Kategorie-Archiv: Claudia Kellnhofer

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In einen Garten hat er dich gesetzt
dein Herr
voll Grün und Farben
Sonnenstrahlen wärmen deine Glieder
und räkeln kannst du dich
im wohlig warmen Licht

Warum nur spürst du’s nicht

Kummer hat ein Nest in deinem Herzen sich gebaut
lähmt dir die Glieder und die Sinne
Wie soll das Raunen an dein Ohr gelangen
und die Stimme, die dich trägt, die Hand dir reichen
sanft flüstert sie
Ich halte dich
Ich liebe dich
Ich bleib bei dir
Hier bin ich
Schau, so schau doch, schau

Warum nur hörst du’s nicht

Es gibt das Glück, das ich dir zugedacht
so nimm es doch mit beiden Händen
oh weh, es rinnt dir durch die Finger
und nur ein Schimmer bleibt
der dich erinnert und auch quält

Du bist doch hier
zu kosten aus dem Garten
Du bist mein Kind
das ich so gerne herze
und dem ich meine Liebe schenke
die vom Verschenken lebt

Du siehst sie nicht und fühlst sie nicht
und das ist all dein Leid
Wie kann es sein
dass so viel Wohlergeh’n vergeht
entschwindet
Es ist doch da und doch ist’s nicht
zu greifen
zu spüren nicht
und auch nicht anzuschau’n

wie schmerzt es
deine inn’re Einsamkeit zu spüren
wo sind die Wölfe,
die sich darauf versteh’n
sie zu verjagen

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18034

Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen

Ich habe viele Stühle in meinem Haus, viel mehr, als meine Familie braucht. Immer schon habe ich herrenlose Stühle aufgelesen, die auf Dachböden, in Kellern oder Garagen ihr vorläufiges Ende gefunden hatten. In mir regt sich bis heute das Mitleid, wenn ich einen ausrangierten Stuhl sehe. Er tut mir unendlich leid und ich nehme ihn mit, repariere ihn oder lasse ihn reparieren und gebe ihm ein neues Zuhause. Auch ein Stuhl braucht ein Zuhause! Einen liebevoll geschreinerten Stuhl setzt man nicht aus, wenn seine Bauart aus der Mode gekommen ist, wenn die geflochtene Sitzfläche zerrissen ist, wenn die Lehne abfällt. – Nein, das tut man nicht. Ich habe also eine kleine Sammlung von verschiedenen Stühlen. Zu jedem einzelnen kann ich eine Geschichte erzählen und die Geschichte betrifft nur die kurze Zeit, die ich mit dem jeweiligen Stuhl verbringe. Jeder Stuhl könnte also selber auch noch eine viel längere Geschichte erzählen, wenn die Stummheit nicht zum Wesen der Stühle gehörte.
Ein guter Stuhl muss leicht sein, sodass er jederzeit hochgehoben und an einen anderen Platz gestellt werden kann. Die Qualität eines Stuhles erkennt man an seiner Leichtigkeit.

Wenn ein Gast kommt, gehört es zur guten Sitte, ihm einen Stuhl, einen Sitzplatz anzubieten, sodass er verweilen und sich erholen kann. Bei den Juden ist es am Sederabend Brauch, ein Gedeck zu viel aufzulegen und einen zusätzlichen Stuhl an den Tisch zu stellen, damit der Prophet Elija, sollte er vorbeikommen, einkehren kann. Jederzeit kann der Messias kommen, wir kennen weder Zeit noch Stunde, aber wir wollen doch gerüstet sein.
Auch ich will gerüstet sein, wenn ein Fremder kommt und um Einlass bittet. So ist die Geschichte mit den Stühlen für mich auf ganz besondere Weise lebendig geworden. – Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen, so lautet ein Sprichwort. – Ich habe viele Stühle, auf denen sich das Glück niederlassen kann. Aber das ist wahrscheinlich zu aufdringlich für das Glück, und es geht lieber vorbei. Auch das Glück mag es, wenn es sich nicht entscheiden muss, wenn gleich der richtige Platz gefunden ist. Zu viele Stühle sind ein Gottversuchen.

Beim Sperrmüll habe ich einmal einen ausgesetzten Stuhl gefunden. Die Sitzfläche – aus Bast geflochten – war zerrissen. Offensichtlich ist ein Rüpel oder gar ein Brackel mit dem Fuß daraufgestiegen.  Als die filigrane Sitzfläche unter der Last stöhnte und ächzte, nachgab und riss, zeigte sich eine klaffende Wunde. Der Stuhl wurde ausrangiert, auf die Straße gestellt. –Herzlos! Gott sei Dank hat mich mein Weg daran vorbeigeführt, mein mitleidiges Herz hat sich sofort geregt und ich habe dem siechen Stuhl Obdach gegeben. – Monate später fand ich einen Korbmacher, der sich noch auf die Kunst des Flechtens versteht. Er hat meinen maladen Stuhl repariert. – Wohlgemerkt für teures Geld!
Ein andermal bin ich an einem Tag, an dem Sperrmüll gesammelt wurde, auf einen kleinen Sessel aufmerksam geworden, der mich gedauert hat, und ich habe ihn vor der Müllpresse bewahrt. Jetzt hat er in meinem Haushalt eine neue Heimat gefunden und jeder Gast nimmt gern auf ihm Platz.

Nun hat es sich ereignet, dass seit geraumer Zeit ein junger Mann, der im Jahr 2015 seine Heimat Afghanistan verlassen hat, in mein Haus kommt. Er möchte Deutsch besser lernen und wir sprechen und lesen miteinander. Ich mühe mich, Wörter wie Rückbank, Ersatzreifen, Aufgabe oder noch viel schwieriger Schicksal und Paradies zu erklären. Wir kommen auch auf Himmel und Hölle zu sprechen, auf Gott und Teufel. –  Mir wird wieder einmal klar, wie schwer es ist, eine fremde Sprache zu lernen. Es geht ja nicht nur um die Worte. Hinter jedem Begriff verbirgt sich eine Geschichte und jedes Volk erzählt sich andere Geschichten, weil es in anderen historischen Gegebenheiten lebt. Will oder muss man also in einem fremden Land heimisch werden, so muss man sich mit den Worten vertraut machen, deren Herkunft auch sehr kompliziert ist. Wer denkt zum Beispiel daran, dass der Ausdruck: „Ich halte mich bedeckt“ mit „der Decke“ und „zudecken“ zusammenhängt. Während ich mich mühe, derartige Zusammenhänge zu erklären und auch zu zeigen, was sich hinter manchen Worten verbirgt, lerne ich selber die Tiefe und Schönheit meiner Muttersprache erneut kennen. Gleichzeitig fange ich an zu erahnen, wie in einer mir völlig fremden Sprache wie Paschtu manches ausgedrückt wird und welch anderer Erfahrungshintergrund dem zugrunde liegt.

Der junge Mann, von dem ich hier erzähle, hat den auch für unsere Ohren schön klingenden Namen Khushal. Schon bei einem unserer ersten Treffen erzählte er mir, dass seine Mutter diesen Namen von einer anderen Frau, deren Sohn so hieß, gestohlen hat. Es ist ein besonderer Name.
„Meine Mutter hat wirklich Probleme mit dieser Frau bekommen, weil sie einfach den Namen von ihrem Sohn geklaut hat.“ – Manchmal kann man einfach keine Kompromisse eingehen!
Wenn man einen Namen bekommen hat, kann man ihn nicht mehr wegnehmen. Wenn er einmal gegeben ist, bleibt er. Die andere Frau mochte schimpfen und zetern, der schöne Name Khushal hat einen zweiter Träger bekommen. Ich weiß nicht, was aus dem ersten Khushal geworden ist, den zweiten habe ich kennengelernt. Er erzählt mir von seiner Heimat und ich bin von meiner Unwissenheit erschüttert.

Khushal sagt: Ich habe keine Angst, ich bin im Krieg gewachsen.
Als ich ihm erzähle, dass meine Söhne als Kinder Auseinandersetzungen gescheut haben, sich nicht mit anderen geprügelt haben, lieber nachgegeben haben, da entgegnet mir Khushal, dass ein afghanischer Mann nie sagt, dass er schwach ist. Ein Mann ist stark und muss kämpfen. – Als aber am Bahnsteig einmal ein großer Hund neben uns Platz nimmt, beobachtet Khushal ganz genau die Augen und Bewegungen dieses Tieres und geht auf die andere Seite, hinter mich.

Auf verschlungenen und abenteuerlichen Wegen ist Khushal tausende Kilometer im Alter von fünfzehn Jahren nach Europa gewandert und in einem Land angekommen, von dem er nur den französischen Namen Almani kannte. Er ist ohne Eltern, Geschwister und Verwandte hier und dieses unbekannte Land hält erneut viele Probleme für ihn bereit. Hätte er zu Hause davon gewusst, wie schwierig es ist, als Asylbewerber anerkannt zu werden und einen Pass zu bekommen, so hätte er vermutlich die Strapazen der Reise nicht auf sich genommen. Oft zweifelt er, ob die Entscheidung zu gehen, richtig war. – Ich sage: Jetzt bist du hier! Das ist dein Schicksal.
Khushal stimmt mir zu: Allah hat meinen Weg auf meine Stirn geschrieben. – Was auf meine Stirn geschrieben ist, das kommt. – Emah patandi jelikuli harasi, so habe ich die Worte verstanden.
Ja genau, so ist es. Wer kann sich seinen Lebensweg schon aussuchen?
Jetzt sitzen wir hier zusammen und ich lasse mir erzählen, was Khushal auf der Flucht alles erlebt hat.

Im Kofferraum eines Autos war er versteckt, so eng eingezwängt, dass er jegliches Gefühl für Raum und Zeit verlor. Im Bus ist er durch Intuition einer Verhaftung entgangen, indem er sich einfach wieder hingesetzt hat und nicht der Weisung des Polizisten gefolgt und ausgestiegen ist. – Glück gehabt! Hundertmal!
Ohne Pass hat er eine „boarder“ nach der anderen überschritten, im Dschungel, wie Khushal den Wald nennt, hat er tagsüber an Bäume gelehnt versucht zu schlafen oder zu dösen.
Angespannt hat er auf einen verabredeten Pfiff gehorcht und ist unter Tränen, wie er mir gesteht, aufs Geratewohl losgeschlichen, in der Hoffnung, den Treffpunkt zu finden. Er hat ihn gefunden. Sein Schutzengel, Malaike, wie er sagt, hat die schützenden Flügel über ihn gehalten. – Tausendmal!

Im Sommer 2015 ist Khushal in Passau gelandet oder gestrandet. Als unbegleiteter Jugendlicher ist er zuerst nach Geiselhöring, dann nach Mallersdorf ins Wohnheim gekommen. Er geht in die Schule, lernt Deutsch und Mathematik und Staatsbürgerkunde. Was ist eine Demokratie, welche Versicherungen gibt es, wie viele Bundesländer hat die Bundesrepublik, von wie vielen Ländern ist Deutschland umgeben oder eingeschlossen? Fragen über Fragen, auf die ich auch nicht immer gleich eine Antwort habe. Nichts ist einfach, auch nicht in Deutschland. Besonders die Bürokratie.
Khushal hat seine Freude am Kickboxen entdeckt. Er trainiert eifrig und möchte darin richtig gut werden. – Disziplin, Kraft und Geschicklichkeit sind wichtig, damit man im Wirrwarr nicht so leicht die Nerven verliert. Es bieten sich viele Gelegenheiten, zu straucheln, schwach zu werden, aufzugeben, davonlaufen zu wollen, aber wohin?

Wir sind uns in der Schule begegnet und einmal hat mich Khushal vorsichtig gefragt: „Haben Sie bisschen Zeit? Ich möchte Deutsch lernen mit Sie.“ Wer hätte gedacht, wie schwer das ist. Bin ich froh, dass ich mich in meiner Muttersprache verständigen kann.

Khushal kommt nun regelmäßig in mein Haus und setzt sich auf einen freien Stuhl. Inzwischen weiß ich auch, dass man in seiner Heimat auf Kissen am Boden sitzt, auf einem schönen weichen Teppich, aus dem Iran. Dort ist immer Platz für einen Gast.
Wir trinken Tee oder Cola, backen zusammen Bulani, wie in Paschtu das Brot genannt wird, lesen zusammen ein Buch und sprechen über dieses und jenes.
Ich erzähle ihm von meinen Kindern, von Sebastian, der ein Haus baut und dessen Freundin ein Reitpferd hat, von Jonas, der wieder aus Berlin zurückgekehrt ist, und davon, dass Jakob eine türkische Freundin hat, die – im Spaß, hoffe ich – von ihm 83 Kamele als Brautpreis fordert.

Khushal setzt sich auf einen freien Stuhl, isst mit meiner Familie am Tisch. Oh, vieles wird nicht nach seinem Geschmack sein, vieles wird ihm seltsam vorkommen. So ist das in der Fremde!
Er erzählt mir von der großen Enttäuschung, der Abschiebung. Ich möchte ihn trösten und erfahre die Schwäche und Machtlosigkeit meiner Worte. Was soll ich sagen? Ich bin hilflos. Es wird weitergehen, es wird gut werden. Ich helfe dir. Aber wie?

Khushal bedeutet in unserer Sprache Glück. Wie weise deine Mutter deinen Namen gewählt hat. Khushal bedeutet Glück!

November 2017

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 18033

 

Glück

Ein flatternder Vogel ist das Glück, getragen von unsichtbarer Hand.
Im Schwarm zieht er vorbei, die Sonne verdunkelnd.
Hoch oben lässt er sich nieder.
Sonnenstrahlen schlüpfen in sein Gefieder
und machen ihn trällern und tirilieren.

Schreckhaft ist das Vögelchen, immer auf dem Sprung,
zirpend und auf der Hut.
Kaum habe ich deine Stimme vernommen,
kaum haben meine Augen dich ausgemacht,
kaum habe ich angefangen, mich an deinem Anblick zu erfreuen,
da bist du schon wieder auf und davon.
Meine Augen können dir nicht folgen.
Du entschwindest dem Blick.
Ach, bleib doch, bleib,
mein kleines Vögelchen, Zippora!

Fangen möchte ich dich.
Sei mein, ja, für immer und darüber hinaus.
Vögelchen, bleib doch, sieh, hier bei mir hast du’s gut!
Sorgen will ich für dich, dich kosen.
Gut sollst du’s haben, gut wirst du’s haben!
Mein sollst du sein, mein ganz allein.

Scheu ist das Vögelchen, scheu.
Kurz nur verweilt es an einem Ort.
Vorsichtig ist das Vögelchen, vorsichtig.
Schnell hebt es sich auf und flattert davon,
getragen von unsichtbarer Hand.
Einen Lidschlag lang vernehme ich deine Stimme,
deinen betörenden Gesang.
Für einen Augenblick erhasche ich deine grazile Gestalt.
Fliegen musst du, von hier nach dort.

Das Glück ist ein Vogel, es folgt dem Ewigen.
Mal legt es sich mir auf die Haut,
mal eilt es mir voraus, mal ist es mir auf den Fersen.
Ich will nach ihm greifen, ich will es bergen.
Ehe ich mich versehe, ist es entschwunden,
weitergezogen, davongeflogen,
immer in Eile.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 18032

 

 

 

 

 

Kamele

Ich saß mit Jakob in der kleinen Küche. Es war Sonntagabend im frühen Herbst. Wir hockten auf zu hohen Stühlen am niedrigen runden Tischchen, in die Ecke gedrängt. Über das Tischchen war die wunderschön handbestickte und etwas fleckige Decke gebreitet, die ich im Sommer mit Nadja in Berlin am Flohmarkt gekauft hatte. Ich saß mit angewinkelten Beinen, eingezwängt zwischen Speisekammertür, Spülmaschine, Tisch und Fensterbrett im Rücken. Jakob saß etwas komfortabler. Er hatte Beinfreiheit und war nur von drei Seiten beengt, wobei der kolossale kirschrote Bosch Kühlschrank zu seiner Rechten einen mächtigen, sanft surrenden Schutzwall bildete. Wir tranken Kaffee.

Jakob sollte aus Regensburg kommen, weil wir das Esszimmer haben ausweißeln lassen. – Robert, der Maler, hatte mit den Mäandern, die ich als Umrahmung für den Durchgang zur Küche wollte, seine liebe Not. Er gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass er nie mehr einen derartigen Auftrag annehmen werde. – Blödes Muster! – Keine Kundschaft außer mir will diese greißliche Bordüre an der Wand haben. Zur Besänftigung der hinuntergeschluckten Flüche serviere ich ihm einen Kaffee nach dem anderen, was die Situation nur geringfügig entschärft, bis er schließlich auch keinen Kaffee mehr mag und immer einsilbiger wird. Das mit den Mäandern will und will einfach nicht hinhauen. Er macht wortlos fertig, packt um Punkt fünf sein Zeugs zusammen und räumt das Feld. Ich sehe es ihm an, er denkt: Auf Nimmerwiedersehn! Ich kann es ihm nicht übel nehmen.
Ein paar Tage später kam die Sigrid, seine Chefin, übermalte die windschiefen Mäander und zauberte rechtförmige darüber. Wir waren uns einig, dass Robert diese Schmach nie erfahren soll. – Jetzt gleicht mein Eingang zur Küche einem griechischen Tempel. Vielleicht hätte ich doch auf Roberts Einschätzung der Lage hören sollen.

Diese Vorgeschichte erzähle ich nur nebenbei. Robert hat es auch verdient, einmal in einer Geschichte vorzukommen. Und ich entschuldige mich bei der Gelegenheit auch für den ekelhaften Auftrag und den vielen starken Kaffee!

Jetzt kehre ich aber zu Jakob und mir in der Küche zurück. Aus diversen, hier nicht näher zu erklärenden Gründen hat es Jakob erst am frühen Nachmittag geschafft, nach Hause zu fahren. Die Hauptarbeit, das Einräumen des Esszimmers, war bereits erledigt, und so reichte es aus, dass Jakob eine symbolische Tat vollbrachte, beim Kanapee mit anpackte, und sich anschließend kaffeetrinkend davon und von manch anderen Strapazen des Studentenlebens erholte.
Gleichzeitig pflegte er eine gehobene Unterhaltung mit mir. Die zentralen Themen AfD, Conti, einen wirklich nur ganz kurzen Exkurs zu den geschriebenen Klausuren in den verschiedenen Studiengebieten. Schließlich bereicherte Jakob unsere gepflegte Konversation wesentlich, indem er mir seine neue App vorstellte. Die Kamel App! – Das traf natürlich sofort mein Interesse, und ich vergaß blitzschnell alle Fragen das Studium betreffend. – Wie hat man sich nun so eine Kamel App vorzustellen? Sie bietet dem Nutzer die Möglichkeit, den Wert einer Person durch die Eingabe bestimmter Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften, wie zum Beispiel Haarlänge und Haarfarbe, Brustumfang, Bildungsgrad, Alter usw. zu ermitteln. Interessanterweise ist die dafür verwendete Währung weder Euro, Rubel, Schekel noch Dollar, sondern Kamel. Zugegeben für unsere Region ungewöhnlich, aber im Sinne der Globalisierung durchaus innovativ und zukunftsträchtig.

Warum sollte man sich eigentlich nicht – angesichts der fortschreitenden Inflation – auf altbewährte und zudem wertbeständige Tauschgüter zurückbesinnen. Kamele gefallen mir, obwohl ich ehrlich gesagt abgesehen vom Tierpark noch kaum ein lebendiges zu Gesicht bekommen habe. Auch auf der Israelreise habe ich vom Bus aus in der Ferne Kamele erahnen können, und einmal bei einer Tankstelle eins von der Nähe bestaunt. Es stand dort als beliebtes Fotoobjekt für Touristen bereit.
Ich schämte mich aber angesichts meiner Körperfülle, vom zierlichen Kameltreiber auf den Rücken des armen Tieres gewuchtet zu werden. Deshalb lehnte ich das Angebot ab, mich auf dem schmucken Kamel sitzend fotografieren zu lassen. Das war damals dumm von mir. Wie schön wäre es doch jetzt, so ein Foto neben dem Bosch Kühlschrank hängen zu haben. – Eine verpasste Gelegenheit!

Nun aber wieder zurück zur Kamel App. Jakob erzählt mir, dass seine Freundin Aysun laut App einem Gegenwert von 83, in Worten dreiundachtzig, Kamelen entspricht. Ich bin beeindruckt und spüre meinen eigenen Wert sinken.

„Woher nehmen?“, frage ich. „Ja mei, die muss der Papa auftreiben!“ Oh mei, das wird schwierig. Alles könnte der Papa auftreiben: Kaffeemaschinen, Kühlschränke, Küchenherde, original Schreibtischlampen und Telefonapparate im Nazi-Design, vielleicht sogar eine Waschmaschine, aber ein Kamel? – Das erscheint mir unmöglich. Aber wir wollen die Hoffnung noch nicht aufgeben. Schließlich will Aysun gefreit werden. Ich halte meine Augen offen.

PS: Mein Wert beläuft sich laut App übrigens trotz meines fortgeschrittenen Alters immer noch auf stattliche 53 Kamele. Ich möchte nicht versäumen, abschließend noch darauf hinzuweisen.

PS: Am Weihnachtsfeiertag hat übrigens eine Neuberechnung vor Zeugen ergeben, dass sich bei der ersten Kalkulation ein Fehler eingeschlichen haben muss. Der Wert von Aysun beträgt nach eingehender Prüfung 73 Kamele. Auch sehr beachtlich!

Weihnachten 2017

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 18012

Mach es so, dass jeder auf dich stolz sein kann

Es ist gefährlich, in der Provinz Logar im östlichen Afghanistan zu leben. Seit Jahrzehnten kennen die Menschen dort keine Normalität. Die russischen und amerikanischen Besatzungstruppen sind gekommen und gegangen. Sie haben Hoffnungen geweckt, Enttäuschungen beschert und unaufhaltsam größere Not über die Bevölkerung gebracht. An Arbeit und Schule ist seit Langem nicht mehr zu denken. Alle sind mit der Sorge um den täglichen Lebensunterhalt beschäftigt. Jeder hat Angehörige zu betrauern, die einem Attentat, einem Bombenangriff oder einem willkürlichen Schusswechsel zum Opfer gefallen sind. Ein Menschenleben verliert in solchen Zeiten an Wert. Pläne für die Zukunft kann man nicht machen. Dennoch heiraten auch in Afghanistan junge Paare und bekommen Kinder. Dennoch wachsen auch in so einem Land junge Leute heran, die von einem Leben in Frieden und Freiheit träumen. Wie kann man es ihnen verdenken?

Im Jahr 2015 hören die Bewohner von der Möglichkeit wegzugehen. Aber wohin soll man gehen? Es ist ein großes Risiko, die letzte Sicherheit, die Familie oder den kläglichen Rest davon zu verlassen. Was soll mit den Zurückgelassenen in der Heimat geschehen? Welche Gefahren lauern im Ausland, in der unbekannten großen Welt? Die Not und Verzweiflung muss unerträglich groß sein, dass man diese Gefahren auf sich nimmt.

Keramat Akachel erzählt mir im Februar 2017 davon, wie seine Mutter für ihn, ihren jüngsten Sohn, die Entscheidung gefällt hat, dass es keine Alternative zur Flucht gibt. In regelmäßigen Abständen kommen die Taliban in die Stadt, um Kämpfer zu rekrutieren. Keramat steht auf ihrer Liste. Der ältere Bruder hat bereits die Familie verlassen und ist untergetaucht. Niemand weiß, ob er noch lebt oder wo er sich versteckt. Jedes Lebenszeichen ist lebensgefährlich für ihn und für seine Angehörigen. Der Vater ist schon vor Jahren ermordet worden, weil er seine Familie nicht im Stich lassen wollte und sich geweigert hatte, sich den Taliban anzuschließen.
Die allgegenwärtige Not hat Keramats Mutter gelehrt, diplomatisch zu verhandeln. Sie bat um Aufschub. Schließlich gibt man den jüngsten Sohn nicht einfach so weg. Sie war sich dessen bewusst, dass ein Menschenleben in ihrer Heimat schon lange nicht mehr viel wiegt. Und so bereitete sie unbemerkt nebenher die Flucht ihres jüngsten Sohnes vor. Die einzige Chance für einen jungen Menschen besteht darin, irgendwie ins sichere Ausland zu gelangen. Die Gefahren müssen gewagt werden. Es gibt keine Alternative. Sie besprach sich mit dem Schwiegersohn und kam zu dem Entschluss, ein Stück Land zu verkaufen, um das nötige Geld zu bekommen.

Alles geschah hinter dem Rücken Keramats. Vielleicht wollte ihn seine Mutter die letzten Tage zu Hause noch möglichst unbeschwert verbringen lassen. Vielleicht wollte sie ihm auch die Qual des Abschiednehmens erleichtern.
Schließlich drängte die Zeit. Die Taliban würden bald zurückkommen, und bis dahin musste der Junge weg sein, unauffindbar. Wenige Tage vor dem Aufbruch in die ungewisse Zukunft wurde Keramat in die Pläne der Mutter, die sie zusammen mit seinem Schwager gefasst hatte, eingeweiht. Alle waren der Meinung, dass Deutschland ein gutes Ziel sei, obgleich sie so gut wie nichts über dieses Land im Westen wussten. Die Kunde von Frieden und Freiheit war bis nach Logar gedrungen, und so machte sich Keramat auf, dorthin zu gehen.
Seine Mutter sagte beim Abschied: „Sei ein guter Sohn aus Logar! Geh weg und mach es so, dass jeder auf dich stolz sein kann!“

Er nahm die überlegte und weise Entscheidung seiner Mutter ohne Widerspruch an. Wusste er doch, dass das Weggehen die einzige Möglichkeit auf ein annähernd normales Leben war, das sich nicht nur er, sondern seine Mutter für ihn erträumte. Vielleicht würde er ja auch eines Tages vom Ausland aus seiner Familie hilfreich beistehen können. Alle Hoffnungen lagen nun auf ihm und er wollte sich dafür würdig und stark erweisen, auch wenn er Angst hatte.
So packte er seine Sporttasche mit dem Nötigsten. Einen Bildband über die Geschichte Afghanistans und einen schönen Spiegel legte er als kostbare Schätze, die ihn an zu Hause erinnern sollten, mit hinein. Dachte er doch, im fernen Deutschland bald studieren zu können. Gerne klammerte er sich an den Gedanken. Hatte er doch gehört, dass dort alle den Beruf erlernen konnten, den sie gern ausüben möchten. Er würde in Deutschland arbeiten und Geld verdienen. Er würde es schaffen.

So brachte ihn der Mann seiner Schwester, der als Taxifahrer arbeitete, mit dem Auto zum verabredeten Treffpunkt, wo er mit fünfzehn weiteren Flüchtlingen einen Bus bestieg, der ihn über die Grenze in den Iran brachte. Ihm war klar, dass es überaus gefährlich war, dieses Land unbehelligt zu durchqueren. Wenn die Polizei Flüchtlinge aufgreift, werden sie geschlagen und zurückgeschickt.
Die Polizeikontrollen mussten geschickt umgangen werden. Die Angst aller war groß, die Schlepper handelten rücksichtslos. Für sie ist es ein Geschäft, und noch dazu ein lukratives, die Flüchtlinge außer Landes zu schaffen. Gleichwohl laufen auch sie ständig Gefahr, geschnappt und womöglich inhaftiert zu werden. Auf Mitleid und Hilfe durfte man nicht hoffen. Dessen war sich Keramat gewiss. Es kann auch verhängnisvoll sein, Vertrauen zu schenken.
Jeder will es schaffen und jeder muss auf sich selber aufpassen. So spürte Keramat während dieser zwei Wochen, die er in der Obhut Fremder, denen er ausgeliefert und auf deren Hilfe er dennoch angewiesen war, wie alleingelassen er mit seinem jungen Leben war.

Er erzählte mir, dass er im Kofferraum eines Autos stundenlang von Checkpoint zu Checkpoint transportiert worden war, immer in Angst, doch kontrolliert, herausgezerrt, geschlagen und zurückgeschickt zu werden. Er erlebte die eigene Ohnmacht und wurde teilnahmslos. Kein Laut durfte nach außen dringen, und seine Gliedmaßen schmerzten in der bewegungslosen Enge. Ihm war in diesem Moment völlig gleichgültig, was mit ihm geschehen würde. Er fühlte sich dem Tod sehr nahe.

Schließlich nahm diese höllische Fahrt doch ein Ende, und er wurde mit seinen Leidensgenossen aus dem Kofferraum befreit. Es dauerte, bis er wieder so weit zu sich kam, dass er sich bewegen konnte und die Kraft aufbrachte, sich auf den weiteren Fluchtweg einzulassen. Da stellte er fest, dass aus seiner Tasche das Buch über seine Heimat und der Spiegel verschwunden waren. Man darf eben niemandem vertrauen. So war ihm wieder ein Stück Zuhause genommen worden. Ihm wurde klar, dass er sich an nichts klammern durfte. Er wird mit wenig zurechtkommen müssen. Die Erinnerungen bleiben, aber es muss viel Platz für all das Neue sein, das auf ihn zukommt. Wehmut und der Blick zurück können tödlich sein. Und Keramat spürte, dass er leben will und zwar in Frieden und Freiheit. So rüstete er sich für die nächsten Etappen seiner Flucht.

Die Türkei erreichte er in der Nacht. In den Bergen war es trotz des Sommers eiskalt. Er erfuhr, dass drei Leute aus seiner Gruppe inzwischen aufgegriffen und zurückgeschickt worden waren. Außerdem hörte er die Schüsse der Grenzposten. Sie mussten sich trennen, um möglichst unauffällig das unwegsame Gelände passieren zu können. Er hielt sich an den Größten, der vorgab, den Weg zu kennen, und hatte Glück. Jetzt sei das Schlimmste geschafft, dachten alle und schöpften neuen Mut. Irgendwo wartete ein Bus, der sie nach Istanbul brachte. Die großen Häuser und Schiffe ließen ihn staunen. Niemals zuvor hatte er Derartiges gesehen. Doch es war keine Zeit, um zu verweilen. Schließlich war das Ziel noch gut tausend Kilometer entfernt, die möglichst rasch zurückgelegt werden mussten.

Ein Auto brachte seine Gruppe an die bulgarische Grenze. Von dort aus ging es zu Fuß durch einen großen Wald weiter. Man konnte sich darin leicht verirren.
Sie gingen während der Nacht und kauerten untertags an Bäume gelehnt. Nach vierundzwanzig Stunden trafen sie todmüde auf einen LKW, der sie nach Serbien brachte. Die Aufregung unter den Flüchtlingen wurde ständig großer.
Jeder behauptete etwas anderes, und keiner wusste wirklich Bescheid. Sie hatten längst die Orientierung und den letzten Rest von Sicherheit verloren. Sie mussten sich selber Mut machen und darauf hoffen, dass nun diese beschwerliche Reise bald ein Ende nehmen möge, bevor sie noch alle die Kraftreserven verließen.

Zum Glück hatte einer ein Handy mit GPS, das sie mit verlässlicher Richtungsangabe zu Fuß durch drei oder vier Dörfer geleitete. Sie hatte Angst davor, nach Rumänien zu gelangen. Gerüchte von den feindseligen Polizisten dort machten die Runde. Schließlich blieb es Keramat und seinen Fluchtkollegen erspart, Erfahrungen mit diesem Land zu machen. Mit dem Bus gelangten sie nach Belgrad, mit dem Zug weiter Richtung Ungarn.
Zwischendurch gingen sie zu Fuß entlang der Gleise, bis sie wieder ein Kleinbus ein Stück mitnahm. Sie näherten sich Österreich. Es konnte nicht mehr weit sein. Gefährlich war es noch, die stark befahrene Autobahn zu überqueren.
Immer durfte nur einer gehen. Aber auch das schaffte jeder in Keramats Gruppe.

Am 15. Juli 2015 kam Keramat in Passau an. Dieses Datum hat sich ihm eingebrannt. Ähnlich seinem Geburtstag wird er diesen Tag sein Leben lang besonders feiern.

Wenn er sich heute daran erinnert, sagt er, dass er damals erleichtert dachte, dass nun alles okay sei. Als er aber die Autos in Passau sah und auf den Nummernschildern ein D las, war er sehr verwirrt. Hatte er doch immer nach Germany gewollt. Was hatte nun dieses D zu bedeuten. So lernte er erst an diesem Tag das Wort Deutschland kennen.

Ich lernte Keramat im September 2015 kennen. Mit zwei Freunden und seinen Betreuern kam er in die 10. Klasse des Burkhart Gymnasiums und erzählte bereits mit einigen deutschen Wörtern von seinen Eindrücken und Plänen. Der Kontakt ist geblieben, und inzwischen ist er einigermaßen heimisch geworden.
Er lernt fleißig Deutsch und will Elektriker werden. Ich freue mich, mich inzwischen mit ihm schon gut unterhalten zu können. Manchmal erzählt er mir auch von Afghanistan. Das werde ich dann auch für ihn aufschreiben. – Seine Mutter kann auf ihren Sohn stolz sein.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17124

 

Andrej Krementschouk

Freistadt im Mühlkreis / Österreich  Festival - Der Neue Heimatfilm – 28. August 2016

Andrej Krementschouk
Jahrgang 1973
Geburtsort Gorky, Russland
(Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, im Atlas nachzusehen, wo Gorky genau liegt.)

Den russischen Fotografen Andrej Krementschouk kennengelernt. Er steht fest auf dem Boden, in Sandalen und knielanger Hose, aufrecht, kräftig. Da, wo ich herkomme, nennt man so einen ein g‘standnes Mannsbild. Ich habe gelesen, er hat in seiner Jugend geboxt. Sein Blick ist gerade, unverstellt, zugewandt. Er schaut direkt in den Raum, auf die Menschen, in die Gesichter, und er sieht. Fassaden durchschaut er, sein Blick geht tiefer, und er ist auf dem Weg zu erkennen, aber beiläufig, intuitiv, ohne Absicht, und das ist entscheidend.

Aufrichtig schaut er, ohne zu werten. Er hat schon viel gesehen, vielleicht schon alles, wer kann es wissen, und er hat gelernt, die Menschen, das Leben, die Welt, die Sehnsüchte wie die Süchte, die Katastrophen, die Waffen, die Maschinen, die Katzen, die Hunde, die Ratten und den Goldfisch so zu nehmen, wie sie eben sind. Dinge passieren, weil sie passieren. Wichtig ist das Beobachten, und Krementschouk kann beobachten. Ihm gelingt es sogar, den entscheidenden Augenblick mit der Kamera festzuhalten und auf Zelluloid zu bannen. Sagt man das heute überhaupt noch so? Krementschouks Fotos zeigen einen Ausschnitt aus dem Leben, aus dem wahren, dem unverstellten, dem bloßen, das bar aller westlicher Illusion ist, in der wir uns ach wie bequem eingerichtet haben: mit unserer Arbeit, unseren Berufen, unserem Wohlstand, unseren schönen Wohnungen und Autos, unserem Fortschritt, unserer Wirtschaft und Industrie, die alle Lebensbereiche steuert - die Nahrungsproduktion und das Sterben - , alles muss sich rentieren.

In Krementschouks Fotografien sehe ich das Leben, einfach so, ungeschönt und unmittelbar, nackt. Und da fängt es an, mich wieder zu interessieren. Es sind Bilder, in die man eintauchen kann, die mich in den Bann ziehen, wo es so viele Details zu entdecken gibt, die Erinnerungen wecken, Assoziationen schaffen, schmunzeln und sogar lachen lassen, Hoffnungen wecken, aber auch vor der Unausweichlichkeit des Abgrunds nicht Halt machen. Die Neugier des Fotografen ist überall zu erkennen. Es ist seine eigene Neugier, die ihn aufbrechen lässt, an Orte zu gehen, die anders sind. Seine Heimat Russland, die ich nicht kenne, in der Menschen leben, die ohne Fürsorge und Vorsorge ihr Auskommen suchen und mitunter nicht finden. In ihren Gesichtern ist so viel zu lesen. Sie machen neugierig auf das Leben, das augenfällig schwer ist, aber dennoch so verlockend und unbedingt wert, daran festzuhalten.

Der Fotograf schaut, bevor er durch die Ausstellung führt, beiläufig in die Runde. Ich habe das Gefühl, dass er die aufgesetzten Gesichter durchschaut, derer es viele gibt, er blickt auf das, was jeder gern verbergen möchte, und das ist es, was den Menschen ausmacht.

Die Fotografien zeigen weder Kulissen noch Inszenierungen, in denen Menschen posieren. Es sind scheinbar beliebige Momentaufnahmen, in denen so viel Menschliches zu sehen ist. Ich glaube sogar, dass darin alles enthalten ist, was es gibt. Ich wüsste nicht zu sagen, was fehlt. Es ist das, was man in der Religion seit alters als Seele bezeichnet, und ich kenne kein anderes Wort, das es besser trifft, was ich meine. Krementschouks Bilder sind beseelt. Jeder Winkel, jedes Detail, jede Flasche und jeder Stofffetzen erzählt eine Geschichte. Genauso verhält es sich mit der Haltung des Körpers, der Neigung des Kopfs, der Kleidung, ganz zu schweigen von den Gesichtern, dem Mund, den Augen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes beredt. Der Fotograf zaubert die Seele hervor, die immer und in allem da ist, aber eben erkannt sein will. Im richtigen Augenblick, ich habe mal gelernt, dass man den Kairos nennt, aber wen interessiert so ein Begriff?, im rechten Augenblick drückt der Fotograf ab, löst er aus, erwischt die Seele, wie sie gerade unbeobachtet spazieren geht und macht etwas sichtbar, das mich ungemein anspricht.

Krementschouk wählt seine Motive nicht geschäftstüchtig, wenigstens möchte ich das gerne glauben. Er überrascht mit einem Schnappschuss, und das Objekt weiß gar nicht, dass es vom Objektiv ausgewählt und festgehalten ist. Welches Glück! Etwas kann nur gelingen, wenn keine Absicht dahinter steckt, wenn es umsonst geschieht, einfach so.

Da ist das Bild mit dem nackten Mädchen. Der Unterleib steht im beengten Raum eines kleinen Zimmers. Vor dem Oberkörper hält es das bekannte Bild mit den drei reitenden Tataren, sicher eine billige Reproduktion. Der Kopf des Mädchens ist abgeschnitten, so nennt man es doch in der Sprache der Fotografen, wenn etwas nicht im Bild ist. Der Kopf des Mädchens ist abgeschnitten. Links daneben sitzt die weiße Katze auf einem Podest neben dem Fenster, vornehm, adelig, weise, schicksalverheißend, schön und lieb, kuschelig, mit aufmerksamem Blick in die Linse. Das Futterschälchen steht vor den nackten Beinen des Mädchens. Auf der rechten Seite Bügelbrett und Bügeleisen. Alles muss seine Ordnung haben. - Vor dem Fenster ein Vorhang wie beim Theater, golden, zur Seite gezogen. Aber die Szene spielt sich hinter der Bühne ab, mit Blick ins Zimmer. Das Draußen, die Straße, die Welt ist ausgesperrt.

Und dennoch ist in diesem Ausschnitt alles, die ganze Welt: die bloße Scham des Mädchens und die wohlfeile Wohnung, bereit für den Mann, der nicht eintritt. Schwer, anstrengend, mühsam ist es, sich hartnäckig bereitzuhalten für den Mann, der nicht kommt, der nicht zu finden ist an diesem Ort, in dieser Stadt, deren Namen ich vergessen habe. Der Fotograf erwähnt erklärend, dass die Stadt am Meer liegt, aber an keinem Meer, wo man Urlaub macht, sich beim Schwimmen erfrischt und dem Rauschen lauscht. Es ist ein Meer mit einer U-Bootwerft, in der die Männer hart arbeiten und ihre Kräfte verbrauchen. Sie vergeuden ihre Kräfte für billiges Geld. Sie unterdrücken ihre Sehnsucht für hart verdienten und geringen Lohn. Was bleibt ihnen anderes übrig, als madigen Wodka zu trinken und darin Stück für Stück das Leben zu ersäufen. Wo ist der Mann zu finden, auf den das Mädchen mit der Katze Jahr um Jahr sehnsüchtig wartet?

Andere Fotografien erzählen andere Geschichten. Auf ihnen sind Gesichter eingefangen, Gesichter, die noch nicht zur Ikone geworden sind. Gesichter, in denen noch die Sehnsucht funkelt. Die bereit sind, das Glück mit beiden Händen zu ergreifen und für immer festzuhalten, wenn es sich denn einmal dazu herabließe, sich blicken zu lassen. Menschen, die aufbrechen wollen, und da es keinen rechten Grund und kein wahres Ziel für diesen Aufbruch gibt, nützen sie die Gelegenheit zu einer Wallfahrt, die tagelang durch die ländliche Natur und durch Dörfer führt. Dem Popen ist es nicht wert mitzupilgern, das Ziel vermag ihn nicht mehr zu locken. Wer kann es ihm verübeln?

Militärparaden geben vor, Boten einer besseren Zukunft zu sein. Es ist aufregend, ihnen beizuwohnen. Krementschouk fotografiert die Zuschauer, die auf Absperrungen klettern, auf martialische Denkmäler, um einen guten Blick zu haben. Eine Frau im Vordergrund trägt einen grünen Sommermantel mit Rüschen am Kragen, tadellos gebügelt. Daneben ein Mädchen mit dem gleichen Modell bekleidet. Die Gesichter der Zaungäste sind freudig, erfrischt, zuversichtlich, vielleicht euphorisch, wenn sie es nicht bereits besser wüssten.

Menschen sind in Bewegung, eilen und hetzen durch die Stadt, jetzt ist es Moskau, sie haben es wichtig, müssen etwas erledigen, ganz dringend. Vielleicht ist es auch eine Sonderzuteilung begehrenswerter Güter, die es unbedingt zu ergattern gilt, um es leichter, bequemer, genussvoller zu haben. Sie eilen sich, sie hetzen. Und mir wird immer klarer, dass alle danach trachten, das Leben zu spüren, so viel wie irgend möglich. Sie wollen das Leben zu Gesicht bekommen, es einatmen, es trinken, essen, schmecken, hören, spüren, irgendwie und möglichst viel davon. Und wenn das Leben nicht zu dir kommt, musst du dich selbst auf den Weg machen, und wenn zufällig einer wie Krementschouk beim Umherschweifen seiner weichen Adleraugen auf dich aufmerksam wird, ist das ein Glück. Er kann den Augenblick einfangen, in dem du dem Leben auf der Spur bist, rastlos, nimmermüde.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 16160

 

Apollo 11

Mein Vater wäre gern mit der Apollo 11 zum Mond geflogen. Das war sein Utopia. In den flimmernden Schwarz-Weiß-Bildern auf dem Bildschirm des Fernsehgeräts verfolgte er alles wissbegierig. Die metallene Stimme, die er nicht verstand, da er kein Englisch sprach, verlieh dem abenteuerlichen Unternehmen noch mehr Mysterium. Der deutschsprachige Kommentator übersetzte alles, und mein Vater saß in dem Bewusstsein, etwas ganz Großes mitzuerleben, auf dem gepolsterten Kirschholzstuhl, den er in seiner Jugend selbst getischlert hatte, zu einer Zeit, da seine Finger noch nicht der Kreissäge zum Opfer gefallen waren. Zu einer Zeit auch, in der er weder verheiratet war noch Kinder hatte.

Jetzt, in der neuen Zeit, holte ihn die Mondlandung aus seinem dahindümpelnden Leben heraus. Jetzt saß er alleine im ungemütlichen, grün gestrichenen Wohnzimmer, trank Bier und rauchte unablässig Salem ohne. Die Flimmerfläche des Fernsehgeräts forderte all seine Aufmerksamkeit, und so fiel hin und wieder Asche auf die lieblos hingebreitete Tischdecke und brannte neue Löcher in die Kunstfaser.
Welche Hoffnungen und Sehnsüchte weckten diese Bilder, nicht nur bei meinem Vater. Ein bemannter Flug zum Mond.

Zirka zehn Jahre vorher hatte ebenfalls ein Ereignis aus der Raumfahrt eine seltsame Verbindung zu seinem Leben hergestellt. Damals war es der Sputnik gewesen, der justament an dem Tag startete, an dem in der Werkstatt meines Vaters ein Feuer ausbrach, das sich zu einem Großbrand auswuchs und schließlich nicht nur das Wohnhaus meiner Familie und damit deren Existenz erneut gefährdete, sondern auch drohte, das gesamte Dorf in Asche zu legen, zumal der Feuerwehrkommandant katastrophalerweise den Hydrantenschlüssel verlegt hatte.
Dank der emsigen Löschbereitschaft aus dem Nachbardorf konnte glücklicherweise der Worst Case vermieden werden. Die Geschichte vom Werkstattbrand kenne ich lediglich aus Erzählungen. Ich war damals noch nicht geboren. Ich bin aber mit dem Trauma meiner Eltern vom Feuer groß geworden. Schließlich schreinerte mir mein Vater, als ich sechzehn war, einen Tisch und einen Stuhl, aus Eichenholz, mit einer Tischplatte aus Lärchenholz. Die dafür verwendeten Bretter hatte er aus dem Brand gerettet. Sie waren an den Rändern verkohlt.
Als die Möbel fertig waren, sagte er zu mir: Nur ein Tisch und ein Stuhl sind aus dem ganzen Holzvorrat noch übrig geblieben. Mich hat das unglaublich gerührt. Ich habe seinen verkniffenen Mund noch vor Augen, der das meiste ungesagt hinter den Lippen für die Ewigkeit barg. Mit den steifen Fingern und Fingerstummeln, die vom unablässigen Rauchen braun verfärbt waren, machte er linkisch eine wegwerfende Handbewegung.

Wenige Jahre später habe ich an seinem Sterbebett im Krankenhaus den Feuerwehrkommandanten des Nachbardorfes kennengelernt. Er war ebenfalls ein alter schwerkranker Mann, der im Bett neben meinem Vater lag und sich angesichts des Namens wieder an den Brand erinnerte. Vor allem erinnerte er sich aber an das Päckchen Zigaretten, das er ebenso wie seine Kollegen damals von meiner Mutter nach getaner Arbeit bekommen hatte. So nett, so anständig, so freundlich angesichts dieser Katastrophe.

Und wiederum vergingen Jahre, ehe ich anlässlich eines Dorffestes – ich wohnte zu der Zeit schon gar nicht mehr in meinem Elternhaus – Fotografien von jenem Großbrand zu sehen bekam. Niemand aus meiner Familie hatte von der Existenz jener Schnappschüsse gewusst. Ein Nachbar, bereits im Besitz einer Kamera, hatte das Ereignis festgehalten. So konnte ich mir endlich auch ein Bild von dem machen, was ich lediglich aus Erzählungen kannte. Ein Inferno, die Teerstraße brannte, die neu erworbene Hobelmaschine, der Stolz meines Vaters, war vernichtet, die Möbel aus dem Wohnhaus wurden von helfenden Händen bereits auf der Straße zusammengestellt, da – oh Wunder – drehte sich der Wind und das Feuer fand keine Nahrung mehr, es konnte gelöscht werden. Inzwischen hatte die einheimische Feuerwehr Gott sei Dank auch den Schlüssel zum Öffnen des Hydranten wiedergefunden. Welche Blamage!

Ich bin Jahre später geboren, damals war die Werkstatt schon wieder notdürftig aufgebaut, eine gebrauchte Hobelmaschine gekauft und im kleinen Garten trocknete wieder ein Bretterstoß seiner Verwendung entgegen, der mir zum Klettern und Herunterfallen diente. Mein Vater aber war alt geworden und hatte den Schwung verloren, sofern er jemals darüber verfügt hatte. Ich kann es nicht wissen.

Jener Brand ist also im Zeichen des Sputnik geschehen. Die Zeitungen waren voll von diesem Ereignis. Bestimmt hätte mein Vater die Berichterstattung im Radio verfolgt, aber die lodernden Flammen hinderten ihn daran. Ich glaube, dass er auch damals schon gern mit dem Sputnik in den Weltraum entkommen wäre.

Die Mondlandung wollte er sich aber nun definitiv nicht entgehen lassen. Aufgeregt wie ein Schuljunge kam er in die Küche, wo sich die restliche Familie versammelte, holte sich frisches Bier aus dem Kühlschrank und erstattete mit leuchtenden verwässert blauen Augen Bericht über den Stand der Dinge, die die ganze Welt in Atem hielten. Aber in der Familie nahm außer ihm keiner ernsthaft Anteil an diesen weltbewegenden Ereignissen. Sicher fand ich es aufregend, aber es war ja doch so unwirklich weit entfernt.
Ich war ein Kind und hielt die Mondlandung wie das Andersen Märchen von der Meerjungfrau für eine phantastische Geschichte, die die Gedanken und Gefühle mitreisen ließ. Seltsamerweise wollte ich die Bilder davon gar nicht sehen. Sie hätten die Vorstellungen, die von den nebenher aufgeschnappten Erzählungen in meinem Kopf entstanden, zum Stillstand gebracht. Die meiste Zeit saß mein Vater allein im Zimmer im ersten Stock vor der Flimmerkiste. Meine Mutter traute diesen trügerischen Bildern von Haus aus nicht. Sie unterhielt sich lieber in der kargen Küche mit den Männern, die auf ihrem Nachhauseweg vom Wirtshaus, das übrigens den verwegenen Namen Bärenhöhle trug, bei ihr am Küchentisch noch einmal Station machten. Die Männer waren allesamt im Krieg gewesen, in Sibirien oder an ähnlich furchtbar tönenden Orten, hatten in der Gefangenschaft ihre Gesundheit eingebüßt und auch ihre Jugend, waren spät und zerrüttet heimgekommen. Träume hatten sie sich allerdings bewahrt, die hatten sie am Leben festhalten lassen.

Als sie endlich wieder im Dorf angekommen waren, erkannten sie aber die Häuser und Höfe nicht mehr als ihre Heimat. Dabei hatten diese in der unwirtlichen Ferne in zauberhaften Farben gestrahlt. In der Gefangenschaft hatte sich das Dorf zum Ort der Sehnsucht ausgewachsen: mit den Milchkühen, dem Sägewerk, dem schwer tragenden Birnbaum, von dem sich die Hungerleider uneingeschränkt bedienen konnten, den Läden, Bäckereien, dem Wirtshaus, der Kirche, die sich bei Sonnenschein in der Rossschwemme spiegelte und deren Turm an lauen Abenden von Fledermäusen umkreist wurde, mit den Küchen, in denen geschürzte Frauen neunundneunzig verschiedene Kartoffelgerichte zubereiteten, Frauen, die mit Kargheit und Entbehrungen umzugehen wussten.
Eben diese Frauen hatten sich in den vergangenen Jahren ihr Leben ohne Männer eingerichtet. Und jetzt fiel der neue Zusammenstand schwer, schwerer als alles zuvor Ertragene, und die Kraft war geschwunden. In den gemarterten Hirnen der Heimkehrer erwies sich Utopia als eine geplatzte Luftblase. Aber nachdem Sibirien überstanden war, konnte man in der Heimat nicht kapitulieren. So schufen sie sich, in derlei Dingen geübt, mit Schnaps und Zigaretten einen neuen Sehnsuchtsort, und meine Mutter war ihnen dabei behilflich. Vielleicht hörte sie ja aus den Erzählungen ihr Utopia heraus.
Immer hatte sie eine Flasche Doornkaat mit Ausgießer im Kühlschrank und schenkte, wohl wissend um das ganze Elend, die Gläser voll. Dabei fielen ein paar Tropfen auf die blank gescheuerte Tischplatte. Sie schrieb an, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Die Männer hatten meist kein Geld in der Tasche. Ihre Frauen hielten sie kurz. Schließlich musste jetzt, nachdem man die ganze Sach mühsam über den Krieg gerettet hatte und auf den ersten Bulldog sparte, nicht alles versoffen werden.

So blühte manch einer für kurze Zeit noch einmal auf und schwelgte in Erinnerungen. Erstaunlicherweise erzählten sie jetzt von Russland in den düstersten, aber auch schillerndsten Farben. Alles war selbst dort nicht schlecht gewesen, und im Gespräch erhitzten sich die Männer gegenseitig. Sie sprachen von den Kämpfen und dem Hunger und davon, dass immer ein Spezialist dabei war, der etwas zu essen fand. Das Brot musste während der Nacht im Unterschlupf an Fäden aufgehängt werden, um es vor den Ratten zu schützen. In der Gefangenschaft mussten sie auf dem blanken Betonboden schlafen. Die Russen kontrollierten, und wehe, einer hatte sich heimlich einen Rupfen untergeschoben. Der wurde schimpfend und schreiend weggenommen.
Einer der Männer in der Stube meiner Mutter hat sein schweres Asthma auf diese brutale Herzlosigkeit zurückgeführt. Und immer wieder fielen die Worte „Dawai, dawai!“ Sie sprachen davon, wider Willen Russisch gelernt zu haben, aber ich habe aus ihren Mündern nie ein weiteres Wort vernommen, und ich war sehr aufmerksam und hing an ihren Lippen. Meine Mutter strickte nebenbei und hörte meist unbeteiligt zu. Wenige Worte warf sie ein, aber sie war da, wenn auch bei sich.

Trat mein Vater aufgeregt ein, die neuesten Fernsehmeldungen stolz verkündend, so entfuhr einem der Männer der folgenschwere Satz: Jetzt kommt er wieder, der Mondsüchtige. - Darin lag all die Verachtung, die seine Jugendfreunde für ihn übrig hatten. Schließlich hatte er sich ihrer Meinung nach um den Kriegseinsatz herumgedrückt, seiner verlorenen Finger wegen. Er war nicht wehrtauglich gewesen, da er mit dem steifen Zeigefingerstummel der rechten Hand kein Gewehr zweckmäßig bedienen hat können. So ein Glück und so ein Pech!

Der „Mondsüchtige“ saß tief, und ohne ein Wort zu verlieren, legte er einen verlorenen Blick auf die feixende Runde und verschwand wieder zu den ununterbrochen gesendeten Bildern aus dem Weltraum. Es waren kalte Bilder von einem unwirtlichen Ort, mit Menschen, die man in ihren Schutzanzügen kaum als Menschen erkannte. Seltsam schwebten sie schweren Schrittes über die Kraterlandschaft, hissten die amerikanische Flagge, sammelten Mondgestein als Beweis für daheim, sonst hätte man ihnen wahrscheinlich gar nicht geglaubt, je dort gewesen zu sein. Seltsame Bilder wurden da um die Welt geschickt, und seltsame Worte. Sie erzeugten eine Anspannung, die schier alles zum Erliegen brachte, bis endlich die Astronauten in der Raumkapsel wieder im Atlantik aufschlugen. Dann ging ein Aufatmen durch die Wohnzimmer und die Gesichtszüge entspannten sich. Es krochen nach der Bergung tatsächlich die gefeierten Helden heraus, schraubten den Helm vom Schutzanzug ab und lächelten in die blitzenden Kameras. Sie waren dort gewesen, wo alle gern hinwollten. Sie hatten den Weltraum erkundet und waren wiedergekommen, allen davon zu künden. Und eines Tages, so Gott will erleben wir ihn noch, werden wir alle zum Mond reisen und vielleicht dort leben, wer weiß.

Mein Vater hat regen Anteil an diesen Ereignissen genommen. Er heftete daran eine letzte Hoffnung. Und das ist nun für mich heute das Erstaunliche. Das ganz und gar Neue und Ferne und Unerreichbare hat ihn seltsam fasziniert. Trotz aller Unbill, die das Leben für ihn bereithielt, hat er darin Trost gefunden. Mit verhaltener Genugtuung begegnete er dem Spott der Anderen. Sie würden schon noch sehen. Der Tag wird kommen. Er weiß darum, er gehört zum engen Zirkel der Eingeweihten, er wird gerüstet sein, wenn es denn so weit sein wird, für den Flug zum Mond oder nach nirgendwo.

Ich bin nun in diese Geschichte hineingeschlüpft und meinem Vater, der bereits seit mehr als fünfunddreißig Jahren tot ist, erstaunlich nahe gekommen. Das ist das Schöne am Erzählen. Immer wieder staune ich darüber, dass so vieles bewahrt wird und bleibt, und sei es nur für die kurze Zeit, die man zum Erzählen einer Geschichte braucht. Für mich ist es wie ein Hineingehen in ein verlassenes Schneckenhaus. Langsam taste ich mich voran und finde im Verborgenen die Fäden, die die Erinnerungsbilder zusammenfügen und ganz machen, was oft lange Zeit quälend diffus im Hirn hin- und herspukt. Es ist mir eine Erleichterung, wenn sich dann doch alles so fügt und zu einem Abschluss kommt, zu einem vorläufigen. Anders geht es nicht.
Aber jetzt muss ich noch einen Schritt weiter gehen. Ich kann nicht bei der Geschichte stehen bleiben. Ich muss vielmehr wieder herausgehen. Das ist das weitaus Anstrengendste. Und das macht das Erinnern auch erst lebendig. Ich muss einen Knoten zu meinem Leben machen, umkehren und den Weg aus dem Schneckenhaus heraus suchen.

Mit dem Erzählen ist mir klar geworden, dass jeder seinen Sehnsuchtsort hat und dass dieser Ort sich unablässig verändert. An guten Tagen finde ich ihn beim Blick aus dem Fenster oder beim Spaziergang durch die Wiesen und Wälder. An schlechten Tagen finde ich ihn tausende Kilometer entfernt und sehne mich nach dem Land, wo Milch und Honig fließt. Wohlwissend, dass das kein geographisch zu lokalisierender Platz ist. Und dann durchlebe ich natürlich auch Tage, an denen ich mich schier ganz unbeheimatet fühle. Und die sich selbständig machenden Gedanken martern mich, sodass ich am liebsten meinem Vater gleich in die Apollo 11 einsteigen möchte, um für immer zu entkommen. Und irgendwann würde sich dann sicher die Gelegenheit ergeben, aus dem Weltraum herabzuspucken und laut Ätsch zu rufen: Seht ihr, ich hab es doch geschafft, ihr Kleingläubigen, ihr Gratler.

Und dann ist es wieder gut, mich an eine Geschichte angebunden zu wissen.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16009

Ohne Biss

Man hat mir von einer noch jungen Frau erzählt, die vor etlichen Jahren an einem kalten Wintertag mit dem Zug in die Grenzstadt gefahren ist. Vom Bahnhof aus ging sie schnurstracks den kurzen Weg bis zur Zahnarztpraxis auf den erhöht gelegenen Stadtplatz, gab bei dem Fräulein an der Rezeption ihren akkurat ausgefüllten Krankenschein ab, den man damals noch vorlegen hat müssen, wenn man als Kassenpatient behandelt werden wollte. Dann setzte sie sich im Wartezimmer auf einen der mit buntem Plastiktuch überzogenen Stühle, ich glaube, es war ein giftgrüner, warf einen Blick in die „Bunte“, blätterte den „Stern“ durch, suchte in der „Brigitte“ und „Burda“ die Strickanleitungen, hielt sich das gebügelte Stofftaschentuch an die geschlossenen Lippen, hinter denen sich der höllische Zahnschmerz feige verschanzt hatte.
Bereits seit Tagen, ja Wochen trieb er dort sein Unwesen. Zuerst hatte er es sich unter den Backenzähnen gemütlich gemacht, dann breitete er sich auf das gesamte Kiefer aus. Inzwischen gab es keine Stelle mehr, wo er nicht tobte. Kamillentee hatte nicht geholfen, warme Umschlage während der Nacht auch nicht. Das Zusammenbeißen der Zähne hatte ebenfalls keine Linderung gebracht.

Jetzt war der Zeitpunkt erreicht, an dem endlich damit Schluss sein musste. Es war nicht mehr zum Aushalten. Schließlich konnte die Arbeit nicht liegenbleiben. Lange genug hatte sie mit dem Schmerz Geduld gehabt, aber das hat den überhaupt nicht beeindruckt. Nun stand fest, dass der sich mit friedlichen Mitteln nicht bekämpfen ließ. Sie hatte es mit einem Despoten, einem Egoisten, einem Terroristen, einem Partisanen zu tun, der sich in ihrem Mund eingenistet und Stellung bezogen hatte. Er führte einen Angriffskrieg, der unmöglich zu gewinnen war, zumindest nicht unter den derzeitigen Gegebenheiten. Der Gang zum Zahnarzt kam einer Kapitulation gleich. Das gebügelte Sonntagstaschentuch entsprach der gehissten Friedensfahne.
Anständig wäre es vom Schmerz gewesen, wenn er die Kapitulationserklärung angenommen hätte und abgezogen wäre. Er trug ja zweifelsohne den Sieg davon. Aber das war dem fiesen Typ nicht genug. Offensichtlich war er Sadist und wollte den feige und hinterhältig errungenen Sieg noch auskosten. Deshalb ließ er auch hier im Wartezimmer noch nicht locker. Er gab nicht nach, er zog nicht ab. Er nahm sich keinen Urlaub und reiste nicht nach andernorts oder gar in die Arktis. Nein, das war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Er blieb und wartete geduldig auf den endgültig positiven Ausgang seiner Mission. Halbe Sachen mochte er nicht. Das war seine Berufsauffassung, er stammte aus Deutschland.

Die mehr als zweistündige Wartezeit verstrich ergebnislos, vielleicht ergebnisoffen. Schließlich zog die Frau ihr Strickzeug aus der Tasche. Es war ein geringeltes Strampelhoserl. Die Beine waren schon fertig. Nun arbeitete sie am Oberteil. Flink und energisch, ich möchte fast sagen verbissen bewegte sie das Nadelspiel zwischen den Fingern. Aus der Tasche holte sie winzige Wollknäuel. Es waren Reste, und die Farben waren gewagt, g‘scheckert, sagte sie dazu. Das Hoserl wurde arg g‘scheckert. Schließlich mussten die Reste verarbeitet werden, und für das noch ungeborene Baby waren sie grad recht. Sie strickte immer nur eine Runde mit einer Farbe. Das war eine von ihr entwickelte raffinierte Methode, aus der Sparnot geboren und originell. Außerdem wusste die Frau noch nicht, ob sie einen Bub oder ein Mädchen unter dem Herzen trug. Das g‘scheckerte Strampelhoserl konnte bedenkenlos von beiderlei Geschlecht getragen werden. Aber im Wartezimmer vermochte das Gestrick es nicht, sie vom bohrenden, nagenden, quälenden Schmerz abzulenken. Und eine Freude konnte sie unter diesen Umständen an der Handarbeit schon gar nicht entwickeln. So nadelte sie energisch Runde um Runde und fasste den endgültigen, unabwendbaren und folgenschweren Entschluss. Als sie irgendwann ins Sprechzimmer gebeten wurde, die Sprechstundenhilfe schloss leise die schallisolierte Doppeltür hinter ihr, und auf dem Behandlungsstuhl Platz nahm, war sie sich sicher.

Bereitwillig öffnete sie den Mund. Der Zahnarzt warf einen kurzen fachkundigen und mitleidigen Blick hinein. Ja, da fehlt's weiter. Massiver Zahnfleischschwund infolge der Schwangerschaft. Warum sind Sie denn nicht schon früher gekommen? - Mein Gott, keine Zeit! Ich kann doch nicht ständig den Laden zusperren. - Ja, jetzt ist schwer was zu machen. Offensichtlich das Resultat einer massiven Mangelerscheinung. Mit Spritzen und Tabletten sind die Zähne vielleicht noch zu retten. Aber das wird eine langwierige Prozedur. Sie müssen täglich kommen und billig wird die Behandlung nicht. Die Kasse zahlt da bestimmt nicht zu. - Ausgeschlossen, antwortete die Frau, die Zeit hab ich nicht, und ich kann sie mir auch nicht nehmen. Außerdem hab ich kein übriges Geld. Ich stecke doch nicht das, was ich mir mühselig verdiene, in meine Zähne bzw. werfe es Ihnen in den Rachen. Und von den Schmerzen habe ich auch genug.

Das Zahnfleisch war knallrot, und das Herumstochern mit dem Edelstahlinstrument tat höllisch weh. Sie krallte sich mit den Händen am weinroten Kunstleder des Behandlungsstuhls fest, schluckte allen Schmerz, Ärger und Zweifel hinunter, und sagte mit fester Stimme: Reißen Sie alle heraus. Ich will endlich eine Ruh` haben. - Erschrocken fuhr der Zahnarzt zurück und setzte sich auf seinen Drehhocker. - Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie wissen schon, dass Ihnen in Ihrem Alter keine Zähne mehr nachwachsen. Sie sind doch eine fesche Frau. - Bei diesem Satz schaute er auf seine Gerätschaften, dass ja nicht der Eindruck entstehen könne, er wolle ihr schmeicheln. Der Blick auf die Patientenkartei verriet ihm, dass die Frau vierzig war. Das sieht man ihr gar nicht an, dachte er.
Reißen Sie alle raus und zwar gleich. Ich will eine Ruh' haben.
Möchten Sie sich diesen Schritt nicht doch noch einmal überlegen? - Schlafen Sie doch noch eine Nacht drüber!
Nein, ich habe mich entschieden. Ich fahre nicht unverrichteter Dinge heim, und morgen habe ich wieder die gleichen Scherereien. Dann muss ich wieder den Laden zusperren und zu Ihnen kommen. Die Kundschaft verläuft sich schnell. Nein, auf gar keinen Fall. Fangen Sie mit dem Rausreißen an.
Ja, wenn Sie sich so sicher sind, dann gebe ich Ihnen in jede Seite am Ober- und Unterkiefer eine Betäubungsspritze.
Nein, das geht gar nicht! Sie sehen doch, dass ich guter Hoffnung bin. Ich halte das Zähneziehen schon aus. Habe ich doch die Schmerzen bis jetzt auch immer ausgehalten.
Ja, das wird aber kein Zuckerlecken, das können Sie mir glauben. Machen wir heute einen Teil, und in den nächsten Tagen kommen Sie wieder vorbei.
Nein, Sie ziehen mir jetzt augenblicklich alle Zähne. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht ständig den Laden zusperren kann. Also fangen Sie endlich an!
Ja, dann müssen Sie mir aber unterschreiben, dass ich Sie auf die nicht unerheblichen Risiken hingewiesen habe. Mit dem Essen müssen Sie in den nächsten Tagen auch vorsichtig sein, wegen der offenen Wunden, und das jetzt, da Sie schwanger sind.
Ich verhungere schon nicht. Fangen Sie jetzt endlich an. Ich muss ja den letzten Zug noch erwischen.

So unterschrieb die Frau das von der Helferin eilig getippte Formular mit ihrer aufrechten und klaren, keinen Zweifel zulassenden Handschrift, legte den Kopf zurück auf die kunststoffüberzogene Lehne, machte die Augen zu, strich noch ein letztes Mal mit der Zunge über die beiden schmerzenden Zahnreihen und verabschiedete sich von ihnen. Die hatten sie nun über Gebühr lang hundsmiserabel gemein gequält, ja gemartert. Die sollten bloß schleunigst aus ihrem Mund und ihrem Leben verschwinden. Keine Träne wird sie ihnen nachweinen, keine einzige. Schlimm genug, dass sie nicht einfach von selber herausfielen. Das wäre anständig gewesen. So hatte sie den Laden zusperren, zum Zahnarzt fahren und ihn zu diesem ungewöhnlichen Dienst auf Krankenschein überreden müssen. Scherereien über Scherereien.

Mit dem Speichel schluckte sie den ganzen Ärger hinunter, machte den Mund weit auf und ließ den Zahnarzt darin herumwerkeln. Die Hände krallte sie fest in den Lederimitatbezug der Sitzfläche. Alle Muskeln spannte sie an, den Atem hielt sie an und baute so die Lunge zu einem Schutzwall aus, der das Kind im Bauch so gut wie möglich bergen sollte. So wurde Zahn um Zahn gezogen. Es tat gar nicht so weh. Schließlich saßen die meisten auf Eiter, und die Wurzeln lockerten sich rasch, sobald der Zahnarzt mit seiner Zange anfing, kräftig hin- und herzuwackeln. Einer nach dem anderen fiel scheppernd in die bereitgehaltene Metallschale. Die Frau hörte auf mitzuzählen. Es waren zu viele, alle, die sie über die Jahre hinweg noch bewahrt hatte. Jetzt wartete sie nur darauf, dass es endlich vorbei sei. Zwischendurch holte sie immer wieder einmal energisch Luft, pumpte die Lungen erneut voll. Sie glaubte, das Blut zu schmecken, das ihr die Kehle hinablief. Die aufgespreizten Mundwinkel schmerzten. Der Zahnarzt arbeitete zügig. Er wollte diese lästige Behandlung so rasch wie möglich hinter sich bringen. - Die Helferin legte der Frau beruhigend die Hand auf die Schulter, aber diese Art von Mitleid konnte sie überhaupt nicht leiden. Auch dass sie sie anfasste, war ihr zuwider. Energisch schüttelte sie die fremde Hand ab.

Endlich fiel der letzte Zahn scheppernd zu seinen Gefährten in die Metallschale. Die Frau durfte ausspülen. Das Blut wurde ein letztes Mal abgesaugt, mit Watteröllchen wurden die Wunden im Kiefer ausgestopft. Die gesamte Mundhöhle fühlte sich klamm an. Die Frau presste wieder die Lippen aufeinander, öffnete die Augen, hörte auf die Worte, die aus dem Mund des Zahnarztes kamen, ohne sie zu verstehen, blickte in die Edelstahlschale, in der sich die Zähne, ihre Zähne, in einer Blutlache suhlten. Einige unter ihnen waren mit Goldkronen überzogen oder plombiert. Die Helferin packte die betreffenden wortlos in ein Tütchen, das die Frau zum Strickzeug in die Tasche packte. Erleichtert und erschöpft rutschte sie vom Behandlungsstuhl, hielt den Mund fest geschlossen und wickelte sich das wollene Kopftuch um die untere Gesichtshälfte. Sie musste den lädierten Mundraum vor Kälte schützen. Das Risiko einer Entzündung musste sie auf jeden Fall vermeiden. Den zu engen Mantel eilends über geworfen und notdürftig zugeknöpft verließ sie die Praxis. Nickend versprach sie, in ein paar Wochen, wenn die blutenden Wunden abgeheilt sein würden, wiederzukommen, um sich das künstliche Gebiss anpassen zu lassen. So weit mochte sie gar nicht denken. Wer weiß, was bis dahin ist. Erst einmal den letzten Zug nicht verpassen.

Der Zahnarzt wischte sich den Schweiß von der Stirn, behandelte zügig die wenigen noch im Wartezimmer verbliebenen Patienten, allesamt unkomplizierte Fälle. Dann machte er Feierabend und hoffte, dass niemals mehr jemand derartige Dienste von ihm einfordern werde.

Die Frau huschte gerade noch in den abfahrbereiten Zug, setzte sich mit umwickeltem Mund schweigend auf einen der mit rotem Plastik überzogenen Sitze und schaute mit leeren braunen Augen durch das Fenster in die hereinbrechende und vorbeiziehende Nacht. Selten war sie um diese Stunde außer Haus. Sie konnte keinen Gedanken festhalten, der Mantel spannte um den Bauch und sie machte die mittleren Knöpfe auf. Bei der Haltestation im Dorf stieg sie aus und ging durch die Dunkelheit zum Haus, in dem sie wohnte. Ohne ein Wort zu sagen, trat sie ein, legte den Mantel ab, wickelte das Tuch ab. Der Mann saß rauchend am Küchentisch und starrte sie wortlos an. Er wusste, dass sie es getan hatte. Die Lust am Stricken war ihr für diesen Abend vergangen. So setzte sie sich untätig auf ihren Stuhl, wusste nicht, was sie mit den Händen anfangen sollte, blickte schweigend vor sich hin und wich den schweigenden Blicken aus. Bald ging sie zu Bett. Morgen wird es schon wieder gehen.

Schlaflos und unter Schmerzen verbrachte sie die Nacht im immerhin warmen Federbett. Am Morgen stand sie beizeiten auf, kleidete sich im kalten Zimmer rasch an, heizte den Küchenherd ein und bereitete sich einen Kamillentee, mit dem sie sich den Mund ausspülte. Die Zahnbürste im Glas am Ausguss brauchte sie nun nicht mehr. Sie besah sich mit einem huschenden Blick im Spiegel, frisierte sich nach alter Gewohnheit lieblos das dunkle Haar und stellte fest, dass sie die schmalen Lippen aufeinander kniff. So wird das von nun an bleiben. Sie scheute sich davor, in die zahnlose Öffnung zu blicken. - Sie hatte Fakten geschaffen. Dann sperrte sie die Ladentür auf. Die ersten Kundinnen kamen, die sie wortlos bediente. Ihre aufeinandergekniffenen Lippen sprachen für sich, einer weiteren Erklärung bedurfte die Situation nicht. Stellte ihr eine der Frauen Fragen, so gab sie ihr mit den Händen auf den verriegelten Mund deutend zu verstehen, was sie nun ein für alle Mal geregelt hatte.

So verging der Vormittag und auch der Nachmittag. Das Werkeln lenkte von den Schmerzen und vom Hunger ab. Am darauffolgenden Morgen war es schon etwas besser. Die Nacht hatte sie völlig traumlos in erholsamen Tiefschlaf gewiegt. An den kommenden Tagen trank sie Tee und löffelte Suppe, dann begann sie mit dem Einweichen von Brot, wobei sie sich anfangs schämte, aber bald dazu überging, den Zustand als gegeben anzunehmen. Beißen konnte sie ja nun nicht mehr. Später rieb sie sich mit der Glasreibe einen Apfel und löffelte ihn vermischt mit Zwieback. Es ging schon. Die Wunden heilten erfreulich bald, und der Schmerz verschwand, zumindest den im Mund hatte sie radikal ausgemerzt. Das war wirklich wohltuend, keine Zahnschmerzen, aber halt auch keine Zähne mehr.

Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, hatte sie den eingefallenen Mund einer alten Frau. Sie vermied es fortan, ihr Konterfei anzuschauen, und sie vermied es auch den Mund zu öffnen oder gar zu lachen. Wochen später ließ sie sich eine Zahnprothese fürs Oberkiefer anpassen. Die war teuer. Das Geld reute sie. Die Prothese im Unterkiefer passte nie richtig, tat immer weh und rieb das Kiefer wund. Die Frau gewöhnte sich fortan daran, nur die eine Prothese zu tragen. Von Schmerzen im Mund hatte sie ein- für allemal genug.

Mit der Zeit erschien ihr der veränderte Gesichtsausdruck, der ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, normal. Die Speisen musste sie sich arg klein schneiden, und von einem Apfel konnte sie nie mehr abbeißen. Bedauerlicherweise konnte sie auch die Brotscherzl nicht mehr kauen. Die hatten ihr immer so geschmeckt.
Beißen konnte sie nichts mehr und schmecken konnte sie auch nichts mehr. Reichte doch die Prothese im Oberkiefer über den gesamten Gaumen. Da konnte man nichts machen. - Manchmal lutschte sie an gesalzenen Erdnüssen und schluckte sie dann im Ganzen hinunter. Angesprochen hat sie, glaube ich, nie jemand auf ihren zahnlosen Mund und auf ihre falschen Zähne, und wenn doch, hat sie es einfach ignoriert.

Im Frühjahr hat die Frau ihr spätes Kind entbunden und zog ihm das aus Wollrestln gestrickte Strampelhoserl an. Es war ein Mädchen, das, nachdem es aus dem Restlhoserl herausgewachsen war, in die Welt und ins Leben hineinwuchs. Das Kind ist von der zahnlosen Mutter großgezogen worden. Viele Jahre später gab sie ihr aber das Tütchen mit den goldummantelten Zähnen. Welch Nachlass.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15126

Worte fallen mir in die Hand

Wieder einmal habe ich darauf vergessen, die Frucht rechtzeitig vom Baum zu pflücken. Nun fällt sie mir in die Hand, und während ich sie so betrachte, fleht sie mich an, ich möge sie zu Papier bringen. Um ein Haar wäre sie auf den Boden gefallen und verwest, allerlei Tierchen hätten sich daran gütlich getan und vielleicht wäre eines Tages aus ihrem ins Erdreich gelangten Erbgut ein neues Pflänzchen gewachsen, das ebenfalls irgendwann Früchte trägt. Dies geschieht aber nur mit einheimischen Früchten, die den regionalen Witterungsbedingungen angepasst sind. Meine Frucht scheint mir hingegen etwas exotisch zu sein. Ich glaube nicht, dass sie unter freiem Himmel gedeihen könnte, geschweige denn sich fortpflanzen. So halte ich sie bergend in der Hand wie in einer Obstschale und betrachte sie, als wäre sie mein Kind, das zur Unzeit gekommen ist. Fordernd schaut es mich an und drängelt. Es wetzt hin und her und wird mir lästig. „Ich habe mich in deine Hand begeben und nun weißt du nichts mit mir anzufangen? Aus dir stamme ich, aus den Windungen deines Gehirns, und ich will, dass du mich zu Papier bringst. Ich will Gestalt annehmen, verstehst du das nicht? Ich will mich zu Worten geformt vom weißen unschuldigen Blatt abheben. Das verlange ich von dir. Das bist du mir schuldig. Ich will Gestalt werden.“ Und plötzlich weiß ich, dass all die Gedanken auch gern Materie geworden wären, um über den Asphalt zu stöckeln und den Regen auf den Wangen zu spüren oder den Sonnenschein mit den offenen Haaren zu fangen. Aber das ist ihnen nicht zuteil geworden. Vieles kann hier nicht erscheinen. Das meiste schlummert im Verborgenen und dennoch ist es da. Zu reich ist die Schöpfung, zu viele Möglichkeiten stehen bereit.

Mir sind nun eben diese Worte in die Hand gefallen und ich schreibe sie auf.

Worte sind Geschöpfe, was sonst. Durch meine Beschäftigung mit den Worten habe ich begriffen, dass es neben der uns umgebenden Flora und Fauna, aus der wir Menschen all die sichtbaren Güter gestalten und bisweilen verunstalten, auch noch die Schöpfung in den Worten gibt. Sie offenbaren uns, sofern wir in der Lage sind, sie anzunehmen und in uns wirken zu lassen, wie sehr wir geliebt werden. Derjenige, der die Worte in unseren Schädel hineingelegt hat, kann nicht von uns lassen und wird nicht müde, uns auf unserem Weg zu geleiten.

Nun sind in meinem Kopf viele Worte, von Zeit zu Zeit wird es ihnen dort zu eng und sie drängen und schubsen und machen mir das Leben schwer, weil sie unbedingt heraus wollen und dann habe ich diesen kunterbunten Haufen vor mir und weiß nicht, wie beginnen, wie ordnen. Manchmal ist es sehr schwer, angespannte Ruhe in die unbekümmerten und unbedarften Wesen zu bringen. Sie sprudeln über vor Lebensgier, und es ist harte Arbeit, sie, nachdem sie sich ausgetobt und mir den Sinn verwirrt haben, zunächst in ihre Schranken zu weisen. Ich habe nun ihre zügellose Energie kennengelernt und will sie leiten, damit sie sich in der rechten Weise verbinden, zu Sätzen gruppieren und nicht allzu ungestüm und durcheinander ihre Geschichte erzählen. Ich muss immer erst einen Anfang finden. Das ist mitunter das Schwerste, weil natürlich alles miteinander verbunden ist. Das Geschick von jedem Einzelnen hängt mit dem anderer zusammen, oft reichen ferne Zeiten und Orte herein und erst wenn man sich recht in ein Schicksal vertieft hat, gehen einem gewissermaßen die Augen auf und man erkennt: Aha, so ist das also! Da gab es einmal einen Onkel, der vor vielen Jahrzehnten nach Amerika ausgewandert ist. Bei Nacht und Nebel musste er abhauen, weil er Dreck am Stecken hatte. Man hat sich seiner geschämt und nicht darüber gesprochen. Oder da gab es ein kleines Mädchen, das sich so sehr Rollschuhe gewünscht hatte und über diesem Wunsch fast verrückt geworden ist. Geweint und gebockt hat es, und auch ein paar Tage nichts gegessen, aber geholfen hat das alles nichts. Die Eltern haben es für richtig befunden, ihr zu lehren, mit Enttäuschungen umzugehen. Und so hat sie mit diesem ersten großen Schmerz durchs Leben gehen müssen. Später hat man sich über ihr Geflenne lustig gemacht und sie hat manchmal selber mitgelacht, obwohl ihr nicht danach war. Es ließe sich noch eine Unmenge derartiger Begebenheiten aufzählen. Etwas fängt an und nimmt ein jähes Ende, es kann aus den unterschiedlichsten Gründen nicht ausgelebt werden. Aber immer bleibt etwas zurück. Man erzählt es sich oder man erfährt auf rätselhafte Weise davon, und irgendwie ergibt sich plötzlich ein Zusammenhang zu einer anderen Begebenheit, und so entsteht ein Geflecht, das sich in seinen Beziehungen erhellt und eine Geschichte entsteht.

Kein Mensch existiert isoliert. Jeder hat seine Erbanlagen, ist eingebunden in eine Familiengeschichte, die er oft nicht einmal kennt, weil sie ihm bewusst oder unbewusst verschwiegen wird. Trotzdem spürt jeder, dass da etwas ist, das auf ihn einwirkt, und er wird sich auf die Suche nach diesem Etwas begeben. Findet er eine Spur, so macht ihn das glücklich oder es verschafft ihm zumindest Erleichterung. Bleibt sein Bemühen ergebnislos, so führt das zu Enttäuschung und Rastlosigkeit. Man weiß um das Fehlen und sehnt sich nach dem Ganzwerden.

Ich habe von klein auf alles, was erzählt worden ist, wie ein Schwamm aufgesogen. Es gab immer irgendein Detail, das mich gerührt hat, sei es nun freudiger oder tragischer Natur. So hat die alte Tante mit dem schönen gepflegten Gesicht davon gesprochen, ihr Buckel und ihre untersetzte Gestalt rührten daher, dass ihre unglückliche Mutter sie abzutreiben versucht hat. Hochbetagt und kinderlos ist die Tante mit diesem Wissen gestorben. Die Wohnung, in der sie gut fünfzig Jahre zur Miete lebte, hatte sie, laut ihrer nicht ohne Stolz vorgebrachten Aussage, nur dem Umstand zu verdanken, dass sich die Vormieter das Leben genommen hatten. Den Gasherd haben sie aufgedreht, während sie am Tisch sitzend Schweinebraten mit Knödel und Sauerbraten verzehrten. So ist der Tod zu den beiden gekommen. Meine Tante war dabei, als man später die Tür aufbrach, und da aufgrund dieser Begebenheit niemand einziehen hat wollen, ist sie günstig an eine schöne Wohnung gekommen.

Was mache ich nun mit all diesen Geschichten? Täglich kommen neue dazu. Ich sammle sie in meinem Kopf und in Notizbüchern. Immer deutlicher erkenne ich, dass all das auch mit mir zu tun hat, ob es mir nun passt oder nicht.

Warum sonst hätte mir vor Jahren einer meiner Lehrer erzählt, er habe beim Fußballspielen immer im Tor gestanden. Die Mannschaft sei nicht die stärkste gewesen, Theologiestudenten halt, so habe er immer eine  Zigarette geraucht und das Spiel konzentriert beobachtet. Kam es zum Angriff, legte er die Zigarette über sich auf den Querbalken und nahm die Abwehrposition ein. Einmal traf der Ball mit Wucht die Latte. Durch die Erschütterung rutschte die glühende Zigarette ab, fiel auf den erstarrt dastehenden Tormann und fand ihren Weg geräuschlos durch den Halsausschnitt unters Trikot.

Rufe ich mir diese Situation wieder ins Gedächtnis, so muss ich schmunzeln.

Manchmal geht es mir auch so, dass ich mir wünsche, das was andere mir erzählen, gern selbst erlebt zu haben. Ich denke, das Schicksal verwöhnt manch einen und lässt ihm solch großartige Erlebnisse zuteilwerden, und nahezu gleichzeitig fühle ich mit jemand anderem, der besonders Schlimmes mitgemacht hat. All das gelangt zu mir. Ich höre davon, beobachte es, erlebe es selbst und so entsteht daraus etwas Neues. Knoten und Perlen wechseln sich auf dem seidenen Faden ab, und die kostbare Kette wird aufgefädelt. Sie ist das Leben, das in seltsamen Windungen verläuft, einem Schneckenhaus nicht unähnlich, und wenn die Schnecke es verlassen hat, dann bleibt es immer noch, und wer das Leben kennt, der hat seine Freude daran, dem allen nachzuspüren, weil er sich selber darin findet.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 15116

Im Wladislaw-Saal der Prager Burg

Das ist ein Raum, den ich mit fliegenden Schritten durchtanzen möchte, sofern ich das könnte. Weit ist er und mit matt glänzenden, honigfarbenen Holzdielen belegt, die in den vergangenen fünf Jahrhunderten Abermillionen Füße über sich gehen, schreiten, schlurfen, tanzen und wohl auch stöckeln fühlten. Sogar auf Pferden wurde durch den Saal geritten, kann man im Führer nachlesen. Farbloses Licht dringt durch die rechteckigen Fenster an den Langseiten und verbreitet eine gedämpfte Stimmung, die ruhig werden und den Augen Zeit lässt, umherzuschweifen, sich umzusehen und heimisch zu werden. Sofort ist man hier zu Hause. Kein Prunk lässt einen zurückschrecken und macht einem Angst. Einladende Gemütlichkeit, zurückhaltender Charme begrüßen einen hier.
Das liegt an der Schlichtheit, die Räumen wie diesem eigen ist. Sie sind so wohlproportioniert, so wundervoll gebaut, dass sie es nicht nötig haben, mit unlauteren Mitteln zu prahlen und falsche Tatsachen vorzutäuschen. Sie sind ehrlich und gradraus und laden ein. Ich nehme die Einladung an und fühle mich zu Haus. Zumindest könnte es so sein, wenn da nicht die vorgeschriebenen Besichtigungswege wären und die Besuchermassen, die durch den Pauschaltourismus zwar Geld bringen, aber außer einem flüchtigen Eindruck wohl kaum etwas mitnehmen. Das Schlimmste aber ist, dass sie Leute wie mich stören, die mehr Zeit und mehr Ruhe brauchen, um einen Raum zu erleben.

Die gedrungene Höhe ist es, die in aller Stille wenig Herrschaftliches verbreitet, sondern aufrichtige Schlichtheit. Dabei ist das Gewölbe mit größter Raffinesse erbaut. Kreuzrippen der ganz besonderen Art und ziemlich einmalig, wie ich vermute. Mutig und kraftvoll erwachsen sie aus den Seitenstreben, lösen sich selbstbewusst und schwingen sich ungeachtet des mächtigen Daches, das sie zu tragen haben, leichtfüßig hinauf in die luftigen Höhen. Die steinernen Bänder durchziehen organisch die sanfte Wölbung des Gewölbes. Sie treffen und trennen sich und es herrscht großer Einklang unter ihnen. So bilden sie Blütenornamente und sorgen für einen beschwingten Rhythmus, der sich auf die Stimmung des Besuchers überträgt. Es wird einem gleich leichter ums Herz und die Architektur verbreitet musikalische Klänge, sodass es unwichtig ist, ob wirklich Musik gespielt wird, wie es hier bestimmt schon oft der Fall war und auch noch ist.
Diesen Bändern muss ich mit den Augen folgen. Sie spornen mich an, mich zu wenden, mich zu drehen, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Beschwingt sind sie und heiter und lebendig. In all den Jahrhunderten ihres Bestehens konnte ihnen niemand den Frohsinn rauben, obgleich so vieles vermeintlich Wichtige geschehen ist. Gibt es daran noch eine Erinnerung?
Es sind Fakten, die man gesagt bekommt und nachlesen kann, die aber schnell wieder verblassen angesichts dieser Architektur. Sie ist wahrhaft groß und überdauert die Zeit und braucht auch keine Erklärung. Sie wirkt von allein und lässt einen jeden empfinden, der mit offenem Herzen hereinkommt und mit wachen Augen schaut, ohne Hintergedanken, der kein Blendwerk braucht, sondern Klarheit und das Leben in den Formen spürt, in den Rippen, die einer Wirbelsäule gleichen und von Nervenbahnen durchzogen sind.
Ich kann in ihnen so manches entdecken und auch erfahren, denn Räume wie diese hegen einen Zauber wie alles, das mit Bedacht von Menschenhand geschaffen ist. Sich dem hinzugeben, sprengt die Grenzen des Daseins und eröffnet den Blick zum Horizont und vielleicht auch dahinter.

Und dann sind da noch die Gesichter, die mich verschmitzt aus einer Gabelung anblicken. Unvermittelt entdecke ich so einen Kopf, der sich zwischen die Rippen legt und nach unten schaut wie aus einer anderen Welt. Bestimmt hat er mich schon lange im Visier und beobachtet jeden meiner Schritte. Ich fühle mich ertappt und so soll es auch sein. Schließlich ist das hier ein besonderer Ort, an dem man nicht arglos umherschweift. Immer wieder entdecke ich nun solche verborgenen Wesen. Doch ist ihr Blick heiter. Sie führen nichts Böses im Schilde. Sie bleiben an dem Platz, der ihnen vom Baumeister zugedacht wurde, und harren dort aus und haben schon vieles gesehen. Nun ist auch mein Bild in ihr steinernes Auge gedrungen und bleibt dort bis ans Ende der Zeit. Erzählen können sie einst von mir und meinem Besuch und meinem Blick unters Dach und dass unsere Augen sich getroffen.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15096