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- Das Museum der Brentanos: Ankunft
- Das Museum der Brentanos: Abfahrt
- Ode an eine Ionische Insel
- Die Sonnenfinsternis vom Mittwoch, 11. August 1999, am Faaker See
- Via Amalfi
Kategorie-Archiv: Günther Androsch
Ode an eine Ionische Insel
Angesichts des attisch blauen Meers
Das Kefalonia
Die Krone der Ionischen Inseln
Umgibt
Meint man
Nach dem Genuss
Des süffigen Weins
Die antiken Götter
Verbergen sich
In den Zypressen- und Ölbaumhainen
Und haben uns
Im AugeUnd blickt nicht Odysseus selbst
Vom Enos
Auf das attische Blau
In dessen Dunst
Himmel und Meer verschmelzen?
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22092
Im Fischerdorf
Zu Füßen der Steilküste
Liegt Olhao
An den Ufern
Des AtlantiksUnd in der Nähe
Schmiegen sich römische Villen
An die Küste
Als stünde die Zeit
Seit mehr als zweitausend Jahren
Still.Unterm Augusthimmel
Peitscht die Brandung
Gegen die FelsenFür eine kurze Zeit
Trübt die Gischt
Die Sicht
Auf die Welt.
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22091
Gavdos
Ein südlicheres Eiland
Ein Eiland
Dem die Zeit entschwunden ist
Kennt Europa nichtGavdos weckt
So will ich sie nennen
Arkadische Gefühle
Wenn durch den brennend heißen Sand
Zum Strand ich stapfe
Agios Ioannis zuMystisch muten
Die Buchten an
Und wunderbar kitschig
Steigt Tag für Tag
Die Sonne über den Horizont
Und sinkt abends
Nicht minder kitschig
Hinter ihn
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22090
Folegandros
Eile?
Was ist das?
Fragst du
Die entrückt im Meer ruht
Als stiller FelsHellgrün hellblau
Leuchten die Sessel
Der Tavernen der Cafés der Bars
Hin und wieder
Räkelt eine Katze
Sich im SchattenHoch über Chora
Versinkt die Sonne
In der Ägäis
Wie für eine PostkarteHin und wieder trägt der Wind
Einen Hauch Musik her
Der zu lauschen
Sich selten lohnt
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22089
Algarve
Die Gischt
Schlägt
An deine Strände
Und stetig
Durchdringt der Fado
Alle Dinge
Selbst manches Tier
Die Menschen sowiesoAbends munden
Die Meerestiere
Zum schweren WeinUnd unter den Mandelblüten
Glaubt man sich
In einem irdischen Paradies
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22088
Alentejo
Hoffnung im Alentejo
Seinen großen Roman
Schrieb José Saramago dort
Wo die Fischer in ihren Booten
Auf einen Fang warten
Und dann und wann beißt ein Sargo
Ein BarschTróia Comperta Pinheirinho
Heißen die Strände des Alentejo
Unbarmherzig
Blenden sie das AugeNach Westen nichts als Wasser
Der Große Teich
Und dennoch gibt es
Einige Menschen
Die des Schwimmens
Unkundig sind
Mein Ozean hat Fliesen
Sagen sie
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22087
Das Museum der Brentanos: Abfahrt
Um sieben läutete der Wecker. Ich zog immer noch meinen alten analogen Wecker, den ich manuell einstellen musste, meinem Handy vor, obwohl er einen unerträglichen Ton von sich gab, der rasendes Herzklopfen verursachte. Die Körperreinigung erledigte ich auf sparsame Weise, notgedrungen. Solange es noch kühl war, wollte ich zum Hilton Molino Stucky Venice gehen. Ich ging nicht entlang der Fondamenta, sondern südlich davon, an der Rückseite des Fortuny-Gebäudes. An der östlichen Außenwand des Hilton näherte ich mich dem Haupteingang, vor dem die Boote an der Vaporetto-Station anlegten und die Gäste auf die Abfahrt warteten und die neuen anlegten. Dann wandte ich mich dem Campo Junghans zu, der wegen der früher dort angesiedelten Fabrik Arturo Junghans so heißt. Es handelte sich tatsächlich um die berühmte Uhrenfabrik.
In der Bar nahm ich wie gestern einen Espresso und zwei Brioche, setzte mich nach draußen, verfolgte das morgendliche Geschehen. Die engen Gässchen, in denen am Morgen die Müllsäcke abgeholt wurden – die Müllentsorgung schien auf Giudecca zu funktionieren, ganz anders hingegen in Rom, wo die Müllberge wuchsen –, ein Winkelwerk, brachten mich zur Vaporetto-Station Palanca, es ging hinüber nach Zattere. Eine Tafel machte auf den russischen Lyriker Joseph Brodsky aufmerksam, der in der Villa hinter der Mauer gelebt hatte. Achtzehn Jahre hatte er in Venedig verbracht. Wer blieb vor dieser Tafel stehen? Wem fiel sie auf? Brodsky starb zwar in New York, dennoch liegt sein Grab auf der Friedhofsinsel San Michele. Mir fiel ein, dass Franz Kafka in Venedig an Felice Bauer schrieb. Wo stand das Haus, in dem er abgestiegen war?
Bevor ich das Kunstmuseum Punta della Dogana besuchte, besichtigte ich die sich wie ein übergewichtiger Körper präsentierende Kathedrale Santa Maria della Salute, deren Inneres mich nicht sonderlich beeindruckte. Alles war übertrieben groß und nach meinem Geschmack überladen, ein Ausdruck barocker Gottesfurcht. Im Kunstmuseum, einer Dependance des Palazzo Grassi, stellte man unter dem Titel Accrochage Objekte, Plastiken, Collagen aus, darun-ter Objekte des österreichischen Künstlers Franz West. Ich durchschritt die großen Hallen, die das Gefühl der Verlorenheit und Unbedeutendheit angesichts der teilweise riesengroßen Aus-stellungsobjekte hervorrufen sollten, und empfand ein distanziertes Interesse an den Kunst-werken, nicht wirklich Begeisterung, geschweige Ergriffenheit oder gar Identifikation. Die Objekte schienen mir abstrakte, ohne Beteiligung von Emotionen entworfene Gebilde zu sein, Konstrukte, bei deren Entstehen CAD oder Maschinen oder Roboter im Spiel hätten sein können.
Ist der Mensch bereits abgelöst worden als alleiniger Schöpfer, als Hervorbringer künstlerischer, auch intellektueller Leistungen? Selbstverständlich, lange schon. Man denke nur an Schachcomputer. Die Besucher gingen still durch die Ausstellung, hin und wieder hörte man ein Räuspern, die geflüsterte Unterhaltung von Paaren zur gegenseitigen Erklärung des Gesehenen, die Schritte der Aufseher und der Besucher. Obwohl nicht religiös bedingt, ähnelte die Atmosphäre in der Tat jener in der nahen Santa Maria della Salute, abgesehen von der dortigen Dunkelheit und der geringeren Zahl an Besuchern hier. Stille, Schweigen, stumme Fragen. Informativ war der Besuch der Ausstellung allemal. Es zog mich – die Ausstellung hatte mich überfordert, vor allem hinsichtlich meiner Haltung zu gegenwärtigen künstlerischen Strömungen – nach Giudecca zurück.
Mein Bruder würde mich wohl einen hoffnungslos Konservativen nennen, wenn nicht einen Banausen, einen, der in seiner Kunstbetrachtung hilflos auf seinem Stand von vor dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahren verharrt. Die Impressionisten, Gauguin und die klassische Moderne, das war’s, dann bist du stehen geblieben, würde er sagen. Ich stieg ins nächste Vaporetto nach Palanca, und da es erst später Vormittag war, fand ich sogar Platz in einem der Restaurants an den Fondamenta, aß eine Portion Spaghetti Carbonara und schämte mich nicht mehr. Ein Mittagsschläfchen im alten Bett der Brentanos mit dem hohen Kopfteil aus dunklem Holz, mit dem ebensolchen Fußteil, im kühlen, verdunkelten Zimmer. Vorher gegen Insekten eincremen. Einige Gedichte Rilkes schob ich ein, bevor ich nachmittags wieder losziehen wollte.
Ein Steg verbindet Giudecca südwestlich des Hilton mit der kleinen Insel Sacca Fisola. Man hatte dort uniforme Sozialwohnungen gebaut. Wohnblöcke in eher dunklen Farben, moosgrün, die zum Teil aussahen, als wären sie vom Schimmel oder von Flechten, von Algen und von Feuchtigkeit befallen. Ich sah kaum Menschen. Alleine ging ich zwischen den monotonen Quadern, und ich fühlte mich unwohl dabei, genierte mich, die vom lebendigen Giudecca getrennte Ghettosiedlung neugierig, mit dem Fotoapparat in der Hand, den ich fleißig benützte, zu durchwandern. Ich kam mir vor wie in einem postkommunistischen Land, inmitten einer rasch herausgestampften Siedlung aus Plattenbauten, die man wie Neuland, wie ein exotisches Territorium besichtigte, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. Die Häuser hier ähnelten jenen in ihrem großenteils vernachlässigten Zustand sehr.
Nur selten begegnete ich einem Bewohner, der eine oder die andere Jugendliche streunte aus Langeweile herum, eine Zigarette in der einen, eine Dose Bier oder einen Energydrink in der anderen Hand, das Handy in der Gesäßtasche. Von der Vaporetto-Anlegestelle kam manchmal eine Person und strebte ihrer Wohnung zu. Ein Einkaufszentrum fiel mir nicht auf, dafür ein, zwei kleinere Geschäfte, eine Trafik. Vom Canale della Giudecca drangen Signale der Schiffe in allen möglichen Tonlagen und Lautstärken her, laut, wie es mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Möglicherweise trug der Wind zu einer akustischen Verstärkung bei. Die Siedlung deprimierte mich. So interessant sie in sozialer Hinsicht war, als deutlicher Gegenentwurf zum historischen, klerikalen, imperialen Venedig, stellte sie einen realistischen Ausschnitt eines Areals dar, das der offenbar ärmeren Bevölkerung zugedacht war. Sie war gewissermaßen ein Kontrapunkt zur prunkvollen Welt der Kunst, der Kirchen, zu historischen Orten, Museen, Palästen, überfüllten Lokalen, Restaurants und staunenden, oft wohlhabenden Besuchermassen.
Zurück auf den Fondamenta hoffte ich, dass eine Pizza, dass ein Glas Rotwein meine Melancholie vertreiben und nicht verstärken würden. Einen Versuch war es wert. Vor Il Redentore fand ich einen angenehmen Platz, etwas zurückgesetzt von den Fondamenta. Es gab dort gerade keine Pizzas, weil der Ofen defekt war. Ich nahm Frutti di Mare, köstlich. Keine Spaghetti diesmal, obwohl ich das Stadium des Schämens überwunden hatte. Es dauerte etwas, dann fühlte ich mich wohler, und der rote Wein schmeckte fruchtig und warm. Ich spürte die wunderbar befreiende Wirkung des Alkohols und Zuversicht in mir aufsteigen. Im Westen, wie ein Fanal, zogen dunkle Wolken auf. Zunächst beachteten wir alle sie kaum, aber dann ging es schnell: Eine schwarze Wolkenwand baute sich in rasendem Tempo auf, der Wind wurde innerhalb von Augenblicken stärker, schwoll ebenso rasch zum Sturm an, erste Regentropfen wandelten sich in Sekunden zum Regenguss, zum Wolkenbruch.
Wir, die Gäste, das Personal und Leute von der Straße, stürzten ins Restaurant. Ich bezahlte, wartete lange Minuten, dann fasste ich mir ein Herz und rannte unter Blitz und Donner zum Museum der Brentanos. Nach mehreren zitternden Versuchen konnte ich endlich die Haustür aufsperren. Ich war völlig durchnässt. In der Wohnung brach mir der Schweiß aus, mein Herz schlug heftig, ich atmete stoßweise. Nachdem ich mich beruhigt hatte, nahm ich eine Rinnsaldusche, begleitet von heftigem Donnern und Blitzen draußen. Die Fensterläden schloss ich immer, bevor ich die Wohnung verließ, deshalb hatte der Wind, hatte der Wolkenbruch nichts anrichten können. In der Wohnung entstand ein Gefühl der Heimeligkeit und des Geschütztseins, und die schummrige Beleuchtung, die trotz des Unwetters durchhielt, verstärkte es sogar. Einige Rilke-Gedichte, dennoch schlechter Schlaf.
Ich schreckte auf. Der unsanfte Wecker! Der Tag des Abschieds war gekommen, ich musste nach Hause zurück. Nach einer Katzenwäsche verstaute ich die letzten Dinge im Trolley, ließ ihn in der Wohnung, um ein Abschiedsfrühstück am Campo Junghans einzunehmen. Der behinderte Mann hinter dem Tresen und einige Männer parlierten lautstark vor dem großformatigen Fernseher, in dem ein Fußballspiel lief, und das am frühen Morgen, offenbar eine Aufzeichnung. Zwischendurch sangen die Männer, wahrscheinlich so etwas wie Schlachtgesänge oder Vereinshymnen. Ich mochte diese morgendliche Ruhe am Campo Junghans, die von den Fans drinnen kaum gestört wurde, in die sich die paar leisen Jogger, die Leute mit Hunden harmonisch einfügten. Die Reflexionen des Wassers eines schmalen Kanals bildeten sich auf der Unterseite einer nahen Brücke ab, tanzende helle Flecken auf Stein. Ein Mann fegte die Brücke und die Stiegen sauber, ging dann in die umliegenden Gassen und fegte weiter. Draußen auf der Lagune hörte ich Motorengeräusche, von den ersten Fähren, von Fischerbooten auf morgendlichem Fang.
Die Beschaulichkeit des frühen Morgens wich mehr und mehr Geschäftigkeit, Leute gingen zur Arbeit, Touristen kamen und gingen mit rollenden Trolleys. Jogger mischten sich darunter, immer wieder Menschen mit ihren Hunden. Aus dem Lokal drangen nach wie vor der überlaute Kommentar des Reporters und die Stimmen jener Männer, die dem Fußballspiel folgten und diskutierten und sangen. Ich ging vor zum südlichen Rand der Insel und schaute auf die Lagune, vor mir eine im Dunst liegende kleinere Insel. „Wo liegt Punta Sabbioni?“, fragte ich mich und war mir der Richtung einigermaßen sicher. Von dort hatte mein erster Besuch Venedigs seinen Ausgang genommen, da mochte ich vielleicht zehn, elf Jahre alt gewesen sein. Wir standen damals auf der Fähre und sahen bald den Campanile als markantes Wahrzeichen, zunächst schemenhaft, dann größer und größer und klarer werdend.
Das damalige Bild hatte ich noch vor mir: Venedig, das ich bis dahin nur von Bildbänden, Fotos und Gemäldereproduktionen gekannt hatte, lag zunächst in der Ferne, der Campanile dann deutlich erkennbar, je mehr wir uns näherten, schließlich kamen der Dogenpalast, die Markuskirche, Santa Maria della Salute ins Blickfeld. Und dann war ich das erste Mal in Venedig, und alles an und in dieser Stadt war und ist immer wieder wunderbar und zum Staunen und überwältigend. Eine Stadt der Sehnsucht nach ihr.
Es wurde Zeit aufzubrechen. Ich ging zurück zu den Fondamenta, holte mein Gepäck aus dem Museum der Brentanos, gab die Schlüssel in der Bar zurück und fuhr mit dem Vaporetto zum Parkhaus. Ich wandte mich Giudecca zu und hatte das ganze Panorama vor mir. Es lag zum Abschied malerisch im hellen Sommerlicht. Keine Spur mehr vom gestrigen Unwetter.
Unversehrt stand mein Auto auf seinem Platz. Kein Kratzer, nichts, sogar die Tauben hatten sich zurückgehalten. Das Bezahlen am Automaten, das Verstauen des Gepäcks, das Einsteigen, das Starten und schließlich die Ausfahrt und das Entfernen von Venedig auf der Straße nach Mestre war stetig begleitet vom Bedauern, dieser so nahen und doch so exotischen, dieser vertrauten und doch fremden Stadt und dem Museum der Brentanos den Rücken kehren zu müssen.
Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20105
Das Museum der Brentanos: Ankunft
Einer der beiden Schlüssel sperrte die Haustür, und ich betrat eine kleine Eingangshalle. Dunkelheit empfing mich. Eine Stufe führte nach links in ein enges finsteres Stiegenhaus. Ich fand endlich den Schalter für die Beleuchtung, die den Namen jedoch kaum verdiente. Ein trübes, schwaches Licht ging an. Das Haus schien mir in den Fünfzigerjahren adaptiert und renoviert worden zu sein. Die Eingangstüre, der Steinboden im Eingangsbereich, Holzkassetten an den Wänden. Es gab einen Lift, einen Mini-Lift, ich wählte aber die steile Wendeltreppe in den zweiten Stock, um mir vorzumachen, ich bewege mich ausreichend. Deshalb nahm ich zwei Stufen auf einmal. Ohne Atemnot erreichte ich den zweiten Stock. Brentano stand an der Wohnungstür.
Von Bekannten hatte ich erfahren: Professor Robert Brentano, ein Spezialist für mittelalterliches Englisch und italienische Geschichte und Professor an der University of California, Berkeley, hatte hier eine Zeit lang die Sommer verbracht. Eines seiner Bücher, Zwei Kirchen: England und Italien im dreizehnten Jahrhundert, gewann 1968 den „John Gilmary Shea“-Preis und die Haskins-Medaille. Er, 1926 geboren, hatte die Wohnung auf Giudecca erworben. Die brentanosche Wohnung war völlig unbewohnt – der Professor war schon lange tot, 2002 war er gestorben, und von seiner Familie und seinen Nachkommen schien niemand mehr Interesse an ihr zu haben –, durfte ich mich für ein paar Tage einmieten. Der zweite Schlüssel sperrte die Wohnungstür.
Als ich eintrat, empfingen mich ein abgestandener Geruch und Dunkelheit, aber nicht der Eindruck der Leere, vielmehr der Eindruck einer vollständig eingerichteten Wohnung, deren Bewohner überstürzt aufgebrochen waren und alles, so wie es war, zurückgelassen hatten. Oder vielleicht waren sie nur kurz weg, gingen Besorgungen nach und würden gleich zurückkommen und vor mir, dem Eindringling, über den man sie nicht verständigt hatte, erschrecken und mich brüsk hinauskomplimentieren. Verlassenheit empfing mich und eine Kulisse außerhalb der Zeit, die in mir, dem fremden Besucher, eine historisierende Faszination hervorrief.
In jedem Zimmer schaltete ich die Beleuchtung ein, weil die Fensterläden geschlossen waren. Die meisten kleinen Zimmerfenster gingen in dunkle Schächte hinaus, die kaum Tageslicht hereinließen, nur die Wohnzimmerfenster, ebenso klein und erhöht, schauten zum Canale della Giudecca hinaus. Ich öffnete die Fensterläden. Zerbröckelnde Insektenschutzgitter konnten ihrer Aufgabe kaum gerecht werden. Gegenüber, jenseits des Canale della Giudecca, fiel mir die Kirche Santa Maria della Visitazione auf, deren graue Fassade an einen griechischen Tempel erinnerte. Im Nordosten ragte die Kuppel von Santa Maria della Salute über die Dächer, und dahinter der Campanile auf der Piazza San Marco.
Die Wohnung, das bemerkte ich nach dem Blick in mehrere Zimmer, war vollständig möbliert, die Regale voll mit Büchern, Kleidungsstücke hingen über Sessel, lagen über Lehnen, hingen in den Kästen. Über der Lehne des Schreibtischsessels hing eine Weste, auf die der Professor bei kühlerer Temperatur zurückgegriffen hatte. Hätten mir die Kleidungsstücke gepasst und hätte ich nicht auf den Zeitgeschmack und den Geruch der Vergangenheit geachtet, sie wären mir zur Verfügung gestanden. Gerahmte Fotos standen auf Tischen, Kästen und Schränken.
Der Schreibtisch in dem Zimmer, wo das Bett für mich stand, machte den Eindruck – wieder kam diese Vorstellung in mir hoch –, als wäre Professor Brentano – der dieses Bett wohl benutzt hatte – nur kurz hinausgegangen, um in einer Bar einzukehren, einzukaufen oder sich Zigaretten zu holen. Würde er mich der Wohnung verweisen, wenn er mich in seinem Arbeitszimmer antraf, oder würde er meiner Erklärung Glauben schenken, man hatte mir diese Übernachtungsmöglichkeit nach bestem Wissen und Gewissen ausnahmsweise angeboten? Ich konnte es ihm erklären, wie es dazu gekommen war.
Kugelschreiber, für die nächsten Aufzeichnungen bereit, in Wirklichkeit trocken und deshalb unbrauchbar, lagen auf der Schreibfläche, Notizzettel, einige beschrieben, einige blank. Bücher standen in einem Wandregal gleich über dem Schreibtisch: eine Geschichte Venedigs, ein Kunstführer, englisch-italienische Wörterbücher, lateinische Texte, zahlreiche weitere Bücher, die ich mit Ehrfurcht und Achtung betrachtete. Das eine oder andere nahm ich behutsam zur Hand, Staub löste sich. Ich blätterte darin, roch daran. Wie fast immer ließ der Geruch von Büchern in mir ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Zufriedenheit entstehen.
Ich hatte beinahe das Gefühl, ich tat etwas Verbotenes, so als schnüffelte ich in fremden Dingen, als störte ich eine fremde Intimität, indem ich die Abwesenheit des Inhabers ausnützte. Der Staub auf den Büchern verflüchtigte sich durch die Entnahme aus dem Regal und durch vorsichtiges Wegblasen. Die Erscheinungsjahre zeugten von einer vergangenen Zeit, einer Zeit, in der ich selber noch jung war: die späten Siebziger-, frühen Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.
Da entdeckte ich auf dem Schreibtisch, etwas nach hinten geschoben, ein Kaleidoskop. Staub bedeckte das Rohr, das mit bunten Mustern verziert war. Ich blies ihn vorsichtig weg, um nicht in eine Staubwolke eingehüllt zu werden. Es war halb so wild, ich bekam keinen Nies- oder Erstickungsanfall. Mit einem Papiertaschentuch brachte ich das Kaleidoskop zum Glänzen. Ich blickte durch das Kaleidoskop in Richtung Fenster, dessen Läden ich geöffnet hatte, und war plötzlich wieder ein Kind, vielleicht zehn Jahre, vielleicht etwas älter, und ich fragte mich, ob ich überhaupt erwachsen war.
Ich drehte am beweglichen Teil, und vor mir erstanden verschiedenste symmetrische Muster, Sterne in allen möglichen Farben – rote, grüne, blaue, gelbe, lila Glassteinchen –, ebenso Kreise, Rosetten, Ringe, sphärische Gebilde, Fraktalen ähnlich. Die Spiegelungen zauberten Muster in nahezu vollkommener Symmetrie vor meine Augen. Ich war fasziniert. Und diese Muster lebten, änderten sich mit jeder Drehung, bildeten Mischfarben, schienen selber Freude an ihren Metamorphosen zu haben, die jeder statischen Langweiligkeit entgegenstanden.
Professor Brentano schien wie ich von Zeit zu Zeit mit kindlichem Gemüt gesegnet gewesen zu sein, jedenfalls was Kaleidoskope betraf. Das bestätigte sich, indem ich auf dem Schreibtisch einen Bausatz für ein Kaleidoskop entdeckte. Die Verpackung war aufgebrochen, und ich leerte sie auf dem Schreibtisch aus. Offenbar war das funktionierende Kaleidoskop, durch das ich geschaut hatte, ein gekauftes Fabrikat. Das andere hätte der Professor wohl gerne zusammengebaut.
Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und das Kaleidoskop nach der Bauanleitung gebastelt. Die Anleitung war zwar italienisch, doch gestand ich mir in einem Zustand der Selbstüberschätzung so viel Geschicklichkeit zu, den Zusammenbau zu schaffen, und ein paar Brocken Italienisch konnte ich auch. Außerdem zeigten Zeichnungen, wie man vorzugehen hatte. Die Gegenstände, die ich auf dem Schreibtisch sah, verführten mich, mich hinzusetzen, mitten am helllichten Sommertag, und zu beginnen: ein Bogen fester Karton im DIN-A4-Format, ein Bogen Pergamentpapier, eine Klarsichtfolie, eine selbstklebende Spiegelfolie, bunte Perlen oder Schmucksteinchen, Lineal und Bleistift, Cutter und Schneideunterlage, Papierschere und Nagelschere, Klebefilm.
Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20104
Im Alsergrund
Anfang Oktober ist es, mehr noch, es ist genau der erste, und ich komme endlich ins Hotel. So gegen halb sechs Uhr abends muss es sein. Ich fahre vom Schottentor eine Station mit der Straßenbahn die Währinger Straße stadtauswärts, dann gehe ich ein Stück im Regen, mit einer Mappe unter dem Arm, auf die vom Schirm das Wasser tropft. Aber die Mappe ist dicht, es dringt kein Wasser hinein. Der Stockschirm ist grün, es ist einer vom Spar, und obwohl er mich im Zug, in der Straßenbahn, in der U-Bahn stört, bin ich froh, ihn mitgenommen zu haben, so sehr schüttet es. Die Straßen glänzen, auf den Gehsteigen und Fahrbahnen spiegeln sich die Lichter, die der Autos, die der Straßenbeleuchtung, die der Geschäfte, impressionistisch zergehen sie im Flüssigkeitsfilm und in den Pfützen. Der Regen lässt mich eine seltsame Geborgenheit fühlen, und es scheint mir, als weinte er über die verlorene Jugend der mächtigen alten Stadthäuser.
In der Währinger Straße, direkt gegenüber den Physikalischen Instituten der Universität Wien, liegt mein Hotel. Mein Gepäck habe ich schon am Morgen abgegeben, weil ich früh angekommen bin und dafür Zeit gehabt habe. Es ist ein Haus aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oder Ende 19. Jahrhundert. Oder Anfang 20., das ist ziemlich dasselbe, und weit fehle ich nicht, bin ich mir sicher. Ich hole meine hellbraune Reisetasche, die mich schon während meiner Interrail-Reisen begleitet hat und die ich an der Rezeption habe stehen lassen dürfen. Der Lift in den 4. Stock braucht ewig, ich bekomme beinahe Angst, er würde überhaupt nicht stehen bleiben, sondern mit mir ein Experiment zur Relativitätstheorie, zur Gravitation etwa, durchführen, mit stetig wachsender Geschwindigkeit über das Dach hinaus rasen, immerhin sind die Physikalischen Institute nur ein paar Meter entfernt. Aber da hält er doch. Verwinkelt orientiere ich mich an den Zimmernummern an den Wänden, ein Pfeil dahin, ein Pfeil dorthin. Schließlich stehe ich vor meinem Zimmer. Nummer 400. Statt einer Magnetkarte gibt es einen Schlüssel, schwer liegt er in meiner Hand. Ein sympathischer Zug einer stehengebliebenen Zeit.
Eigentlich betrete ich eine Wohnung, kein bloßes Hotelzimmer: eine enge Diele, von der es zur Toilette geht, eine Garderobe, ein Bad, ein großes Zimmer mit drei Betten, ein Wohnzimmer fast, hoch oben über der Währinger Straße. Ein winziger Röhrenfernseher steht auf dem dunklen Schreibtisch, an dem man sitzen muss, um das Bild zu erkennen. Vom Bett aus geht da nichts. Höchstens mit einem Opernglas. Im Vorraum, in der Garderobe steht ein alter knarrender Kasten, mit Kunststofffolie ausgelegt, die mit Röschen verziert ist. Hemden und Unterwäsche lege ich hinein. Vorher vergewissere ich mich, dass kein Staub auf den Folien liegt. Es scheint sauber zu sein. Keine Motten oder sonstiges Getier.
Ich telefoniere mit meinem Handy mit Wolfram. Es handelt sich um einen Rückruf, den ich kurzhalten will, doch geht das bei Wolfram kaum, er hört nicht zu reden auf, selbst wenn es um nichts geht. Irgendwie schaffe ich den Ausstieg, ohne unhöflich zu sein. Er hat mir das Gasthaus „Wickerl“ zum Abendessen empfohlen, unten in der Porzellangasse. Ich werde danach Ausschau halten. Hungrig bin ich, wir haben während der Besprechung tagsüber zwar ausreichend Brötchen bekommen, kleine Häppchen, aber keine warme Mahlzeit. Ich packe die Reisetasche aus, lege die Dinge aufs Bett, auf den Tisch, auf die Couch, einen Teil, der dort hingehört, ins Bad. Die Schuhe lasse ich an, ebenso das Sakko. Der Schirm ist in der Diele aufgespannt und gibt knisternde Geräusche von sich. Die Reisetasche ist jetzt leer. Morgen in der Früh kommt alles wieder hinein, was jetzt irgendwo im Zimmer liegt. Wenn ich zurückkomme, werden die Dinge geordnet, selbst wenn es nur für ein paar Stunden ist. Jetzt habe ich keine Lust dazu. So gehört es sich für einen Pedanten, würden einige meiner Bekannten sagen, nämlich dass er peinlich Ordnung hält. Naja. Ich nenne mich positiv ordnungsliebend.
Ich entspanne den Schirm, gehe hinaus, sperre die Tür von außen ab, hole den Lift, steige ein, nachdem er endlich gekommen ist, drücke die Taste fürs Erdgeschoß, und er fährt tatsächlich nach unten. So lange kommt es mir jetzt nicht vor, die Schwerkraft hilft mit, wenigstens dem Gefühl nach. Eine scharfe Analyse eines Physikers im Angesicht der Physikalischen Institute. Ich gehe an der Rezeption vorbei, die ein paar Stufen hinauf rechterhand liegt. Draußen bimmelt die Straßenbahn, die Autos verspritzen das Regenwasser der Pfützen, die Leute jonglieren sich mit ihren Schirmen über die Gehsteige, ich atme vor dem Hotel die kühle, vom Regen feuchte Luft, die erfrischend zum Gehen hinunter in den Alsergrund ermuntert. Die Ampel schaltet auf Grün, nachdem ich gewartet habe und die Autos in ziemlichem Tempo vorbeigerast sind und bei Rot abrupt gebremst haben. Ihren Spritzern habe ich entgehen können. Am Anfang der Boltzmanngasse gibt es ein Gasthaus, das geschlossen ist, also weiter, entlang den Physikalischen Instituten und dann nach rechts in das letzte Stück der Strudlhofgasse. Rechts steht die schöne Villa, in der früher die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika war und links sehe ich eine Tafel, die auf den Schauspieler Raoul Aslan hinweist, der in diesem Haus gewohnt hat.
Und dann ist sie wieder vor mir, wie schon ein paar Mal, wenn ich in Wien war und in der Nähe nächtigte, früher oft an der Ecke Alserstraße/Lange Gasse, und ihr nahe sein wollte: die Strudlhofstiege. Vor Jahren habe ich Doderers Roman gelesen, er hat einen schwarzen Einband, ich habe ihn von meinem Vater geschenkt oder nach seinem frühen Tod bekommen, ich weiß es nicht mehr. Oben ist ein Spruch auf die Mauer gesprüht: „Balkone strahlen vor Scheinfreiheit“. Ich gehe hinunter, kann mich nicht recht entscheiden, nehme ich die Kehre nach links oder nach rechts, ich gehe quasi planlos, einmal so, einmal so. Die Stiege ist beleuchtet, klar, die Sturz-, Belästigungs- und Rutschgefahr ist nicht ohne. Ein Mädchen kommt mir entgegen, es vermeidet meinem Blick zu begegnen.
Dann bin ich unten, überquere die Liechtensteinstraße, biege in die Fürstengasse ein, die am Palais Liechtenstein entlangführt. Schließlich habe ich die Porzellangasse erreicht, durch die der D-Wagen nach Nussdorf fährt und bimmelt und die leuchtet und im Regen glänzt. Märchenhaft. Die Pfützen reflektieren die Lichter, und diese glänzende Nässe, die Regelmäßigkeit des Regens, die Sicherheit im kleinen privaten Revier unter dem Schirm schaffen eine abendliche Melancholie, eine anregende Melancholie, die nicht belastend ist, im Gegenteil, sie trifft die angenehm heimelige Stimmung im Alsergrund. Fast fühle ich mich hier zu Hause.
Ich habe Hunger und halte Ausschau nach dem Gasthaus „Wickerl“. Es zeigt sich mir nicht. Da fällt mir ein: Vor Jahrzehnten, als ich in Wien an der Nationalbibliothek zu tun hatte, kam ich oft in die Porzellangasse. Gleich in der Nähe ist die Seegasse mit dem ältesten jüdischen Friedhof in Wien, glaube ich. Und die Berggasse, in der Sigmund Freund wohnte und praktizierte, ist auch nicht weit. Ich besuchte damals Tom, der an der Universität Wien ein Doppelstudium belegte, Informatik und Recht. Beides schloss er ab. Er wohnte im „Porzellaneum“, dem Heim des Studentenheimvereins der Wiener Universität. Wir spielten im Garten des Heimes Schach, und wenn es kalt war oder regnete, spielten wir im Gasthaus „D’Landsknecht“. Ich weiß nicht mehr, wo es liegt, aber weit, wo ich vor dem Porzellaneum stehe, kann es nicht sein. Ich halte Ausschau. Zunächst erwische ich die falsche Richtung, eh klar, daher nehme ich die andere, und da ist es schon, das „D’Landsknecht“. Bäuerliches Ambiente, warme Atmosphäre. Schirm zuklappen, Platz suchen, im Nichtraucherbereich, wenn möglich. Dunkles Holz. Ein Tisch am Fenster ist frei, ich sehe draußen den grauvioletten Ton der Dämmerung und höre den Regen. Die Kellnerin bringt mir die Speisekarte und fragt mich nach meinem Getränkewunsch. Nein, kein Alkohol, nicht schon wieder Kopfweh. Also kein Bier, kein Wein, ein Fruchtsaft mit Leitungswasser. Sie trägt ein weiß-blaues Dirndl, kess, hat kleine Zöpfchen, ein bisschen lolitahaft wirkt sie. Ein Surschnitzel wird es, vorher eine Suppe, das Abendmenü. Hinter mir sitzt eine Altherrenrunde, der Schmäh rennt. Heiterkeit, Gelächter.
Ich rufe meinen Bruder an, der mir ein Angebot für ein neues Auto per eMail geschickt hat. Nein, er ist kein Autohändler, aber er hat eine gute Hand für Autos, überhaupt für alles Technische, er ist ein wirklicher Ingenieur, im Gegensatz zu mir. Ich bin bloß ein Papieringenieur. Studenten sind nicht allzu viele hier, vielleicht ist es zu früh am Abend, die werden später das Lokal noch füllen.
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, und die Lichter und ihre Reflexionen auf den regennassen Flächen haben an Intensität gewonnen. Die deftige Portion vertilge ich mühelos, wieder eine gute Tat für mein wachsendes Bäuchlein. Ich überlege, ein Schnäpschen zu nehmen, unterlasse es aber. Ich will keine Kopfschmerzen provozieren, die sich bei mir nach jedem kleinen Schluck Alkohol melden. Oft auch ohne Alkohol. Also zahlen, bitte! Und das Dirndl kommt nach einigem Warten.
Auf der Porzellangasse klatscht der Regen auf. Mein Schirm vermittelt mir wieder einen kleinen Bereich individueller Beschütztheit, es ist nahezu romantisch darunter. Jedenfalls fühle ich Geborgenheit, eine gleichmäßige Geborgenheit im Rhythmus des Regens. In einem Zielpunkt kaufe ich mir eine Flasche Mineralwasser, falls ich in der Nacht Durst bekomme. Das Fließwasser im Hotel, ich traue ihm nicht. Nach der Fürstengasse überquere ich die Liechtensteinstraße, und dann sehe ich die Strudlhofstiege wieder vor mir, hell beleuchtet. Heute gefällt sie mir gar nicht so sehr, die Fillgrader Stiege, die von der Gumpendorfer Straße hinauf zur Mariahilfer Straße führt, ist dagegen ein architektonisches Meisterwerk. Aber durch Doderer gewinnt die Strudlhofstiege an inneren Werten. Und das ist doch das Wichtigere gegenüber äußeren Merkmalen. Ich steige bergan und sehe oben wieder den aufgesprühten oder aufgemalten Text „Balkone strahlen vor Scheinfreiheit“. Dann wird es dunkel in der Strudlhofgasse, die kräftige Beleuchtung ist vorbei. Ich biege links in die Boltzmanngasse ein, gehe entlang dem Physikgebäude, links sind die Häuser niedrig und lassen mich an das alte Wien, die Pest, den lieben Augustin, den Gevatter Tod, die Sagen aus der Residenz- und Kaiserstadt Wien denken.
Im Hotel muss ich wieder auf den Lift warten, er ist besetzt. Endlich kommt der langsame Herr, öffnet ebenso langsam, fährt langsam an und fährt und fährt. Kurze Orientierung. Da ist mein Zimmer, Nummer 400. Ich sperre mit dem schweren Schlüssel auf.
Gegenüber sind einige Räume der Physikalischen Institute beleuchtet, wahrscheinlich manche die ganze Nacht durch. Es laufen wohl Experimente und Versuchsreihen, die überwacht werden müssen, möglicherweise auch von Menschen, nicht nur von Computern. Hin und wieder schaue ich hinüber. Einige Fenster werden dunkel, einige bleiben hell. Die Straße glänzt. Die Autos sind weniger geworden, ich höre ihr Fahrgeräusch auf der nassen Fahrbahn, die nach wie vor vom Regen benetzt wird. Und in meinem Altwiener Hotelzimmer denke ich an Hernals, an die Pezzlgasse, das Gasthaus „Liebstöckl“, an die Höhnegasse. Sie alle sind weit weg vom Alsergrund und doch in einem verbindenden Kreis der Stadt. Irgendwie ist alles gegenwärtig für mich, obwohl es die damit verbundenen Personen physisch nicht mehr gibt, außer meiner Tante, der älteren Schwester meines Vaters, die demnächst ihren neunzigsten Geburtstag feiert. Ich ziehe die Vorhänge zu, schalte den winzigen Fernsehapparat ein und schaue mir ein Spiel der Champions League aus dem Bett an. Wie Zwerge fuseln die Spieler über den Bildschirm.
Meine Augen brennen. Bald schlafe ich ein, beim Geräusch des Regens, das durch die Vorhänge dringt, beim zeitweiligen Hupen der Autos.
Günther Androsch
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