Ganz bewusst und voller Lebensfreude begab sie sich in den Sog. In den Sog des Konsums, ausgerichtet, um zu gefallen. Gerne nahm sie in Kauf, Dinge nicht mehr um ihrer Schönheit willen zu betrachten, sondern nur noch zu bewerten, ob sie zum jeweiligen Mainstream passten. Berauschend fand sie die Einkaufstouren, bei denen es nur darum ging, Markenartikel, die gerade angesagt waren, zu erwerben, ohne Rücksicht auf Gefallen, nur der Preis bestimmte den Wert. Sie liebte es, am nächsten Tag im Büro zu erscheinen und beiläufig das Gespräch auf die zurzeit herrschende Moderichtung zu lenken. Welch ein Genuss für sie anzumerken, dass ihre Raulederstilettos 499 Euro gekostet hatten. So nebenbei flocht sie noch ein, das Gucci wieder einmal unverschämt seine Preise erhöht hatte.
Die größte Befreiung brachte es ihr, Kolleginnen, von denen sie wusste, dass sie äußerst preiswert einkauften, zu fragen: „Wo hast du denn dieses tolle Stück erworben?“ Wenn diese dann verlegen um eine ausweichende Antwort bemüht waren, fühlte sie sich gut. Allein für das Empfinden dieser Überlegenheit wäre sie bereit gewesen, den doppelten Betrag für ihre Designerkleidung zu bezahlen. Diese bedeutete für sie Macht und auch deren angenehme Begleiterscheinung, die da wäre, erniedrigen zu können. Sehr oft ergötzte sie sich am Abend daran, die Geschehnisse an sich vorüberziehen zu lassen und sich dabei an die verschämten Reaktionen ihrer Kolleginnen zu erinnern. Diese Reflektionen oder „Auszeiten“, wie sie sie nannte, trösteten sie über Beziehungen, die sie verloren hatte, hinweg.
Immer wenn ihr ein One-Night-Stand-Lover vorwarf, eine leblose Hülle zu sein, erwiderte sie: „Im Gegenteil, ich lebe für meine Hüllen.“ Sie hatte gelernt, ihre Gefühle gleich zu handhaben wie die Mode. Was gerade en vogue war, wurde zugelassen, alles andere entsorgt. Darin hatte sie Übung, denn schließlich musste sie mindestens viermal im Jahr ihre Kleiderschränke durchforsten und das nicht mehr Passende wegwerfen.
Diese Regeln hielt sie auch bei der Auswahl ihrer Liebhaber ein. War in einer Saison ein Drei-Tage-Bart-Träger schick, konnte solcher bei ihr landen. Ein gepflegt Rasierter, hätte er auch noch so gut ausgesehen, wäre aus diesem Grunde chancenlos gewesen.
Nur einmal hatte es einer geschafft, diese ihre heiligen Prinzipien zu unterwandern. Als sie ihn gesehen hatte, machte sich in ihr ein Gefühl breit, das sie schon lange geglaubt hatte, besiegt zu haben. Weder seine Kleidung noch sein Aussehen waren es, das sie angezogen hatte, sondern seine Ausstrahlung. Gewöhnt , sich immer auf der Gewinnerstraße zu befinden, wollte sie eine Ausnahme machen und ihn so akzeptieren, wie er war. Nur, für sie unvorstellbar, blieb die Gegenreaktion aus.
Bitteres Erwachen, sich fühlen wie eine Verliererin. Eines hatte sie daraus gelernt: Weiche niemals von deinem Weg ab, es wird nicht belohnt, sondern du wirst verhöhnt werden.
Nach diesem Abenteuer blieb sie ihrem Weltbild treu. Sie steigerte es noch zur Perfektion. Als sie erfuhr, dass ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt waren, beherrschte nicht Trauer ihre Gedanken, sondern nur die eine Frage: „Was trage ich zum Begräbnis?“ Sie entschied sich für das kleine Schwarze von Prada, ihren Kopf schmückte eine ausgefallene Kreation von Dior. Der integrierte Schleier des Hutes erwies sich als äußerst hilfreich, da er verbarg, was niemand sehen sollte. Im Gegenteil, er suggerierte den Trauergästen Schmerz und Tränen. Dabei genoss sie es in vollen Zügen, die neidischen Blicke, die auf sie gerichtet waren, und sie stellte sich vor, wie überschlagsmäßig der Preis ihres Outfits errechnet wurde. Sie wusste, dass ihre Augen bei diesem Gedanken strahlten, konnte sich jedoch dank des Schleiers in Sicherheit wiegen, dass niemand dies bemerken würde. Sie gratulierte sich zu dieser kostspieligen Investition.
Sie befand sich ab jetzt im tobenden Strudel des Taifuns.
Die Jahre gingen auch an ihr nicht spurlos vorüber. Obwohl sie einen asketischen Lebensstil pflegte, um den Model-Maßen gerecht zu werden, unterlag auch sie dem biologischen Alterungsprozess. Zu Zeiten wie diesen kein Problem. Sie konsultierte einen angesehenen Schönheitschirurgen und ließ sich ein Angebot für eine „Rundum-Verjüngung“ legen. Ein Jahr lang arbeitete sie wie besessen, um diese Summe aufzubringen. Dann war es so weit. Abgesehen von den erlittenen Schmerzen hatte es sich „straff“ ausgezahlt. Keine einzige Delle verunzierte mehr ihre Oberschenkel, der Bauch war herzeigbar, wie bei einem vierzehnjährigen Model, die Brüste wirkten jungfräulich, die Oberarme zeigten keine Spur mehr von Erschlaffung, und das Gesicht hatte seine Lebenserfahrungen vergessen, es war faltenfrei.
Diese Erkenntnis des Machbaren, des Nicht-Akzeptieren-Müssens eines vorgegebenen Ablaufes, bestärkte sie. Es bedeute einen Schritt näher zum Auge des Taifuns.
Obwohl sie Sozialkontakte bedingt durch ihr Arbeitsumfeld hatte, blieb eines aus: „Sozialkontakt mit sich selbst.“ Wenn sie am Morgen in den Spiegel blickte, war sie selbst nicht vorhanden, sondern nur ihre Abbildung der Äußerlichkeit. Wenn sie das Büro betrat, mieden sie die Kolleginnen oder hatten nur ein müdes Lächeln auf den Lippen, wenn sie sie grüßten. Niemand war mehr bereit, sich näher auf sie einzulassen, da sie es satt hatten, sich anhören zu müssen, wie viel Geld sie heute wieder an ihrem Körper trug.
Sie wurde einsam. Wozu alles zu investieren, wenn keine Rückmeldung erfolgt? Ist es das wert, morgens in den Spiegel zu sehen, dabei sich selbst nicht mehr zu erkennen, das eigene Wesen reduziert auf eine Hülle, die nur äußerlich sichtbar und innerlich nicht mehr existent? Diese dunklen Gedanken suchten sie immer öfters heim. Aus blieb das erregende Gefühl, mächtig zu sein, indem die eigene Verleugnung gelingt.
Sie wollte etwas ändern. Warum nicht sein Leben durch etwas anderes Käufliches bereichern? Ein Kind. In Katalogen hatte sie bereits gelesen, dass es die Möglichkeit gibt, auch wenn man schon älter ist, Kinder aus afrikanischen Ländern zu adoptieren. Bedingungen: Man musste verheiratet sein, einen tadellosen Lebenslauf vorweisen können und den Nachweis, für dieses Kind optimal sorgen zu können. Erster Punkt: fehlender Ehemann. Sie begab sich zu einer Partnervermittlungsagentur und schilderte dort ihr Anliegen. Zahlreiche Bewerber meldeten sich auf ihre Annonce. Anfangs war jeder von ihrem Aussehen angetan, doch nach einem kurz geführten Gespräch verabschiedeten sie sich mit einer vagen Zusage, sich wieder zu melden. Nach acht Monaten, nachdem alle diese Treffen glücklos verlaufen waren, entschied sie sich, dieses Ziel fallen zu lassen. Lieber die Einsamkeit zu riskieren als Niederlagen zuzulassen.
Sie kehrte wieder zu ihrem Anfangsprinzip zurück: Ich bin, was ich trage. Immer öfters passierte es, dass Kolleginnen sie schnitten. Alles, was über die Arbeit hinausging, wurde mit ihr nicht mehr besprochen. Sie war isoliert, der Reiz der Exklusivmarken hatte sich abgenützt. Im Gegenteil, immer öfters wurde sie damit konfrontiert, wie sie sich das leisten könne. Nur noch Neid schlug ihr entgegen. Gerüchte machten die Runde, dass sie ihr gesamtes geerbtes Vermögen in diese Äußerlichkeiten gesteckt hatte. Die Situation wurde feindselig.
Die entscheidende Wende in ihrem Leben brachte der Befund des Gynäkologen. Der Befund lautete: Gebärmutterhalskrebs im Endstadium. Die Psychotherapeutin empfahl ihr, ein Selbstbildnis zu malen. Sie stand vor der weißen Leinwand und konnte nur eines hinzufügen: „Ich – wo bist du?“
Plötzlich war ihr, als ob all das Geschehene nur dem Einen gedient hatte: ins Auge des Taifuns einzudringen.
Das hieß: „Kein Anspruch darauf, dass ich geliebt werde. Kein Anspruch mehr auf meine Äußerlichkeit. Ich verkaufe mich nicht mehr. Mein Markenartikel bin ich. Die Lebendigkeit des Lebens lebt in mir. Ich bin im Auge des Taifuns.
Spirale des Seins. Entwirrt. Gibt mich wieder preis.
Endlich angekommen.“
Irmgard Tosin & Johannes Tosin (Text)
Johannes Tosin (Bild)
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21119