Kategorie-Archiv: Bernhard Hatmanstorfer
Ruinenruin
Am Beginn des Fuß- und Radweges parallel zur Rohrbacher Bundesstraße mahnt eine Hinweistafel alle Fußgänger, sich links zu halten, also dicht neben der stark frequentierten Fahrbahn zu verbleiben. Wegen des Steinschlags aus den Klüften der Urfahrwänd, der, obzwar durch die alljährlichen Felsräumungen, durch aufwendige Armierungen, Fangnetze, Stahlanker und Betoninjektionen im Zaum gehalten, eben nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Hier, entlang einer vollständig abgebrochenen Ortschaft, rauscht weniger die Donau als vielmehr der Verkehr vorbei. Zwar gibt es auch einen inoffiziellen Steig, der dem Flussufer folgt, aber der gilt als Parcours der Hundeführer.
Einem schnappigen Köter oder seinem nicht minder bissigen Halter auf handtuchbreiter Fläche auszuweichen, lässt sich nicht immer mit der gebotenen Eleganz vollführen. Wenngleich sich eine Pumpgun im Lärmschatten von Bahntrasse und vierspuriger Bundesstraße wahrscheinlich weniger auffällig abfeuern ließe als unter der Zeugenschaft unzähliger vorbeifahrender Automobilisten. Aber es ist ja so: Man erschießt ja nicht nur den Pitbull und früher oder später kommt man wirklich in die Bredouille und weil man sich vielleicht nicht auf Notwehr ausreden kann, fasst man bei bisheriger Unbescholtenheit trotzdem einige Jahre Gefängnis aus, die man zusammen mit diversen Stumpfköpfen in Stein oder Graz-Karlau verbringt und damit der Gesellschaft der verlorenen Seelen ein weiteres Mitglied hinzuaddiert. Und Doris Day kriegt man ebenfalls nicht als Bewährungshelferin zugeteilt.
Man bleibt also auf dem Streifen Asphalt neben der Rohrbacher Bundesstraße, der man aber natürlich nicht bis Rohrbach, sondern nur bis Puchenau zu folgen beabsichtigt. Gekommen war man durch die Ottensheimer Straße, war mit einer Mischung aus schwermütiger Erinnerung und schwelendem Groll durch dieses Quartier gestapft, das ironischerweise immer noch Alt-Urfahr heißt, gleichwohl die wirklich alte Bausubstanz bald nur noch an der Hand eines Sägewerksarbeiters abzuzählen sein wird. Den Rest des lieblichen Ensembles bilden entkernte Gebäude mit konservierten Blendfassaden und der schlichte Barock der Neureichen – diese Allerweltshochstapelei phantasielos konzipierter Wohneinheiten mit obligatorischem Planschbecken im Vorgarten.
Natürlich will man es nicht darauf anlegen, von einem zufällig herabkollernden Stein erschlagen zu werden, in Quasi-Adaptierung des Ödön von Horváth-Abgangs enden, dem bekanntlich ein herabfallender Platanenast auf den Champs-Élysées das Lebenslicht ausblies. Aber andererseits muss man auf die Radfahrer achtgeben, von denen man nicht weiß, ob sie auf einen achtgeben. Der typische Neurastheniker am Velo ist ja bekanntlich von eher schlichter Anwandlung: nach oben buckeln, nach unten treten – und das mit einer bewundernswerten Unablässigkeit, die selbst die Einsicht in die Notwendigkeit elementarer Verkehrsregeln nicht zu bremsen vermag. Am allerlustigsten sind Kinder unterwegs, wenn sie, im Herumeiern Schwung nehmend, ihren Altvorderen fröhlich krähend in die Parade fahren. Aber sie tragen wenigstens Helm und radeln allfälligem Felsgeriesel immer schon voraus.
Man blickt also ab und zu in die Wand, bzw. die Felswände und -vorsprünge hoch, sucht das Relief des verwitternden Granits nach Auffälligkeiten ab, von denen man aber natürlich nicht weiß, wie sie auszusehen hätten. Überhängende Steinbrocken, die anmuten, als würden sie sich kaum wahrnehmbar im Luftzug wiegen, als Gefahrenquelle ausnehmen kann jeder, der auch nur halbwegs seinen Augen traut. Man blickt aber auch regelmäßig den Weg zurück, um allenfalls aufschließende Radfahrer rechtzeitig zu gewärtigen.
Man hat einen Blick für das Gesträuch in Sepia, das filzig und dornenreich die Flanken der Abhänge hochkriecht und sich im Vorfrühling noch nicht sattgrün wie zur Hochzeit der Vegetation zeigt. Man hält im Unterholz des ausgewiesenen Naturschutzgebietes nach den letzten Ruinen der devastierten Ortschaft Ausschau, die man vor Jahren noch gesehen glaubte. Reste einer gemauerten Vorhausfläche, Ansätze eines Kellerabgangs, aufgehendes Mauerwerk. Das „Gasthaus zur Schiffmühle“ kann man nicht mehr lokalisieren. Den Aufgang in den Urfahrer Königsweg ebenso wenig.
Gegenüber, am jenseitigen Ufer der Donau, zeigt sich die pittoreske Kirchenlandschaft von St. Margarethen. Mit der einzigen Einsiedelei in Landeshauptstadtnähe, die bedauerlicherweise von keinem schrulligen Schratt mehr unterhalten wird. Klar, wenn der Kirche schon die Priester ausgehen, werden auch die gottesfürchtigen Selbstgeißler nicht Schlange stehen, sich um eine schimmelige Bleibe in einem Kabäuschen in grottiger Einschicht zu raufen.
Weil die Bäume noch kahl sind wie jene Weihnachtstannen, die, wenn sie nicht längst verheizt oder gehäckselt wurden, sich spätestens ab Maria Lichtmess im Wohnzimmer als armseliges Staudengerippe präsentieren, sieht man die Umrisse der sogenannten Rosenburg auf der benachbarten Anhöhe ganz gut durch einen struppigen Wald durchscheinen. Die Phantasiefestung des Edward Schiller, die diesen nicht glücklich machte, allenfalls die Kinder, die zum Lampionfest pilgerten, das die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten einst hier veranstaltete.
Man dackelt weiter und gewinnt schließlich den Puchenauer Ortsteil Anschlussmauer. Der Name verweist freilich nicht darauf, dass im 1938er Jahr zu viele Landsleute dem Anschluss die Mauer gemacht haben, vielleicht sogar die gleichen, die sich dann 1945 als erste Opfer verstanden, sondern auf die sogenannte Anschlussmauer als Teil des Bollwerks der Maximilianischen Befestigungsanlage. Und die war genau hundert Jahre früher entstanden, nie wirklich zum Schuss gekommen und kaum einmal zwanzig Jahre als militärische Anlage in Betrieb gewesen, ehe man sie aufgab.
Die Häuser von Anschlussmauer sind in die Leite einer der Ausläufer der Flanken des Pöstlingberges gebaut und etwas lärmgeschützt dank einer Wand, die die Sicht auf die Bundesstraße verbarrikadiert. Das erinnert einen an jene vereinsamte Alte, die, in Waldegg an einer Straßenführung parallel zur Westbahnstrecke wohnend, damit drohte sich umzubringen, falls die hochgezogenen Lärmschutzwände ihr die Sicht auf die rangierenden Züge nehmen würden.
Man weiß nicht, was aus ihr wurde. Die zwei Stockwerke hohen Hürden stehen jedenfalls und wurden schon bald nach ihrer Errichtung innerseits der Gleisanlagen mit dem Schriftzug „Shamsir“ an verschiedenen Stellen verunziert, was vielleicht auf den gleichnamigen persischen Säbel verweisen soll und wohl ein Signet des islamischen Wahnsinns darstellt.
Das Ensemble der Überreste des sogenannten Linzer Lagers wurde nie unter Schutz gestellt, wie es die ausgewiesene Kunsthistorikerin Renate Wagner-Rieger bereits in den 1960er Jahren gefordert hatte. Vielmehrt wurde seither den Relikten beim Zerbröseln zugesehen, sowie da und dort auch noch ein bisschen nachgeholfen. Dass 1975 die linke Klause Kunigunde – sämtliche Bauten unterstanden dem Patrozinium weiblicher Heiliger – geschliffen wurde, war der Notwendigkeit geschuldet, dem stetig wachsenden Verkehrsaufkommen durch Ausbau der Bundesstraße Rechnung zu tragen. Somit also Folge eines Sachzwangs. Dennoch ist es schade um den Anschlussturm, der zuletzt als Wohngebäude in „verkehrsgünstiger Lage“, wie es im Immobilienmaklereuphemismus heißt, gedient hatte: auf einer Insel zwischen Bahngleis und Autopiste.
Jetzt steht man am Waldsaum vor einem überwachsenen Felsblock, der eine für das Mühlviertel typische Verwitterungsform aufzuweisen scheint: Steinlagen wie geschlichtete Tortenböden. Nach genauerem Hinsehen erkennt man das bloßgelegte Mauerwerk aus ineinander gepackten Bruchsteinen, den Rest jener hangwärts führenden Anschlussmauer, die sich hier mit der Klause verband, allein einen Fuhrwerksdurchlass offenlassend, der im Bedarfsfall massiv verbarrikadiert werden konnte.
Man überlegt, weiter nach Puchenau hineinzugehen, in diesen Ort ohne Zentrum, in dem Roland Rainer seine Idee der Gartenstadt in die Realität umsetzen konnte, sich gewissermaßen als Harry Glück des verdichteten Flachbaus verwirklichte, weniger als austriakischer Ebenezer Howard auf potenziellem Überschwemmungsgelände. Beschließt dann aber den Hang hoch durch den Wald zu stapfen, was einen gleich keuchen macht und einem den Ratschlag seines praktischen Arztes in Erinnerung ruft, man könne doch das eine oder andere Bier von mehreren am Abend des Vortags getrunkenen ebenso gut auch nicht trinken. Allerdings, der Springinsfeld ist man ohnehin nicht mehr und Bier reinigt bekanntlich die Nieren und überhaupt: Was sind schon fünf Bier, wenn man zehn eh nicht getrunken hat?
Durchs Laub schlurfend, wühlt man eine mutmaßliche Granatenkartusche oder Büchsenkartätsche aus der Humusdecke und will die Sache gleich gar nicht näher in Augenschein oder gar mit nach Hause nehmen, um sie, in den Schraubstock eingezwängt, experimentell anzubohren. Wie es jener Jugendliche mit seinem brisanten Fundgut gemacht haben musste, ehe der mitsamt Elternhaus in die Luft flog. Natürlich könnte man den Entminungsdienst alarmieren und den Spezialisten, die sich von nervenaufreibender Fliegerbombenentschärfung erholen, den Sonntag damit ruinieren, dass man sie zur Bergung eines, wie sich dann herausstellt, leicht angerosteten, uralten Sodawassersiphons rief.
Stattdessen setzt man die Besteigung des mit lichtem Mischwald bewachsenen Berghangs fort, wähnt auf dieser wilden Passage unweigerlich, weil logischerweise, auf jenen Wanderweg treffen zu müssen, der von der Schießstättenstraße als Kreuzweg abgeht und im Wald schließlich als Turmstraße an Ruinen der Maximilianischen Befestigungsanlage vorbeiführt. Kommt aber plötzlich vor einem Jägerzaun zum Stehen, der ein Areal mit Jungbäumen einhegt, um sie solcherart vor Wildverbiss zu bewahren. Den Jägerzaun im schwierigen Gelände zu umgehen wird insofern zur Herausforderung, als von unterbrochener Waldarbeit loses Geäst herumliegt, zu Scheiterrundlingen portionierte Stämme des Aufgelesenwerdens harren und das Erdreich zudem durch Ziehen und Rücken der Hölzer mit dem Sappel so aufgewühlt wurde als wären die Eber durchmarschiert.
Man legt eine kurze Rast ein, sondiert die Lage, rekognosziert das Terrain, wie man früher im Militärsprech zu sagen pflegte und lenkt seine Schritte dann traversiere zum Hang. Damit weicht man einerseits dem Jägerzaun aus, hält andererseits auf die Anschlussmauer zu, die sich als unübersehbare Barriere vom Ort herauf in sturgerader Linie durch den Wald zieht.
Man erschreckt zwei Rehe, die zunächst auf die Mauer zuschießen, sich aber noch rechtzeitig abwenden, ehe sie an ihr zerschellen. Unter erregtem Ohrenspiel, was eine gewisse Empörung kundzutun scheint, traben sie aus dem Sichtfeld hangabwärts.
Die Anschlussmauer zeigt sich als ein mit dem Felsmaterial der Gegend versehenes Bloßsteinmauerwerk, dem ein Bewuchs aus Stauden und struppigen Baumkrüppeln aufsitzt. Ihre geschätzten drei Meter Höhe mit herangeführten Leitern zu überklettern, wäre jetzt keine Schwierigkeit und vor hundertsechzig Jahren wahrscheinlich auch keine gewesen, wenn sich das Gelände damals so präsentiert hätte wie heute. Aber zu Zeiten des Biedermeiers gab es hier keinen Wald und man hätte sich unweigerlich ins Schussfeld der im Schartenstock der Edelburga-Warte auf Posten befindlichen Füsiliere begeben. Selbst Geschosse abgefeuert aus Steinschlossgewehren können einem das weitere Vorgehen ganz schön verhageln.
Die Anschlussmauer endet mit einem absurden rechteckigen Durchguck knapp über Kopfhöhe an der Außenmauer der ehemaligen Warte, einer Bastion über halbkreisförmigem Grundriss. Am Mauerfuß sammelt sich Ziegelbruch von den Fensterlaibungen. Man streift am leicht nach innen geneigten Gemäuerhalbrund entlang, trifft jetzt nach einigen Schritten tatsächlich auf einen Weg und steht gleich darauf am ehemaligen Einlass in den Wehrbau. Massive Türangeln finden sich dort in den Stein gefügt. Auf solche Weise verankert, dass es unmöglich bleibt sie herauszuziehen, auch wenn eine sich in lockerer Haltung vermeintlich zu lösen scheint. Das deutet darauf hin, dass sie nicht eingestemmt, sondern vielmehr beim Versehen der Steinmauer in die vorbereiteten Ausnehmungen einer Lage eingelegt und verkeilt worden sind.
Setzt man mit kühnem Schwung durch das Portal, stürzt man unweigerlich in eine Grube, die sich an der Stelle auftut, wo schon vor langem eine Zwischendecke eingebrochen ist. Den Bau eines armierten militärischen Beobachtungsstandes als eine Anordnung von Fallgruben zu denken wie die Theaterbühne von Alfred Jarry, daraus in Gestalt einer einzigen Person im Bedarfsfall die gesamte polnische Armee entsteigt, wäre denn doch etwas hirnrissig. Um in das Innere der Warte zu gelangen, ohne ein Fall für die Bergrettung zu werden, klettert man eben durch eine der Fensterhöhlen und landet im ehemaligen Magazinstock auf dem Schutt eingestürzter Gewölbe. Die Anmutung des Ruineninneren hat weniger etwas Beklemmendes als vielmehr etwas Beklagenswertes: Warum musste der funktionslos gewordene Massivbau auch so verkommen? Als man vom Verdeck das provisorisch gedachte Holzdach abnahm, um es zu Ofenscheitern zu zerkleinern, wurde die darüber aufgebrachte Erdschicht, die ursprünglich als Splitterschutz fungiert hatte, zur Humusdecke für die mit dem Wind verbrachten Pflanzensamen. Man möchte sich ausmalen, die hier und in den anderen Türmen stationierten Kanoniere hätten in Friedenszeiten auf abgedunkelter Erde Champignons gezüchtet, wie weiland der Spitzweg’sche Vorposten, der Socken strickte – mit nicht aus der Ruhe zu bringender Raffinesse. Den verschiedenen Wetterbedingungen im Jahreszeitenwechsel ausgesetzt, konnte es aber nur eine Frage der Zeit sein, bis das Mauerwerk anfing, Schaden zu nehmen. Von der Kehre oberhalb der Warte betrachtet, sitzt dieser regelrecht ein Wäldchen auf. Eine Wald-in-Wald-Idylle? Eine pittoreske Szene mit Ablaufdatum jedenfalls.
Während man darüber nachdenkt und sich versonnen endlich wieder nach dem Weg wendet, fährt man unversehens einer Läuferin in die Parade, die mit aufgesetztem Kopfhörer in hochfahrender Gazelleneleganz die ehemalige Turmstraße heruntergesportelt kommt. Das Malheur ist natürlich nicht damit aus der Welt, dass man sich entschuldigt, dabei peinlich darauf bedacht, nicht das von sich zu geben, was man sich eigentlich denkt. Sie fängt sich, eben so wie man sich fängt, schlingt ihren Kopfhörer um den Hals, daraus irgendetwas Unzumutbares greint, das nur Menschen für Musik halten können, deren Gehörschaden irgendwo zwischen Thalamus und primärer Hörrinde zu lokalisieren wäre. Der Austausch von Unfreundlichkeiten unterbleibt trotzdem. Man einigt sich darauf, dass, wenn schon nichts anderes, so doch der Frühling bald kommt. Dann nimmt sie das Laufen wieder auf und man sieht ihrem flatternden Haar noch eine Weile nach und glaubt, es seien die Korinther gewesen, die den Spartanerinnen nachsagten, sie hätten alle einen Vogel. Aber vielleicht brachten die Ersteren das nur deswegen auf, weil sie bei Zweiteren so gar kein Leiberl hatten.
Wenig später steht man vor dem Turmruinenrund des Turms 15, Luitgarde, der, im Gegensatz zur Warte, nicht in den Hang, sondern auf verebnetes Gelände gesetzt worden war. Es umfangen ihn noch der Graben und jenes Erdwerk, das man das Glacis nannte, sodass sich die Anlage gegen die gedachte Angriffslinie als ein in seine unmittelbare Umgebung eingebetteter Kegelstumpf präsentierte. In unseren Tagen betritt man durch den aufgerissenen Eingang an der sogenannten Kehle einen großen, hohlen Gugelhupf, der dadurch entstanden ist, dass von drei konzentrischen Rundgängen nur noch der äußere erhalten geblieben ist, die Balkendecken der inneren längst den Weg allen Irdischen gegangen sind. Wahrscheinlich wurde nach dem Verkauf der einzelnen Bastionen der Sache des Verfalls auch hier etwas nachgeholfen. Deckenholz ließ sich, zugeschnitten, als gut getrocknete Feuernahrung in jeden Ofen schieben.
Im Zentrum des Gugelhupfs erklimmt man einen vermeintlichen Schutthügel, den die Feuerstelle einstiger Lagerfeuerromantik, selchig müffelnde Asche und einiges Dosenblech krönt. Dort pflanzt man sich auf und betrachtet im Rundblick einen mit Baumbesatz überzogenen Mauerkranz. Die sich nach und nach durch die Backsteintonnengewölbe arbeitenden Wurzeltriebe werden letztlich der Ruinen Ruin sein, sinniert man und bedauert, dass der Eigentümer, Stift Wilhering, nicht auslichten lässt.
Der zentrale Schutthügel inmitten der Turmruine ist gar keiner, sondern der innerste Raum, in dem entweder ein Brunnenschacht abgeteuft war wie im Leondinger Turm 9 oder im Heilhamer Turm 24, oder Sprengmittel eingelagert wurden. Ein von klafterdickem Mauerwerk umschlossener Zylinder mit Backsteinkuppel.
Man fragt sich, ob man hier über dem vermuteten Zutritt einmal die Schaufel ansetzen sollte, um ins Innerste vorzudringen und – ja, auf was wohl zu stoßen? Auf Graffiti, die gelangweilte Sappeure Anno Tobak in den gebrannten Ton der Ziegel geritzt haben?
Für heute hat man keinen Klappspaten dabei und so macht man sich weiter auf der preisgegebenen Turmstraße, der das Pflaster geraubt worden ist, das nirgendwo mehr vollständig, sondern nur noch an bestimmten Stellen aufliegt. Man weicht vom Weg ab, um nach der Ruine der Batterie Thekla zu sehen, welche zusammen mit jener namens Klara einen niemals errichteten Turm 17 in den abschüssigen Lagen des Pöstlingberges ersetzen half. Man streicht vorbei an den trostlosen Überresten des Seraphina-Turms 16 und tritt vom Wald heraus auf eine Wiese, in der jener Felsenkopf zu vermuten ist, der gesprengt worden war, um den Geschützen der in der Nähe befindlichen Bastionen kein natürliches Hindernis innerhalb der Bestreichungsradien zu belassen. Bei dem Manöver zerbröselte der Felsen in weitum streuende, rasiermesserscharfe Splitter, die der Überlieferung nach einer Marketenderin das Leben kosteten. Noch vor einigen Jahren konnte man die Splitter von der Hochfläche der markanten Erhebung auflesen. Jetzt findet sich eine Grasnarbe als Decke darüber geschlagen.
So nahe am Berg, der eine Basilika in der Nachfolge eines an einen Baum genagelten Gnadenbilds trägt, weiß man nichts anderes mit sich anfangen, als ins Wirtshaus zu gehen. Dort isst und trinkt man unter Leuten, die es auch nicht anders betreiben. Später wird man dann entlang der Hohen Straße, die auch noch Hansbergstraße heißt, nach Linz zurückgehen.
Man wird keine der zur Übung gewordenen Sonntagsbesuche mehr machen. Man wird daheimbleiben, in Büchern lesen und abends das Radio anmachen. So erfährt man, dass noch am gleichen Tag die Rohrbacher Straße auf behördliche Anordnung gesperrt wurde. Es gingen Steine aus der Urfahrwänd auf die Fahrbahn ab.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 15045
Alois in Ordnung?
Tiburtius hat heute Namenstag. Woher ich das weiß? Steht im Kalender. Morgen ist Waltmann fällig. Steht auch im Kalender. Namen gibt es… Etwa Dankwart oder Eustachius. Schraubt sich einem bei ersterem der Geruch von Autopolitur und Benzin in die Nase, spürt man bei Nennung des zweiten irgendwas Spitziges in den Ohren stochern. Zinelda klingt nach Tschinellentusch oder nach dem Klang von geworfenen Münzen auf einen Zinnteller und Plutonia nach der Aufforderung, umgehend die Schutzräume aufzusuchen. Petronilla wartet bestimmt Presslufthämmer in einer Firma, die sich auf Betoninstandsetzungsarbeiten spezialisiert hat, Winnie ist keine gewinnende, sondern vielmehr eine windige Type und Korbinian fristet sein armseliges Dasein wahrscheinlich als Korbflechter in Oberammergau, dem er nur anlässlich der Passionsspiele in seiner Rolle als Reservechristus alle zehn Jahre entkommt. Antwortet man einem Sixtus immer mit „ja“ oder „nein“ oder mit der Gegenfrage: „Was denn?“ Was kann man einem Tiburtius zuschreiben? Dass er mit Tuberkel eher nichts zu schaffen hat? Dass er sich stattdessen mit Burzn beschäftigt? Zunge im Mundwinkel, angestrengt Kernhäuser mit schrundigem Klingenstumpf aus Obsthälften fitzelt? Und ein Waltmann schreibt natürlich Gedichte, Schmachtlyrik, durchsetzt von Seufzern und peinlichen Geständnissen. Oder waltet als Angestellter eines aufgeblähten Verwaltungsapparates seines Amtes. Die Walpurga denkt man sich nicht auf einem Besenstiel durch Gewitterwolkenschwaden reiten, sondern im Brustharnisch hinterm Wall aus Stampflehm und Stauden eine Burg hüten. Kasimir ist, wie könnte es anders sein, eines Katers Name. (Oder es benennt ein Arachnophiler seine handzahme Tarantel so.) Frowin muss ein unerschütterlich Frohsinniger sein, den es nach zwei Dezennien regelmäßigen Lottospielens noch immer nicht verdrießt, dass er niemals auch nur einen Cent gewonnen hat. Wolfhelm trägt die Gedächtnisfrisur, die zu ihm passt: als säße ihm, wie weiland jenem russischen Kürassier Opratschojew vor Petrowskoje eine Haube aus räudigem Pelz auf. Ein Trudpert neigt in Gesellschaft zu Impertinenz und ist nirgendwo gerngesehener Gast. Schon in der Schule galt er als Petze und bezog Dresche. Medardus macht auf Nusshändler. Das Zeug verkauft er en gros. Darunter Cashew-, Erd-, Para- und Kokosnüsse. Selber kaut er gern die Betelnuss. Davon werden ihm die Zähne gelb, aber das stört ihn nicht weiters und vor allem nicht beim Hören der disharmonischen Sinfonien von Wallingford Riegger. Bei Diethild mochten sich ihre Eltern nicht zwischen Dietlinde und Hildegund entscheiden und losten schließlich einen Kompromiss. Ihre Freundinnen, wenn sie nicht gerade „die da“ sagen, nennen sie hinter ihrem Rücken „Pummelchen“. Bernulf hat Germanistik inskribiert, in der Hoffnung, das würde ihn irgendwie inspirieren. Dabei versteht er sich eigentlich auf das Provenzalische und wähnt sich als Gemütsverwandter des Panurg aus der Rabelais-Dichtung „Gargantua und Pantagruel“. Was seine langjährige Freundin angeht, weiß er nicht, ob er sie heiraten soll oder doch lieber nicht. Weil ein Schwerhöriger einer Mutter Jostabeeren als Justabeeren verkaufte, muss ihre Tochter jetzt Justa heißen. Ihre Bekannten ziehen sie mitunter mit der einleitenden Wendung „just a …“ auf. Daraufhin pflegt sie ihre Miene wie nach dem Verzehr von Sauerkirschen zu verziehen. Eusebius wollte eigentlich professioneller Illusionist werden, also Wirtschaftsberater, wischt aber gegenwärtig im Verband einer Putzkolonne bloß Böden. Nachdem Winfriede von mehreren Seiten bescheinigt wurde, sie hätte ein gewinnendes Wesen, geht sie ins Spielcasino – und verliert. Hyazinth ist, passenderweise, Florist. Es plagt ihn allerdings eine Blütenstauballergie. Gorgonius hat zwar nicht das Antlitz der Gorgo geschaut, wirkt aber trotzdem immer ziemlich derangiert. Vielleicht sollte er den Grog, so unausgeschlafen am Morgen, doch lieber lassen. Melitta kürzt ihren Namen stets auf Mel ab, um sich Anspielungen zu ersparen, die mit Flecken am Kleid und Kaffeefilterpapier zu tun haben. Man könnte meinen, Krispin wäre ein Krispindl. Weit gefehlt, er glich bereits als Hosenmatz einem Elefantenbaby. Hermelindis ist mit einem Kürschner verbandelt, der unter anderem auch Zobel verscheuert. Die Geschäfte gehen eher flau. Da verfolgt sie die Idee, mit ausrangierten Pelzmänteln alte Stühle neu zu bespannen und sattelt um auf Polsterei. Torben, heißt es, sei gestorben. Branko wird nach ein paar Slibowitz immer andienlich-amikal und patscht einem seine Pranke auf die wenig belastbare linke Schulter, was einen einsinken lässt, aber ihn damit auch nicht sympathischer macht. Malwida könnte mal wieder nach Riga reisen, sagt sie sich, vermag sich aber nicht einmal dazu aufraffen, Stollberg zu verlassen, um ihre Tante in Berlinchen zu besuchen. Ulfried könnte auch anders heißen. Zum Beispiel Wignand. Irmtrud gilt als Trotzkopf. Wilma mit der was unternehmen, sollte man sich vorher überlegen was. Seifried erklärt sich namensetymologisch wohl als Friedbert, der auf der Seife steht. Kistenwart möchte man auch nicht heißen. Stanislaus musste ja Kammerjäger werden, zum Kammersänger fehlt ihm die Stimme. Ein Theobald hat es nicht eilig, der ist von eher eingebremstem Phlegma. Was Wunder, dass kein Theobald jemals irgendeine Rekordzeit gelaufen ist, und sei es unter Schnecken, die man auf Isomatten nagelt, und es auch in Zukunft nicht fertigbringen wird. Kilian gibt mit seinen guten Beziehungen an, gilt aber allen als Schnösel, der wenig anderes drauf hat als Larmoyanz, wenn man ihn auf seinem Gebiet der Unfähigkeit überführt. Bringfriede versteht ihren Namen durchaus als Auftrag, so kurz nachdem sie sich von Kunibert und dessen fixen Faxen trennte und stellt sich als Mediatorin beruflich neu auf. Also Tatausgleich und andere Verfahrensweisen zur einvernehmlichen Sedierung chronisch Streitsüchtiger und ihrer Opfer. Anselm arbeitet hauptsächlich über Amseln. Er ist in seiner Familie der erste Ornithologe, der einen Artikel in der britischen Fachzeitschrift Bird Study unterbringen kann. Darin verbreitet er sich über das Einemsen. Almuth nimmt im Schwimmbad allen Mut zusammen und hüpft von der höchsten Plattform des Sprungturms in das Becken. Sigismund entstellt nicht nur eine Zahnspange, die irgendwie dem Beißkorb eines American Football-Spielers ähnelt. Er erwägt auch, seine Hakennase chirurgisch zu korrigieren, erkennt aber anhand der Gesichter von Bernward und Britney Spears, dass das auch schiefgehen kann. Damian ist gar nicht der Dummian, für den ihn viele halten. Den Einfältigen zu markieren ist nur Pose, andere sagen: Chose. Es gelingt ihm recht überzeugend, seine Belastbarkeit hinter einer Fassade aus Faulheit und Widersetzlichkeit zu verbergen. Cordelio kann sich seinen Vornamen auch nicht erklären und tippt auf „Schreibfehler“. Seine Stiefmutter vermutet, er rühre von seiner echten Mutter Vorliebe für eine bestimmte italienische Eissorte. Eulalia könnte der euphemistische Name für eine Geschützbatterie sein und natürlich möchte man mit der keinen Streit anzetteln. Wer lässt sich schon gern, erst halb aus dem Bett, wenngleich auch nur verbal, auf nüchternem Magen niederkartätschen? Herr Zacharias heißt der Oberkellner im Café an der Esplanade und der ist voll auf Zack, bringt dir dein Pils an den Tisch, noch bevor du dich überhaupt gesetzt und es bestellt hast. (Was zwangsläufig darauf hindeutet, dass er dich verwechselt.) Gangolf war früher Unruhfabrikant, also als Zulieferbetrieb eines jurassischen Uhrenherstellers selbständig, ist aber jetzt nur noch mit der Verbesserung seines Handicaps beschäftigt. Nein, Engelmar sieht keine schwebenden Leintuchgestalten vor seinen Augen wandeln, nach dem Aufschrauben des einen Fläschchens „Goldwasser“ zu viel. Aber er rudert dann beim „Ritt der Walküren“ mit schwungvollen Armbewegungen das Dirigat jenes verblichenen Maestros in seinem Diwan mit, der einst eine bestimmte Frage, seine Vergangenheit betreffend, mit einer motzigen Gedächtnislücke beantwortete. Gunilla hat eine Vorliebe für alles, was sich in die Länge zieht und man trotzdem kauen kann. Zum Beispiel Schnüre aus Lakritze. Solange Solange nur so dasteht, als könnte sie kein Wässerchen trüben, macht sie das nicht verdächtig. Aber der Schattenwurf ihres Profils verrät sie, findet ein als Sachverständiger beigezogener Scherenschnittkünstler, der ihre Pausbacken als das Depot der entwendeten Diamanten deutet. Der Rest ist für Eilhard, den Kommissar, reine Routine, also Papierkram und Kaffee aufsetzen. Richilde hat es mit dem Fliegenfischen. Zwar hat sie keinen Riecher dafür, sprich: für die Fische – was diese an ihr zu schätzen wüssten, reflektierten sie außersinnlich – aber sie schätzt die Bewegung in der freien Natur. Dolf gilt so manchem als Dolm. Intelligent tun, kann jeder, verantwortet er sich, es nicht sein, das verlangt Mut! Er saß für Jahre als Abgeordneter im Parlament. Romilda spielt am liebsten Rommee, verliert aber nicht gern. Was sie in ihren Kreisen nicht sonderlich beliebt macht. Nur zu Urte fehlen dir die Wurte.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15047
Allein mit Meret Oppenheim
Man fährt ja immer wieder nach Passau. Der Gründe sind genug. Zu nennen wären die Brauereien. Linz, eine Stadt mit vier Mal mehr Einwohnern, hat längst keine einzige mehr. Selig die Zeiten, da der Onkel meines Vaters, der mir nur einmal als sich den Bauch kratzender Teddybär im Pyjama begegnete, sein Bierkontingent, das ihm als Bediensteter der Linzer Brauerei zustand, gar nicht vertrinken konnte. In Passau finden sich heute noch zwei Brauereien – von ehemaligen vier, die mir seit jeher geläufig waren. Man kann aber auch nach Passau fahren, um, sagen wir, im Stadtgebiet zu flanieren. Auf einer Fläche von 70 Quadratkilometern – gerade einmal 25 Quadratkilometer weniger als es das Stadtgebiet von Linz bietet – finden sich genügend Möglichkeiten, sich die Beine zu vertreten und nach solcher die Gesundheit fördernder Betätigung in einem der Wirtshäuser herumzuhängen.
Man kann es freilich auch weniger profan angehen. Und den neuen Passauer Bischof Oster besuchen, der sich seit mehr als einem Jahr in Amt und Würden befindet und dem US-amerikanischen Schauspieler Scott Bakula aufs Haar gleicht, sodass man meinen könnte, er wäre es und gibt jetzt in einer bayerischen Reality-Soap den leutseligen Pontifex. Ebenso empfiehlt sich ein Gang in die Staatliche Bibliothek in der Michaeligasse, schon des klassischen Lesesaals wegen. Man kann sich sperrige Folianten zur Landesgeschichte ausheben lassen und das zuvorkommende Personal mit Fragen zur Vervielfältigung von Textstellen aus Zimelien triezen.
Von Ausflugsschiffen am Donaukai angelandete Touristen suchen bevorzugt die Ortspitze auf oder lassen sich unter dem Generalkommando von enzyklopädisch bewanderten Touren-Guides durch den Bratfischwinkel schleusen. Denen schließt man sich natürlich nicht an, man ist ja kein Touri.
Man könnte die als Erdsubstruktionen ins Gelände eingeprägten fortifikatorischen Hinterlassenschaften der Franzosenzeit, Ravelins, Redouten und Tenaillen abmarschieren, unmittelbar an der Stadt-, Landes- und Staatsgrenze jene Beerenbüsche besuchen, die im Garten eines Hauses auf österreichischem Territorium von ihrer Besitzerin jeweils nur im Freistaat geerntet werden. Mit Speläologenkollegen nach behördlicher Genehmigung in den Stollen an der Mühltalstraße einfahren oder im kreisrunden Ziegelteich in Rittsteig ein Maar wie in der Vulkaneifel vermuten. Man könnte im Stadtteil Haidenhof das allmähliche Zerbröseln der Backsteinkirche St. Peter bedauern, als Architektur-Aficionado, als der man sich versteht, oder am Spitzberg die ominöse Glasscherbenvilla des Exzentrikers Aristide Ostuzzi bestaunen.
Zu Mittag bin ich im „Goldenen Schiff“ am Unteren Sand und wähle eines der beiden Tagesmenüs. Schnuppere beim Weißbier ein wenig in Kurt Flasch‘ „Warum ich kein Christ bin“ hinein, blättere das Buch „10 Milliarden“ von Stephen Emmott durch, dessen Schlusssatz mir ziemlich reinfährt, und begutachte meinen dritten Erwerb, ein Stadtportrait von „Pilsen/Plzeň“ von Tobias Weger. Danach nehme ich in der Innstadt einen doppelten Espresso im Café des ehemaligen Stadtratskandidaten Stephan Bauer, tingle über Beiderwies vorm Severinstor über den Innsteg an den Universitätscampus und vergrabe mich für die Dauer einer Zeitschriftendurchsicht in der Bibliothek.
Das alles als Vorgeplänkel zur Hauptsache, der Meret Oppenheim-Ausstellung „Gedankenspiegel“ im Museum Moderner Kunst der Stiftung Wörlen. Picasso soll ja gesagt haben „Im Grunde gibt es nur Matisse“, um auf einen großen Solitär der Kunstgeschichte zu verweisen, den er natürlich selbst genauso verkörperte. Ein weiblicher Solitär ist meines Erachtens Meret Oppenheim. Was freilich ebenso auf Louise Bourgeois, Judy Chicago oder Kusama Yayoi zutrifft.
Vom Campus spaziere ich in die Bräugasse, schätze mich glücklich, wie ein Protagonist in einem von Binnie Kirshenbaums Romanen, von Radfahrern dabei nicht über den Haufen gefahren zu werden. An der Museumskassa bringe ich das Aufsichtspersonal mit der erklärten Absicht zum Schmunzeln, ich fände mich ein, um Frau Oppenheim zu besuchen. Damit wäre ich in Basel wohl besser aufgehoben, wird mir lachend versichert.
Geschenkt: An einem Freitagnachmittag lässt sich beschwingt komisch sein.
Um das Entree der Ausstellung zu erreichen, stapfe ich eine verwegen steile Treppe vom ersten in den zweiten Stock hinauf. Die Steilheit ist in dem alten, mit Bedacht renovierten Gebäude einer durch den inwärtigen Lichthof bedingten Raumnot geschuldet. Keine Baubehörde der Welt würde heutzutage eine solche Genickbruchstelle abnehmen. Na ja, in Islamabad vielleicht, nach Überreichung von reichlich Bakschisch an schlaksige Bartträger.
Den Lichthof ziert ein fünffeldriger Deckenspiegel, eine Art stationärer Prozessionshimmel. Das Haus bezeugt an allen Ecken und Enden, was man aus ursprünglich vier Häusern über identem Baugrund innert achthundert Jahren machen kann, wenn man die Offenlegungen der historischen Bauforschung einbezieht. In Linz hätte man mit der Abrissbirne saniert.
In den Ausstellungsräumen bin ich mit den Artefakten der Künstlerin allein. Eine unerwartete Wohltat, Kunst ohne lästige andere betrachten zu können. René Magritte in Wien, eine Horde ADS-Schüler und keine Eintrittsrückerstattung – das ist institutionelle Brutalität! Tamara de Lempicka und gelangweilte Gymnasiasten, zum Aufgabenbewältigen im Rahmen des Kunstunterrichts verdonnert – die Hölle ist ein Paradies mit blödelnden Quälgeistern.
Die Hängung der Objekte hält sich an die Chronologie ihrer Entstehung, was einen Lebensverlauf nachzeichnet, der mit seinen Unterbrüchen an Schaffenskraft auch anders gedeutet werden könnte denn als Stetigkeit absichtsloser Vollzüge. Einer der Ikonen des Surrealismus, der ominösen Pelztasse, zu begegnen erwarte ich freilich nicht. Befindet sich das Objekt doch im Museum of Modern Art in New York und wurde nie als Multiple vervielfältigt. Malewitsch‘ „Schwarzes Quadrat“ hat meines Wissens die Moskauer Tretjakow-Galerie auch nie mehr verlassen.
Meret Oppenheim hat ihrem beschwingten Objekt von 1936 vierunddreißig Jahre später eine pfiffige Devotionalie gewidmet: das „Andenken an das Pelzfrühstück“. Es erinnert in seiner Machart an ein Kitschsouvenir aus den Alpen, das meist die Ansicht eines berühmten Kuhdorfs mit getrockneten Edelweißblüten vor schneespitziger Gebirgslandschaft hinter konvexem Glas feilbietet. Beim „Andenken“ ist es ein besticktes Deckchen, das Löffel, Tasse und Stoffblüten zeigt. Die dort angebrachte Beschreibung unterschlägt allerdings den nicht unwesentlichen Hinweis, dass das Objekt einst in einer Anzahl von 120 Exemplaren aufgelegt wurde.
Die gleiche Unterlassung fällt am Objekt „Eichhörnchen“ auf. Selbiges wurde 1969 für die Galerie La Medusa in Rom in 100 Exemplaren angefertigt. Das Tierchen ist ein Bierglas mit künstlicher Schaumkrone und einem Fellschweif anstelle eines Henkels.
Dem Oppenheim-Humor begegne ich auch im „Tisch mit Krähenfüßen“, der kleinen Bronze, die aus einer Zeichnung von Giacomettis Ohr entwickelt worden ist oder im aufgeschlagenen „Schulheft“, das ursprünglich aus 1930 datiert und 1973 in Serie ging. Die „Termitenkönigin“ steht in der Tradition des Objet trouvé: Ein bemalter Auspufftopf wandelt sich zu neuer, durchaus doppelbödiger Bestimmung. Köstlich die Zeichnung „Eine entfernte Verwandte“, Bleistift und Rotstift auf Papier. Die „entfernte Verwandte“ steht hier nicht zwingend für die nähere Erläuterung einer Familienkonstellation, sondern kann auch als Resultat einer drastischen Maßnahme interpretiert werden.
Dieses vermeintlich unscheinbare, auf einem schmalen Podest drapierte Objekt ist mir neu, es erfreut mich besonders und entschädigt für die abwesende Skulptur „Genoveva“: „Wort, in giftige Buchstaben eingepackt (wird durchsichtig)“ aus 1970. Es besteht aus einer über einer nicht vorhandenen Schachtel zusammengezogenen Schnur und einem davor fixierten, gravierten Messingschild. Eine Skulptur, die eine Bedeutung behauptet, die sich ab jener Hälfte bestätigt findet, ab der man bereit ist, die vorgebliche Unernsthaftigkeit ernst zu nehmen. Das Kunstwerk evoziert eine bestimmte Betrachtungsweise, die, indem man ihr in Treu und Glauben folgt, gerade jene Hintergedanken austreibt, mit denen man es betrachtet – nämlich ihm durch Überprüfung der angeführten Beschreibung beikommen zu wollen.
Unaufwändig verpacktes Nichts, das die Ironisierung der ins Monumentale entrückten, prätentiösen Verhüllung vorwegnimmt, wie sie später von einem prominenten Verpackungskünstlerehepaar forciert werden wird.
Die Serigraphie „Mann im Nebel“ aus 1975 zeigt eine hinter Schwadenstreifen verzerrt in ausholender Bewegung konturierte Figur. An dieser und anderen Arbeiten paradiere ich vorüber in Vergegenwärtigung eines Satzes von Anselm Glück: „Die Bilder sehen die Menschen an“. Das unterschätzt man, dass das Anschauen eines Gegenstandes sich im Gegenstand selbst spiegelt, wir auch unser Anschauen betrachten, wenn wir schauen. Dass Spiegel zurückschauen könnten, ist ja ein altes Sujet menschlicher Vorstellungskraft und mit eine Erklärung, warum in manchen Kulturen reflektierende Oberflächen tabuisiert sind. Aber dass uns auch Bilder ertappen, fällt uns schon seltener auf.
Ein Bildkunstwerk nimmt sein Betrachtet-Werden immer schon vorweg. Insofern als es ein Maler darauf anlegt, dass es geschaut wird. Ein Bild, das zu keinem Zeitpunkt je gesehen würde, bräuchte nicht und könnte allenfalls nur von einem Blinden gemalt werden. Das einzige existierende geschaffene Bild der Kunstgeschichte, das in seiner Ausführung tatsächlich nicht betrachtet werden kann, ist meines Wissens eine von Robert Rauschenberg ausradierte Zeichnung Willem de Koonings, das „Erased de Kooning Drawing“ aus 1953, das im San Francisco Museum of Modern Art hängt: ein von einem Blattgoldrahmen umfangenes, im Passepartout-Karton gefasstes Blatt Papier, darauf sich allenfalls Spuren von Tinte und Kreide ausnehmen lassen. Wahrscheinlich eines der am wenigsten beachteten „Leitbilder“ der Moderne, das die Bildverweigerung inkarniert. Man kann die Rauschenberg-de Kooning-Arbeit eben nicht wie ein Bild betrachten, einen Inhalt auf sich wirken lassen, sondern hat im Bild lediglich das Ergebnis seiner Entfernung.
So müsste man, überlege ich, einmal einen Saal im Louvre gestalten, sagen wir im Sully-Flügel, wo Exponate von Ingres und Georges de la Tour zu finden sind: mit abgehangenen Bildern und nichts als den aus der Umgebung hell hervortretenden Flecken der Fehlstellen an den Wänden.
Klar, die Besucher würden ihr Eintrittsgeld zurückfordern und verlangen, den Kurator zu feuern.
Ein Raum der Oppenheim-Ausstellung ist Arbeiten von Künstlern vorbehalten, die als Hommage an die Künstlerin entstanden sind. Daniel Spoerri ließ immer wieder Brotteig aus Schuhen quellen. Das ist: Epigonentum, von wurmstichigem Backwerk überwölbt.
Ich kehre zu den Schwarzweiß-Photographien des Amerikaners Man Ray zurück. Sie zeigen die Künstlerin Meret Oppenheim – eine Person, die sich nie in ihrem Leben aufgebrezelt hat.
Erst als ich meinen Rundgang beende, findet sich eine weitere Besucherin ein. Das liegt wohl am Freitagnachmittag und daran, dass Passau eben eine Bierstadt ist.
Für mich ein Grund, im Zuge eines Spaziergangs über den Ludwigsteig und durch den Stadtteil Anger in Hacklberg einzukehren. Der Gastgarten vorm Bräu erstrahlt in wärmendem Sonnenlicht. Ich beobachte das Befüllen eines Heißluftballons mit dem charakteristischen Kronenemblem, der sich beim Lustschloss, dem sogenannten Fürstenbau hinter den hochragenden Ruinen der ehemaligen Brauerei allmählich zu seiner vollen Größe aufbläht. Vier, fünf unerschrockene Jugendliche klettern zum Steuermann in den brusthohen Korb. Dann steigt der Ballon mit einer Geschwindigkeit in die Luft, wie es den hochsausenden Fahrkabinen der Expressaufzüge in den Petronas-Türmen Kuala Lumpurs angemessen wäre. Mir hebt es schon beim Zusehen den Magen aus. Im Nu ist das Luftschiff am Himmel nur noch münzengroß zu sehen. So hoch oben und doch noch nicht über den Wolken, erschiene mir die wahre Freiheit vermutlich als jene, am Boden geblieben zu sein.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau'n | Inventarnummer: 15046
Atem holen
Alles ist im Fluss, heißt auch nicht viel mehr als: Alles verläuft sich, verrinnt, unterliegt dem Wandel. Andernfalls wäre Existieren die Verewigung des erstarrten Moments – das Schicksal der im Bernsteintropfen eingegossenen Urzeitfliege. Die Metapher vom „Fluss des Lebens“ – mag sie verfangen? Wo soll es denn münden, dieses mäandrierende Gewese? Etwa im Tod, von dem sich der Gläubige erhofft, er stünde zwischen der Verheißung eines Aufgehens in Gott und der irdischen Plackerei? Ist es Sarkasmus, zu monieren, die Zeit hätte lediglich für Lebewesen Bedeutung und keineswegs für die Materie als solche, für das Universum als Ganzes? Lediglich.
Schwermütig sollte man nicht in den Zug steigen. Man wählt einen Platz am Fenster und sieht ein in Gegenrichtung vorüberziehendes Landschaftsband. Darin die vertrauten Intarsien der Geschäftigkeit: Ackerrillen furchende Traktoren, über Baugerüste turnende Maurer, rasende Automobile. Große, weiße Vögel staksen über eine Wiese. Sind es Störche? Kurz vor der Einfahrt in Wels läuft auf der Fassade einer Fabrikhalle ein Mädchen mit abgerissenen Armen – für alle Zeiten in ihrer Dynamik festgefroren – auf den flüchtigen Betrachter zu. Welchen Rat wollte man ihr zurufen?
Hinter Haiding verzehren Maschinen einen Berg. Dieser Waldhügel hieß das Kranall oder Kronal. Der Name soll von den Krähen rühren, die mit den Kreisen ihrer Flugmanöver die Anhöhe umflorten, die das verschwundene Gemäuer einer Feste getragen haben soll. Bald wird es den Berg nie gegeben haben. Die ominöse Burg hat es angeblich schon davor nie gegeben.
Irgendwo zwischen Neumarkt und Riedau wirft sich ein Mensch vor einen fahrenden Zug. Allen nachfolgenden beschert das einen aufgezwungenen Halt, da die Polizei die Ereigniszone für ihre Erhebungsarbeiten kurzfristig sperrt. In welcher Verzweiflung sich einer das antut, sich von anrollendem Stahl über Gleisen förmlich zermanschen zu lassen?
Schärding gilt als Durchfahrtsort auf dem Weg ins benachbarte deutsche Grenzland, als Molkereiadresse und Hochwasserzone allenfalls. Wer hier aussteigt, hat eine Weiterreise also wirklich nicht vor.
Man kann aber auch nach einem Ort sehen, den man vor Jahren einmal flüchtig durchmessen hat und ihn als Ausgangspunkt nehmen den Inn überzusetzen.
Das Bahnhofsgebäude ist ein trostloser Zweckbau, der darauf abgestellt scheint, seinen Zweck nicht zu überleben. Eine Schuhschachtel unter einem gekiesten Flachdach, aus dem an den Tropfkanten Birkenschösslinge windschief sprießen. Die Ankunftshalle präsentiert sich düster verfliest wie eine Rinderschlachtstätte in Rawalpindi. Dem Snackautomaten wurde die Frontscheibe eingeschlagen und der Spenderkasten nie wieder befüllt. Der Automat offeriert ausschließlich Staub und körnigen Glasbruch. Poster, die Reisemöglichkeiten anbieten – wollen sie einem nahelegen, doch woanders hinzufahren? Die Bahnhofsrestauration hat seit ewigen Zeiten zu. Herausgerissene Bänke und umgeworfene Stühle scheinen nicht auf den Anbruch besserer Tage zu hoffen.
Es heißt aber, der Spatenstich zum Start des Neubaus wäre bereits erfolgt. Der amtierende Bürgermeister, ein Vertreter der Österreichischen Bundesbahnen, sowie der Verkehrslandesrat und Landeshauptmannstellvertreter in Personalunion hätten vor versammelter Schar aus Pressevertretern und den unvermeidlichen Gratisblitzern der Feierlichkeitsverköstigung in gelungenem Zusammenspiel lehmigen Aushub auf ihre Schaufelblätter gehäuft.
Man quert die Bahnhofstraße und findet sich wieder vor einem Dornröschenschloss. Das Dornröschenschloss ist ein Gasthaus, das auch Fremdenzimmer anpreist, was im Vorfeld eines Bahnhofs keine abwegige Dienstleistung verheißt. Indes überwuchern den Gastgarten Holunder, Efeu und Dornenranken. Ein Kastanienbäumchen wiegt seine Blätter im zarten Lufthauch. Unter den schlaffen Fangarmen einer Weide morscht, von Stauden umzingelt, ein klobiger Wohnwagenwürfel. Das Gartentor widersetzt sich dem Öffnen mit natürlicher Gegenwehr: Rost heißt hier das Übel. Ein sich aus dem Erdboden wölbender Wurzelstrang liegt auch noch irgendwie im Weg. Man turnt um eine vergessene Mülltonne herum und lässt sich von der Aussicht berücken, hier fließe Bier aus Hacklberg aus dem Zapfhahn. Die Laternen beiderseits des Portals tragen die Embleme der einen der zwei noch existierenden Passauer Brauereien. Schon wähnt man sich in bessere Stimmung versetzt und ignoriert die Spinnweben. Ignoriert auch, dass die zum Aushängen der Speisekarte gedachte Schautafel unter einer der Laternen leer ist. Hinter den geschlossenen Kastenfenstern hängen gräulich gewordene Vorhänge, die Rahmenzier der Fensterlaibungen wirkt stellenweise wie angebissen. Um den Türsturz rankt sich wilder Wein und auf den Steinstufen liegen Laub und verrottende Pflanzentriebe, die der Wind hierher kehrte. Von der zweiflügeligen Kassettentür mit Rauglasoberlichte schält sich der blaugrüne Anstrich, der Türknauf trägt die Farbe der Eisenfäule. Was einen dennoch drängt einzutreten, weiß man hinterher nicht mehr. Vielleicht wollte es die Vollendung einer Bewegung sein, zu der man ansetzte, als man das Gartentor passierte. Die Tür des verlassenen Gebäudes öffnet sich knarzend, aber ohne größeren Widerstand. Lediglich der nicht in der Schwellenvertiefung eingerastete Bolzen eines Standriegels schabt über den Boden und schnitzt eine Kerbe in Form eines Viertelkreises in den mehligen Staub. Den dahinterliegenden Windfang verlässt man durch eine Schwingtür, die einen in den düsteren Zwischenbereich zwischen den Gaststuben fegt. Hier die „Altbayerische Bierstube“, dort der „Frühstückssaal“ und in der Mitte der verschattete Gang ins Haushintere, zu den Toiletten und ins Stockwerk vermutlich. Der abgestandene Geruch von Ewigkeit hinter fest verschlossenen Fenstern schlägt einem entgegen und erinnert einen an die kümmerliche Wohnsituation längst verstorbener Verwandter landwärts. Ein Pult mit darüber aufragendem, ausgeleertem Fächerschrank könnte eine Art Rezeption gewesen sein. In der Staubschicht auf dem Pult hat sich jemand mit dem Schriftzug DOOF in krakeligen Kapitalien verewigt. Was neben allerlei Unrat den Boden bedeckt, könnten die herausgerissenen Seiten eines Telefonbuches sein.
Man wendet sich nach der Bierstube, in die man durch den Rahmen einer eingetretenen Tür einsteigt. Aus der Umfassung ragen Glaszacken, deren Fehlstücke beim Auftreten unter den Sohlen knirschen, wie die Hauer aus dem Maul einer Geisterbahnmonstrosität. Ein kupferfarbenes Blechschild mit der Aufschrift „Pils vom Fass“ hängt über der Theke, deren Borde nichts mehr enthalten als ein paar vereinsamte Gläser, Fliegenleichen und ein Kalenderblatt vom Rauchfangkehrer, Jahre Schnee. Dann meint man die Stille, mit der man rechnete, von einem knurrigen Vibrieren erfüllt. Im Halbdunkel das Refugium eines lauernden Hundes zu stören, wäre das Vorletzte, von dem man sich wünschte, es möge einen ereilen. Dass er einen beißt, das aber wirklich Letzte.
Schließlich entdeckt man über einer Bank hingestreckt den Schattenriss eines schnarchenden Mannes. Zu seinen in schwerem Stollenschuhwerk steckenden Füßen ein aufmontierter Rucksack, wie ihn Huckepacktouristen schultern. Dem friedlich Schlafenden erzittert mit jedem Atemzug sein Vollbart in drolliger Weise, ganz so als wollte der etwas selbständig von sich abbeuteln, was seinen Träger nicht extra zu beschäftigen brauchte. Die über der Brust verschränkten Arme heben und senken sich mit den Lungenstößen. Man schätzt den Liegenden nicht viel jünger als man selbst, mag ihm aber nur ungern das gleiche Gemüt wie das eigene andichten: von zeitweilig geradezu ruppiger Ungeselligkeit und bisweilen sehr verhaltener Freundlichkeit. Wer steigt auch schon in aufgegebene Wirtschaften ein, den nicht die Not, ein Obdach vor den Unbilden zu finden, zwänge? Im Moment lauert im Freien jedoch keine finstrige Nacht oder eiseskalter Dauerregen.
Man versucht sich an den Zapfhähnen, denen aber nicht einmal ein klägliches Fauchen entweicht. Längst sind die an nichts mehr angeschlossen. Dabei täte die Einrichtung der Gaststube es noch machen: Tische und Stühle und Bänke, sowie ein paar verfaulende Sitzkissen. In einem Aschenbecher mumifizieren Kippen. Aus den Lampenschirmen wurden die Birnen gedreht. Über dem vermeintlichen Stammtisch scheinen Mücken zu flirren oder es wabern Spinnweben im fadenscheinigen Gegenlicht vor einem der Fensterkästen mit den patinierten Gardinenschleiern. Von der Decke löst sich Rigips-Dekor. An den Wänden wirken die Fehlstellen der Bilder wie Lichtpausen. Auf einmal denkt man sich die Welt von allen Menschen verlassen, träumt sich dieses Bild ins sonore Schnarchen eines anderen hinein. Was würde einem fehlen? Mit einem Schlage die Möglichkeit, sich von allen anderen absetzen zu können, selbstgewählt alleine zu sein. Das aber würde einen in den Wahnsinn treiben.
Ehe man Wurzeln schlägt, beschließt man, wieder zu gehen, auf dieselbe Weise wie man gekommen ist. Verhalten schlägt die Tür, als man abermals im Unkrautgarten steht. Man umrundet jetzt das Haus, indem man in den Bahnhofweg, in die fußläufige Strecke ins Zentrum, einbiegt. An der Westfassade prangt der Schriftzug GASTHOF auf der Höhe des Stockwerks unter dem Dachfirst. Die Buchstaben G und O haben hier auf der Wetterseite Schaden genommen. Eigentlich steht dort CASTH F zu lesen, aber man weiß jetzt ohnehin schon Bescheid und lenkt seine Schritte weiter, bald entlang eines großen Feldes, in dem in Abständen mächtige Bleistifte liegen, die mit ihren Spitzen auf verplombte, kreisrunde Öffnungen im Erdreich weisen, in welchem ansonsten Bagunta oder eine andere Rübensorte gedeiht. Diese Flur heißt Brunnwies und womöglich haben die seltsamen Bleistifte mit der Beobachtung des Grundwasserspiegels zu tun, sagt man sich, da man niemandem begegnet, der es einem anders deuten könnte.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14073
Linz, Sonntag: In Search of a Wirtshaus
„Die Folge der Speisen geht von den schweren zu den leichten.“
Jean Anthèlme Brillat-Savarin, Physiologie des Geschmacks
„Allein eine der besten gedämpften Speisen, welche aus Fischen
bereitet werden können, ist die folgende: (…).“
Carl Friedrich von Rumohr, Geist der Kochkunst
Manchmal überkommt es einen halt. Nein, ich meine nicht jenes Gebaren in rauen Vollmondnächten, in denen man als Verwunschener zum Werwolf mutiert und in Altstadtlokalen bis zum Morgengrauen herumlungert und seine Trinkkumpane anstänkert. Manchmal will man ganz einfach Linz nicht verlassen, um nach – sagen wir – Wels zu pilgern und sich am Kaiser-Josef-Platz im einzigen wirklichen Wirtshaus vor Ort einzuquartieren, und den Tag, der natürlich ein Sonntag ist, bestens umhegt zu vergessen. Manchmal will man auch in Linz sonntags speisen gehen. Würstel vom Stand und Pizzen in Ehren, aber das Zeug gibt es im Notfall immer, man braucht dafür keine Scheibe einschlagen und den Alarmknopf betätigen. Am Sonntag, dem Tage angemessen, darf man wohl etwas gediegener vespern.
Ich stelle mich also folgender Herausforderung: Finde eine Adresse zwischen Volksgarten und Neuer Welt, die man empfehlen kann und kehre ein! Die Expedition startet im Alleingang und in Erstbewältigung an einem Sonntag im zweiten, kalten Monat des Jahres um 9 Uhr 30 vom Basislager, ohne Proviant und GPS, mit Notizbuch und Regenschirm. Es nässelt, allerdings noch sehr verhalten, sodass die klammen Finger noch keinen Schirmknauf halten wollen.
Unmittelbar am Volksgarten gab es über viele Jahre die Stieglbier Stube, deren letzte Betreiberin während eines nicht enden wollenden Hausumbaus in den Ruin gezwungen worden ist. (Begegne ich der heute, grüße ich sie eher nicht, in nüchterner Berücksichtigung der Tatsache, in welchem Zustand sie sich zumeist befindet.) Seither ist in den ebenerdigen Räumlichkeiten ein Kindergarten eingerichtet.
Im Volksgarten führt ein ungleiches Paar seine beiden ungleichen Hunde aus. Großer und kleiner Hund zerren an den Leinen nach verschiedenen Richtungen. Mit Blick auf das Entree des neuen Linzer Musiktheaters dämmert mir, Toni Mörwald kocht hier im Restaurant „das Anton“ auf, will es das Geraune unter Gastrosophen. Mein Bauchgefühl meldet mir allerdings: Gerade heute lässt er den Schneebesen nicht in der Kasserolle dengeln. Meinetwegen. Dieser Fimmel mit Gedeckobligo, bevor es richtig ans Futtern geht, wird man mit Brotresten und schmierigem Aufstrich eingekocht, diese leicht überkandidelte Etepetete-Kultur vor fummelig machender Hintergrundbeschallung aus dem Trichter ist ohnehin nicht meine Liga.
Abseits des Trafohäuschens, dem Hans Kupelwieser eine witzige wie ebenso wohl witzig zu reinigende Ummantelung aus Kugeln verpasst hat, fällt mir ein kupferner Ouroboros auf. Die Selbstverzehrung ist aber auch keine Lösung. So tauche ich unter der Bahnüberführung an der Wiener Straße durch, der Demarkationslinie zur Pampa.
In der Anastasius-Grün-Straße gibt es ein Heurigen-Tschecherl. Das hat sonntags freilich zu. Das nächste Kabuff findet sich wenige Schritte weiter vor der leer stehenden Trafik, die einst ein rühriges Mütterlein mit ihrer Tochter bis zur letzten Ölung führte. Die Bumse scheint aber nur zum Trinken und Anbraten tauglich. Aus dem Halbdunkel bei offen stehender Tür gurgelt eine südosteuropäische Konversation. Entweder ist man eben mit dem Schließen oder vorerst noch gar nicht mit dem offiziellen Aufsperren zugange.
Der „Thai Markt“ mit seinen quirligen, schnatternden Frauen aus Fernost hat natürlich zu. Der Sack Jasmin-Reis will heute anderswo umfallen.
Mit Blick in die Anzengruberstraße zeigt sich mir ein neu errichtetes Wohngebäude. Auch hier gab es einmal einen Raucherkobel für den weniger betulichen Gast. Der ist ganz offensichtlich nicht mehr.
Der ehemalige Würstelstand an der gegenüberliegenden Straßenseite unter der Birke, den ein aufgeweckter Betreiber einst ohne lästige Absprache mit den Behörden phantasievoll erweitert hatte, ist auch schon Geschichte, die Fläche Tabula rasa. Die Hunde können am Stamm des Baumes wieder unbeeinträchtigt das Bein heben.
Ich passiere einen Juwelier. Gegenwärtig benötige ich weder Uhren noch Brillantenkolliers. Der Juwelier ist hier so angestammt wie sein eingesessener Nachbar gegenüber und letzter Vertreter einer bunten Schar von Gewerbetreibenden. Zwar finden sich nach wie vor Gewerbetreibende im Umfeld der Unionkreuzung, aber von bunt und Schar kann nicht unbedingt die Rede sein: Kaschemmen und Handyambulanzen dominieren das Bild, Wettbüros und Grafflwerkanbieter runden es ab.
Vorbeischlendernd am Theater Phönix tue ich mir schwer, den Eingang zum Bühnengeschehen von den Zutritten in diverse Bedürfnisanstalten zu unterscheiden. Das Wirtshaus im Foyer ist längst passé. Ich frage mich: Wie halten es die Theaterbesucher, wenn sie sich nach einer Vorstellung noch vorstellen können, etwas zwitschern zu gehen, aber nicht in eines der grindigen Musikcafés einfallen wollen?
Gegenüber laufen in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Möbelhändlers, die jetzt einem Fitnessstudio Quartier bieten, vor auslagengroßen Fensterscheiben Menschen unterschiedlichen Alters in unterschiedlicher Hastigkeit auf Laufbändern vor sich her. In Bayern hat ein findiger Kopf Laufbänder für rekonvaleszente Rennpferde ersonnen, fällt mir ein. Laufbänder für Hunde gibt es längst. Und das Hamsterrad ist ja doch auch eine ganz putzige Sache. Wenigstens solange man nicht Hamster in einem billigen Pferch sein muss.
An der Ecke zur Hamerlingstraße, an dem Ort, an dem über Generationen ein Kaufhaus gedieh, findet sich eine der Franchise-Filialen der bekanntesten Hamburger-Rösterei. Heute nicht, sage ich mir und ziehe weiter, quere die Straße und begebe mich an einer Bäckereifiliale vorbei. Hat natürlich auch zu. Den gegenüberliegenden Neubau an der Unionkreuzung ziert der Schriftzug „Wiener Straße – das Einkaufszentrum mitten in Linz. Einkaufen bei Freunden.“ Das Erschreckende: Letzteres stimmt wahrscheinlich sogar. Denn wer sollte sonst hier einkaufen, außer Freunde von Freunden?
In einem schmalen Haus, eingezwickt zwischen zwei größeren: ein Döner. Geschlossen. Auf der anderen Seite hat ein Gegenstück, das Pizza und Kebab offeriert, auch nicht geöffnet. Der Stammsitz der ehemaligen, in diverse Nöte geratenen Fleischhauerei Nothaft ist ein Schnellimbiss für mexikanisches Essen geworden, oder was man hierzulande dafür halten muss oder sich darunter vorstellen darf. Vermutlich Tortillas, Enchiladas und weiß der Teufel. Hat noch nicht auf. Jemand macht sich daran, von außen an den Überklebungen der Fensterscheiben zu kletzeln. Muss der Geschäftsführer sein, ein unbefugter Spaßvogel wohl eher nicht.
Das einstige Gasthaus zur Stadt Salzburg hat seit geraumem keinen Betreiber mehr. Im Stockwerk steht ein Kastenfenster offen. Schwer zu ergründen, ob ein verbliebener Bewohner lüftet oder eine erste Maßnahme zum beschleunigten Abwohnen gesetzt worden ist. Das Vorstadthaus scheint jedenfalls angezählt. Dieser Bautyp verschwindet nach und nach völlig aus dem Stadtbild und kein Gestaltungsbeirat stößt sich daran.
Gegenüber hat die Grieskirchner Bierstube ihre Adresse. Aber auch dieses Lokal hat schon bessere Zeiten gesehen. Nunmehr hält es sonn- wie feiertags geschlossen, sperrt unter der Woche immer erst um 17 Uhr auf. Einst war einer seiner Pächter jener umtriebige Sprecher der Innung gewesen, der einmal im Jahr vor versammelter Presse unterhalb der Nibelungenbrücke ins Wasser gegangen ist. Derselbe schrullige Wirt, der quer durch die Gaststube seines Lokals im Franckviertel Wäscheleinen spannte, weil man seinen Gästen was bieten muss, wie er es nannte. (Unter ranzigen Unterkleidern zu dinieren, stelle ich mir abenteuerlich vor.) Der Wiederbeleber der glücklich verloren geglaubten Tradition des Stachelbiers.
Einige Meter weiter: Ein Geschäft mit russischen Lebensmitteln. Heute natürlich zu. Aber was fängt einer auch mit Kwass und Borschtsch an, dem das obligate Gen dafür fehlt?
Der Hutladen nach der Stadt Salzburg führt keine Hüte mehr. Der führt überhaupt nichts mehr. Die kahlen Auslagen ziert jener kühle, unaufdringliche Charme, wie er Bestattungsunternehmen eignet. An der Ecke Wiener Straße / Raimundstraße firmiert eine Bank. Ungelenk bedient sich ein Mann am Geldautomaten. Davor hat die Café-Bar „Celentano“ geschlossen. Eine Apotheke belebt das Stadtbild. Auf der anderen Straßenseite lädt „Rosi’s Pub“ ein. Nur heute allerdings nicht. Ausschließlich Montag bis Freitag, falls kein Feiertag im Kalender steht.
Ich versuche mein Glück in der Raimundstraße. An der Ecke zur Grillparzerstraße führte vor Jahren eine Kroatin das „Gasthaus zum Schwarzen Rössl“. Das Tröstliche: Das Gasthaus existiert noch immer, will es der Anschein. Hier wird Hausmannskost gekocht, verkündet ein Leitspruch. Und weiters steht unter Fenstern mit fetzigen Gardinen zu lesen: „●gut ●günstig ●reichlich“. Was indes nirgendwo zu lesen steht, sind die nicht völlig unwesentlichen Öffnungszeiten. Im Zweifelsfall bedeutet das: HEUTE GESCHLOSSEN.
Wieder auf der Wiener Straße mache ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Einkaufsstelle für karibische und afrikanische Fressalien aus. Auch nicht mein Fall: gratinierte Waranhaut und Victoriabarschflossensoufflé. Hat aber eh nicht auf. Die daran anschließende Pizzeria, die gefühlte sechzigste auf einer Strecke von knapp hundertfünfzig Metern, ebenso.
Auf meiner linken Seite stadtauswärts, noch einmal eine, genau: Pizzeria. Pizzerien führen nicht selten wenig originelle Namen im Hausschild. Weil deren Betreiber eben in den seltensten Fällen aus Ligurien oder anderen Regionen Italiens stammen. Die Pizzeria vor mir nennt sich „Zum Mafiosi“. Wenn das noch kein Grund ist, sie zu meiden, tut es allenfalls der Blick auf die Speisekarte. Wenn sich die italienische Küche in Pizza, Pasta und Lasagne erschöpfte, wären garantiert alle Italiener schon vor Generationen nach Amerika ausgewandert und hätten sich freiwillig von den Apachen skalpieren lassen.
In der Lissagasse bei der Herz Jesu Kirche bittet man beim Kirchenwirt nicht zu Tisch. „Sonn- und Feiertag Ruhetag“ ist freundlich-unauffällig affichiert. Auf der anderen Seite der Wiener Straße hat das „Indisches Spezialitäten Restaurant“ zu. Also nix mit frittierten Heuschrecken und Tandoori Masala.
An der Ecke zur Dürrnbergerstraße, wo sich früher das Kaufhaus Wiesinger befand, in dem man alles was das Herz begehrt, von der Tetra Pak-Milch bis zu Stützstrümpfen und Selbstbindern, erwerben konnte, hat eine Konditorei geöffnet. Nicht gerade die Einladung für Laktoseintoleranzgeplagte.
Hinter den Auslagenscheiben eines ehemaligen Wäschegeschäfts strudelt sich ein türkischer Bäcker in mehlweißem Ornat an einem voluminösen Teig ab. Nichts gegen türkische Süßspeisen, wer es sich auf Picksüßigkeit der Marke „Plombenzieher“ steht, möge sie schnabulieren und darauf bauen, ihn oder sie werde die Zuckerkrankheit eh schon nicht ereilen. Allein, dass noch niemandem aus der türkischen Community der Stahlstadt die Idee gekommen ist, ein türkisches, anatolisches, kurdisches Restaurant zu eröffnen, verwundert schon. Oder sind die allesamt so betütelt, dass ihnen nur Pizzabacken und Hammelfleischhobeln einfällt? (Wenn ich mir an dieser Stelle auf der Stelle etwas wünschen dürfte, dann wäre es ein feinsinniger Grieche, der Fangarme vom Kalmar nicht als gegarte Fahrradschläuche offeriert und süffigen Retsina, der das Schädelweh nicht im Bukett hat, dekantiert.)
Das „Zwei Adler“ an der Wiener Straße 73, an der Ecke zur Richard-Wagner-Straße, existiert schon lange nicht mehr. Allein die zwei sich aufplusternden Vögel in Stein zieren nach wie vor den Dachfirst des Gebäudes. Gegenüber, dort wo einst eine Schmiede stand, würde abermals ein Kebab-Pizzeria-Schnitzel-Kabuff locken. Wenn es nicht Sonntag wäre.
Auf meiner Seite komme ich an einer weiteren Pizzeria, diesmal mit deklariertem Zustellservice vorbei. Wenn nicht irgendwann, so will zumindest einmal in der Woche selbst der leidenschaftlichste Teigausroller seine Ruhe haben, steht zu vermuten. Das Auslegen von Einleggemüse, Meeresfrüchten, Pressschinken und Käsegraupen über Teigflächen ohne Unterlass kann garantiert dem Stumpfsinnigsten früher oder später den letzten Nerv rauben.
Am Bulgariplatz gehe ich kurz die Gürtelstraße hoch. Das Wirtshaus, das ich von früher hier in Erinnerung habe, gibt es nicht mehr. Ich entdecke stattdessen ein Imbisslokal. Hat aber zu. Dennoch scheint man sich hier Sinn für Ironie zu bewahren: Die schuhabstreifergroße Plattform vor dem erhöht angesetzten Eingang ziert eine Tafel mit der Aufschrift „Gastgarten“.
Die Poschacherstraße übersetzend komme ich an einer Hauswand an der Gedenktafel für Anton Bulgari vorbei, einem Opfer des Austrofaschismus. Kränze und Blumengebinde liegen davor aus. „Vergeben, aber nicht vergessen“, heißt es auf den Kranzschleifen.
Der Bulgariplatz ist leider ein innerstädtischer Nicht-Ort, ein Verkehrsknoten ohne irgendein Angebot, das auch dann zum Verweilen einladen könnte, wenn die Ampeln nicht gerade auf rot stehen. Okay, es gibt die Dreifaltigkeitssäule zu schauen, die im Jahre Schnee der Hausherr eines verschwundenen Gehöfts gestiftet hat. Aber damit hat es sich auch schon.
Ich paradiere an Hochbauten vorbei, die den Schick der späten fünfziger Jahre bewahren. Als Kunst am Bau, beziehungsweise zwischen den Bauten, und fehlende Wärmedämmung noch etwas her machten. In der Auslage eines China-Ladens winkt eine goldene Maneki-neko in enervierender Hektik. Das Glück herbeiwinken, soll diese Geste bedeuten. In der Bayern-Stub’n sammelt sich eine neue Sparrunde, steht auf einem Zettel zu lesen, der hinter der Eingangstür pickt. Erster Einzahlungstag ist aber nicht heute. Heute ist Sonntag und Sonntag ist Sperrtag.
Zwischen den Häusern gewinne ich einen Blick auf den Gabrielenhof. Dieser schmucke Ansitz eines längst verblichenen Brauereibarons gäbe ein wunderbares Domizil für ein Gasthaus. Die Villa im Besitz der Stadt fungiert freilich als Logis für einen Kindergarten. Auch recht. Dafür gibt es das „Poschacherstüberl“, ein ausgewiesenes Raucherlokal. Das hat offen, aber daran gehe ich vorbei. Man vermag sich hier nämlich ohne die Mühsal eines Speisenangebotes durchzubringen und ich mich unter die Mühlkreisautobahn.
Gleich darauf eröffnet sich mir der Blick auf das WIFI. Ich denke, das hauseigene Café ist heute als geschlossen zu denken. Ich komme an einem Oldies-Pub vorbei. Es hat zu. Womöglich sogar für immer, aber solange will ich gar nicht bleiben. Ich gerate ans „Technologie Zentrum Linz“, dann zur gläsernen Zentrale der stadteigenen LINZ AG. Man braucht aber nicht fragen, wie die Aktien stehen.
In der Fichtenstraße dann – wirklich originell – eine Pizzeria für den versierten Schnofel. Zu.
Ich stapfe weiter, die klammen Finger in die Jackentaschen gekrampft. Rechts die Zentrale der Linzer Berufsfeuerwehr. Einmal habe ich dort einen ohne Schikanen zu betretenden Eingang gesucht, um Informationen über einen bestimmten Feuerwehreinsatz zu eruieren und bin jämmerlich gescheitert. Jetzt stehe ich an der Einmündung der Rosenbauerstraße in die Wiener Straße vor einer großen, lückenhaft umzäunten Brachfläche: dem ehemaligen Areal des Coca Cola-Werks. Für Generationen von Volksschülern war hier der Zielort der beliebtesten Schulexkursion – nach dem Besuch der Feuerwehr.
Vorbei an der Berufsschule gehe ich in die Turmstraße hinein und muss erkennen, das „Gasthaus zum Turmfalken“ ist ein Mexikaner geworden. Der hat natürlich nicht offen. Das Hotel nebenan wirkt wie eine aufgegebene Garage für Werbefahrten-Busse: Wer darauf hereinfällt, wird festgehalten und solange mit teuren Billigangeboten geködert, bis er wirklich nicht mehr zuschnappen kann. Also begebe ich mich auf der Wiener Straße weiter. Vorbei an einem Döner-Kabuff. Das ist verrammelt. Vis-à-vis hat die Wurstbude beim ehedem wegen seiner Fassadenfärbelung so geheißenen Spinatturm nicht auf. Ich wechsle die Straßenseite.
In der einst so bezeichneten Todeskurve findet sich zunächst ein Etablissement, etwas weiter vorne eine Konditorei. Ein Paar spaziert im selben Augenblick in die Konditorei, in dem ich mich über Firmenniederlassungen in den abbruchreifen Häusern entlang des abgekommenen Glacis des verschwundenen Einserturms wundere. Eine erste Adresse halluziniert man anderswo.
Ich bin im Stadtteil Neue Welt angekommen, es ist 10 Uhr 30. Vor mir wackeln ältere Kirchgängerinnen mit ihren leicht bedrohlich wirkenden Handtaschen und jüngeres Volk in der Minderzahl aus der Sankt Antonius-Kirche, einige sammeln sich ratschend vor dem Pfarrheim. Ich beschließe, der Salzburger Straße zu folgen und frage mich, ob dieser unscheinbare Eckbau an der Abzweigung zur Schumannstraße jenes Gasthaus gewesen sein mag, in dem ich einst mit meiner Schwester nach unserem Herkommen von Verwandten im unteren Mühlviertel auf ein Kracherl, wie ich glaube, gelandet bin. Oder befand sich die Gaststätte ganz genau an der Stelle, an der heute eine Filiale dieser sympathischen Bank mit den gekreuzten Giebelbalken thront? Und wie hieß diese rustikale Bleibe mit der gediegenen Wartesaalatmosphäre gleich noch? Etwa „Zur Neuen Welt“?
Zwei Männer mit Stielbürsten seifen Plakatwände mit Tapetenkleister ein und bringen zusammengefaltete Werbebanner darauf auf, entfalten die Papiere mit geübten Bewegungen und im Nu zeigt sich die Welt um ein paar erbauliche Botschaften bereichert.
Ich nehme den Angerholzweg entlang des Zauns der umfriedeten Wasserschutzzone mit der Idee, ein bestimmtes Lokal, das vor hundert Jahren „Zum englischen Garten“ geheißen hat, zu betreten. An der Abzweigung Arnleitnerweg beginnt es zu regnen, ich schlage die Kapuze meiner Jacke über den Kopf, schlendere durch einen von allen Kindern verlassenen Kinderspielplatz. Das Sportplatzrestaurant „Stadt München“, Ecke Schwindstraße / Teutschmannweg, wirkt von außen nicht so, als hätte es geöffnet. Aus einer Halle erklingen das Klacken und Klötern von Stöcken auf Asphaltbahnen und die erregten Rufe der Schützen.
In der Haydnstraße verzaubert mich einmal mehr die Wohnanlage des Architekten Kurt Kühne, die in der Gestaltung eines Angerdorfplatzes gehalten ist. Es fehlt aber die Penetranz des Pittoresken, der Knusperhäuschen-Stil der Wohlmeinenden. Freilich heißt hier zu wohnen auch, in Kauf zu nehmen, dass man rundherum nirgendwo einkaufen gehen kann, weil es weder Supermarkt, Tankstelle noch Greißler gibt. In Berlin soll sich gar eine idente, der Gartenstadtidee verpflichtete Siedlungszeile befinden.
Wieder auf dem Angerholzweg verbleibe ich auf ihm bis zur Einmündung des Zötlweges, dann stehe ich vor dem Gasthaus Bratwurstglöckerl. Es regnet noch kräftiger und ich spanne den Schirm. Vom auf Klapptafeln ausgewiesenen Tagesangebot am Eingang ins Traditionsgasthaus spricht mich nichts an. Es liegt, keine Frage, an mir und meiner Tagesverfassung, dass mir heute nach einem Alt-Wiener Zwiebelrostbraten oder Medaillons im Speckmantel mit Rösti und anderer Begleitung nicht der Sinn steht. Außerdem ruiniert mir ein Werbebanner jenes Gernegroßen, den meine jüngere Cousine geheiratet hat, den Appetit. Der Pharisäer hat doch tatsächlich Fleischhauerei und Immobiliensammeln als Hand in Hand gehendes Doppelgewerbe kreiert.
Nach einer Weile mühseliger Unentschlossenheit raffe ich mich auf nach Hause umzukehren. Ich werde mir Leberkäse in der Pfanne schmurgeln. Die kulinarische Übersetzung des Umstands, dass dieser Sonntag kein Höhepunkt mehr werden wird.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14040
Wein Ende Brücke
Hin und wieder muss man nach Wien. Nach Paris, London oder New York – Seoul nicht zu vergessen – natürlich auch. Aber nicht so oft wie nach Wien und Wels oder Passau. Durch Ertüchtigungsmaßnahmen entlang der Trassenführung der Westbahn, insbesondere dank des Wienerwaldtunnels zwischen Chorherrn und Hadersdorf-Weidlingau, hat sich die Distanz zwischen Linz und Wien auf kommode fünfundsiebzig Minuten Zugfahrzeit verringert. Man verfrachtet sich beispielsweise des Morgens in den sogenannten Railjet nach Budapest Keleti pályaudvar und steigt nach einem unnötigen Zwischenhalt in St. Pölten am Wiener Westbahnhof wieder aus. Erlebt den Bahnhof zur wuseligen Einkaufsmeile umgestaltet, verschafft sich in einer der Trafiken eine Tageskarte der Wiener Linien und entschwindet in die Rolltreppenröhre in den Untergrund, die einen auf die Ebene oberhalb der U3 befördert.
Man muss nicht bis zur Haltestelle Gasometer in Simmering mit dieser U-Bahn-Linie mitfahren, aber wenn man doch dort aussteigt und sich über die leergeräumte Geschäftswelt auf dem Verbindungsniveau der Gasometerrondelle wundert, durchquere man diesen Ort der Trostlosigkeit, dem eine Neubelebung nicht und nicht zu gelingen scheint, unbedingt in der Absicht, das Wiener Stadt- und Landesarchiv zu besuchen. Aufmerksamkeit verdienen die jeweiligen Kleinausstellungen im Foyer; als vorbildlich sauber gehalten erweisen sich die Toiletten. Die in das Backsteingewände eingeschnittenen Schmalfenster verdeutlichen an der Fase zwischen Fensterkante und Wandschluss die Mächtigkeit des ehemaligen Industriegemäuers. Daran könnte sich der Gedanke knüpfen, dass sich Maximilian d’Estes allererster Probeturm seines ambitionierten Fortifikationsvorhabens in der Simmeringer Heide befand, ehe ein Pendant am Linzer Freinberg errichtet wurde.
Man kann aber auch gleich wieder die U3 zurück nehmen und, sagen wir, am Stubentor einen Kordon Kontrollorgane passieren, die das Mitführen eines Fahrausweises zwischen Perron und Ausgang überprüfen und nach solcher Perlustrierung den Weg in die Wollzeile nehmen. Dort wälzt man sich von einer Buchhandlungsauslage zur nächsten, ehe man in eine der Handlungen eintritt und eine schöne Weile damit zubringt, Bücher in die Hände zu nehmen, in ihnen zu blättern, die Inhaltsangaben zu studieren und den einen oder anderen Erwerb zu erwägen. Schließlich kommt man mit einem Lehrwerk der japanischen Sprache der Autoren Okutsu Keiichiro und Tanaka Akio wieder auf die Straße, bemerkt die nahende Mittagszeit und den Umstand, dass man hungrig geworden ist. Daran knüpft sich die Überlegung, wohin essen gehen und, des Weiteren, dafür den Bezirk zu wechseln oder doch im ersten zu verbleiben.
Man entscheidet sich fürs Verbleiben, weil man ja den „Reinthaler“ in der Gluckgasse kennt. Dort isst man dann im Souterrain Leberknödelsuppe und geröstete Knödel, während andere Gäste ebenso à la carte speisen oder eines der Tagesgerichte wählen. Man begeistert sich am herben Charme der 1970er-Jahre-Einrichtung: Resopalvertäfelung, herrlich unbequeme Uraltbürostühle und eine ganggenaue Würfeluhr. Drei Herren treten an einen für sie reservierten Tisch. Einer gleicht dem Kurt Sowinetz aufs Haar, ein anderer dem ebenso verstorbenen Fritz Imhoff in seiner Korpulenz, schließlich der dritte – als wäre Jörg Mauthe vom Totsein beurlaubt. Für einen vierten, einen Floridsdorfer, wie sie ihn rufen, wird ein Getränk bereitgestellt. Der zieht es dann aber vor, sich den dreien nicht beizugesellen. Über die Tische entwickelt sich ein launiger Heckmeck. Man erkennt den Schmäh als Schmiermittel der Geselligkeit. Freundschaften erfahren ihre Belastungsproben in anzüglichen Witzen. Ein Blick auf die Würfeluhr über dem Raumteiler zwischen Schankzimmer und Extrastüberl: Im Nu sind zwei Halbe Bier vergangen. Die verflossene Zeit ist an den aus den Gefäßen entwichenen Flüssigkeiten ablesbar. Im französischen Arrondissement Cognac spricht man vom „La part des anges“, vom Anteil der Engel, wenn man die Verdunstungsverluste des reifenden Weinbrands bemisst, könnte einem einfallen.
Schließlich geht man vom „Reinthaler“ wieder weg und überlegt einen Besuch des „Wien Museums“ am Karlsplatz, um Katalogrestposten und sonstiges Schrifttum zu sichten und in eventu nach dem Verbleib des quadratmetergroßen, sandsteinernen römischen Kanaldeckels in der Schausammlung zu fragen [Man erführe dortselbst am Kassapoint von einem freundlichen Studiosi mit bundesrepublikanischer Sprachfärbung, diesen verwahre seit geraumem das Römermuseum am Hohen Markt.], kommt aber davon ab und schlendert stattdessen durch die Innenstadt, bevor man sich am Stephansplatz in die U1 stellt, um nach Transdanubien überzusetzen, unterlässt es jedoch, zuvor am Praterstern in die U2 zu wechseln, um endlich die in Bau befindliche sogenannte Seestadt in Aspern in Augenschein zu nehmen und fährt, in der sich allmählich leerenden Garnitur der U1 verbleibend, bis zur Endhaltestelle Leopoldau. Dort glaubt man sich nicht bloß an die Peripherie versetzt, man bemerkt, dass man sich genau dort nun auch tatsächlich befindet, verschlagen zwischen den Bezirken Floridsdorf (21.) und Donaustadt (22.) und den an Wien angrenzenden niederösterreichischen Gemeinden Gerasdorf und Hagenbrunn.
In Sichtweite eines künstlichen Berges, einer Deponiehalde mit fuhrwerkendem Raupenfahrzeug, quert man der Überführung der Seyringer Straße folgend Bahngeleise und geht von der Pinkagasse Richtung Lafnitzgasse durch eine Welt der Klein- wie Vorstadthäusler und findet sich endlich in einer parzellierten Schrebergartenidylle mit Hinweistafeln zu Schutzhäusern, Verhaltensreglements („Radfahren verboten!“) und Schließzeitenusancen („Die Haupteingänge sind in der Zeit vom _ bis _ , sowie vom _ bis _ jeweils eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit zu versperren!“). Man muss an Karl Weidingers lapidaren Schund, der im Untertitel „Die Verhaftung der Dunkelheit wegen Einbruchs“ lautet, denken. In der Thayagasse folgt man dem Verlauf der Schnellbahntrasse, deren Viaduktbögen, Konstruktionen aus Stahlbeton, parallel zur Hochbahngasse einem seltsam anmuten. Unter- wie Oberbau scheinen verschiedenen Bauepochen zu entstammen, der ältere Unterbau eindeutig einer Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Man weiß nicht, dass man es mit der Hinterlassenschaft der sogenannten Floridsdorfer Hochbahn zu tun hat, die als Kriegswichtiges ab 1916 von überwiegend italienischen Kriegsgefangenen errichtet worden war, jedoch ihre Vollendung nicht vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Tatsächlich erfolgte eine Revitalisierung der Trasse erst zum Ende des Säkulums, was man aber en détail nicht vermutet, wenn man es nicht nachliest. Zwischen den Viaduktbögen finden sich in den Tragepfeilern raumgroße Aussparungen, die auch wirklich von einigen der Schrebergartenpächter an der Hochbahngasse als Unterstände beansprucht werden, gleichwohl der Einstieg jeweils über Kopfhöhe ansetzt. Mehr oder weniger geschickt eingepasste Barackenwände bezeugen eine solche, der Neugierde der Passanten verstellte Nutzung.
An der Endhaltestelle Siemensstraße verpasst man den Bus nach Stammersdorf und verbringt die Wartezeit bis zum Eintreffen des nächsten damit, die wenig beschauliche Gegend zu erkunden: Ein verkehrsreicher Straßenknoten und ein Schienenstranggeflecht fallen auf. An der Bahnbrücke über den Siemensplatz bemerkt man eine Skulptur, deren Schöpfer auf der daneben affichierten Tafel genannt wird: Prof. Wander Bertoni. Die ebenso affichierte Bezeichnung „Weinende Brücke“ irritiert das Verständnis derart, dass man nicht Weinen, sondern Wein assoziiert und „Wein-Ende“ als Flurnamen fehldeutet. Zwei Bogensegmente aus Edelstahl formen die Plastik im öffentlichen Raum, ihr Ineinandergreifen bleibt unterbrochen. Von Wander Bertoni hat man freilich schon gehört, von seinem ominösen Eiermuseum gelesen. In einem Anfall von Konfusion mutmaßt man eine polnische Abkunft. In der Tat entstammt Wander Bertoni der Reggio Emilia, geriet 1943 als Zwangsarbeiter nach Wien und studierte nach dem Krieg an der Akademie der Bildenden Künste bei Fritz Wotruba. Das Werk „Weinende Brücke“ erinnert an den Beitrag der italienischen Kriegsgefangenen am Bau der Floridsdorfer Hochbahn. Man weiß sich dieser Umstände eingedenk erst nach dem späteren Nachlesen der historischen Fakten.
Mit dem Bus nach Stammersdorf fährt man bis zur Haltestelle Brünner Straße und wechselt dort in die Straßenbahn der Linie 31 Richtung Schottenring. Vorbei am Augarten gewärtigt man die beklemmenden Hochbauten der Flaktürme, die dank nicht-abgedeckter Öffnungen in den Seiten ihrer verwandelten Bestimmung als Tauben(kot)grüfte gerecht werden. In der Meldemannstraße überkommen einen böse Reminiszenzen. Am Gestade zum Donaukanal könnte man über das Treiben um einen herum sinnieren oder ebenso die Eßlinggasse hochgehen und tut es auch. Am Börseplatz beachtet man die Terrakottakacheln an der Fassade der Börse und das Kinderjauchzen aus dem gegenüberliegenden Gmeinerpark mit den voller Ausgelassenheit in Beschlag genommenen Spielgeräten.
Im Iuridicum nutzt man das Angebot der öffentlichen Toiletten, klappert in der Schottengasse abermals Buchhandlungen ab, begibt sich durch die Herrengasse auf den Michaelerplatz und schwenkt von dort auf den Kohlmarkt ein. Bevor man den Meinl am Graben betritt, läuft einem ein Hubert-Gorbach-Darsteller über den Weg, eines der Reptilien der Schwarzbraunen Koalition und gleich bedauert man es, ihm einen Schlag ins Gesicht zu verpassen nicht den Anstand zu haben. Im Geschäft kauft man Kreuzkümmel, Fruchtaufstrich von der Kornelkirsche und Apfel-Preiselbeere-Sprudel, begegnet auf der mit Samtläufern ausgeschlagenen, knarzenden Treppe zwischen den Stockwerken dem niederösterreichischen Landeshauptmann mit der Clownsglatze und erwehrt sich noch einmal des Anfallsgefühls des Zuschlagenmüssens, ehe man sich einer der umscharten Kassen nähert, wo die angenehme Tunlichkeit herrscht, die eingekauften Waren eingepackt ausgehändigt zu bekommen. In einer weiteren Buchhandlung am Graben erwirbt man die Taschenausgabe des Romans „Mittelreich“ von Josef Bierbichler als Mitbringsel für seine lesemanische Mutter sowie ein Bändchen der Reihe Reclam Sachbuch über die Indianer Nordamerikas, in dem man unter anderem vom Los der Oneida erfährt.
In der Herrengasse verschwindet man abermals in den Schlünden der U-Bahn, ist betört von der Anmut japanischer wie koreanischer Frauen und steigt am Westbahnhof in den Zug nach Bregenz, fährt allerdings nur bis Linz mit. In Bregenz gibt es ein Kunsthaus. Das man bereits hätte gesehen haben sollen, als dort vor Jahren die große Louise Bourgeois-Retrospektive angesetzt war. Aber Barbara Kruger hat man ja auch verpasst.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14036
Welt am Draht
In die Straßenbahn tölpelt ein Schüler mit geschultertem Ranzen, fläzt sich auf einen gerade frei gewordenen Sitzplatz und fuchtelt das elektronische Brett aus seiner Hosentasche. Eine Schülerin tapst klumpfüßig mit ihrem Brett als trüge sie Lehm an den Schuhen. Ein Kind spielt auf dem Brett ein Spiel, das Figuren an Hindernissen vorbeihampeln lässt, was wiederkehrende Effektgeräusche erzeugt. Ein Handwerker im verklecksten Blaumann steigt zu und zupft das Brett mit links aus der Oberschenkeltasche. Eine Frau greift zum Brett, als die Kreuzritter-Fanfare geschmettert wird. Ein Mann schaut fasziniert auf das Brett. Ein anderer betrachtet das Brett irritiert und schüttelt den Kopf. Eine junge Frau schiebt mit einer Hand einen Kinderwagen, mit der anderen versenkt sie sich in die Widerspiegelungen des Bretts. Der Straßenbahnfahrer greift während eines Halts an der Kreuzung zum Brett. Ein Jugendlicher steigt ein und beugt seinen Kopf über das Brett. Ein Mann im Anzug greift nach dem Brett. Aufgebracht nestelt eine Frau in ihrer Handtasche nach dem Brett. Ein Mädchen erklärt dem Brett, es müsse jetzt Schluss machen, der Akku. Ein Knabe zeigt einem anderen Knaben, was er auf dem Brett sieht. Der andere wendet sich ab und schmollt über seinem Brett. Ein Halbstarker mit nahezu heruntergelassenen Hosen lässt beflissen den Daumen über das Brett wischen. Zwei Menschen sitzen einander gegenüber, jeder von ihnen starrt auf das Brett. Es steigt jemand aus, das Brett vor sich herhaltend wie eine gezogene Stichwaffe und rempelt gegen einen Gleichaltrigen, der zwar auf sein Brett achtet, nicht jedoch auf seine Umgebung. Es steigt jemand ein und gleich greift er nach dem Brett. Einer fingert das Brett angestrengt in ein starres Etui, dann holt er es daraus gleich wieder hervor. Eine Frau lässt das Brett fallen. Es poltert wie ein Brocken aus Guss. Ein Mann hält das Brett ans Ohr. Zwei Koreanerinnen stecken die Köpfe über einem Brett zusammen und gicksen; sie führen noch andere Exemplare mit sich. Eine Frau mit hochquellender Frisur spricht mit dem Brett über die Praktikabilität von Botox-Injektionen an Körperstellen, die man dafür gar nicht vorgesehen glaubt. Einer der zusteigt, gibt sich traumhäuptig wie ein Schlafkranker, er entspannt sich erst, als er nach dem Brett greift. Wieder steigen Schüler ein. Ein jeder und eine jede hat ein Brett dabei. Manch einer scheint damit wie verwachsen. Ein hagerer Mann steigt aus. Draußen holt er das Brett aus der Innentasche seines Staubmantels hervor. An der Haltestelle hält einer gebannt das Brett fixiert, sodass er das Eintreffen der Straßenbahn gar nicht bemerkt. Der eine liest auf dem Brett die Uhrzeit ab, der andere die Wettervorhersage in Luzern. Ein Schüler schießt Fotos mit dem Brett, der nächste filmt, was draußen an allen vorüberzieht. Jemand versucht sein Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln, dieses aber greift nach dem Brett. Wieder ein anderer himmelt ganz offensichtlich das Brett an, nicht aber seine Begleitung. Die tippt ihre Enttäuschung darüber in das Brett. Ein Mann scheint auf dem Brett etwas zu suchen, ein anderer scheint es gefunden und grinst, als wüsste er nun über einiges Bescheid. Ein Mittzwanziger zückt das Brett und zuckt, als er beim Aufstehen gegen Halteschlaufen stößt. Ein bulliger Kerl hält das Brett fest umschlossen wie einen Faustkeil. Eine Dame runzelt erst ihre Stirn angesichts des Bretts, dann heben sich ihre Augenbrauen und der Ausdruck von Erleichterung entspannt ihre Züge. Ein Mann klappt seinen Aktenkoffer auf und klaubt zwischen Mappen nach dem Brett. Dann betrachtet er es wie ein Juwel. Eine Betagte vertieft sich in die Anzeige des Bretts wie in ein Brevier. Ein junger Mann befingert unablässig das Brett, ohne es dabei anzusehen. Eine junge Frau ist mit dem Brett verdrahtet und wiegt ihren Kopf im Rhythmus einer dumpf wummernden Musik. Ein Brett fängt zu bellen an und jemand weiß, dass ein Freund versucht, ihn zu kontaktieren. Das jähe, gackernde Geräusch eines Bretts verrät den Eingang einer E-Mail oder das Posting eines Kurznachrichtendienstes, den Erhalt eines Tweets oder weiß der Geier. Aus einem Brett fängt in türkischem Herz-Schmerz-Pathos ein Liebeslied-Intro zu jaulen an, das mit einem Wort im Befehlston abgewürgt wird. Eine Frau mit Kopftuch und Rocksäumen, die beim Gehen den Boden fegen, drückt versonnen auf ihr Brett. Ein Schwarzer spricht in das Brett in einer Sprache, die Englisch sein könnte. In der Fußgängerzone stelzt ein Polizist vorbei, der sich seines Bretts in der Brusttasche kurz versichert, ehe er es wieder zurücksteckt. Ein Kleinkind an der Hand eines Vaters versucht, dessen Aufmerksamkeit für die Auslage eines Spielzeuggeschäfts zu gewinnen, der jedoch widmet seine ganze Konzentration der verzweifelten Inbetriebsetzung des Bretts. Ein Eilender mit bemerkenswert kurzen Beinen hält das Brett zwischen rechter Wange und Schulter geklemmt, während er links und rechts Henkeltaschen schleppt. Ein Radfahrer mit flatternder Jacke slalomiert freihändig zwischen den Fußgängern und guckt immer wieder auf das Brett. Eine Halsbrecher-Nummer für die Artistenmanege böte sich an: Salto mortale mit gleichzeitiger Smartphone-Bedienung. Eine Schülerin spricht in das Brett und wehrt ihre Mutter ab, die sich Schulnoten zu erfragen bemüht. Eine Schülerin spricht in das Brett mit einer Schulkollegin, die unmittelbar neben ihr zu sitzen scheint. Es stellt sich aber heraus, dass sich die Angerufene am anderen Ende der Straßenbahn niedergelassen hat. Jetzt kämpft sie sich mit dem Brett am Ohr und Boxerfaust zu ihren Freundinnen durch. Eine Frau motzt ein energisches NEIN in das Brett. Ein Mann nimmt das Brett und sagt JA. Einer hält das Brett wie eine Fernbedienung und zappt. Jemand schaut sich auf dem Brett einen Film an. Oder es sind Fernsehnachrichten. Oder ein YouTube-Video. Oder eine Botschaft der Klingonen. Ein Sonderling sitzt nur so da. Der hat kein Brett dabei, er schnäuzt sich lediglich.
Bernhard Hatmanstorfer
www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14034