
„Das Angeld ist bezahlt, die Rosa bleibt bis Lichtmess hier! Dann kannst du sie von mir aus holen, das unnütze Weibsbild.“

Rosa lief schnell in das Haus zurück, ehe sie jemand sah. Ihr Herz pochte! Konnte das wahr sein? Würde sie wirklich endlich wegkönnen von diesem Hof? Bis zweiten Februar waren es nur noch einige Tage, die hielt sie sicher noch aus.
Abends hörte sie dann die Bauersleute über Alois reden, sie lachten und machten Witze. Sie wollten es nicht glauben, dass der Mann so dumm sein konnte.
Pünktlich an Lichtmess begann die Schneeschmelze und an diesem Tag fuhr Alois auf den Hof.
Die Altbäuerin wartete an der Eingangstür und stemmte ihre Arme in die breite Taille.
„Na, Alois? Meinst du es wirklich ernst? Bist um die Rosa gekommen?“, fragte sie ihn mit scheinheiliger Stimme.
„Das ist richtig. Wo ist sie? Ich nehme sie gleich mit.“
„Ich verstehe gar nicht, was du dir an dem Mädel siehst, hässlich, wie sie ist. Und zur Arbeit taugt sie auch nicht“, fauchte die Alte weiter.

Rosa hatte ihr bestes Kleid angezogen, ihren kleinen Lederkoffer in der Hand und schlich sich an der Bäuerin vorbei.
„Rosa, hast du auch deinen Lohn vom letzten Jahr bekommen, wie es dir zusteht?“, fragte Alois leise.
„Ja. Es ist zwar nicht viel, aber immerhin kann ich heute den Hof verlassen.“ Rosa lächelte.
Geschickt kletterte sie auf den Kutschbock und beide fuhren sie vom Hof des Seppenbauern. Ein Jahr später heirateten sie. Alois war zwölf Jahre älter als Rosa und die Ehe blieb kinderlos.

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Der Schnee schmilzt unter meinen Stiefeln, das Februarlicht dringt sanft durch die knorrigen Äste der Pappeln am Friedhofsweg. Ich zünde eine Kerze an, wie alle Jahre an Maria Lichtmess. Auf dem Grabstein steht in geschwungener Schrift:
Maria Gruber 1901 – 1926
Alois Gruber 1899 – 1977
Rosa Gruber 1911 – 2000

Tante Rosa hat meinem Mann und mir damals das kleine Haus vererbt. In ihrer Schlafkammer habe ich in einer alten Holzkommode die Tagebücher gefunden. Sie hat erst später ihre Erlebnisse in dünne Hefte geschrieben. Die Kriegsjahre haben sie einigermaßen gut überstanden, die Pferde wurden gebraucht und mussten ja beschlagen werden, Alois hatte immer Arbeit. Rosa war an der Seite ihres Mannes glücklich gewesen. Sie war ihm eine gute Ehefrau.
Die Enkeltochter zupft an meinem Mantel: „Oma, wer ist denn hier begraben?“
„Hier liegt meine Tante Rosa, liebe Laura. Eine wundervolle Frau, die von Onkel Alois aus der Eiseskälte gerettet wurde.“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19065

Hey, Mercedes!

Sie steht müde in der neuen Designerküche und schaltet die Nespresso-Maschine ein. Vor dem Küchenfenster wirbeln dicke Schneeflocken im Halbdunkel, die Fensterläden klappern gedämpft und halten dem starken Wind stand. Leise surrt Kaffee in die kleine Espressotasse, der würzige Duft steigt ihr in die Nase, sie muss an George Clooney denken. Während sie ihren ersten Schluck zu sich nimmt und ihren Gedanken nachhängt, poltert ihr pubertierender Sohn in die Küche. Die Kopfhörer im Ohr, den Blick aufs Smartphone gerichtet, tastet er nach der Kühlschranktür.

„Guten Morgen, Jonas.“ Ohne eine Antwort nimmt er Orangensaft aus dem Kühlschrank, trinkt in einem Satz die halbe Flasche leer und stellt sie auf die Anrichte. Sie kippt um und ein dünnes Rinnsal tropft auf die Steinplatte und anschließend über die weiße Hochglanzfront. „Really, George?“, denkt sie und schmunzelt.

„Alexa, setze Orangensaft auf die Einkaufsliste“, murmelt Jonas und verlässt die Küche.
Beate wischt sauber und entsorgt die PVC-Flasche. Sie atmet tief durch und sieht sich das Schneetreiben an.

„Wie soll ich heute bloß zu meinem Meeting kommen?“, stöhnt sie.
„Nimm meinen Wagen, ist ein Allrad“, ihr Mann betritt den Raum. In der einen Hand hält er ein Tablet, in der anderen eine Mappe.

„Der ist nagelneu, ich bin mit dem noch nie gefahren!“
Ralf lacht laut auf und schüttelt den Kopf.
„Du brauchst nur drinsitzen, das Auto macht alles selber. Ich habe heute eine Telefonkonferenz von zu Hause aus, brauche den Wagen also nicht.“

Beate wählt einen dunkelblauen Hosenanzug und ein buntes Seidentuch, sieht sich in ihrem großen Ankleidezimmer um und überlegt, welche Schuhe sie anziehen soll bei diesem Mistwetter. „Egal, ich werde in einer Tiefgarage parken, da kann ich dann auch die Highheels anziehen, ich werde ja nicht im Schnee rumlaufen müssen.“

„Alexa, schalte die Alarmanlage aus.“ Ihr Sohn schlurft am Schrankraum vorbei, öffnet die Haustür und weg ist er Richtung Bushaltestelle.
An der Küchentheke sitzt ihr Mann am Barhocker, trinkt Espresso und sieht ins Tablet. „Pling …“, das Signal für eine eingehende Mail ertönt.
„Alexa, öffne das Garagentor.“
„Alexa, sag Mercedes starte die Standheizung.“ Ralf dirigiert Alexa, während er weiter in seinem Tablet liest.
Ein lauter Signalton surrt aus Beates iPhone. Anschließend ein „Pling“ und gleich hinterher ein „Sssrrrrrum“.
„Eine WhatsApp Nachricht, ein neuer Facebookbeitrag und eine Mail“, denkt sie, steckt das Telefon in ihre Gucci-Tasche und verlässt die Küche.
„Bis heute Abend dann. Ich nehme uns etwas vom Koreaner mit, okay?“
„Ja, ist gut.“

Beate fühlt schon angenehme Wärme im Auto. Sie legt ihr Smartphone auf den Beifahrersitz und sucht am Cockpit des Wagens nach dem Schalter „Navi“. Das hochauflösende Display kann via Touch bedient werden, das findet sie schon mal prima, damit kann sie umgehen.
Schnell sucht sie in ihrem Handy unter den Mails nach der Adresse, die ihr die Kundin mitgeteilt hat, und tippt sie in die Navigationsleiste.
Der Motor startet sanft schnurrend, und sie biegt in die Straße ein.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ am Beifahrersitz.
„Hey, was für ein Sauwetter!“ Beate lehnt sich weiter vor in der Hoffnung, so besser durch das Schneetreiben blicken zu können.
„Wie bitte?“, ertönt es von irgendwoher im Auto.
„Was zum Geier … wer redet hier?“ Beate versucht, sich zu konzentrieren.
„Wie bitte?“  —— „Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
„Diese Reiseroute enthält Verkehrsbehinderungen. Bitte wählen Sie eine andere Strecke.“ Das muss die Dame aus dem Navi sein, denkt sie, denn die Navigationsroute am Display blinkt auf.

In einer Kurve kommt das Auto leicht ins Schleudern, fängt sich aber sofort wieder.
„Hey, Mercedes, gut gemacht.“ Beate lächelt.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, wieder diese freundliche, andere Frauenstimme aus dem Irgendwo.
Plötzlich erkennt Beate blinkende Rücklichter vor sich, sie drückt etwas umständlich aufs Bremspedal und spürt ein Rattern unter ihrem Stöckelschuh, kurz darauf verstärkt das Auto die Bremse selbständig.
„Mist, Stau!“ Beate schlägt auf das Lenkrad. Ihr Handy läutet.
„Beate Lauterbach“, nimmt sie den Anruf entgegen.
„Guten Tag, Frau Lauterbach. Ohlsberg spricht. Ich habe Ihnen heute schon einige Mails geschickt, haben Sie diese erhalten? Ich brauche dringend ein Angebot von Ihnen …“, die ihr bekannte quietschende Frauenstimme am anderen Ende schmerzt in ihrem Ohr. „Frau Ohlsberg, ich muss mich später darum kümmern. Ich bin unterwegs in ein Meeting und stecke im Stau fest.“
„Aber es ist wirklich dringend …!“

Beate beendet das Gespräch, denn im Rückspiegel sieht sie das gelbe Warnlicht der Straßenräumungsgesellschaft und sie weiß nicht, wie diese weiter durchkommen soll.
„Verdammt!“
„Wie bitte?“ ——— „Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
Beate fährt ein paar Meter nach vorn zu einer Bushaltestelle, lässt den Räumungsdienst vorbei und wendet den Wagen.
„Die Route enthält Verkehrsbehinderungen …“, wieder diese vorwurfsvolle Stimme des Navis.
Beate will es über die Autobahn versuchen, das ist zwar ein Umweg, aber die ist sicher besser geräumt.
„Bitte wenden Sie jetzt.“
„Halt einfach die Klappe!“ Beate spürt ein krampfendes Gefühl in der Magengegend, und es wird ihr abwechselnd kalt und heiß.
„Wie bitte?“ ———
„Du sollst auch die Klappe halten. Seid BEIDE einfach ruhig!“, schreit Beate jetzt.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Die Scheibenwischer arbeiten auf Höchststufe, das Schneetreiben nimmt zu. Beate fährt vorsichtig weiter und sucht auf den Verkehrsschildern nach dem Wegweiser zur Autobahn, doch es sind alle Schilder durch die Schneeverwehungen unlesbar.
„In 500 m rechts halten und auf die A3 auffahren!“
„Na endlich!“, denkt Beate.
Sie beugt sich wieder nach vorne, setzt den Blinker …
„Oh nein!“ Beate springt auf die Bremse. Zwei LKW stehen quer über die Auffahrtsstraße.
„Jaaaa, klar! So ohne Schneeketten wird‘s nicht klappen, ihr Idioten!“
„Wie bitte?“ ———
„Mercedes, du nervst!“
„Wie kann ich behilflich sein?“ Freundlich und ruhig, wie immer.
Beate möchte wieder wenden, sie muss den Gegenverkehr abwarten.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Beate überlegt lange Zeit, sie weiß nur mehr eine weitere Strecke, die sie aber über schmale Nebenstraßen führen wird. Ob die geräumt sind?
Sie nimmt ihr Handy und wählt Ralfs Nummer, er soll ihr weiterhelfen. Besetzt! Natürlich, war zu erwarten!
Sie tritt aufs Gaspedal und der Wagen kommt leicht ins Schleudern, ein Warnlicht auf der Tachoanzeige.
„Vielleicht soll ich einfach wieder heimfahren und das Meeting abblasen?“, denkt sie. Doch sie kommt halbwegs gut vorwärts und es ist nur wenig Verkehr auf diesen Straßen.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
Kurz darauf ein Anruf, leider nicht Ralf. Sie geht nicht ran.
„Bitte wenden Sie nach Möglichkeit jetzt!“
„Hey, ich wende nicht! Blöde Kuh!“ Beates Fingerknöchel leuchten weiß am Lenkrad, sie hält es fest und verkrampft in beiden Händen.
„Wie bitte?“, fragt die Autodame höflich.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Beate bremst abrupt, sie sucht verzweifelt nach dem Schalter für das Seitenfenster, drückt ihn fest, der rote Gelnagel löst sich von ihrem Fingernagel, wütend nimmt sie das iPhone vom Beifahrersitz und wirft es aus dem Fenster in den Schnee.
„Aaaaaaaaaaaaaaaaah, ich werde verrückt hier!“
„Wie bitte?“
Sie holt tief Luft, vereinzelt verirren sich die Schneeflocken auf ihrer Kostümjacke, blitzen kurz auf und schmelzen dahin.
Beate schließt das Fenster, drückt den „Off-Schalter“ der Mittelkonsole, das Display verdunkelt sich. Sie legt den Gang ein und fährt langsam weiter. Ziellos, planlos, sie fährt einfach. Es ist nun ganz still im Auto. Nur das leise Summen des Scheibenwischers ist hörbar und das Knarzen der Autoreifen auf der Schneefahrbahn.

Beate spürt Tränen über ihr Gesicht laufen. Sie wischt sie mit dem Handrücken weg.
Nach einigen Kilometern langsamer Fahrt lässt der Schneefall nach. In der Ferne erkennt sie eine kleine Ortschaft.
„Nein, das ist nicht möglich, oder?“, fragt sie leise ins nun stumme Auto. „Das muss Kneidelsdorf sein … es ist Jahre her, Jahre …!“
Wieder ein paar Tränen, die sie schnell wegwischt. Der schneebedeckte Zwiebelturm der Kirche glitzert, Beate fährt durch schmale Straßen, vereinzelt sieht sie ältere Frauen mit Kopftuch die Gehwege freischaufeln.

Der Mercedes surrt an ihnen vorbei. Sie weiß genau, welche Abbiegung sie nehmen muss, kurz nach der Ortstafel. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr besucht?
Sie lenkt den Mercedes in einen Innenhof, die Dachschindeln der Stallgebäude sehen schäbig aus. Das Mauerwerk des Wohnhauses ist renovierungsbedürftig, die Fensterrahmen und die Holztür wirken blass. Beate steigt der Duft von Heu und Mist in die Nase.
„Also noch immer Tiere hier?“

In Gedanken sieht sie sich als kleines Mädchen jungen Katzen hinterherlaufen, barfuß durch hohe Wiesen, Bilder von Schafherden auf Weideflächen, von einem alten Schäferhund bewacht, erscheinen. Sie erinnert sich an viele Sommertage hier auf dem Hof, spürt den Geschmack von Butterbrot mit Schnittlauch auf ihrem Gaumen, schmeckt warme, frisch gemolkene Kuhmilch, die sie damals mit einer großen Suppenkelle aus der Kanne schöpfte.
Aus einer klapperigen Stalltür kommt ein alter Mann, er schlurft in Gummistiefeln stark gebückt Richtung Wohnhaus. In seinem Mundwinkel hängt eine Pfeife. Erst jetzt bemerkt er das Auto im Innenhof stehen.

Er lächelt, nimmt die Pfeife aus dem Mund und die Mütze vom Kopf.
Beate öffnet die Tür, versinkt mit ihren Highheels im Schneematsch, bleibt stecken. Sie entledigt sich der Schuhe und läuft in Seidenstrümpfen über den Hof.
„Schicker Wagen!“, ruft er ihr mit heiserer Stimme entgegen.
Beate fällt ihm um den Hals, sie riecht Tabak und Heu.
„Hey, Mädel, was führt dich hierher in die Einöde?“ Er drückt sie fest an sich.
„Ich will mein altes Leben wieder zurück, Opi!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19063

 

Zwei fabelhafte Philosophen

Die Sonne strahlte an diesem Vormittag vom blauen Himmel, fröhliches Vogelgezwitscher war in den Bäumen neben dem Pferdestall zu hören. An der Raufe standen einige Pferde und mümmelten Heu, ein paar davon vertrieben mit ihren Schweifhaaren die lästigen Fliegen. Die Ruhe auf dem Hof war an diesem Samstag ungewöhnlich, denn üblicherweise waren um diese Zeit schon einige Pferdebesitzer hier und gingen ihrem Hobby nach.

Zwei Pferde in der Herde fielen besonders auf: ein Wallach mit glänzend rötlichbraunem Fell, die gleichfarbige Mähne und das Schweifhaar mit feinen, goldenen Strähnen durchzogen, sehr athletisch gebaut, muskulös, mit kleinen Hufen, sein Name war Ben. Neben ihm stand ein Falbe, ebenfalls Wallach, elfenbeinfarbiges Fellkleid, brauner Aalstrich, Mähne und Schweifhaar waren dunkelbraun, einzelne blonde Strähnen hatten sich ganz keck darin verirrt. Sein Körperbau war eher kräftig, er wirkte viel schwerfälliger als Ben und hatte große Hufe. Sein Name war Johnny.

Johnny drehte sich zu Ben: „Ist dir schon aufgefallen, dass unsere Menschen gerade so wenig Zeit für uns haben?“„Ja, natürlich ist mir das aufgefallen. Die haben gerade auch andere Sorgen.“ Ben knabberte weiter am Heu.
„Aha? Welche denn?“, fragte Johnny. Ben schnaubte tief durch und zog die Nüstern zusammen: „Tönt doch aus allen Dingern, mit denen die Menschen auf den Hof kutschieren, auch über das Flimmerteil in der Reiterschenke, das man durch die offenen Fenster hört und aus den kleinen, dünnen, bunten Geräten, die die Menschen ständig in der Hand halten, da läuft auch immer irgendeine Warnung.“
Johnny hob den feudalen Kopf vom Heu, hörte zu kauen auf und starrte Ben an.
„Warnung? Wovor?“

Die anderen Pferde verzogen sich in den Schatten, ließen Ben, den Chef der Herde, und seinen Freund Johnny allein mit ihren Gesprächen.
„Sag, passt du überhaupt nicht auf, wenn die Menschen sich unterhalten? Gibt doch seit Tagen kein anderes Gesprächsthema mehr?“, rügte Ben seinen Kumpel.
„Also ehrlich, die Menschen reden doch so viel. Wozu soll ich da noch hinhören?“, meinte Johnny und widmete sich wieder ausgiebig dem Futter.

Später zog plötzlich ein kräftiger Wind auf und nahm noch gleich ein paar Wolken aus dem Irgendwo mit, die, wütend wirkend, über den Himmel wirbelten. Abrupt hörte das Vogelgezwitscher auf und nun trotteten die Pferde, die zuvor dösend im Schatten gestanden waren, wieder zurück an die Futterstelle. Ben hob seine zarte Pferdenase gegen den Himmel, seine Ohren, wie Antennen, in ständigem Wechsel nach vor und zurück gewandt, seine Mähne wehte mit den anderen Pferdefrisuren um die Wette.
„Bald ist es so weit. Ich kann es ahnen“, meinte er schließlich.

Johnny zog seinen Kopf aus der Raufe, ging ein paar ausholende Schritte an den Zaun und hob ebenfalls, wenn auch bedeutend langsamer, die Nüstern in die Höhe.
„Hm … ich bemerke nichts. Du flunkerst.“ Er wandte sich wieder ab und stolperte über einen kleinen Ast, welcher zum Knabbern für die Pferde am Boden lag.
„Autsch! Verflixt!“ Verärgert über seine Tollpatschigkeit schüttelte er den Kopf, hob das imposante Hinterteil und kickte mit einem Bein kurz Richtung Ast aus. Das war aber auch schon alles, was er an Energie verschwendete.

Ein Traktor fuhr auf den Hof, ein junger Mann sprang aus dem Führerhaus und lief schnurstracks Richtung Wohnhaus.
„Jetzt sag schon, Ben. Was ist das nun für eine Warnung, die die Menschen so aus dem Gleichgewicht geraten lässt?“
„Ein Komet wird, Berechnungen zufolge, auf die Erde krachen. Ungefähr einen halben Tagesritt von hier entfernt soll er einschlagen. Die Menschen fürchten sich“, erklärte Ben endlich seinem Freund.
„Oh, das ist natürlich blöd für die Menschen. Wobei so ein Komet ja nur eine Naturerscheinung ist“, brummelte Johnny.

Der Wind wurde immer stärker, aber die Pferde schenkten dem Wettergeschehen keine Aufmerksamkeit. Einzig Ben beobachtete sehr genau die Vorkommnisse am Horizont.
„Wann sollte es denn eigentlich so weit sein? Wo ist der Komet gerade?“, fragte Johnny.
„Nach dem Wind zu urteilen, kann es nicht mehr lange dauern. Er müsste gerade dort sein, wo der Ozean die Erde berührt.“
Johnny trottete, nun doch etwas interessierter an der Sache, mit vom Wind zerzauster Mähne gemütlich zu Ben.
„Wird etwas Schlimmes passieren, Ben? Nein, oder? Das würde ich spüren“, sagte Johnny.
„Es wird ein Schuss vor den Bug sein, der Komet wird die Menschen vielleicht etwas erschrecken. Weiter nichts.“
„Und sie haben schon seit Wochen die Hosen gestrichen voll!“, prustete Johnny los und entblößte sein beeindruckendes Pferdegebiss. Ben und die anderen Pferde taten es ihm gleich und wieherten vergnügt in den Wind hinein.

„Meine Menschenfrau sitzt manchmal auf mir, starrt in ihr buntes, kleines Gerät in der Hand, nimmt mich gar nicht wahr. Sie ist nicht geerdet, nicht in ihrer Mitte, manchmal ist sie verspannt und so weit weg in Gedanken, dass mir ganz elend wird. Sie atmet nicht vollständig durch, sie atmet oberflächlich. Wieso ist das so, Ben?“,  fragte Johnny nun nachdenklich.
„Es sind nur Menschen, Johnny. Viele Sommer ziehen ins Land, und sie haben Stress, sie sind getrieben. Sie leben nicht im Hier und Jetzt, wie wir es tun. Sie machen sich Gedanken, was morgen sein wird, und es ist ihnen nicht egal, was gestern war. Auch können sie dem Druck nicht weichen, wie wir das gelernt haben, für uns ist das überlebenswichtig“, klärte Ben ihn auf.
„Stress? Druck?“
„Ja, Johnny. Sie stehen unter Druck. Sie spüren sich nicht mehr wirklich. Aber du stehst beispielsweise auch unter Stress, wenn die Heuraufe leer ist und du kein Futter mehr hast.“ Mit einem Grinsen sieht er Johnny an.
„Das ist aber auch berechtigter Stress! Himmel, unvorstellbar, eine leere Futterraufe“, entgegnete er.
„Weißt du, Johnny, wir haben trotzdem Glück. Unsere Menschen sind gut zu uns. Sie legen ihr Herz in ihre Hände, in allem, was sie mit uns machen. Wir hätten es schlimmer erwischen können.“
„Das ist wahr, Ben. Aber ich bin trotzdem froh, ein Pferd zu sein. Im Hier und Jetzt leben, das hat schon was!“, Johnny marschierte wieder zum Heu.

Sonntag, 13.05.2018
Berlin: Komet Benjamin hat die Bundeshauptstadt gestern Mittag erreicht.  Die Stadt war menschenleer. Wie berichtet, wurde angenommen, der Komet könne direkt ins Zentrum der Stadt einschlagen und große Verwüstung anrichten. Zum Glück hat nur das goldene Schweifende des Kometen die Glaskuppel des Reichstagsgebäudes gestreift. Das Stahlskelett der Kuppel mit 800 Tonnen krachte in den darunterliegenden Saal, der Boden ist übersät mit Glasscherben. Es wird einige Wochen dauern, bis der Bundestag wieder Sitzungen abhalten kann. Mit den Aufräumarbeiten wird morgen begonnen.
Komet Benjamin machte nur einen Kurzbesuch, neuen Berechnungen zufolge wird er erst in 78 Jahren wieder die Erdumlaufbahn passieren.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 19047

Walpurgisnacht

Ihre Hand streicht immer wieder langsam über die zusammengerollte Tageszeitung. Im Hintergrund hört sie die Pendeluhr – „tick, tack, tick, tack“. Das Feuer knistert im Kamin und die Flammen malen rote und orange Farbschattierungen an die gegenüberliegende Wand. Sie hört die Haustüre ins Schloss fallen, endlich ist Sophie vom Spaziergang zurück.

„Möchtest du Tee? Ich habe gerade den Kessel aufgesetzt.“ Katharina nimmt ihrer Tante den Mantel ab. „Das ist sehr lieb von dir, danke.“

Sie setzen sich an den Tisch, wie zufällig legt Katharina die Zeitung zwischen die Teetassen. Sophie schmunzelt.

„Wieder was gefunden?“

„Ja, sieh auf die vorletzte Seite, da steht es!“

Sophie umschlingt mit beiden Händen die warme Teetasse, Altersflecken sind deutlich zu sehen, aber die Haut auf ihren schlanken Gliedern scheint wie aus Pergamentpapier zu sein, zart, dünn und kaum Falten.

„Willst du es gar nicht lesen?“, fragt Katharina ungeduldig.

„Ich weiß doch, was drin steht. Ist ja immer derselbe Text“, antwortet Sophie mit einem Lächeln.

Katharina nimmt die Ecke der Platzdecke aus buntem Stoff zwischen Zeigefinger und Daumen, rollt sie kurz zusammen, streicht sie glatt, rollt sie zusammen … Ihre Augen sind auf den dampfenden Tee gerichtet. Sie atmet tief durch:

„Du könntest ja mal antworten zur Abwechslung, wieso lässt du alle im Ungewissen?“, fragt sie leise.

Sophie greift nach der Hand ihrer Nichte, streichelt sanft über den Handrücken und verhindert so, dass Katharina ständig die Platzdecke zerknüllt.

„Tick, tack, tick, tack.“

„Ich lege nochmals nach, es soll heute Nacht stürmisch werden.“ Sophie erhebt sich und holt Holzscheite aus dem geflochtenen Korb in der Nähe des Ofens.

Langsam räumt Katharina den Tisch ab, schlägt die letzte Seite der Zeitung auf und verlässt den Raum.

Am nächsten Morgen liegt das Journal immer noch unberührt da. Beim Frühstück reden die Frauen belanglos über das Wetter und die bevorstehende Vollmondnacht.
Anschließend holt Sophie einige Papiertüten und Gläser, gefüllt mit Räucherharzen und Kräutern, aus dem Keller, nimmt den schweren Steinbehälter mit dem Stößel aus dem Regal und macht es sich am Küchentisch gemütlich.

„Kann ich dir behilflich sein, Tante?“, fragt Katharina. Langsam schüttelt Sophie den Kopf.

„Das ist nicht nötig, Liebes. Aber tu mir doch den Gefallen und hole aus meinem Kleiderschrank die alte Holzkiste, die ganz unten steht.“

Sophie mischt Kräuter, Samen und Harze in dem Steingefäß und mörsert leise vor sich hinsummend. Duftschwaden erfüllen den Raum, es riecht nach Myrrhe, Kardamom, Salbei und Moschus.
Katharina kehrt mit der alten Kiste zurück und nimmt den angenehm würzigen, sinnlichen Duft wahr.

„Willst du sie nicht öffnen?“, fragt Sophie.

Katharina versucht sich am zierlichen, verrosteten Vorhängeschloss, es ist jedoch zwecklos.
„Sie ist ja verschlossen. Wie soll ich sie öffnen?“

Die Tante greift an ihre Halskette, an der, unter vielen anderen kleinen Anhängern, auch ein winziger Schlüssel hängt, den sie nun abnimmt und ihrer Nichte reicht.
Katharina ist nervös, schon immer wollte sie wissen, was sich in dieser Kiste verbirgt. Dass sich heute das Geheimnis plötzlich lüften soll, kommt völlig überraschend.
Leise knarzend hebt sich der Deckel. Eine Ansammlung von Zeitungsausschnitten liegt fein säuberlich gefaltet darin, daneben eine alte Herrenuhr und ein goldener Ring. Sie nimmt den Ring zur Hand und liest die Gravur in der Innenseite. „Sophie – 01.05.1967“. Langsam faltet sie die Papierseiten auseinander. Inserate aus den vergangenen Jahren, immer mit derselben Formulierung.

„Du kannst das Inserat von gestern kontrollieren. Es wird der gleiche Text sein, richtig?“ Die Tante ist noch immer mit ihrer Räuchermischung beschäftigt und zwinkert Katharina zu.
Das Knistern im Kamin wird zunehmend lauter, als ob die Holzscheite eine extra Luftversorgung bekommen hätten. Plötzlich dringt der Moschus- und Kardamomduft ganz intensiv an Katharinas Nase und fährt ihr wie ein Blitz in die Stirnhöhlen.

„Tick, tack, tick, tack.“

Katharina hat insgesamt fünfundzwanzig Seiten aufgeklappt, ihre Tante hat mit krummer Handschrift jeweils das Erscheinungsdatum darauf notiert.

„VERMISST! Ich suche meinen Vater! Er war Pilot und ist wahrscheinlich im Raum Allgäu, Deutschland, geboren. In den Jahren 1970 bis 1980 war er für eine deutsche Fluggesellschaft tätig und ist regelmäßig in die USA geflogen. Seit Ende April 1980 ist er nicht mehr hier in Washington DC gesehen worden. Für nähere Hinweise bitte eine Mail an: mark.lewis@autornet.com“

„Du musst ihm schreiben, Sophie!“ Katharina hält sich an der Stuhllehne fest, ihr wird schwindlig von dem durchdringenden Geruch und der Hitze im Raum.

„Den Teufel werde ich tun! Sein Vater war ein Mistkerl, er hat ein Doppelleben geführt und wahrscheinlich nicht nur mich betrogen. Ich werde früh genug entscheiden, ob ich ihm davon erzählen werde. Bald wird er hier eintreffen und wir lernen ihn kennen.“ Sophie lässt lautstark den Stößel auf den Tisch fallen und ihre Hände zittern.
Katharina setzt sich, sortiert die Zeitungsausschnitte und legt sie wieder sauber in die Kiste zurück.

„Wir werden ihn kennenlernen? Wann?“

„Noch in diesem Sommer, Katharina. Sobald Chiara wieder zurück ist. Es hat alles seine Richtigkeit, glaube mir.“

„Ihr habt also am 1. Mai 1967 geheiratet, morgen hättet ihr euren … 51. Hochzeitstag? Immer am Abend davor feierst du ein Ritual am Waldrand, wieso vor eurem Hochzeitstag, Sophie? Wenn er doch so ein Mistkerl war?“ Lange sehen sich die zwei Frauen über den Tisch hinweg an.

„Tick, tack, tick, tack.“

„Es war nicht nur unser Hochzeitstag, Liebes. In der Nacht davor, der Walpurgisnacht, habe ich endlich begriffen, dass ich betrogen werde. Und genau DAS feiere ich jedes Jahr.“

„Wir hatten beide nicht die besten Jahre, was Männer betrifft. Wird es für Chiara besser werden, Tante?“

„Ja, das wird es. Glaube mir!“ Sophie erhebt sich, geht um den Tisch herum und umarmt ihre Nichte herzlich.

Später am Abend machen sich die beiden Frauen auf den Weg zum Waldrand. Sophie trägt ein weites, knöchellanges Leinenkleid in Purpurrot, viele bunte Armreifen und Ketten klimpern bei jedem Schritt und ihr silbergraues, welliges Haar weht im Wind. Katharina ist in einen hellblauen Mantel gehüllt und trägt einen großen Korb gefüllt mit Holzscheiten, einem Glas mit der Räuchermischung, einer Thermoskanne und zwei Porzellantassen mit bunten Blumen darauf.
Sie halten an einem Lagerfeuerplatz, der kreisförmig mit Granitsteinen umrandet ist. Das Ritual der Walpurgisnacht wird jährlich im selben Ablauf zelebriert. Einige Frauen aus dem Dorf kommen ebenfalls anspaziert, schweigend nicken sich die Damen zu und packen ihre Körbe aus. Sophie entzündet das Feuer und lässt achtsam ein klein wenig Räucherware hineinrieseln.
Langsam wird es dunkel. Die Frauen wärmen sich an den Flammen und trinken heißen Punsch. Aus den Tassen steigt der Geruch von Waldmeister, Melisse, Johannisbeere, Salbei und Wein empor.
Manche Frauen tanzen um das Feuer, andere trommeln und singen eigentümliche Lieder. In der Mitte steht Sophie und lächelt, sie betrachtet den Nachthimmel und entfernt sich einige Meter von der Gruppe. Katharina folgt ihr schweigend.
An einem Felsvorsprung halten sie an. Ein laues Lüftchen weht und es riecht intensiv erdig. Sophie betrachtet aufmerksam den Felsen, hinter dem nun der Vollmond strahlend leuchtet.

„Tante, wohin ist dein Mann verschwunden? Leute im Dorf erzählen, du hättest … also du hättest was mit seinem Verschwinden zu tun. Du weißt schon …!“

Plötzlich hören sie ein lautes Jaulen in der Ferne. Ein Wolf stimmt in die Lieder der um das Lagerfeuer tanzenden Frauen ein.

„Die Antwort kennt nur der Wolf, meine Liebe!“

Manuela Murauer
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Die Mondgöttin

Sie läuft barfuß hinter dem alten Hund her, ihre dunklen Locken, die bis zur Mitte des Rückens reichen, wehen im Sturm. Das geblümte Kleid klebt an ihren nackten Beinen, es ist durchnässt. „Hank! Warte auf mich!“ Das kleine Mädchen kann dem Hund nur schwer folgen, es weiß aber, dass er auf der Suche nach Schutz ist und ihm den Weg weisen wird. Hinter ihm öffnet sich der Boden, aus schmalen Kratern quillt eitrige Masse, vermischt mit lavaähnlicher Brühe, alles schwappt über seine Knöchel, es stinkt ganz ekelerregend und das Mädchen muss würgen. Es läuft weiter, der Wind peitscht Regen, Hagel und Schnee gegen sein Gesicht. Der Hund hält immer wieder an und wartet auf das Mädchen.

An einem Bachlauf springen Forellen aus dem Wasser, landen auf der blutenden Erde, schwänzeln verzweifelt in der Luft. Das Gewässer verfärbt sich blitzschnell dunkelrot und beißender Mief erfüllt die Umgebung. Bald haben sie den Wald erreicht. Hinter einer großen Hecke kriechen Schlangen, Würmer, Kröten und Echsen hervor, sie fliehen ebenso vor der sich öffnenden Erde. Aus den Baumrinden tropfen dicke, harzähnliche Absonderungen, die Äste kringeln sich ein, sind plötzlich tot, starr, es stinkt nach Ammoniak.

„Hank, hilf mir, ich kann nicht mehr!“ Das Mädchen ringt nach Luft, der Ammoniakgestank treibt ihm Tränen in die Augen. Es dreht sich um, die Schlangen, Echsen und Kröten folgen ihnen. Die Fußsohlen des Mädchens schmerzen, trotz Regen und Schnee beginnt der Wald nun zu brennen, fängt Feuer. Der Himmel verdunkelt sich und es kann nichts mehr sehen. Nun ist der Hund an seiner Seite und führt es weiter. Vor ihnen teilt sich plötzlich der Weg, das Mädchen  nimmt Anlauf und springt dem Hund hinterher, stolpert und versinkt mit einem Fuß im Morast. Das Mädchen schreit auf, mit Händen und auf Knien versucht es, sich aus dem Abgrund zu befreien. Sein Herz schlägt bis zum Hals, es weint und fleht und krabbelt auf allen Vieren weiter … Schlangen streifen seine Hände und Arme, schlingern an ihm vorbei.

Dann, endlich, sieht das Mädchen vor sich einen Felsvorsprung und dahinter eine große Weide, die von all diesem Unheil verschont geblieben scheint. Hank legt sich unter die Weide ins saftige Gras und wartet auf das Kind. Den Hund umarmend legt es sich dicht neben ihn, zitternd am ganzen Leib, und gemeinsam schauen sie dem grauenvollen Schauspiel zu, das um sie herum passiert.

„Mutter Erde, Mutter Erde, was ist mit dir? Wo tut‘s denn weh?“, schreit das Mädchen laut in den Abendhimmel.

***

Chiara reißt die Augen auf und ringt nach Luft, an ihrem Bett sitzen Großtante Sophie und ihre Mutter Katharina.

„Schatz, es war nur wieder dieser Traum. Es ist alles gut, wir sind ja da.“ Chiara weint und ist schweißgebadet. Ihre Mutter streichelt ihr sanft über die Stirn und küsst sie, die Großtante hält ihre Hand.

„Wieso träume ich das immer wieder?“, schluchzt sie und legt ihren Kopf auf den Schoß der Mutter.

„Du hast die Gabe, liebe Chiara. Du fühlst den Schmerz der Erde. Genau wie deine Großtante“, flüstert ihre Mutter. Die Tür öffnet sich und das Mädchen sieht das Schweifende von Hank am Bett vorbeihuschen. Der Hund legt seinen Kopf auf die Bettkante und leckt über ihren Unterarm. Chiara betrachtet ihre Großtante, die Hank nun hinter dem Ohr krault. Sie sitzt im Nachthemd da, ihre silbergrauen, dichten Haare zu einem dicken Zopf gebunden. Sie lächelt Chiara an und ihre wunderschönen, bernsteinfarbenen Augen betrachten das Mädchen liebevoll.

*** 12 Jahre später ***

Mark nimmt an einem der kleinen Tische vor der Bäckerei Platz. Er sortiert seinen Notizblock und die Stifte und bestellt sich einen Kaffee. Sein Deutsch ist zwar nicht akzentfrei, aber sehr gut. Am Nebentisch sitzt ein älteres Pärchen und mustert ihn neugierig.

„Sie sind wohl nicht von hier, was?“, fragt der Mann, der seine Hände auf einen Stock stützt.

„Ich komme aus Amerika und muss hier für eine Fachzeitschrift recherchieren“, antwortet Mark.

„Hier, bei uns? In diesem Kaff?“ Der Alte lacht laut auf. „Was soll es da zu recherchieren geben?“

„Es geht um das Thema Plastic Planet und um Mythologie. Ich bin auf der Suche nach drei Frauen, die hier wohnen. Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich sie finde?“

Der alte Mann stopft sich mit krummen, arthritischen Fingern eine Pfeife und brummt leise vor sich hin. „Die ollen Weiber vom Waldrand?“, fragt er. Die Frau daneben stößt ihm den Ellenbogen in die Seite:

„Aber Friedrich, wie redest du nur?“, entgegnet sie.

„Ist doch wahr! Früher hätte man sowas wie die auf dem Scheiterhaufen verbrannt!“

Mark macht sich ein paar Notizen und muss schmunzeln. Dieses kleine Dorf hat einen seltsamen Charme, hier läuft alles etwas ruhiger ab als in seiner Heimatstadt, als hätte man die Zeit um Jahre zurückgedreht.

„Sie müssen wissen, die Damen leben sehr abgeschieden am Waldrand und das ist vielen hier im Dorf unheimlich. Die Ältere heißt Sophie, sie streift oft stundenlang barfuß und mit wehenden Kleidern durch die Wälder, an ihrer Seite ist immer ein Hund. Man erzählt sich, dass sie vor langer Zeit eine Begegnung mit einem Wolf hatte und seither sei sie völlig verändert. Leute, die nicht so ängstlich sind, kommen zu ihr und suchen Rat und Hilfe. Sophie hat schon sehr vielen Menschen helfen können.“

„Ach, papperlapapp!“ Der alte Mann nimmt die Pfeife aus dem Mund und bläst den Rauch in die Luft. „Das ist doch alles Quatsch, den du erzählst, Mutti.“ Mark wendet sich nun der Frau zu und klopft nachdenklich mit dem Bleistift auf den Zettel.

„Wie darf ich das verstehen, ihr sei ein Wolf begegnet? Können Sie mir das näher erklären?“

Die alte Frau rutscht mit dem Stuhl nun näher an Mark heran.

„Näheres weiß niemand hier. Sie war ja damals verheiratet, aber seit sie dem Wolf begegnet ist, sei der Mann wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hat ihn je wieder gesehen. Und sie hat sich seit diesem Tag nicht nur vom Wesen her verändert, sondern auch äußerlich. Früher hatte sie blaue Augen, seit dieser Wolfsbegegnung aber sind ihre Augen wie aus dunklem Bernstein. Es leben drei Frauen in diesem Haus: Sophie, ihre Nichte Katharina und die Tochter von Katharina, sie heißt Chiara. Es wird gemunkelt, dass Katharinas Kind von einem Italiener ist, aber niemand weiß das so genau.“ Die Hände der Frau zittern nun, und sie wirkt nervös.

„Sophie und Chiara sind Sehende, müssen Sie wissen. Sie haben eine Gabe, sagt man“, flüstert sie Mark hinter vorgehaltener Hand zu.

„Kann ich unangemeldet bei den Frauen vorbeischauen? Was meinen Sie?“, fragt Mark.

Die zwei Alten sehen sich an und der Mann zuckt mit den Schultern.
„Wenn Sie meinen?! Ich wünsche Ihnen viel Glück. Die olle Sophie lässt Männer verschwinden. Passen Sie bloß auf sich auf!“

Mark notiert sich noch den Weg und marschiert los. Was für Schauermärchen, denkt er und lacht.

Nach einer Viertelstunde Fußmarsch kommt er an ein alleinstehendes Haus am Waldrand, die Fassade ist mit Lärchenholz vertäfelt, viele bunte Windspiele hängen an der Veranda, im dicht blühenden Garten sieht er vereinzelt Statuen aus Stein, elfenhafte, lächelnde Frauengestalten. Das Haus steht auf einer Anhöhe und Mark hält an, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Plötzlich kommt Wind auf, die Tonmotive der Windspiele schlagen aufeinander und eine wundersame Melodie ertönt. Die sich im Wind wiegenden Blüten lassen die Elfenfiguren manchmal verschwinden und wieder erscheinen, es sieht aus, als würden sie tanzen. Wie aus dem Nichts steht nun ein Hund am Hauseingang, stolz und erhaben kommt er auf Mark zu und hält einige Meter vor ihm an, er mustert Mark, sein Fellkleid schimmert in allen Brauntönen. Dann ebbt der Wind wieder ab, es ist still rundherum. Mark nimmt nun befremdliche Duftnoten wahr, es riecht intensiv erdig, nach Myrrhe und auch nach Moschus. Kalte Schauer laufen seinen Rücken hinunter, ihm wird übel.

Plötzlich ein leises Zischen. Mark dreht sich abrupt um! Sie steht knapp hinter ihm, ihre Augen sind geschlossen, sie ist barfuß, hat lange, grau schimmernde Haare, sie kräuselt fast unmerklich ihre Nase, ihre Nasenflügel beben – als würde sie an Mark riechen, zieht sie mit einem leisen Zischlaut die Luft durch den leicht geöffneten Mund ein. Nun lächelt sie und öffnet die Augen. Mark weicht vor Schreck zurück, er hat noch nie solche Augen bei einem Menschen gesehen, sie sind bernsteinfarben und funkeln ihn an.

Sie nimmt seine Hand und spricht mit rauer, leiser Stimme: „Wir haben Sie schon erwartet!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 18134

 

 

Vertraut!

Dreiundzwanzig Sommer gemeinsam verbracht,
das Ja-Wort laut gegeben, nicht nur gedacht.
Unseren Töchtern ein behütetes Nest gebaut,
Familienbande – so vertraut.

Mein Fels in der Brandung, ich schmiege mich an,
Gewohnheiten, die man nicht erklären kann.
Unsere Liebe, sehr achtsam erbaut,
Berührungen – so vertraut.

Manchmal stürmisch Worte gesprochen,
doch niemals das Vertrauen gebrochen.
Humor und Witz, in uns zweien verstaut,
Alltagsleben – so vertraut.

Hände, die trösten und halten,
Träume dürfen sich frei entfalten.
Jeder für sich und doch nicht verstaubt,
Eigenständigkeit – so vertraut.

Wertvolle Mitsammen-Zeit in der Natur,
gibt Kraft und Fröhlichkeit pur.
Der Zukunft immer freudig entgegengeschaut,
Zweisamkeit – so vertraut.

Für alle Probleme eine Lösung gefunden,
Verlässlichkeit immer empfunden.
Wir haben uns vieles getraut,
Symbiose – so vertraut.

Wie viele Sommer wird es noch geben,
in unserem gemeinsamen Leben?
Berührung, Verlangen, Friede!
Ein Segen, unsere Liebe!

Zum 23. Hochzeitstag, mein Schatz!

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18118

Was wäre, wenn?

Mark schaut aus dem Hotelfenster, sieht Capitol Hill und die schöne Parkanlage, es herrscht reges Treiben auf den Straßen. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er nun aufbrechen muss, er nimmt seine Aktentasche vom Stuhl, darin befindet sich nur das Nötigste, was man als Schriftsteller für das National Book Festival eben so braucht.

Die knappe Meile läuft er zu Fuß zum Gelände der Library of Congress, der größten Bibliothek der Welt. Obwohl es seine erste Teilnahme an diesem Festival ist, findet er sich schnell zurecht. Er trifft einige Kollegen und interessierte Leser. Der Tag ist gespickt mit Small Talk und mit zahlreichen Fans, die sich Bücher von Mark signieren lassen. Er ist ein schüchterner und stiller Mann im besten Alter und eine sehr interessante, gut aussehende Erscheinung. Freunde sagen über ihn, dass er trotz seiner Zurückhaltung einen phantastischen Humor hat, den man ihm nicht zutrauen würde.

Die Zeit vergeht wie im Flug und Mark wäre es gerade recht, könnte er sich bald in sein Hotelzimmer zurückziehen. Er schaut in die Menschenmenge und als er so überlegt, wie er den Abend noch verbringen soll, sieht er ihn. Das rot-orange Tuch, das er immerwährend trägt, leuchtet aus der Menge, einige Menschen verbeugen sich, andere beobachten ihn neugierig. Mark lässt ihn nicht aus den Augen und er kann es fast nicht glauben, der Dalai Lama geht tatsächlich in seine Richtung, zu Marks Tisch.

„Mister Lewis, es ist mir eine Ehre!“ Der Mönch deutet eine leichte Verbeugung an und lächelt. Mark sucht nach Worten, ist völlig perplex, fasst sich dann und verbeugt sich in buddhistischer Manier. „Eure Heiligkeit.“ Plötzlich scheint sich alles rundherum zu drehen, ihm wird schwindlig und heiß-kalt im Wechsel, er braucht dringend frische Luft. Als würde der Dalai Lama es erahnen, fasst er ihn sogleich am Arm und hakt sich ein, schnellen Schrittes führt er Mark Richtung Ausgang. Die angenehme, frische Luft und die sanfte Herbstsonne in der Parkanlage tun ihm richtig gut. Sie halten unter einer Linde und stehen sich gegenüber.

„Mister Lewis, ich habe ein Anliegen. Es handelt sich um ein Experiment, welches seinesgleichen sucht. Sie werden erstaunt sein!“ Mark sieht die funkelnden Augen und das schelmische Lächeln seines Gegenübers.

„Eure Heiligkeit, ich wüsste nicht, wieso Sie sich diesbezüglich ausgerechnet an mich wenden?“

„Nun, Mister Lewis, ich kenne Ihre Bücher und Sie sind Buddhist. Sie können dieses Experiment durchführen, davon bin ich überzeugt. Es wird Ihnen großen Spaß machen!“, wieder ein verschmitztes Lächeln, als würden sie gemeinsam einen Streich aushecken wollen.

„Worum geht es denn?“ Mark wird nun zunehmend neugierig.

„Ich überreiche Ihnen heute einen Schlüssel, suchen Sie die Bibliothekarin der Library of Congress auf und folgen Sie den Vögeln.“ Der Dalai Lama kramt in seinem Samtbeutel, der an seiner Tunika an einem Gürtel hängt, und reicht Mark einen kleinen, goldenen Schlüssel.

„Ich bin natürlich sehr gerne behilflich, und wie Sie wahrscheinlich wissen, mag ich Experimente sehr. Aber eine Frage sei mir erlaubt: Wieso gehen wir nicht gemeinsam zur Bibliothekarin?“

„Eine berechtigte Frage. Ich bin jedoch nur der Überbringer des Schlüssels, eine von mir ausgewählte Person sorgt für die Durchführung des Experimentes. Es funktioniert nur innerhalb der jeweiligen Zeitzone, in der der Auserwählte – das sind in diesem Falle Sie – lebt. In meiner Zeitzone wurde das Experiment schon durchgeführt. Warum es keine Aufzeichnungen, Videos oder Berichte in den Medien darüber gibt, werden Sie früh genug erfahren. Jedoch, das können Sie mir glauben, ist dieses Experiment formvollendet. Mister Lewis, ich wünsche Ihnen viel Freude, verlasse mich auf Sie und werde Sie morgen wieder kontaktieren.“ Der Dalai Lama verbeugt sich nochmals kurz und verlässt die Parkanlage flotten Schrittes.

Da steht er nun, unter der Linde, sieht auf seine Hand mit dem kleinen Schlüssel darin.

„Folgen Sie den Vögeln“, hat er gemeint. Was auch immer das heißen mag. Mark sieht sich um und entdeckt den Eingang der Library in einiger Entfernung.

Nun gut, auf zur Bibliothekarin. Solche Rätsel machen Mark Spaß, das kommt auch deutlich in den Inhalten seiner Bücher zum Vorschein.

„Mrs. Hayden? Mark Lewis mein Name, der Dalai Lama schickt mich.“ Frau Hayden reicht ihm die Hand, lächelt und meint:

„Ich weiß, wer Sie sind und freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Mister Lewis. Habe ich richtig gehört, der Dalai Lama schickt Sie?“

„Ja, Sie haben richtig gehört“, entgegnet Mark freundlich. „Es handelt sich scheinbar um ein Experiment und er meinte nur ‚Folgen Sie den Vögeln‘.“ Die Bibliothekarin verschränkt die Arme vor der Brust und scheint in Gedanken. Nach einer Weile geht sie an ihren Schreibtisch und tippt auf der Tastatur des PCs.

„Gar nicht so einfach. Wir haben hier jede Menge Bücher über Ornithologie. Ich weiß jetzt nicht, wo wir mit der Suche beginnen sollen?“ Sie zuckt die Schultern und sieht Mark über die Brille hinweg an. „Ah, Moment, jetzt hätte ich es beinahe vergessen. Ich habe hier einen Schlüssel, der wohl einen Code knackt?“ Etwas hektisch sucht Mark nach dem Schlüssel in seiner Jacke.

„Dann muss es wohl eine größere Ausgabe sein.“ Sie recherchiert wieder in ihrem PC und hebt dann beide Hände:

„Ja natürlich! Das muss das Buch von John James Audubon sein, The Birds of America. Das weltweit wertvollste Buch, Mr. Lewis. Folgen Sie mir in Gallery B.“

Ein riesiges Buch liegt vor ihnen, Mark schätzt es auf fast einen Meter Größe im Quadrat. Die Bibliothekarin zieht weiße Baumwollhandschuhe über und öffnet vorsichtig den wertvollen Buchdeckel. Achtsam blättert sie weiter. Mark sieht die buntesten Vögel gezeichnet, mit Beschreibungen darunter. Er ist sehr beeindruckt von diesem Werk, welches 1826 erschienen ist.

„Lassen Sie uns die letzte Seite suchen, vielleicht werden wir fündig“, meint er. Tatsächlich finden sie auf der vorletzten Seite ein zusammengefaltetes, sehr zartes Blatt Seidenpapier, auf dem mit Tinte in feinster Schrift folgendes steht:

„Was wäre, wenn …
... alle Buchstaben, Zahlen, Zeichen, Codes in die Freiheit entlassen würden?

„Was wäre, wenn …
... sie sich gemeinsam mit den Vögeln dieses Buches in den Himmel erhöben und davonschwebten?

„Was wäre, wenn …
... für eine Stunde die Erde scheinbar still stünde?“

Sie blättert weiter und entdeckt auf der letzten Seite des Buches, im letzten Einbanddeckel, einen Schlitz.

„Hier, Mister Lewis. Hier muss der Schlüssel rein!“ Mit leicht zittrigen Fingern steckt Mark den Schlüssel ins Schloss des Einbanddeckels und dreht ihn um neunzig Grad.

Leises Flattern ertönt, die Seiten des Buches schlagen sachte aufeinander und zart erheben sich alle bebilderten Vögel, alle Buchstaben, Zahlen, Zeichen, Punkte, Beistriche, Strichpunkte und fliegen mit sanftem Summen den Fenstern entgegen, drängen gegen den Fensterspalt und bahnen sich den Weg ins Freie. Alle Bücher in der Library machen es dem Band von Audubon nach, ein allgemeines, rhythmisches Rascheln erfüllt die Räume. Mark und Mrs. Hayden bücken sich, denn manche Zeichen sind besonders keck und fliegen ihnen um die Ohren. Die Bibliothekarin hält eine Hand vor ihren Mund und will sich ein Lachen verkneifen, was nicht ganz gelingen mag.

„Es ist …“, möchte sie sagen, jedoch auch ihre gesprochenen Worte lösen sich in Luft auf, vergehen, verwehen, verschwinden mit den anderen geschriebenen Zeichen durchs Fenster der weltgrößten Bibliothek. Mark läuft hinterher, zückt sein Smartphone, möchte gerne auf Video aufzeichnen, was hier passiert. Doch auch aus dem Handy schlüpfen Buchstaben und Zeichen beinahe lautlos ins Freie und verschwinden in der Ferne. Der Bildschirm des Handys wird dunkel, es ist nicht mehr zu bedienen. Über Capitol Hill und der Library of Congress schweben nun tausende Zahlen, Buchstaben, Satzzeichen, scheinbar schwerelos in den Himmel. Mark und die Bibliothekarin laufen zum Ausgang, möchten sich gerne unterhalten, es ist aber nicht mehr möglich.

Sie beobachten die Straßen der Stadt. Der Verkehr kommt zum Erliegen, alle Buchstaben und Zeichen der Werbeanzeigen an Tankstellen, Einkaufsmärkten, Banken und Gebäuden rundherum schließen sich den Vögeln und Zeichen der Library an und entschwinden. Die Menschen gestikulieren, Worte sind zwecklos. Stille rundherum. Nur das leise Flattern und Rascheln der wegfliegenden Zeichen. Hoch hinaus, in das Blau des Himmels mit der untergehenden Sonne. Absoluter Stillstand.

Alle Menschen, die dieses Schauspiel beobachten, blicken hoch und nach einiger Zeit sieht man die formvollendete Formation der Zeichen am wolkenlosen Himmel:

Friede

steht da. In allen Sprachen der Welt. Für eine Stunde in der Zeitzone von Washington D.C. Stille. Kein Angriff, keine Aggression, kein Befehl, kein böses Wort, kein Straßenlärm, keine Musik, nichts. Nur Friede, als Botschaft an den Himmel gepinselt.

Mark öffnet die Augen.

„Das war nur ein Traum!“, denkt er, steht auf und geht ans Fenster seines Hotelzimmers. Reges Treiben auf den Straßen, der übliche Lärm. Er streicht sich durch das zerzauste Haar und über die Bartstoppeln, schüttelt den Kopf und geht ins Badezimmer. Plötzlich läutet das Haustelefon auf dem Schreibtisch, Mark nimmt den Hörer ab … und – da liegt ein kleiner, goldener Schlüssel auf dem dunklen Holz des Tisches und eine Frauenstimme am Telefon sagt:

„Mr. Lewis? Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, wartet hier in der Lobby auf Sie.“

Manuela Murauer
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Erstveröffentlichung beim Schreiblust-Verlag
(Der Text erhielt den 2. Preis beim Monatswettbewerb im April 2018
zum Thema "Das Experiment")

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Die Fährte

Sie saß auf der Bank vor dem Haus, lehnte sich an die Holzvertäfelung und schloss die Augen. Die Morgensonne wärmte ihr Gesicht. Die Tasse Kaffee hielt sie mit beiden Händen umschlungen, wie sie es jeden Morgen machte.  Es war Samstag und ihr Mann war auf Geschäftsreise. Wieder einmal, wie so oft, war sie alleine. Nur der Anwesenheit des Hundes, der neben ihr in der Wiese lag, war es zu verdanken, dass sie sich nicht einsam fühlte. „Er wird an deiner Seite sein, wenn ich unterwegs bin“, meinte er damals, als er mit dem kleinen Welpen im Arm in der Tür stand. Sie hatte Freude an dem Hund, vom ersten Tag an. Doch der Ehemann war nun immer öfter für Tage unterwegs.

Der Ruf des jungen Mäusebussards im angrenzenden Wald ließ sie aufhorchen. Sie hob die rechte Hand und beschattete ihre Augen. „Was will er uns wohl mitteilen, Hank?!“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zum Hund. Dieser hob den Kopf, den er vorher auf seine Vorderpfoten abgelegt hatte, und spitzte die Ohren.

Hank erhob sich und trabte Richtung Waldrand. Sein dunkelbraunes Fell glänzte in der Sonne, seine Bewegungen waren elegant, beinahe katzenhaft. „Hank, bleib hier! Du sollst nicht alleine in den Wald!“, rief sie ihm hinterher. Doch Hank war nicht beeindruckt. Dies war völlig untypisch für den normalerweise sehr folgsamen Hund. Sie erhob sich von der Bank, stellte die Kaffeetasse ab, pfiff auf zwei Fingern und wartete. Nichts.

Plötzlich nahm sie es wahr. Der Wald, die Stimmung, das Licht - alles war anders an diesem Morgen. Obwohl ein lauer Wind wehte, rührten sich die Blätter der Laubbäume nicht. Alles schien erstarrt, der Wald lag ruhig vor ihr, der Mäusebussard war verstummt und der Hund verschwunden. Die zarte Frühlingssonne tauchte alles in samtig gelbes Licht, die Umgebung schien von einer hauchdünnen Seidendecke eingehüllt. „Wie die Ruhe vor dem Sturm“, dachte sie.
„Hank!“, rief sie – doch sogar ihre Stimme schien von dem Licht verschluckt zu werden.

Sie holte den Mantel vom Haken in der Garderobe, schloss die Tür ab und ging in den Wald. Ihre Schritte auf dem Schotterweg waren kaum zu hören, als ob sie mit Schalldämpfern an den Schuhen unterwegs wäre. Sie folgte dem üblichen Weg, den sie sonst gerne mit dem Hund spazierte. Irgendwo musste er doch zu finden sein? An der Weggabelung angelangt, blieb sie stehen und schaute in beide Richtungen. „Hank?“ Es war nun kein Rufen mehr, eher ein fragendes Flüstern. Und dann sah sie ihn! Die Rute des Hundes war noch zu erkennen in der Ferne, als er um eine Baumgruppe bog. Er trabte den Hügel hoch, der in ein ziemliches Dickicht führen würde.

Ihre Schritte wurden schneller, ihr Herz pochte und nun wurde sie nervös. Sie kannte ihren Hund nicht mehr, er war die ganzen Jahre noch nie weggelaufen. Der Aufstieg erwies sich als sehr mühsam, der Waldboden war locker und teilweise rutschte sie weg. Manchmal musste sie sich an einem Baum hochhanteln, so steil war es. Aber nun war wenigstens der Hund nicht mehr weit von ihr entfernt. Manchmal drehte er sich um, wartete ein Weilchen und lief dann wieder voran.

Endlich war sie bei ihm angekommen. Noch nie war sie in dieser Gegend gewesen. Sie spürte einen leichten Windhauch in ihrem schweißnassen Nacken, doch auch hier war der Wald lautlos, regungslos. Sie lehnte sich an einen Baum, musste tief Luft holen und stützte sich mit den Händen auf ihren Knien ab. „Hank, was ist heute los mit dir?“ Der Hund hechelte ein wenig, sah sie an, machte dann auf den Hinterläufen kehrt und trabte einen schmalen Pfad entlang, der zu einem großen, spitzen Felsvorsprung führte. Dann blieb er abrupt stehen, verharrte, hob gleichzeitig einen Vorderlauf und winkelte diesen an. Sie dachte, er hätte wohl Wild entdeckt in der Ferne und folgte ihm langsam. Hank starrte in eine Richtung, die für sie noch nicht frei einzusehen war. Dann war ein leises Winseln von Hank zu vernehmen, nur kurz. Hank ging vier oder fünf Schritte rückwärts, zog die Rute ein und legte sich hin.

Aufmerksam folgte sie dem Pfad – dann stand er plötzlich vor ihr, etwa vier Meter höher auf dem Felsvorsprung. Ein beeindruckendes Tier. Die bernsteinfarbigen Augen fixierten sie, ihre Blicke trafen sich. Sie blieb stehen und hielt gleichzeitig den Atem an. Der Wolf hatte graubraunes Fell, einen kräftigen Nacken, er war gut genährt und strahlte Dominanz aus. Der Wind streifte über sein Fellkleid und malte Schattierungen. Sie konnte sich nicht losreißen von seinen Augen, sie schienen so klug, so allwissend und doch auch warnend. In ihren Adern pulsierte es, ihr ganzer Körper schien zu glühen. Es war keine Angst, die sie verspürte, es war eine freudige Erwartung von etwas Unbekanntem. Ganz langsam und ruhig näherte sich dem Wolf nun von der hinteren Seite ein weiteres Tier. Es war etwas kleiner und nicht ganz so imposant, aber mit ebenso wunderschönen, bernsteinfarbigen Augen. Dahinter waren nun auch drei oder vier Welpen zu sehen, ganz jung mussten sie noch sein. Es war also die Fähe, die dem Rüden neugierig folgte, jedoch respektvolle Distanz hielt.

Der Wolf fixierte sie noch eine Weile, leckte sich dann die Schnauze und wandte sich ab. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so dagestanden hatte. Es kam ihr vor, als wären es Stunden gewesen. Als sie sich zu Hank umdrehte, lag dieser immer noch unterwürfig auf dem Pfad. Sie flüsterte: „Hank, komm, wir gehen.“ Er erhob sich ruhig und ging langsamen Schrittes voraus.

Nun war das Blätterrauschen wieder zu hören, ihre Schritte waren nicht mehr gedämpft, ein helles Licht durchflutete die Bäume. Als würde der Wald nun wieder atmen.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. „Hallo mein Schatz, wo warst du bloß so lange? Ich hab dich schon ein paar Mal am Handy angerufen. Du hast es daheim liegen lassen!“ Ihr Mann drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich konnte schon das frühere Flugzeug nehmen. Na, ist das eine freudige Überraschung?“ Er half ihr aus dem Mantel und genau in diesem Moment nahm ihre Nase Witterung auf! Wie ein Blitz durchdrang dieses fremde Parfum ihre Riechsinneszellen. Er ließ den Mantel fallen und wich zurück. Sie stand imposant vor ihm, mit gekräuseltem Nasenrücken, bebenden Nasenflügeln und bernsteinfarbene Augen starrten ihn durchdringend an.

Manuela Murauer
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