- Also bist Du einfach gegangen.
- Carlos
- Edgars Spiegelbild
- Das Häuschen im Wald
- Von Göttinnen und Hausfrauen
Unruhig glitt ihr Blick zur Uhr an der Wand. Nicht mehr lange. Jeden Abend beendete dieses eine Geräusch den Tag und die Hölle brach los. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Meute ließ alles fallen und rannte, wie eine Herde tollwütiger Wildschweine, zur Eingangstür, um ihren Vater zu empfangen. Er widmete sich freundlich, wenn auch leicht überfordert, seinem überdrehten Nachwuchs, ehe er sich seiner Frau zuwandte und sich nach ihrem Tag erkundigte.
Sie versuchte fieberhaft den Eindruck loszuwerden, dass er sie nur routinemäßig fragte und gar nicht an ihrer Antwort interessiert war. Anfangs hatte sie ihm noch ausschweifend die Wahrheit erzählt, zum Beispiel, dass sie es an diesem Tag schon am Vormittag geschafft hatte, sich die Zähne zu putzen, anstatt erst am Nachmittag oder überhaupt nicht. Sie hatte ihm verraten, dass sie vor Erschöpfung und Verzweiflung eine halbe Stunde auf dem Küchenboden geweint hatte und die Kleinen sie dabei nur verwundert angeglotzt hatten. Er hatte sie nur bestürzt betrachtet und später seiner Mutter berichtet, dass seine Frau wohl etwas überfordert mit der Gesamtsituation sei.
Also zog sie es vor, ihm freudestrahlend von ihrem tollen Tag zu erzählen und die kleinen Erfolge zu feiern. „Heute ist die Windel des Kleinen mal nicht mit Kacke übergegangen, heute hatte die Große nur zwei kleine Wutanfälle, als ich den schwerwiegenden Fehler gemacht habe, die Milch nicht richtig einzuschenken und die Straße an der falschen Stelle zu überqueren!“
Er wirkte zufrieden und begann von seinem Tag zu erzählen und sie lauschte ihm höflich, auch wenn ihre Gedanken immer wieder abdrifteten.
Hatte sie genug Milch eingekauft? Wenn er und die Kinder heute noch übermäßiges Verlangen danach bekämen, würde sich das bis morgen nicht ausgehen. Was könnte sie morgen kochen, irgendwas, was alle gern aßen und darüber hinaus noch gesund war? Nein, so etwas existierte nur in einem weit entfernten Paralleluniversum. Die Wahrscheinlichkeit für eine Pizza mit Nuggets und Pommes-Belag lag höher. Außer natürlich ihr Mann hätte wieder das Bedürfnis, auf seine Figur zu achten, dann durfte es nur Salat mit Putenstreifen sein, was die Kinder nicht mal mit der Kneifzange anfassten. Der Kleine war zwei, die Große viereinhalb und beide so unberechenbar wie Nonnen bei einem Auftritt der Chippendales.
Als sie hörte, dass die Stimme ihres Gatten lauter und seine Gesichtsfarbe dunkler wurde, fühlte sie sich genötigt ein „Boa, du Armer!“, dazwischenzuwerfen, was immer passte, weil er war auch immer so arm und unverstanden in der Arbeit, denn keiner erkannte sein Potenzial und niemand wollte auf seine Verbesserungsvorschläge hören. Sichtlich zufrieden mit ihrer Reaktion setzte er seinen Monolog fort und sie erhaschte aus dem Augenwinkel eine verdächtige Bewegung. Offenbar versuchte die Große, den Kleinen unter einer Mehllawine zu begraben, vermutlich in der Hoffnung, dass nicht einmal der gewiefteste Bernhardiner ihn jemals wieder finden würde. Natürlich hätte sie jetzt aufschreien und versuchen können, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, aber das Malheur war längst geschehen und sie waren so angenehm ruhig und beschäftigt. So lange der Junge noch atmete, wollte sie sich nicht einmischen.
Wie war das Mädchen überhaupt an das Mehl gekommen, das war doch im oberen Schrank - ah, sie hatte eine Spielzeugkiste herangeschoben und war hochgeklettert, verdammt cleveres, kleines Biest. In Sachen kriminelle Energie konnte sie wirklich stolz auf ihre Tochter sein, sie würde vermutlich eine steile Karriere in der örtlichen Mafiaorganisation hinlegen. Der Schrecken der Unterwelt, Paula, die Berserkerin. Nein, da müsste es etwas Besseres geben, Paula, die Piratin? Paula, die Prämenstruelle? Oh, Gott, wenn dieses Kind in die Pubertät kam und seinen Hormonen vollkommen ausgeliefert war, würde sie das Land verlassen müssen. Eventuell würde sie ihren Sohn mitnehmen, kam ganz auf seine weitere Entwicklung an, aber letztendlich ... Nein. Im Krieg war jeder sich selbst der Nächste und der kleine Kacker würde sie nur aufhalten. Eine Frage ihres Gatten warf sie aus ihrer Gedankenbahn.
„Äh, Menstruation, Tampons?“, erwiderte sie gekonnt, doch der betretene Gesichtsausdruck ihres Mannes brachte sie wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
„Ich meine, Mozzarella mit Tomaten.“
Er nickte wohlmeinend und sie fühlte sich metaphorisch auf die Schulter geklopft.
Das eine Kind aß nur Mozzarella, das andere nur Tomaten und ihr Mann schlug sich den Magen mit den beiliegenden Butterbroten voll. Also ein Familienessensvolltreffer, den sie unglücklicherweise nicht jeden Tag bringen konnte. In diesem eher unpassenden Moment wandte sich ihr Mann den Kindern zu.
„Monika!“, entfuhr es ihm und das war ihr Name und nicht der ihrer Tochter. Die Anklage richtete sich also gezielt gegen die Mutter und die Verantwortung wurde somit erfolgreich auf sie abgeschoben. Sie seufzte und versuchte nicht ertappt, sondern bestürzt auszusehen, und grub den kleinen Zögling aus dem Mehlberg aus. Was natürlich Schreikonzerte von beiden Seiten zur Folge hatte. Während die Große erschüttert war, ihr Vorhaben nicht zu Ende bringen zu können, war der Kleine untröstlich, dass er die Aufmerksamkeit seiner Schwester nicht mehr genießen durfte.
Nebenbei erkundigte sich ihr Mann, wieso denn das Mehl nicht sicher weggeschlossen worden war. Aus seinem Unterton konnte sie heraushören, dass er Gluten mit Pflanzengift und Handfeuerwaffen gleichsetzte und dass alles in einem Safe mit meterdicken Stahlwänden verwahrt gehörte. In der Mitte dieses Tribunals sitzend, mittlerweile selber mit einer Mehlschicht bedeckt, fragte sie sich, wann sie denn zum Arschloch der Nation ausgerufen worden war. Sie hatte immer die Vorstellung gehabt, dass Arschlöcher ein recht angenehmes Leben führten, da sie sich um nichts und niemanden, außer sich selbst kümmerten und so frei von Verantwortung und Schuldgefühlen waren, aber sie, sie fühlte sich weder frei noch schuldlos. Eher als steckbrieflich gesuchte Berufsverbrecherin.
Nachdem sie die Kinder in die Dusche gepackt und den Boden staubgesaugt hatte, röhrten alle vor Hunger und als sie ihren Mann fragte, warum er denn den Käse und das Gemüse nicht schon vorbereitet hatte, antwortete der, er hatte dabei nichts falsch machen wollen. Mit dem tiefen Wissen, dass ein Kissen aufs Gesicht noch zu gut für ihn wäre, brachte sie das Essen auf den Tisch. Noch bevor sie richtig mit ihrem Teller begonnen hatte, hatten die anderen schon alles hinuntergeschlungen und das Esszimmer in den glitschigen Bodensatz einer öffentlichen Mülltonne verwandelt. Sie stopfte sich noch schnell ein paar Bissen in den Mund, bevor sie das ausgespuckte Essen vom Parkett aufwischte. Der Kleine beschäftigte sich mit seinem Lego, die Große durfte fernsehen und ihr Mann lag auf der Couch und starrte reglos in sein Smartphone, während sein Daumen unablässig von unten nach oben wischte. Für einen Moment beobachtete sie ihn wie hypnotisiert von ihrer Position unter dem Tisch.
Machte er nicht auch immer dieselbe Bewegung, wenn er versuchte, sie in Stimmung zu bringen? Und hatte sie sich nicht schon unzählige Male gefragt, was das eigentlich sollte und schnell selbst die Führung übernommen, bevor sie noch die Lust an der Sache verlor? Sie betrachtete ihn eingehend und wog ab, ob sie ihn wohl heute noch dazu bringen könnte, oben zu liegen. Denn da sie beide von ihrem jeweiligen Tag und der Quälerei, die Kinder ins Bett zu bugsieren, schon vollkommen gerädert waren, stellte sich öfters die Frage, wer den Großteil der Arbeit beim Liebesspiel übernehmen musste. Letztendlich wurde es zu einem Tauziehen, wer gerade größere Lust hatte und wer dabei besser bluffen konnte. Ein Pokerspiel mit hohen Einsatz, sozusagen, denn wenn beide sich blöd genug anstellten, blieben alle unbefriedigt zurück. Nein, er wirkte erschöpft, die Falten um seine Augen waren tiefer und die Ringe dunkler. Das hieß, entweder aus der Puste kommen oder enthaltsam bleiben. Schwere Entscheidung ...
Glücklicherweise musste sie sich dieser schwierigen Frage nicht mehr stellen, denn als sie den Kleinen ins Bett brachte, ließ der sich nur beruhigen, indem sie sich zu ihm legte. Seine Finger hatten sich in ihren Oberarm gekrallt und bei jedem Versuch sich freizumachen, quakte er lautstark und hielt sie noch fester. Sie hätte ein Exempel statuieren, sich von ihm losreißen und hinausgehen oder wenigstens nur neben dem Bett stehen bleiben können. Aber sie war so erleichtert, dass er endlich still war. Und kaum hatte er aufgehört, sich wie eine Kobra im Sack zu winden, war auch sie eingeschlafen. Als sie aufwachte, dachte sie für einen Moment, sie sei querschnittsgelähmt, doch dann stellten sich nach und nach die nadelstichartigen Schmerzen in ihren Extremitäten ein und sie wusste, sie befand sich im Gitterbett, zusammengefaltet wie ein Akkordeon. Sie glitt mit angehaltenem Atem aus dem Griff ihres Sohnes heraus und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Das Wohnzimmer war dunkel und leer. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr auch warum. Es war 2:30 morgens und sie war hellwach. Verdammt. Morgen früh würde sie fix und fertig sein, was den Tag nicht davon abhalten würde, über sie herzufallen. Resigniert holte sie sich einen Schokoriegel und schaltete den Fernseher an. Wenigstens konnte sie selber über das Programm entscheiden und keiner versuchte, ihr die Süßigkeit zu klauen. Da war es nebensächlich, dass es um diese Uhrzeit nur Dauerwerbesendungen und Wiederholungen von erbärmlichen Scripted Reality Soaps gab. Es war ruhig und niemand wollte etwas von ihr und sie konnte entspannen, sie fühlte sich beinahe als Single in ihrer eigenen Wohnung. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln und sie beschloss sich, ein kleines Gläschen Whiskey zu gönnen. Vielleicht auch ein Größeres zur Feier ihrer ungeplanten, plötzlichen Freiheit.
Auf dem Bildschirm pries eine stark geschminkte Amerikanerin mit wallender dunkler Mähne ein Wundergetränk an, mit dem man in kürzester Zeit zehn Kilo abnehmen konnte. Monika prostete ihr zu und murmelte ein „Wer's glaubt, wird selig!“, als ein heller Blitz, gefolgt von einen „Plopp“ sie aufschrecken ließ. Im ersten Moment hatte sie gedacht, dass es einen Kurzschluss, wie schon vor ein paar Wochen, gab. Allerdings hatte sie da ein Messer in den Toaster gesteckt, um ein hängengebliebenes Stück Waffel herauszuholen, und damit sämtliche Sicherungen der Wohnung herausfliegen lassen. Sie war dabei einen halben Meter zurückgeschleudert worden und hatte neben einem gehörigen Schock und leichten Schmerzen eine gute Portion Schamgefühl mitbekommen. Dass sie sich aus reiner Gier beinahe umgebracht hätte, wollte sie ihrem Mann lieber nicht auf die Nase binden.
Aber diesmal war es kein Kurzschluss, der Fernseher lief noch und obwohl das Wohnzimmerlicht kurz geflackert hatte, war es immer noch an. Dafür stand neben der Couch plötzlich eine hochgewachsene, rothaarige Frau in einem grünen Kleid, und hätte sie nicht so verwirrt und verkniffen dreingesehen, hätte man sie auch sicherlich als schön bezeichnen können. Monika warf einen Blick auf die Erscheinung und dann auf ihr Glas. Sie hatte erst einen Schluck gemacht und so gut war der Whiskey nun auch wieder nicht. Die Rothaarige schien sich gefangen zu haben und wandte sich anmutig Monika zu. Ihre grünen Augen ruhten gnädig auf der Hausfrau, als sie sprach: „Ich bin Brigid, Göttin der -“, ein ohrenbetäubender Hustenanfall beendete ihre Ansprache und Monika ließ ihren Blick unruhig Richtung Tür gleiten. Sie räusperte sich zurückhaltend: „Ähm, Entschuldigung, geht das auch leiser? Nicht dass die Kinder aufwachen ...“
Die Göttin hielt sich mit einer Hand an ihrem Oberschenkel fest, während sie den Zeigefinger der anderen hochhielt, um noch ein paar Sekunden zu bekommen. Schließlich richtete sie sich auf, und während sie sich Tränen aus den Augen wischte, krächzte sie: „Keine Sorge! Du bist die Einzige, die mich sehen oder hören kann!“
„Oh!“, war im Moment alles, was Monika dazu einfiel.
Die Erscheinung räusperte sich ein paar Mal und spuckte dann auf den Boden. Monika hoffte inständig, dass auch die Spucke für alle anderen unsichtbar war.
„Ach, Entschuldigung, ich komme gerade aus einem starken Raucherhaushalt. Ich hab kaum was sehen können, durch die ganzen Nebelschwaden!“ Sie lachte, und das war ein derart helles, fröhliches Geräusch, dass auch Monika nicht anders konnte, als zu lächeln.
„Also“, sie warf ihre rote Mähne zurück und nahm wieder Haltung an.
„Ich bin Brigid, die Muttergöttin, Göttin des Herdfeuers, der Frauen, der Schmiedekunst und der Poeten. Der Familien, der Wahrheit und der Heiler.“
„Wow, du bist aber vielseitig!“, stieß Monika bewundernd hervor und nahm noch einen Schluck von dem Whiskey. Sie war sich noch nicht sicher, ob sie träumte oder halluzinierte, aber im Moment genoss sie einfach das Gespräch mit einer Erwachsenen, ohne dass die Kinder ständig „Mama! MAMA!“, dazwischenkreischten.
Brigid nickte erhaben und lächelte milde.
„Ich komme heute zu dir, Monika, weil deine verzweifelten Hilferufe zu mir gedrungen sind. Ich habe dich erhört und bin hier, um -“
„Da hast du aber auch verdammt viel zu tun, oder? Ich mein, all die Leute, denen du erscheinen musst und die was von dir wollen, mit so unterschiedlichen Bedürfnissen ...“
Monika wusste, was es für ein Kampf war mit ihren drei Kindern, den beiden Kleinen und dem Großen, und empfand tiefstes Mitgefühl mit Brigid.
„Äh, nun ja ...“
Die Göttin war sichtlich aus dem Konzept gebracht und auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Falten.
„Ich mein, das müssen ja Hunderttausende sein, oder? Und jeder braucht was, will was, ist unzufrieden, heult herum und zerrt an deinem Rockzipfel, bis er kurz davor ist zu reißen.“ Das war nicht einmal eine Metapher, letzte Woche hatte die Große tatsächlich so unnachgiebig an ihrem Kleid gezogen, bis der Saum gerissen war. Monika nahm noch einen tiefen Schluck.
„Naja, es geht“, murmelte die Göttin. „Wirklich anstrengend sind eigentlich nur die Mütter und Poeten.“
„Möchtest du auch einen Whiskey, Brigid?“, fragte Monika, während sie sich auf den Weg in die Küche machte.
„Ja, warum nicht?“, sagte die Muttergöttin und blickte sich unschlüssig um.
„Setz dich doch, du musst ja hundemüde sein! Ich bin ja sicher nicht die Erste heute Nacht, oder?“, stellte Monika fest, als sie zurückkehrte und ihrem Gast ein volles Glas in die Hand drückte.
„Naja, nein, aber ...“, stammelte Brigid. „Aber, normalerweise läuft das etwas anders ab, weißt du? Ich ... also ich hab da so eine Rede und dann stell ich dir Fragen und dann musst du Entscheidungen treffen und ... so. Weißt du?“
Monika, ungefähr eineinhalb Köpfe kleiner als ihr Gegenüber, starrte für einige Momente hinauf in diese schönen, leicht geröteten Augen und legte dann den Kopf schief. „Also ... Sitzen?“, fragte sie mit einem Lächeln.
„Ja, bitte, ja!“, hauchte die Hünin und ließ sich etwas undamenhaft in die Polster plumpsen. Die beiden Frauen prosteten sich zu und genossen schweigend den irischen Whiskey, den Monika zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte. Ihre Tante hatte ihn ihr feierlich überreicht, mit den Worten: „Jetzt kannst du ja wieder sämtliche Freiheiten genießen, nachdem du nicht mehr stillst!“ Und Monika hatte sich nur gedacht: „Sowas kann auch wirklich nur ein kinderloser Mensch sagen“, sich aber dennoch über das Geschenk gefreut.
Im Fernsehen hatte sich zu der Amerikanerin eine blonde Deutsche gesellt und während beide einen potthässlichen Ring in die Kamera hielten, lachten sie wie Seehunde und zeigten der Nation ihre gebleichten Zähne. Monika griff nach der Fernbedienung und bereitete dem Treiben ein Ende. Die Göttin hatte ihren Kopf auf ein Kissen, das schon dreimal angekotzt und zweimal angepinkelt worden war, gebettet und lächelte sanft. Sie hatte ihre Augen geschlossen und war in diesem Moment der friedlichen Ruhe so unbeschreiblich schön, dass Monika vor Glück weinen wollte. Brigid öffnete ein Auge und als sie ihr Gegenüber sah, richtete sie sich gemächlich auf und legte eine Hand auf Monikas Arm.
„Ich denke, die Förmlichkeiten können wir uns jetzt sparen.“
Sie dehnte ihre Nackenmuskeln, indem sie ihren Kopf von rechts nach links rollte und grunzte entspannt, als sie ihre Arme in die Höhe streckte.
„Also, normalerweise würde ich jetzt eine beeindruckende Ansprache halten, hauptsächlich über mich und das Mutter- und Frausein an sich und dann -“
„Willst du sie halten? Deine Ansprache?“, unterbrach sie Monika.
Brigid hob eine perfekte, rote Augenbraue. „Willst du sie denn unbedingt hören?“
Nach kurzem Überlegen schüttelte die Hausfrau den Kopf.
„Dann, nein danke, ich muss sie nicht unbedingt halten. Letztendlich läuft es dann darauf hinaus, dir aufzuzeigen, wie wichtig und sinnvoll das ist, was du tust und dass all die Anstrengungen und Entbehrungen sich eines Tages lohnen werden. Und dann werde ich dich vor die Wahl stellen: weiterzumachen und bei deiner Familie zu bleiben oder alles aufzugeben und ein neues Leben woanders anzufangen, ohne deine Lieben.“
Die Göttin nahm einen großen Schluck Whiskey und ließ sich wieder auf die Polster zurücksinken.
„Okay. Lass uns gehen!“, verkündete Monika und stand auf.
Brigid riss die Augen auf und schüttelte leicht den Kopf, als ob sie nicht richtig gehört hatte.
„Was ... Was meinst du?“, fragte sie verdutzt.
„Naja, was du gesagt hast. Fortgehen, ein neues Leben anfangen. Klingt gut!“
„Warte, warte! So läuft das normalerweise nicht!“
„Gibt‘s ein Drehbuch für solche Dinge?“
„Nein, aber ...“, mit einem frustrierten Stöhnen setzte sie sich aufrecht hin und stellte das Glas auf den Couchtisch. „Jetzt nimm bitte wieder Platz, Monika!“
Die Angesprochene folgte widerwillig und legte trotzig die Stirn in Falten.
Brigid räusperte sich und legte erneut ihre Hand auf Monikas Arm.
„Das ist alles falsch gelaufen. Ich hätte das nicht abkürzen dürfen! Wenn du meine leidenschaftlichen Worte zu deiner Familie und deinem Leben gehört hättest, dann würdest du heulend auf die Knie sinken und dankbar sein für alles, das du hast!“
„Mag sein, mag sein ...“, überlegte Monika, „Und glaub mir, ich liebe sie, ich finde sie alle großartig, auch wenn sie mir auf die Nerven gehen. Und ich würde sie jeden Tag schrecklich vermissen, wenn ich fortgehen würde. Aber wenn das jetzt der Moment ist, wo ich mir was wünschen kann ... Also, wenn ich jetzt die Wahl habe zwischen es bleibt alles so wie es ist oder was anderes, dann nehm ich das andere.“
„Oj!“, rief die Göttin aus. „Das ist mir ja noch nie passiert!“
„Tut mir leid!“ Nun legte Monika ihre Hand auf Brigids Arm und drückte sanft zu. „Ich wollte dir keinen Ärger bereiten!“
Brigid schüttelte den Kopf und lächelte müde.
„Mach dir keine Gedanken um mich! Also ist es das, was du wirklich willst? Fortgehen und sie zurücklassen?“
„Um Himmels Willen, nein! Aber ich will, ich kann so auch nicht weitermachen. Über kurz oder lang werd ich durchdrehen und Gott weiß was machen!“
„In Ordnung. Aber was willst du?“
Monika blickte auf den Boden und dachte angestrengt nach. Diese Frage schien einfach und sie hatte sie sich schon selber oft genug gestellt. Aber eine Antwort darauf zu finden, war alles andere als selbstverständlich. Sie wurde ungeduldig und zornig auf sich selbst. Einerseits konnte sie nicht schnell genug diesem Leben entkommen, einfach um wieder durchatmen und so Kleinigkeiten, wie allein aufs Klo gehen, zu können. Andererseits wusste sie, dass sie die Sehnsucht nach ihrer Familie umbringen würde. Entmutigt warf sie die Hände in die Höhe und zischte: „Ich weiß es nicht! Verdammt!“, und trank mit einem großen Schluck den Rest ihres Whiskeys aus. Brigid setzte gerade an etwas zu sagen, als Monika erregt fortfuhr.
„Weißt du, wie anstrengend das ist? Ständig DA zu sein, geistig wie auch körperlich? Nie eine Auszeit zu haben, weil du ständig mit einem Ohr hören musst, was die kleinen Scheißer so treiben?“
Die Muttergöttin betrachtete sie mit einem zarten Lächeln und antwortete: „Ja. Ja, ich denke, ich weiß, wie das ist.“
„Und dass ich hier mit dir sitze und Whiskey trinke ... Ich ... ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal mit einer normalen Erwachsenen einfach nur einen getrunken und mich einfach nur unterhalten habe?!“
Brigids Lächeln wurde breiter. „Einer normalen Erwachsenen?“
„Weißt du was? Im Grunde will ich einfach nur in den Arm genommen werden. Nicht weil jemand was von mir braucht oder will, sondern einfach nur, um mich zu halten. Und mir zuzuhören, ohne über mich zu urteilen. Das hatte ich, ich glaube, das hatte ich das letzte Mal als ich ein Kind war und im Schoß meiner Mutter gelegen bin. Das Gefühl hätt ich gern wieder!“
Monika schnaufte und starrte auf das leere Glas. Eine zarte, blasse Hand umfasste ihr Kinn und hob es vorsichtig an. Als sie das Grinsen ihres Gegenübers sah, musste sie lachen.
„Bei allen Göttern, ich weiß, wie du dich fühlst!“, versicherte ihr Brigid. „Manchmal könnte ich nur schreien und diesen ganzen undankbaren Haufen mit einem Fingerzeig in Asche verwandeln! Natürlich mach ich das nicht. Aber der Gedanke ist schön ...“, sie kicherte und breitete die Arme aus.
„Wenn ich sonst auch nichts für dich tun kann, ich kann dich halten. Und dir zuhören. Und mit dir trinken!“, fügte sie noch schnell hinzu und beide Frauen lachten.
Nach kurzem Zögern kuschelte sich Monika an ihre Göttin und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Ob sie so mehrere Stunden oder nur Minuten verbrachten, war ihr bald nicht mehr klar, sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und die Uhr an der Wand hatte aufgehört zu ticken. Sie war nur noch einmal aufgestanden, um die Whiskey Flasche herzuholen. Und so hatten sie geredet, getrunken und geschwiegen.
„Das könnte ich gut und gerne öfter haben!“, murmelte Monika verträumt.
„Weißt du was, Monika?“, bemerkte Brigid entspannt, „Ich auch!“
„Gut!“, entgegnete die Hausfrau und Mutter. „Aber nächstes Mal bringst du den Alkohol mit!“
Constanze Scheib
www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 17203
In den Tiefen des Landes gab es einen großen, dunklen Wald. Er war voller kräftiger Bäume und an mancher Stelle wurde er von saftigen, grünen Wiesen unterbrochen. Dennoch wagten sich die Menschen nicht tiefer als ein paar hundert Meter hinein. Sobald die Kinder laufen konnten, wurde ihnen eingebläut, niemals den Wald zu betreten, von jeher kursierten Schauergeschichten, um dieses Verbot zu untermauern. Sie handelten von ungezogenen Mädchen und Jungen, die nicht auf die Erwachsenen hören wollten, in den Wald gegangen und niemals zurückgekehrt waren. Manchmal saß man am Lagerfeuer, lauschte den Geräuschen der Nacht und jemand sagte: „Hört ihr das? Das ist der kleine Lukas, der sein Leid klagt. Wäre er nur damals nicht in den Wald gegangen!“ oder: „Das sind Marias Schreie, sie fleht, dass ihr jemand zur Hilfe kommt, doch jeder, der ihr folgt, ist genauso verloren wie sie!“
Allerdings konnte man sich nicht wirklich auf eine gemeinsame Ursache dieses Schreckens einigen. Die einen meinten, es handle sich um einen riesigen, menschenähnlichen Wolf, der von Menschenfleisch lebte, andere wiederum waren sich sicher, dass im Wald der Schlund der Hölle lag, der alles verschluckte, das in seine Nähe kam. Dann gab es natürlich auch die Traditionalisten, die von Hexen, Monstern und Kobolden sprachen.
Jeder Landstrich, der einen schönen, großen Wald sein Eigen nennt und etwas auf sich hält, hat solche Geschichten. Tatsache ist, dass es schon einige gab, die tiefer in den Wald eingedrungen waren, um wertvolle Rohstoffe oder sich selbst zu finden, und die auch heil wieder zurückgekehrt waren. Tatsache ist auch, dass es einige gab, die nicht wiederkamen, aber auch dafür existierten rationale Erklärungen. Immerhin, es war ein verdammt großer und dunkler Wald, da konnte man sich schon leicht verirren. Unter den Jugendlichen gab es andere Theorien. Die gängigste war, dass sich die „Verlorenen“ einfach aus dem Staub gemacht hatten, um diesem Kaff zu entfliehen und irgendwo ein besseres, aufregenderes Leben anzufangen. Die Wahrheit lag wie so oft irgendwo in der Mitte.
Der Wald war größtenteils eine ganz normale Ansammlung von Bäumen, nicht anders als andere. Vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass die Tiere hier ein friedlicheres, ruhigeres Leben führten, da die Menschen, dank ihres Aberglaubens, nicht das Bedürfnis hatten, die Gegend zu zivilisieren.
Jedoch gab es ungefähr in der Mitte des Waldes ein kleines Häuschen, das von außen unscheinbar wirkte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit quoll Rauch aus dem gemauerten Schornstein, ein beeindruckender Kräutergarten erstreckte sich auf der Rückseite, und die Fensterläden waren fast immer geschlossen. Hervorzuheben wäre auch, dass es den Anschein hatte, als würde das Häuschen immer im Schatten stehen, obwohl es auf einer Lichtung erbaut wurde. Jeder Wanderer, der sich ihm näherte, ward nicht mehr gesehen, jedes Kind, das sich hierher verirrte, kehrte nicht mehr heim.
Die Bewohnerin dieses Häuschens war eine Hexe wie sie im Buche stand. Sie war alt und hässlich, hatte einen Buckel und eine Warze auf der Nase und war von so einer abgrundtiefen Bosheit erfüllt, dass sich selbst Werwölfe und Kobolde vor ihr fürchteten. Verirrte, die eine unsichtbare Grenze überschritten, wurden in ihren Bann gezogen und konnten sich nicht mehr wehren. Manche verspeiste sie gleich, andere ließ sie noch einige Zeit für sich arbeiten, bis sie sich ihrer entledigte. Sie war so alt wie die Zeit und kannte keine Furcht.
Allerdings hatte sie auch noch nicht Fred getroffen.
Eines Tages sah sie aus ihrem Fenster und erblickte mit Genugtuung, dass ein junger Mann die Lichtung betrat. Sie hatte schon seit geraumer Zeit kein Festmahl mehr gehabt, und auch wenn dieser Junge etwas schlaksig wirkte, es würde genug Fleisch an ihm dran sein. Die Hexe rieb sich die Hände, kicherte boshaft und trat ihm entgegen. Anstatt sich in eine wehrlose Kreatur zu verwandeln, die sich ihr bereitwillig zu Füßen legte, stolperte er ihr in die Arme und nieste ihr ins Gesicht.
„Ich bin Fred!“, krächzte er, während ihm ein dicker Rotzfaden aus der Nase hing. „Tschuldigung“, fügte er hinzu, als er die besudelte und durchaus verdutzte Hexe sah.
„Es sind diese verdammten Gräser und Pollen. Und die Bäume und diese fürchterlichen Tiere, die überall ihre Haare herumliegen lassen. Dieser Wald ist so was von DRECKIG!“
Er schnaubte in ein riesiges, gelbliches Taschentuch und nach kurzem Zögern bot er es großzügig der Hexe an. Diese reagierte nicht, sondern starrte Fred fassungslos und wutschnaubend an.
„Nein? Na, dann halt nicht.“
Er steckte das Tuch wieder ein, stemmte die Arme in den Rücken und blickte sich um.
„Nettes Plätzchen haben Sie hier. Abgesehen von der vielen Natur, natürlich!“ Fred lachte über seinen gelungenen Scherz und schlug der Hexe auf den Buckel.
„Huch, das ist ja ein ekliges Ding! So was kann man heutzutage wegmachen lassen, wissen Sie das?“
Die Hexe warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Rücken, hob die Hand vor Freds Brust und begann Zauberformeln zu murmeln.
„Ja, danke! Ich würde schrecklich gern etwas trinken!“
Fred fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schob sich an der Hexe vorbei, um durch die offene Tür zu schreiten. Die Hexe war zwar kurzfristig überrascht, dass ihr Zauber nicht gewirkt hatte, aber sie war jetzt erst recht entschlossen, den Jungen zu ihrem Sklaven zu machen und ihn für sein Verhalten zu maßregeln.
Als sie seine nasale Stimme aus dem Haus hörte, beeilte sie sich hineinzukommen.
„Mein GOTT, ist das stickig hier!“
Darauf folgte ein beeindruckender Hustenanfall.
„Wann haben Sie denn hier das letzte Mal geputzt? Überall Staub!“
Zwei elefantöse Nieser.
„Also erstmal muss hier ein bisschen Licht rein!“
Fred begann schwungvoll die Fensterläden aufzureißen und störte sich auch nicht daran, dass einige Gläser und Schüsseln mit undefinierbarem Inhalt zu Bruch gingen. „Nein!“, kreischte die Hexe und zerrte an seinem Hemd. Körperliche Kraft hatte sie dank ihrer Fähigkeiten bis dahin nie gebraucht.
„Schon in Ordnung, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann das allein!“
Er schüttelte sie erfolgreich ab.
„Aber Sie könnten mir in der Zwischenzeit was zu trinken bringen. Das haben Sie wohl schon wieder vergessen, altes Mädchen, häh?“
Er lachte und zwinkerte ihr nachsichtig zu, während er sich weiter an den Fenstern zu schaffen machte. Für einen Moment stand die Hexe ratlos da, bis sich auf ihrem Gesicht ein furchterregend bösartiges Grinsen breitmachte. „Aber natürlich!“, krächzte sie und mixte mit ihren Zauberutensilien einen grausigen Trank aus Krähenfüßen, Rattenherzen und Froschschleim zusammen. Mit ihren knorrigen, warzigen Händen hielt sie ihm die Tasse vor die Nase und sprach: „Hier. Alles austrinken!“
Fred schnüffelte daran und verzog das Gesicht. „Da haben Sie mir eine Limonade gemacht, was?“ Beherzt griff er zur Tasse, zögerte nur einen Moment und leerte das Gefäß mit einem Schluck. Die Hexe kicherte unheilvoll und verkündete: „Jetzt bist du mein!“
Die Farbe verschwand aus seinem Gesicht und sein Blick wurde glasig. Die Welt um ihn begann zu schwanken, und er musste sich an einem Tisch festhalten, woraufhin dieser nachgab und sämtliche Flaschen, Töpfe und Tierleichen, die sich darauf befanden, auf den Boden kugelten und sich im ganzen Häuschen verteilten. Fred sank auf die Knie und griff sich auf den Bauch. „Mir ist so…“
„Jetzt wirst du dafür büßen, du elender Wurm!“ Triumphierend blickte sie auf ihn herab, hob ihren Arm und zischte einen grausigen Zauberspruch.
Plötzlich schrie Fred auf: „Mein Darmleiden! Wo ist das Klo?“
Er schubste die Hexe beiseite und stürmte ins erstbeste offene Zimmer. Mühsam rappelte sie sich auf und ihr Gesicht verwandelte sich in eine vor Schrecken verzerrte Fratze, als sie ihm nachblickte. „Das… das ist mein Schlafzimmer!“, keuchte sie und begann zu rennen. Sie war jedoch zu aufgebracht, um darauf zu achten, wo sie hintrat, so landete sie unglücklicherweise auf einer herumliegenden Flasche, rollte darauf zirkusgleich ins Schlafzimmer, wo die Flasche von einem abgetrennten Hasenkopf gebremst wurde. Für den Körper der Hexe kam dieser Halt allerdings zu abrupt, sie überschlug sich und brach sich das Genick vor den Füßen Freds. Dieser erhob sich mit einem tiefen Seufzer, machte einen großen Schritt über die Überreste der Hexe und zog sich dabei die Hose hoch.
„Hui, das war aber knapp. Ein gemütliches Klo haben Sie da! Oh, Sie haben sich hingelegt? Jaja, ich verstehe den Hinweis. Ich bin nämlich ein äußerst feinfühliger Mensch. Ich merke, wenn ich nicht mehr erwünscht bin. Bringen Sie mich ja nicht zur Tür, ich finde allein raus! Cheerio!“
Beschwingt und erfrischt verschwand Fred wieder im Wald und er lebte glücklich mit seinen Allergien bis ans Ende seiner Tage.
Constanze Scheib
www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16161
In einer Nacht, als Amelie schon längst friedlich in ihrem Bettchen schlummerte, stellte sich Edgar vor den großen Spiegel im Vorzimmer. Er machte das Licht an, zog sein T-Shirt aus, betrachtete sich und versuchte dabei so objektiv wie möglich zu sein. Seit geraumer Zeit hatte er es vermieden, sich und insbesondere seinen Körper genauer anzublicken, zwar war er bemüht, sauber und gepflegt auszusehen, doch hatte er nie einen Blick zu viel riskiert. Er musterte den Menschen, der vor ihm stand. Er war ihm völlig fremd.
Edgar erinnerte sich noch gut an frühere Zeiten, Zeiten vor Laura, in denen er fast schon eine gewisse Eitelkeit an den Tag gelegt, in denen er sich gern selbst angesehen hatte. In denen er sich gemocht hatte. Hier stand nun ein abgemagerter, alter Mann, der in absehbarer Zeit eine Glatze haben würde, dessen Gesicht eingefallen war und dessen Augen müde und blutunterlaufen waren. Ungläubig beäugte er sein Spiegelbild wie einen Fremden, er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es war, jung zu sein, vor Kraft zu strotzen und … und zu lächeln. Er wusste nicht mehr, wie er aussah, wenn er lächelte.
Natürlich konnte er die Mundwinkel hochziehen, er konnte seine Zähne zeigen, er konnte so tun als ob. Er versuchte es. Sein Spiegelbild spannte die Gesichtsmuskeln an und was er sah, war bemitleidenswert, das war nicht er, das war nicht der lebensfrohe Edgar, das war ein geprügelter, alter Hund, der nicht mehr wusste, wie man wedelt.
Zuerst ließ ihn dieser Gedanke wütend werden, er hob seine Faust und wollte gegen den Spiegel schlagen, doch auf halbem Wege hielt er inne, überlegte einen Augenblick und fing an zu kichern. Die Vorstellung, wie er mit dem Schwanz wedelte, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, er prustete laut los und hielt sich die Hand vor den Mund, um Amelie nicht zu wecken. Ihm liefen die Tränen die Wangen hinunter, sein ganzer Körper schüttelte sich vor Lachen, er ging in die Knie und hoffte, dass er den Harndrang zurückhalten konnte.
Nach einigen Minuten hatte er sich beruhigt, er ließ sich nach hinten auf seinen Allerwertesten plumpsen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er kicherte immer noch vor sich hin, als er den Kopf hob und sich erneut im Spiegel betrachtete. Aus diesem Blickwinkel konnte er nur die obere Hälfte seines Körpers sehen, doch für ihn reichte das vollkommen.
Er konnte Leben und Freude erblicken, er konnte jemanden sehen, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte. „Hallo!“, sagte Edgar mit all der Wärme, die er noch in sich hatte. Und er lächelte.
Constanze Scheib
Auszug aus dem Roman: Lauras Parfum, 2014
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14069
Der Regen goss seit Stunden und doch kam es ihm vor, als ob der Boden hart und trocken bliebe. Als ob die Erde nie genug bekäme und immer mehr in sich aufsaugen müsste. Die Männer schafften unermüdlich die großen braunen Pakete von der Lagerhalle auf den Lieferwagen. Jedes einzelne fest eingepackt in eine durchsichtige Plastikhülle, damit der kostbare Inhalt nicht nass werden würde. Wie in einer Endlosschleife vollbrachten die gesichtslosen Arbeiter seit fast zwei Tagen dieselben Bewegungen, einer Ameisenstraße gleich, ohne Unterlass, ohne Beschwerden, ohne Pause. Als die Wolken aufgezogen waren und der Regen immer stärker und unerbittlicher auf sie hinab strömte, hatten sie nicht mit der Wimper gezuckt, keinen Moment innegehalten, um den Kragen aufzurichten oder sich gar unterzustellen.
Carlos war wie hypnotisiert von diesem Perpetuum mobile. Er betrachtete die Handlanger mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Einige von ihnen würden vermutlich nicht mehr lange leben. Würden den körperlichen Anforderungen dieses Jobs nicht mehr standhalten, von Kollegen wegen ein paar Pesos erschlagen oder erstochen werden oder im Kugelhagel der Konkurrenz ihr Leben lassen. Es gab viele Möglichkeiten, in diesem Land zu sterben. Besonders in diesem Gewerbe. Manchmal spielte Carlos ein kleines Spiel. Welcher würde als nächster verschwinden? Würde den einen, etwas älteren mit ergrautem Bart, das Dengue- oder das Gelbfieber dahinraffen? Oder der Junge, der kaum älter als siebzehn wirkte, den fatalen Fehler machen und zu viel Geld unter seiner Matratze verstecken, um es seiner Familie zu schicken? Woraufhin ihm einer seiner compañeros in der Nacht die Kehle aufschlitzen würde, um an die ersehnten Scheine zu kommen, die ein besseres Leben versprachen, um letztendlich doch nur beim ansässigen Schwarzbrenner zu landen?
Es war schwer vorstellbar, dass sein Vater einst einer von ihnen gewesen war. Sein Vater, stets in feinsten Zwirn gehüllt, mit Krawatten passend zu seinen Stecktüchern und Schuhen, die mehr Geld kosteten, als diese Arbeiter je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen würden. So wie diese armen Seelen war sein Vater einst seinem Traum gefolgt. Dem Traum von Arbeit, von Geld, von einem besseren Leben. So voller Hoffnung und Verzweiflung, dass kein Gedanke an die Gefahren oder die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens verschwendet wurde. Doch sein Vater hatte es geschafft. Hatte sich durchgekämpft und überlebt. Und nicht nur das. Er hatte ein Imperium mit unvorstellbarem Reichtum in die Welt gesetzt und Carlos würde es eines Tages erben. Und so wurde sein Vater niemals müde, ihm seine Geschichte zu erzählen. Eindringlich, mit tiefer, sonorer Stimme und mit feurigen Augen malte sein Vater ein blutiges, schlammiges Gemälde von seiner Kindheit und Jugend. Von seinen drei Geschwistern, die er sterben sah, weil weder Arzt noch sauberes Wasser eine Selbstverständlichkeit in ihrem kleinen Dorf gewesen waren. Vom gewalttätigen Vater, der seinen kargen Verdienst für Schnaps ausgab, von der sanften Mutter, die mit aller Kraft dafür gekämpft hatte, ihren Jüngsten in die Schule zu schicken. Doch mit zehn Jahren half alles Betteln und Flehen nichts mehr und Carlos Vater musste in der nahegelegenen Kaffeeplantage sein Auskommen finden. Die Arbeit war hart und gefährlich. Manchmal musste er so viele Stunden schuften, dass er zu erschöpft war, um nach Hause schlafen zu gehen. Dann rollte er sich in einer Ecke einer Baracke am harten Boden zusammen und betete, dass man ihn in Frieden ließ.
Die Felder waren häufig Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen den Guerilleros aus den Bergen und der Armee. Carlos Vater wusste nicht, worum es dabei ging und es kümmerte ihn auch nicht. Das einzige, worauf es ankam, war sich so klein wie möglich zu machen, wenn die Schüsse über die Sträucher peitschten. Viele waren zu langsam und fanden wimmernd und flehend ihr Ende auf der fruchtbaren Erde. Männer, die nichts anderes erhofft hatten, als Geld zu verdienen, um ihre Familien zu ernähren. Die kein Interesse an Krieg oder Politik hatten. „Natürliche Auslese“, hatte der alte Vorarbeiter nach dem ersten Vorfall gelallt und dem zitternden Jungen eine Flasche Fusel zur Beruhigung hingehalten. „Wenn Du zu dumm und zu lahm bist, niño, dann wirst Du sterben. Früher oder später.“ Der Kleine hatte einen tiefen Schluck genommen und sich geschworen, am Leben zu bleiben.
Marihuana nahm ihm die Angst und ließ ihn den harten Job ertragen. Außerdem machte er Bekanntschaft mit den lokalen Dealern, für die er fortan auch kleine Botengänge erledigte und die ihn mit Gras entlohnten. Seine Geschicklichkeit und Verlässlichkeit machten schnell die Runde und so bekam er immer mehr und immer größere Aufgaben, für die er bald auch bares Geld verlangte. Nach nicht einmal zwei Jahren kündigte er bei der Kaffeeplantage und widmete sich vollends den Machenschaften des ortsansässigen Drogenkartells. Er war kein kräftiger Bursche und auch wenn er zu kämpfen wusste, war es für sein Weiterkommen und Überleben unumgänglich, sich Respekt zu verschaffen. Mit dreizehn erstand er seine erste Handfeuerwaffe, mit fünfzehn tötete er das erste Mal einen Menschen damit. Mit nur 21 Jahren war er zum Kopf einer gefürchteten Bande aufgestiegen, die mit Entführungen und Kokainschmuggel von sich reden machte. Nachdem er sich mit 28 Jahren des bis dahin größten Drogenbarons entledigt hatte, übernahm er dessen Geschäfte und gründete sein Imperium. Baute Villen und Kokaplantagen, überschüttete die Bevölkerung mit Geschenken, um sie stets an seiner Seite zu wissen.
„Du musstest niemals kämpfen, hijo“, dröhnte die Stimme seines Vaters an Carlos Ohr und der bauschige Schnurrbart kitzelte dabei an seiner Wange. „Doch du musst wissen woher all das kommt. Wie viel Blut fließen musste, damit du nachts in deinem weichen, warmen Bett träumen kannst ohne zu frieren, ohne zu hungern.“ Diese Worte hatte Carlos mittlerweile verinnerlicht, so oft hatte er sie gehört. Und er hatte sich geschworen, stark und tapfer zu sein und die Geschichte seines Vaters niemals zu vergessen. Deswegen hatte er auch nicht geweint, als dieser nicht zu seinem Geburtstag erschienen war, auch wenn er es versprochen hatte. Denn er wusste, dass alle Opfer bringen mussten. Er wusste, dass sein Vater gejagt wurde. Von der Regierung, der Konkurrenz, selbst von Verbündeten. Nun waren drei Monate seit seinem zwölften Geburtstag vergangen und sein Vater war immer noch nicht aufgetaucht. Vor drei Wochen hatte er das letzte Mal mit ihm telefoniert. Seitdem nichts.
Carlos hockte im Stall im warmen Heu und betrachtete die Männer, wie sie die Pakete unermüdlich in den Lastwagen schafften. Es würden noch zwei oder drei Fuhren sein, dann hätten sie ihre Arbeit getan. Manchmal kam sein Vater, um die großen Lieferungen zu überwachen. Carlos wartete. Er gab die Hoffnung nicht auf.
Constanze Scheib
Auszug aus: PenArt, Ausgabe Frühjahr, 2014, "Ein Geschäft mit Träumen"
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14054
Also bist Du einfach gegangen. Bist dem Horizont entgegengeschritten ohne Dich auch nur einmal umzudrehen. Sehr romantische Vorstellung. Vor allem wenn man bedenkt, dass das alles nur für mich war. Sollte ich mich geehrt fühlen? Ja, ich denke, das wäre angebracht. Wahrscheinlich sollte ich Dir jetzt danken. Ich nehme an, das Protokoll sieht es so vor. Ein Mann, der sich für die Frau, die er liebt, aufopfert. Ein Held. Dankbarkeit wäre wohl das Mindeste was man erwarten kann. Vermutlich. Doch etwas in mir, ich kann nicht sagen was, sträubt sich dagegen mit aller Kraft. Ja, es schreit sogar aus mir heraus, mit einer schrecklich verzerrten Stimme voller Abscheu und Ekel.
Vielleicht bin ich ja dumm. In den letzten Monaten habe ich gehofft, dumm zu sein. Zu dumm um zu begreifen, dass Du mich nur zu meinem Besten verlassen hast. Wirklich lächerlich, dass ich es nicht begriffen habe. Gründe hast Du mir ja genug geliefert. Dass ich zu gut für Dich wäre. Das klang interessant. Und neu. Während unserer Beziehung fiel mir nie auf, dass Du mich so dermaßen schätzen würdest. Dass Du mich zu sehr lieben würdest. Das machte mich stutzig. Und dass Du Angst hättest, mich mit Deiner Liebe zu erdrücken und mir keine Luft mehr zu lassen. Das machte mich wütend. Das machte mich stumm. Das brachte mich so sehr aus der Fassung, dass ich nichts mehr sagen konnte. Das gab Dir die Möglichkeit, einfach zu verschwinden ohne meine Meinung zu hören. Ohne jemals meine Antwort zu hören. Bis jetzt.
Jetzt sitzt Du da und bist endlich einmal still. Jetzt musst Du mir zuhören. Die letzten Monate saß ich hier in diesem Zimmer und wartete auf ein Lebenszeichen. Einen Brief, eine Karte, einen Telefonanruf.
Was möchtest Du sagen? Vermutlich, dass es das Beste für mich war, dass ich Dich so leichter vergessen konnte. Aber ich habe Dich nicht vergessen. Jede Sekunde habe ich an Dich gedacht. Dauernd sah ich Dich vor mir, Deinen betroffenen Gesichtsausdruck, als Du mir sagtest, dass Du dieses Opfer für uns beide bringen müsstest. Und jeden Tag habe ich Dich mehr gehasst. Dieser Hass hat mich kaum noch denken lassen, kaum noch atmen lassen. Ich konnte kein normales Leben mehr führen, doch das Schlimmste daran war, dass ich nicht aufhören konnte, Dich zu lieben.
Es hat mich zerrissen, Du hast mich zerrissen und das alles nur, weil Du mir nicht sagen konntest, dass Du mich nicht mehr liebst. Weil Du nicht einmal in Deinem Leben ehrlich sein konntest. Du hast mich allein gelassen mit meinem Schmerz und meiner Hoffnung, mit meiner Liebe und meinem Hass. Das hast Du mir alles aufgeladen, während Du schon mit Deinem neuen Leben begonnen hast. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich neu anfangen darf. Jetzt will ich den ganzen Dreck hinter mir lassen und endlich wieder frei atmen können. Deshalb musstest Du hierher kommen. Deshalb musstest Du mir zuhören. Und ich habe Dir gesagt, was ich schon lange loswerden wollte. Mehr verlange ich nicht.
Da sitzt Du nun mit Deinem hochroten Kopf und Deinen müden Augen. Ich liebe Dich nicht mehr. Das weiß ich jetzt. Und ich hasse Dich nicht mehr, denn Hass kann ohne Liebe nicht existieren. Jetzt kann ich Dich vom Sessel losbinden und Dir das Tuch aus dem Mund nehmen. Die Beule am Kopf wird bald verschwinden. Nein, es tut mir nicht leid. Es tut mir nichts mehr leid. Nicht einmal, dass ich Dich kennen gelernt habe.
Constanze Scheib
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 14047