Kategorie-Archiv: Claudia Kellnhofer

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Hochseilakt

Seiltänzer gehören zu meinen Favoriten unter den Artisten. Als ich in die erste Klasse ging, kam eine Seiltänzergruppe in mein Dorf. Sie spannten das Seil vom Giebelfenster des alten Schulhauses zu einem Mast, der sich auf dem freien Platz unterhalb der Kirche befand. Früher hatte dort ein noch älteres Schulhaus gestanden, das bereits abgerissen war. Ein freier Platz war der Gewinn.
Ich durfte in die Abendvorstellung gehen. Es war bereits dunkel, als sich die Zuschauer versammelten. Alle standen an der Häuserzeile vor der Limonadenfabrik aufgereiht. Man schob mich nach vorne. Alleine hätte ich mich nichts zu sagen getraut. Mein Bruder hatte mich mitgenommen, und ich spürte an seinem ironischen Lachen, dass er total aufgeregt war. Ich war völlig gebannt von der gesamten Situation. Die fremden Menschen, die so ganz anders waren, die durch die Welt zogen, Kunststücke darboten, die wahnsinnigen Mut, ja schon Tollkühnheit verlangten, und durch nichts mit der mir bekannten Welt verbunden schienen. Junge Frauen und Männer und Kinder, unerschrocken, mit Kostümen bekleidet, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Alles ging wahnsinnig schnell.
Die nächste Nummer wurde von einem Herrn angesagt, der seiner Stimme einen seltsam aufregenden Klang zu geben bemüht war, der Floskeln verwendete, die ihm in seiner manierierten Kunstwelt normal erschienen. Die Worte, die er sprach, waren unwichtig. Es war nicht nötig, den Inhalt der Worte zu verstehen. Nur der Klang, der Eindruck hüllte mich ein. Die Ansprache war ein Ritual, das dem ehrwürdigen Senior vorbehalten war. Seine Zeit auf dem Hochseil war unwiederbringlich vorbei. Jetzt konnte er nur noch im abgewetzten Anzug Ansprachen halten. Alle Augen starrten auf das Seil in schwindelerregender Höhe, das nicht gesichert war. Eine junge Frau balancierte mit einem Schirm, machte eine Verbeugung, einen Knicks, eine Rolle vorwärts und rückwärts. Ochs und Achs waren zu hören, dann Applaus. Ein Raunen ging durch die Menge und ich vergaß fast zu atmen, so aufregend war alles.

Jetzt fällt mir das wieder ein, Jahrzehnte später. Ich bin nie zu einer Artistin geworden. Da fehlt mir das Talent. Das Hochseil ist dennoch verlockend. Es wird gespannt, um Kunststücke darauf vorzuführen, um Zuschauern einen Schauder ins Herz zu zaubern. Die einen sind zum Risiko bereit, auf dem Seil zu tanzen, den anderen ist das Beobachten vom Boden aus schon genug. Hochseil ohne Sicherung, das bedeutet, sein Leben ständig aufs Spiel zu setzen, einen Genickbruch, eine Wirbelsäulenverletzung in Kauf zu nehmen. Nie mehr auf das Seil können, das restliche, vermutlich noch lange Leben. Aber ohne dieses Risiko geht es nicht, gar nicht.
Und immer müssen die Kunststücke noch gesteigert werden. Es genügt nicht, mit dem Schirm in der Hand über das Seil zu gehen, was eigentlich schon mehr als genug Mut fordert. Es werden Sprünge eingebaut, die viel Kunstfertigkeit verlangen. Dann folgt eine Rolle vorwärts, eine Rolle rückwärts.
Leicht ist es möglich, abzurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Körper muss total angespannt sein. Jeder Muskel ist wichtig. Es gibt keine Partie, die sich gehen lassen darf, nicht der kleine Zeh und nicht der Hals oder gar das Gesicht. Der Geist muss konzentriert sein. Der Bruchteil einer Sekunde, den man in Nachlässigkeit verbringt, kann den Tod bedeuten. Man darf das Seiltanzen nicht unterschätzen!

Es gibt noch Steigerungen, die den Männern vorbehalten sind: Ein Junge fährt mit einem Fahrrad über das Seil. Die Reifen sind extra präpariert, dass sie nicht so leicht abrutschen können. Die Fahrt muss schnell gehen, mit Schwung bergab und auf der anderen Seite wieder hoch aufs Podest. Die Zuschauer halten den Atem an. Um mich herum herrscht angespannte Stille. Ich sauge den Atem durch die Nase ein, immer weiter, und starre auf das Seil. Ein Klatschen hebt an, Begeisterungsrufe.
Der Junge lässt sich mit dem Rad zur Mitte des Seils rollen. Es dauert, bis es zum Stehen kommt. Einige Male rollt er vor und zurück, dann schwingt er seinen Körper zum Handstand hoch, die Hände stemmen sich auf Lenker und Sattel. Das Staunen und die Bewunderung steigern sich. So etwas erlebt man selbst als Zuschauer nur wenige Male. Nun kommt der ultimative Höhepunkt der Vorführung, der Motorradfahrer. Der Motor heult auf, der Auspuff raucht, der hagere Mann mit dem Glitzerhemd steht auf den Pedalen und fährt auf dem Seil. Zuerst einmal die ganze Strecke in Windeseile, dann der gekonnte Sprung vom Motorrad auf das Podest. Begeistertes Applaudieren. Das gefährliche Gefährt erhöht die Spannung. Der Mensch allein kann nicht so viel Dramatik erzeugen.

Gefahr betört, am besten, wenn es eine fremde Gefahr ist. Man partizipiert, genießt den Nervenkitzel und weiß gleichzeitig, dass man keine Angst haben muss. Alles ist gut.
Wer würde sich schon ohne Not aufs Hochseil wagen, ohne gelernt zu haben, auf ihm zu tanzen?
Warum schauen wir uns dann solche waghalsigen Kunststücke an und erinnern uns noch Jahrzehnte später daran?
Wohl, weil plötzlich die Entsprechung dazu im Leben eingetreten ist.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15092

Dem Zweifel entfliehen, der Leere, der Traurigkeit

Wenn Müdigkeit sich in mir auszubreiten beginnt, lasse ich sie Besitz von mir ergreifen. Sie kommt mir gerade recht. Ich spüre, wie sie anfängt, meinen Verstand zu lähmen. Alles in meinem Hirn wird unwichtig. Die Augen fallen mir zu und ich gebe mich dem angenehmen Gefühl hin, hinabzusinken in die lautlose Dunkelheit. Während ich das Schweben noch wahrnehme und völlig angstlos genieße, entzieht sich mir jegliche Vorstellung von Ankunft. Nur das Sinken nehme ich wahr, es dauert und dauert und ich gelange nie an den Grund. Daran finde ich mehr und mehr Gefallen. Verschließen will ich die Augen vor den unermüdlich eintretenden Ereignissen. Die Notwendigkeiten schaffen es nicht mehr, meine Sensoren zu erreichen. Wissen will ich nicht, was ich tun soll und muss. Nur schwerelos gleiten möchte ich und nie ankommen.

Es ist Geborgenheit, die mich durch diesen Dämmer trägt und hält und schützt. Dann verliert sich auch die Erinnerung daran und es gibt nichts mehr, was mein Bewusstsein beschäftigt. Lediglich ein wohliges Gewogensein von geheimen Kräften umgibt mich. Sonst ist da nur der Rhythmus des Atems, der im Geheimen die Verbindung zum Leben wahrt. Zeit und Raum verschwinden und ich spüre die Schichten meines kümmerlichen Daseins, die ihre Schalen öffnen vor dem, der ohnehin weiß, was im Innersten wohnt. Mit seinem liebenden Herzen fühlt er hinein und lässt ein leises Lied erklingen, das vom Wunder des Paradieses zu künden weiß, vom Gleichklang der Lebenskräfte, die mich aber taumeln lassen im Sturm und mich zu verwehen drohen im Dickicht, sodass ich mich auflöse in abertausend Fäden, die an den Ästen der Bäume hängen bleiben und ein Spiel der Lüfte werden, völlig substanzlos.

Aufgetrennt ist meine Seele und zerstückelt, und die Enden suchen nach der gewohnten Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Lebensfaden verbunden waren. Abzuwickeln schien ihn Zentimeter für Zentimeter eine schicksalhafte Kraft, die sich des Ziels sicher war. Doch plötzlich gelangte er in den Besitz bislang verborgener Kräfte, und neue Türen tun sich auf und lassen die verblüfften Augen Ungeahntes schauen, das mit Macht und Unerbittlichkeit zum Gehen auf den neuen Wegen drängt. Kein Aufschub wird erlaubt, es eilt. Die Zeit ist dicht, kein Millimeter findet sich zwischen den Momenten, angefüllt ist jede Sekunde mit Ungeduld und Drängen. Ein Sehnen zieht die Seele mit sich fort und kündet ihr von ungeschauten Plätzen, die wohl verborgen hinter Zauberwäldern die Quelle der vier Flüsse ahnen lässt. Und in dem atemlosen Hecheln dieser vielfach angehäuften Zeit reißt der letzte Faden jäh entzwei und alles taumelt.

So finde ich mich losgelöst von den gewohnten Banden und baumle in nie gekannter Weise an seidenen Gespinsten, die Achtsamkeit und Mut mir gleichermaßen abverlangen, um nicht zu stürzen in den Höllenschlund. Viele Worte dringen an mein Ohr, sie sprechen Warnungen und drohen, sie beschwören meine Sinne und äußern immer wieder das Zauberwort Vernunft, Vernunft, Vernunft. Verstohlen klopft es an die Schädelwand von innen, auf dass ich öffne Aug und Ohr und Herz. Geheime Mächte sind es aber, die sich gegen dieses Drängen sperren. Vernunft kann nicht der Maßstab sein. Soll denn das Herz zur Marionette werden? Soll es geleitet werden von den Messgeräten, die mit der Macht der Zahlen betören und verführen, und oftmals schon das Unheil überschwappen ließen trotz zweifelsfreier Expertisen?

Die schwerelosen, dem wachen Auge stets verborgnen Seidenfäden sind von den Raupen ahnungsvoll gesponnen. Sehr wohl wissen sie, was an ihnen hängt und was sie bewahren müssen vor der ewigen Verdammnis. So lasse ich mich in jenen Dämmer gleiten und spüre im Innern der Erinnerung, die meine Ahnen mir nicht grundlos weitergaben, dass ich getragen bin, wenn auch ganz zart. Nur trauen kann ich dem Vertrauen, das in mir lebt und mir den schmalen Pfad zu gehen rät. Wer weiß schon um die sorgenvollen Kammern in den entlegnen Winkeln meiner Kreatur, die ähnlich den himmlischen Hallen sich ineinander bauen und verzweigen und endlich doch das Auge schauen lassen in jenes Licht.

So kann ich der lautlosen Dunkelheit vertrauen. Sie fängt mich auf und lässt mich träumen von Plätzen, die kein Wissen jemals sieht. Im zärtlichen Vergessen ruh ich mich aus und schwebe unmerklich leise wieder empor zu jenem Horizont, der mich empfängt und weckt und zärtlich aufnimmt in die neue Zeit. Lang ist sie und anders und doch gleich. (Allein in mir hat sich ein Auge aufgetan, das auf dem mühevollen Gang durch die Windungen des Schneckenhauses die Zeit und alles, was in ihrem Licht erscheint, ganz neu erscheinen lässt.)

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15086

Für die Dauer eines Lidschlags

Deine Augen lassen den Blick in die Tiefe zu
in die wohlige, samtige
die auffängt und wiegt

In deinen Worten kann ich die Stimme hören
die mich beim Namen
und ins Leben ruft

In deiner Nähe atme ich den Hauch
der das Innerste aufbricht
und ganz macht

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 15082

Nach mehr als dreißig Jahren

Der Vater ist vom Kirschbaum gefallen, erzählt mir R., der mit mir vor mehr als dreißig Jahren das Gymnasium besucht hat. Drei Tage war der Vater erst in der Rente gewesen. Zum Kirschenpflücken ist er in den Baum gestiegen. Welch wunderbares Bild, das vor meinen Augen auftaucht. Was kann es Schöneres geben als Kirschen zu pflücken, wenn man das Erwerbsleben beendet hat! Aber R.s Vater erlitt einen Herzinfarkt, wie der Arzt später feststellte, und fiel vom Baum. Seine letzte Tätigkeit auf Erden war das Kirschenpflücken gewesen.
Die Mutter hat das nicht verkraftet. Kaum war die Beerdigung vorbei und der Mann unter der Erde, hat sie die Tür zu ihrer Wohnung gut abgeschlossen und sich im letzten Winkel verborgen. Alleine wollte sie sein und ungestört, um sich das anzutun, was den Mut der Verzweiflung erfordert und einzig Linderung all des Schmerzes zu versprechen scheint. Sie nahm das scharf geschliffene Messer zur Hand, das ihr in früheren, besseren Zeiten als Wirtin so gute Dienste geleistet hatte, fasste sich ein Herz, ließ noch einmal ihr ganzes Leben Revue passieren und kam zu dem Entschluss, dass nun Schluss sein muss.
Alles ist genug, mehr als das, es ist sogar zu viel. Es reicht. Rien ne va plus. Das Leben ist gelebt. Tief holte sie Luft, der Lebensatem strömte in ihre Lungen und ließ das Herz schneller schlagen. Leicht ging es, die Klinge an das linke Handgelenk zu führen und die blau durchschimmernde Schlagader zu öffnen. Kein Schmerz war zu spüren, überhaupt keiner. Rot drang das Blut heraus. Die Wärme aus dem Inneren war nun außen auf der Haut. Seltsam. Nun war es an der Zeit, das Messer in diese Hand zu nehmen. Noch war genügend Kraft in ihr. Ungelenk fühlte sich das an, aber es ging nicht anders. Entschlossen führte sie die Klinge an die Pulsader des rechten Innenarms. Nur ein leichter Druck war notwendig, der Vater hat das Messer gut geschliffen.

Daran muss sie jetzt wieder denken. Das war immer seine Aufgabe gewesen. Damit wollte er seiner Frau die Arbeit in der Wirtsküche erleichtern. Ob er wohl weiß, was er ihr damit für einen Dienst erwiesen hat? Bestimmt weiß er es, bestimmt schaut er ihr sogar aus dem Jenseits zu. Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Ich bin auf dem Weg. Warm und behäbig fließt das Blut über den Arm und über die Hand. Das Messer hat seine Bestimmung erfüllt und kann beiseitegelegt werden.
Es ist die ruhige Stunde vor Tagesanbruch, die jetzt geheiligt ist. Früher musste um diese Zeit viel gewerkelt und vorbereitet werden für den bevorstehenden Tag, für die Kinder, für die zu erwartenden Gäste. Das war jetzt vorbei. Nichts gab es mehr vorzubereiten, nichts gab es mehr zu tun. Alles war getan, alles war erledigt. Ein gutes Gefühl stellte sich ein, ein Gefühl der inneren Zufriedenheit. Es war vollbracht, das Leben war gelebt.
Die Mutter lehnte sich zurück und ließ den Dämmer von ihr Besitz ergreifen. Wohltuend legte er sich auf sie, schluckte alles Wissen und alle Erinnerung, sodass der Kopf leer und frei wurde. Müdigkeit senkte sich herab und wohlig gab sie sich ihr hin. Was konnte es Schöneres geben? Einschlafen, wenn der Morgen graute. Ein anderer Tag erwartete sie, ein anderes Leben, das nicht so schwer sein wird. Ein Leben ohne Schatten, ja das ist es, ein Leben ohne Schatten. Wenn die Sonne genau über einem steht, wirft der Körper keinen Schatten. Man ist richtig bei sich, man ist bei sich zu Hause.

Aber so weit sollte es noch nicht sein. Die Vorsehung schaltete sich ein. R. erzählt mir, dass er auf dem Weg zur Arbeit gewohnheitsmäßig die Türklinke zur Wohnung der Mutter drückte. Als er sie verschlossen vorfand und sein Rufen keine Antwort erfuhr, trat er die Tür ein. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass der zurückhaltende Mann mit der ruhigen und sanften Stimme mir gegenüber, der vor Jahrzehnten mein Klassenkamerad gewesen war, eine Tür eintreten kann. Aber außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Taten.

R. lächelt, als er davon spricht, wie er die Mutter gefunden und alles veranlasst hat, um sie ins Leben zurückzuholen. Diese Aufgabe ist ihm zuteil geworden, zweifelsohne eine schwere. Wenn ich ihn anschaue, lese ich in seinem Gesicht, dass es nicht die einzige schwere Aufgabe in seinem Leben gewesen ist. Man kann es sich nicht aussuchen. Wenn ich ihn so anschaue, so denke ich, er ist nicht für schwere Aufgaben geboren, aber wen kümmert das. Trotzdem lächelt er, wenn auch nicht unbeschwert.
Und ich denke, das verbindet uns. Wir waren beide nie unbeschwert. Wir mussten uns wieder begegnen, um uns die Geschichten vom gescheiterten Selbstmord unserer Mütter gegenseitig zu erzählen. Seltsam. Und jeden Morgen bricht ein neuer Tag an und jedes Jahr im Mai blüht der Kirschbaum.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15080

Unbekannte Orte

Wenn ich auf dem sanft abfallenden Hügel stehe, den blauen, ungetrübten Himmel über mir habe, und den Blick über das vor mir liegende Tal schweifen lasse, gelingt es mir, mich als Teil dieser Landschaft zu sehen. Schafe umgeben mich und ihr Blöken ist wie ein schützender Mantel aus Lauten, der sich dämpfend auf alles legt. Das Weiche, das der Anblick der Schafe in der Ferne vermittelt, verliert sich, wenn sie näher kommen. Ihr Fell ist schmutzig und zottelig, ihre Gesichter sind ausdruckslos und ihre Augen schauen mich nicht wirklich an. Ich weiß nicht, ob sie auf das Nahe blicken oder auf das Innere, das Ferne ist für sie ohne Belang. Ihre Münder sind mit dem Abrupfen des Grases beschäftigt und es scheint, als wäre das ihre ganze Bestimmung. Mir kommen sie nicht nahe, sie umgeben mich und ich bin weder ein Teil von ihnen noch interessieren sie sich für mich. Als Futterquelle scheide ich aus, folglich ist meine Anwesenheit für sie ohne Belang. Ich bin einfach da, nur so. Schafe sind friedliche Tiere, sie sind bescheiden, unaufdringlich, sie lassen über sich bestimmen, lassen sich scheren und lassen sich schlachten. Lämmer sind weich und verletzlich, sie werden geopfert. Wofür?

Wenn ich mich bewege, weichen sie zurück, geben mir den Weg frei. Dabei will ich gar keinen Weg nehmen. Ich trete näher an den Baum, der frei und selbstverständlich hier sein Zuhause hat. Zufällig ist er hier groß geworden und nun spendet er denen Schatten, die ihn finden. Seit vielen Jahren graben sich seine Wurzeln in den kargen Boden. Das ist kein leichtes Geschäft, aber sie wissen, dass es für sie weiter nichts zu tun gibt. Verdorren wollen sie nicht unter der Sonne, dazu ist ihnen das Leben zu kostbar. Also suchen sie den Lebenssaft in der Erde und finden ihn auch, aber mühsam. Ihre schwere Arbeit geschieht im Dunkeln und bleibt für immer verborgen. Trotzdem sind es die bescheidenen Wurzeln, die aus der Tiefe das lebensnotwendige Wasser holen und den Baum wachsen lassen. In Jahren gewinnt er an Größe und breitet seine Äste mit einer Selbstverständlichkeit aus, über die ich nur staunen kann.
Unmerklich entsteht ein Blätterdach, das den Zauber der Sonnenstrahlen aufzunehmen und zu verwandeln weiß. Schön ist es, darunter zu stehen, an einem Tag wie diesem. Das Rauschen der Blätter lässt die Macht der Gedanken verstummen und hüllt mich ein in jene Geborgenheit, die manchmal im Traum zu Gast kommt und schwerelos macht. Das Rauschen ist leise, aber es schließt den Kosmos um mich. An den starken Stamm gelehnt bleibt meinem Rücken auch nicht die Kraft verborgen, die sich hinter der Rinde gesammelt hat. Lange dauert es, bis ein Baum diese Größe erlangt, und nicht jeder schafft es, den Widrigkeiten zu trotzen und seine geheimen Kräfte zu entwickeln.
Dieser Baum kann seine Kraft, ohne ein Aufhebens davon zu machen, weitergeben. Gastfreundlich ist er und lädt mich ein, bei ihm zu verweilen. Es tut gut, mich an ihn zu lehnen und seinen Gleichmut entlang meiner Wirbelsäule in mich eindringen zu lassen. Gleichmut kann mich der Baum lehren auf jene gefühlvolle Art, die nur ihm zu eigen ist. Gleichmut und Bleiben. Beides wird einem zuteil, wenn man die Widrigkeiten des Himmels genauso hinzunehmen versteht wie die Sonnenstrahlen.
Und noch eines gehört zum Vermächtnis dieses Baumes. Die Einsamkeit ist sein Begleiter, doch sie macht ihn weder schwach noch traurig. Wahrscheinlich ist sie es, die ihm die Kraft verleiht, mir Schutz zu spenden unter seinem rauschenden Blätterdach und meine Augen mit den tanzenden Lichtpunkten zu erfreuen. Was wären die Sonnenstrahlen, könnten sie nicht durch die vom Wind bewegten Blätter ihre Geheimnisse entfalten und besonders schillern und glitzern und mir so von ganz anderen Welten und Zusammenhängen künden. Diese Lichtflecken sehen und in mein Inneres lassen, ist etwas vom Schönsten, was es gibt. Sie vertreiben die dunklen Flecken und machen Platz, um etwas noch Unbekanntes entstehen zu lassen, das mich gespannt macht.

Jetzt bleiben nur noch die Hände, die nicht anders können, als über die rissige Rinde zu streifen und fühlend das unhörbar pulsierende Leben zu ertasten, das dahinter verborgen ist. Ihnen kann nichts entgehen, sie nehmen am deutlichsten wahr, was im Inneren vor sich geht. Kummer und Schmerz und auch die Verletzungen dringen durch meine Haut. Rasch erzählt mein Blut es dem Herzen. Wunden und Narben sprechen Bände. Sind sie auch nicht sichtbar, so lassen sie sich doch von den Fingern ertasten, denen ein besonderer Spürsinn mit auf den Weg gegeben ist. Ein Baum erlebt viel, sein Leben ist lang und hier auf dem Hügel ist er allein. Die Blätter raunen ihre schwer verständlichen Worte in die Weite, doch außer den Schafen hört sie meist niemand. So vermischen sie sich mit deren Blöken und werden zu einem Geräusch, das dem Pulsieren des Blutes gleicht und ohne auf sich aufmerksam zu machen den Rhythmus der Welt mit anschlägt, nach dem alles auf seine Weise lebt und sich bewegt oder still ist, wenn die Zeit es verlangt. Dem Puls im Innern des Baumes können die Hände nachspüren. Ein gleichförmiges Dahinfließen in den zahllosen engen Kanälen können meine Finger erahnen. Weder Hast noch Stillstand kennt der Puls des Baumes. Er hat gelernt, alles hinzunehmen, in sich aufzunehmen, in Holz zu verwandeln und zu bewahren. Da gibt es viel zu lesen in den Ringen, die sich Jahr für Jahr bilden. Wie eine Blindenschrift entziffern sie meine Finger. Und diese Schrift verbindet sich mit der Erinnerung an all jenes, das ich gehört und gelesen und weiß und ahne, und so entsteht etwas Neues in mir.
Liebevoll streichle ich über die Rinde und lasse meine Zuneigung als Pfand zurück, ehe ich mich verabschiede.

Auf dem Weg über das karge Gras begleitet mich noch das Lied jenes Baumes, der sich mir anvertraut hat, und dessen Botschaft ich mit mir nehme in das Dorf, dem ich entgegengehe. Niedrige, weiß gekalkte Häuser erwarten mich. Freundlich blicken mich ihre kleinen quadratischen Fenster an. Die Wimpern unten sind mit roten Blumen geschminkt und die Lider zieren perlenbehangene Spitzen, so dass die Fenster in der Tat Augen gleichen, die den Besucher mit einem Lächeln begrüßen. Ich nicke zum Gruß, als wären wir seit langem bekannt, dabei war ich niemals zuvor hier.
Anscheinend bekümmert das niemand. Kann sein, wir kennen uns von alters her. Nur mir ist die Erinnerung verlorengegangen, während das Auge des Hauses mich sehr wohl wiedererkennt.

Ja, so ist das mit Häusern, man darf sie nicht unterschätzen. Haben sie jemand ins Herz geschlossen, so sind sie ihm treu und heißen ihn wieder willkommen. Mit einem Lächeln gehe ich entlang und fühle die Wärme, die die weiß gekalkte Mauer für mich gespeichert hat.
Ich bin in einer Gasse, deren Boden mit hellem Kalkstein gepflastert ist. Er ist glatt geschliffen von den abertausend Füßen, die darübergegangen sind und unsichtbare Spuren hinterlassen haben. Der Klang meiner Schritte fängt sich in den Mauern und gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein. In die Häuser führen bunt gestrichene Türen, die die Fröhlichkeit der Bewohner erahnen lassen. Die Tür muss bunt sein, rot am besten, das ist einladend. Links von mir führt eine Steinstufe zum Eingang des Hauses, eine schmale Tür, so ist es recht. Nicht jedem wird sie sich öffnen.
Eine Katze liegt auf der von der Sonne erwärmten Stufe. Sie räkelt sich und genießt. Das können uns die Katzen lehren. Den Weg zwischen den Häusern gehe ich entlang. Hier sind es die zurückhaltenden Farben Weiß und Grau, die für Ruhe sorgen. Aber die Blumen auf den Fenstersimsen und an den Haustüren sorgen für Aufheiterung. Gelb mischt sich mit Blau und Rot und immer wieder Weiß. Grün sind die Blätter, das Beiwerk der blühenden Blumen. Meist nimmt man es als selbstverständlich hin und schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Es ist satt vom Licht, das es im Übermaß getrunken hat und reckt sich schützend zurückhaltend um die Blüten. Stolz ist das Grün auf seine Schützlinge und weiß sich zu bescheiden.

Nun sind es die Stimmen, die an meine Ohren dringen, unverständlich und fremd. Die Gasse mündet in einen Platz, auf dem reges Treiben herrscht. Es ist Markt und ich werde mit einem Übermaß an Lebendigkeit empfangen. Ganz selbstverständlich werde ich ein Teil davon. Hier kann ich eintauchen und teilhaben. Niemand scheint meine Fremdheit zu bemerken, so fühle ich mich heimisch und drängle mich wie all die anderen zu den einzelnen Ständen. Ich werde angelächelt und lächle zurück, ich blicke in dunkle Augenpaare und kann ihnen begegnen, ohne ausweichen zu müssen. So macht es Spaß, sich unter Menschen zu bewegen. Es gilt das grundlegende Recht des Angenommenseins. So kann die Seele anfangen, sich zu öffnen und frei zu werden. Dieses Geschenk empfange ich hier unter Fremden. So fangen meine Augen an, sich zu öffnen für die Vielfalt der Waren, die feilgeboten werden. Bunt ist alles und laut, so wie ich es lange nicht erlebt habe, dennoch spüre ich eine Harmonie, die wohltuend ist. Bunte Stoffe werden vor mir ausgebreitet. Es sind Farben, die mit ihrer Leuchtkraft nicht geizen müssen: Grün und Orange und Blau und Pink und Violett und Gelb. Die Muster besitzen eine Selbstverständlichkeit, die durch nichts zu überbieten ist. In diesen Stoffen ist das Leben eingefangen, mit dem ich mich einhüllen will. So kann mir nichts geschehen.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 15078

Auch so eine Geschichte

Die Sachlerin ist eine Frau in den Siebzigern. Sie ist mir schon öfter auf der Straße begegnet und hat mich freundschaftlich mit Griaßde angesprochen. Aha, bist auch wieder mal zu Besuch. Sie lächelt einen offen an. Ihre Augen haben etwas Direktes und Ehrliches, ihre Züge sind einladend. Eine einfache Frau, auf die Verlass ist, die im Leben steht, die nicht so leicht etwas umhaut. Sie ist nicht allzu groß, eigentlich gedrungen, und kräftig gebaut. Vielleicht wirkt sie aber auch nur so, weil ihr im Laufe ihres Lebens einiges unverdaulich war. Diesen ganzen Ballast hat sie sich als Schutzschicht, als Polster gewissermaßen, um die Figur gewickelt. So kann ihr kaum mehr etwas was anhaben. Ich habe sie nur in Stoffhosen mit akkurater Bügelfalte, flachen bequemen Schnürschuhen, weiten Pullovern und Anorak gesehen. Ihre Sach‘ hat sie sauber beieinand‘, der Garten ist gepflegt, das Haus ordentlich, die Fenster geputzt.
Die Sachlerin weiß, was sich gehört, und weiß auch, was sie im Leben zu tun hat. Nie konnte sie faul sein, immer hat sie sich gekümmert, immer war sie mit dem zufrieden, was ihr der Herrgott zugedacht hat, wenn es auch, weiß Gott nicht immer leicht war. Mit vielem hat sie sich abgefunden, mit anderem hat sie sich eingerichtet, aber auch jetzt begegnen ihr noch Situationen, ja Schicksalsschläge, die ihr schwer zusetzen.

Der Hund von der Sachlerin heißt Rexi. Er ist eine Dame, aber als die Sachlerin das feststellte, hatte sie schon ihren männlichen Namen. Ein Name ist ein Name, den kann man nicht mehr ändern. Jetzt läuft die Rexi halt mit einem männlichen Namen durchs Leben. Wen kümmert das schon? Rexi habe ich schon viel früher als seine Besitzerin kennengelernt. Wenn ich bei Monika zu Besuch war, hat sie immer vorbeigeschaut und die Elli besucht. Die Elli ist ein keiner Spitz mit rotbraunem Fell und sehr klugen braunen Augen. Wenn Rexi vor der Haustür stand, lief Frau Elli hin, bellte kurz, damit jemand öffnete. Schnell und energisch wetzte Rexi durch den Türspalt, nahm wenig Notiz von Mensch und Tier, sondern lief schnurstracks zum Futternapf, den sie ratzeputz leer fraß. Dabei beobachtete sie die Elli von oben herab. Sie verachtet es, den niederen Trieben so nachzugeben, ließ Rexi aber gewähren. Sie ist halt irgendwie ganz anders, einfacher, direkter, primitiver, aber wenn sie Hunger hat, soll sie fressen. Die Charaktere sind unterschiedlich und man muss Verständnis für jeden aufbringen.
Wenn die Monika mitbekommen hat, dass Rexi wieder alles aufgefressen hat, hat sie liebevoll verärgert gesagt: Geh Rexi, lass der Elli doch auch noch was übrig. Aber das hat Rexi nicht bekümmert. Vielmehr hat sie Monika bedrängt, Nachschub zu holen. Meist hat sie ihr dann auch noch ein Stangerl gegeben, das ist wahrscheinlich für Hunde so etwas wie für uns Menschen ein Ripperl Schokolade.
Rexi ist eine Promenadenmischung. Kopf und Schweif haben etwas vom Schäferhund, der Körper ist unheimlich lang und kräftig. Deswegen hat Rexi auch unablässig Hunger. Die Beine passen nun überhaupt nicht zum restlichen Erscheinungsbild. Sie sind viel zu kurz, also Stummelbeine. Eine taktlose Cousine von der Monika hat angeblich einmal im Beisein von Rexi laut ausgesprochen, was man nie ausspricht, ja nicht einmal denkt: Was für ein greißlicher Hund! Rexi hat das gehört, hat sich abgewandt und ist heimgegangen. Verständlicherweise war Rexi gekränkt und ist nie mehr gekommen, wenn jene Cousine zugegen war.

An dieser Begebenheit kann man sehen, wie feinfühlig Rexi trotz ihres derben Aussehens ist. Außerdem ist sie unheimlich klug. Sie versteht jedes Wort und kann die Menschen einschätzen. Auf sein Frauchen, die Sachlerin, hört sie. Sie weiß, dass sie sich auf sie verlassen kann. Genauso geht es der Sachlerin mit Rexi. Die Gesellschaft ihres Hundes ist ihr lieber als die von manchem Menschen. Von den Menschen ist sie schon oft enttäuscht, gekränkt und verlassen worden. Rexi wird das nie tun, sie ist treu. Aber beleidigen lässt sie sich nicht und Kraftfutter braucht sie auch regelmäßig. Dafür garantiert die Sachlerin. Die beiden können sich aufeinander verlassen. Oft machen sie zusammen einen Spaziergang durch das Neubaugebiet, am überaus großzügig und praktisch gebauten Feuerwehrhaus vorbei, durch die Felder und Wiesen bis zur Bahnstation und wieder zurück. Rexi geht brav an der Leine, pieselt an so manchen Baum, macht ihr Häufchen, das die Sachlerin dann in ein Plastiksackerl verpackt und mit nach Hause nimmt. Ordnung muss sein!

Der Sohn von der Sachlerin heißt Alois und wohnt noch mit ihr im Haus, obwohl er schon um die fünfzig ist. Oft hört man sie: Geh, Alois! sagen. Er geht zwar fleißig zur Arbeit, ist auch sonst verlässlich, benimmt sich aber insgesamt wie ein Kind. Niemand weiß, warum der Alois nicht erwachsen werden kann. Es ist für eine Frau nicht leicht, sich ihr Lebtag lang um ein dem Alter nach erwachsenes Kind zu kümmern. Da hören das Sorgen und die Plackerei ja nie auf. Davon hat die Sachlerin nun weiß Gott in ihrem Leben mehr als genug gehabt und es wäre an der Zeit, dass endlich einmal Schluss damit ist.

Vor Jahren hat eine der Töchter eine Gehirnblutung bekommen. Es war an einem Sonntagnachmittag am Badesee. Alles ging ganz schnell. Der Annelies wurde plötzlich schlecht, sie wollte mit dem Radl heimfahren und da fiel sie auch schon bewusstlos um. Die Rettung wurde gerufen, brachte sie in die Ambulanz, operierte, versorgte sie und versetzte sie ins künstliche Koma. Am nächsten Tag waren sich die Ärzte sicher, dass da nichts mehr zu machen sei. Sie bereiteten die Sachlerin wenig einfühlsam darauf vor, dass die Annelies nicht mehr ins Leben zurückkehren werde. Aus diesem Grund wollten sie die lebenserhaltenden Maschinen wenige Tage später abschalten. Diese erschütternde Nachricht war sogar für eine gestandene Frau wie die Sachlerin zu viel. Sie wollte auf keinen Fall ins Grab ihres eigenen Kindes blicken. Alles, bloß das nicht!
Die siebenmalklugen Ärzte waren offensichtlich mit ihrem Latein am Ende. Jetzt konnte nur noch der Herrgott helfen. Sie fuhr also am Heimweg vom Spital sofort am Pfarrhof vorbei, läutete den Herrn Pfarrer heraus, erzählte ihm die ganze Geschichte und forderte unerbittlich von ihm, sofort alle verfügbaren Kräfte zum gemeinsamen Gebet zu mobilisieren. Der Herr Pfarrer konnte gar nicht mehr anders, als in der Frühmesse die ganze Gemeinde um das inständige Gebet für Annelies zu bitten. Schließlich ging es um Leben und Tod. Das Dorf betete mit einer bis dato ungekannten und ungeahnten Ernsthaftigkeit. Die Kunde pflanzte sich sogar über das Dorf hinaus fort. Alle beteten ohne Unterlass, stellten sogar die Arbeit hinten an, und, oh Wunder, Annelies erwachte aus dem Koma und wurde erstaunlich schnell gesund.
Die gescheiten Ärzte konnten es nicht verstehen, aber was verstehen die denn überhaupt. Für die Sachlerin war von da ab klar, welche Kraft das Gebet hat, und sie hat sich auch nicht mehr gescheut, sich energisch dafür einzusetzen und selbstsicher über etwaige Widerstände hinwegzusetzen.
So kam es zur Gründung des Gebetsvereins im Dorf. Dreimal wöchentlich treffen sich die eingeschriebenen Mitglieder und beten gemeinsam für Anliegen, die ihnen zugetragen werden. Meines Wissens gehören dem Verein ausschließlich Frauen an, Männer haben ja meist Wichtigeres zu tun. So manche Not konnten sie damit schon lindern, manchen Schicksalsschlag abmildern, Gottes Hilfe herbeibitten und das oft recht schwere Leben erträglicher machen.

Die Sachlerin kann also so manches in die Wege leiten. Sie verfügt über beträchtliche Energie und schafft es auch, Menschen für sich und ihre Anliegen zu gewinnen. Darüber hinaus kümmert sie sich und hilft gern, wo Not am Mann ist. Sie ist keine, die man bitten muss, sie sieht selber, wo sie gebraucht wird, wo sie Hand anlegen muss. Viele waren schon oft froh über ihre unkomplizierte Hilfe. Die einen lädt sie zur Leberknödelsuppe ein, den anderen putzt sie die Stube oder übernimmt die Wäsche. So ist die Sachlerin!

Im vergangenen Sommer hatte sie mit dem Alois einen großen Ärger, ein ziemliches Gescherr sozusagen. Da hat ihm doch tatsächlich eine blondierte Tschechin den Kopf verdreht. Der dumme Bub hat sich in das Frauenzimmer verliebt, und keiner konnte ihm die Sache ausreden. Auf seine Mutter, die Sachlerin, hat er überhaupt nicht gehört. Die flotte Tschechin ließ sich sogar von einem Zuhälter vorbeibringen, machte dem Alois schöne Augen, ging mit ihm spazieren und ließ sich von ihm alles bezahlen. Alois zahlte gern, gab ihr sogar mehr, als sie wollte, bis seine Ersparnisse aufgebraucht waren. Alle warnten ihn, alle sagten ihm klipp und klar, was das für ein Weiberleit sei, aber der einfältige, verliebte Bub glaubte niemandem.

Die Monika meint, dass das so offensichtlich gewesen sei, aber man hat nichts machen können. Plötzlich ist die hübsche Tschechin nicht mehr gekommen, und beim Alois hat der Liebeskummer angefangen. Niemand hat ihn mehr trösten können. Dabei war ihm gar nicht um das Geld und das Auto leid, das er dem niederträchtigen Frauenzimmer so leichtfertig angehängt hat. Vielmehr litt er so unbeschreibliche Qualen, weil sich diese Frau in seine Seele eingeschlichen hat. Er hat ihr, wie es seine Art ist, alles geglaubt, und dabei hat sie es gar nicht ernst gemeint. Sie hat ihn belogen, hat ihn ausgenützt, hat ihn zutiefst verletzt. So etwas tut man nicht, aber es gibt Menschen, die schrecken nicht vor derart gemeinen Handlungen zurück, wenn für sie ein Vorteil herausschaut.
So muss der Alois nun mit seinem verwundeten Herzen durchs Leben gehen, und seine Mutter kann ihm auch nicht mehr helfen. In der Sonntagsmesse traut er sich gar nicht mehr zur Kommunion zu gehen, weil er sich vor Gott schämt und vor sich selbst und vor all den anderen, die ihn scheinheilig fragen: Na Alois, wie geht’s dir denn? Ja, geht schon, antwortet er kurz angebunden und lächelt jenes verzweifelte Lächeln. Beim Alois ist etwas ganz empfindlich aus dem Lot geraten und er muss mit diesem gewaltigen Kummer seine Tage verbringen, und die Sachlerin muss zuschauen und kann ihrem Bub nicht helfen. Dabei hat sie in der Tat schon mehr als genug mitgemacht.

Ihr Mann hat sie bereits vor Jahren verlassen. Eines Morgens hat sie ihn erhängt im alten Stall gefunden.

Hängt sich der einfach auf und lässt mich mit all der Mühsal allein zurück. Das schaut ihm ähnlich, einfach abhauen, wenn es schwierig wird. Hängt sich der doch tatsächlich auf! Mein Gott, so was tut man nicht. Warum hat er denn nicht geredet?  Ich hatte ja keine Ahnung! Warum hat er denn sein Maul nicht aufgemacht? Ich hätte doch für ihn beten können. Aber nein, stur wie er ist, hängt er sich einfach gleich auf. Ich kann schauen, wie ich zurechtkomme. Als ich ihn so hängen hab' sehen, hab' ich mit ihm geschimpft, aber dann hat er mich auch gleich wieder erbarmt. Leicht hat er es ja auch nie gehabt. Von jung auf hat er schwer gearbeitet, dass wir es zu was gebracht haben und dann ist ihm alles zu viel geworden und er hat das Saufen angefangen. Irgendwann hat er gemerkt, dass er so auch nicht mehr weitermachen kann und dann hat er von einem Tag auf den andern mit dem Saufen aufgehört. Da war er dann ständig so niedergedrückt und er hat an überhaupt nichts mehr eine Freude gehabt. Die feinsten Sachen hab' ich ihm gekocht, ein Rindfleisch mitten in der Woche, aber auch das hat ihm nicht mehr geschmeckt. Arbeiten hat er nicht mehr wollen und Fernsehen auch nicht mehr. Ich hab' nicht mehr gewusst, was ich noch machen soll. Das ist einige Zeit so gegangen und dann hab' ich ihn im Stall gefunden.

Jetzt ist die Sachlerin schon jahrelang Witwe, und auch daran hat sie sich gewöhnt. Als ich sie beim Spazieren gehen treffe, sagt sie, dass sie von ihrem Mann noch den schönen Trachtenanzug im Schrank hängen hat. Auch die Feuerwehruniform hat sie aufgehoben genauso wie den leichten Sommeranzug. Sie habe es einfach nicht übers Herz gebracht, alles wegzugeben. Es dauert, bis man sich an jemanden gewöhnt, und es dauert auch, bis man sich von jemandem trennt, bis man ihn loslassen und verabschieden kann. Bis dahin soll sein Gwand im Schrank hängen bleiben. So ist das.

Als die Totenmesse für Frau R. gelesen wurde, habe ich die Sachlerin von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Selbstbewusst trat sie ans Lesepult, streckte sich nach dem Mikrophon, faltete ihre Notizen sorgfältig auseinander und sprach mit fester Stimme, indem sie liebevoll auf den vor ihr stehenden Sarg mit der verstorbenen Freundin blickte. Aus tiefstem Herzen brachte sie viele bewundernswerte Begebenheiten zur Sprache, die Frau R. im Laufe ihres Lebens ganz selbstverständlich vollbracht hat. Niemals hatte sie darüber auch nur ein Wort verloren, weil sie ihr so unbedeutend erschienen. Sie sollen und dürfen aber nicht vergessen werden. Überall hat Frau R. geholfen. Sei es bei Familien, denen die Mutter weggestorben ist, oder bei hinfälligen alten Leuten. Die Sachlerin vergisst nicht darauf zu verweisen, dass sie selber einmal nach einer schweren Operation nahe daran gewesen sei, die Lebensfreude und vor allem auch die Lebenskraft gänzlich zu verlieren. Die Ärzte haben ihr nicht mehr helfen können, wie denn auch? Nerventabletten haben sie ihr verschrieben, aber das sei auch kein Leben mehr gewesen. Völlig verzweifelt sei sie gewesen.
Da ist Frau R. immer wieder gekommen und hat mit ihr gesprochen, hat ihr von den Rosen und vom Sommer und den Enkelkindern und all den schönen Dingen erzählt, und man kann es kaum glauben: Langsam ist das Leben zur Sachlerin zurückgekehrt, und sie hat keine Nerventabletten mehr gebraucht und hat wieder angefangen all das zu machen, was man tagtäglich machen muss, weil es sonst ja auch nicht geht. Inzwischen sind Jahre vergangen, die Sachlerin hat wieder so viel Kraft bekommen, dass sie nun auch der Frau R. beistehen hat können in ihrer schweren Krankheit und auf ihrem letzten Weg. Das musste unbedingt noch gesagt werden. Vergesst es ja nicht!

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15038

 

Ein Fenster zur Schrift

Ijob 39,16-21 „Die Straußenhenne behandelt ihre Jungen hart wie Fremde; war umsonst ihre Mühe, es erschreckt sie nicht. Denn Gott ließ sie Weisheit vergessen, gab ihr an Verstand keinen Teil. Im Augenblick aber, wenn sie hochschnellt, verlacht sie das Ross und seinen Reiter. Gabst du dem Ross die Heldenstärke, kleidest du mit einer Mähne seinen Hals? Lässt du wie Heuschrecken es springen? Furchtbar ist sein stolzes Wiehern. Es scharrt im Tal und freut sich, zieht mit Macht dem Kampf entgegen.“

An einem Montagmorgen im nebligen Februar teile ich in der 10. Klasse die Bibeln aus, jene roten Ausgaben der Einheitsübersetzung, die seit Jahrzehnten im Bücherkeller die Regale belegen. Der Einband ist kaum abgegriffen. Wenig wurden sie aufgeschlagen und selten wurde in ihnen gelesen. Manchmal ist „Fuck“ sorgfältig mit dickem schwarzem Filzstift über die Schnittstelle der Seiten geschrieben. Die Swastika findet man kaum mehr hineingeschmiert. Die Zeit hat sie überholt. Phallus-Symbole hingegen erfreuen sich steter Beliebtheit. An einigen Ausgaben ist der Buchrücken abgerissen. Die Ecken des Kartoneinbands sind gelegentlich umgebogen oder abgeschnitten. Man darf die Mühe nicht unterschätzen, die derartiges Werkeln den Schülern bereitet.

Mir ist heute daran gelegen, in den Antithesen der Bergpredigt zu lesen. Und ich lasse das 5. Kapitel im Matthäus Evangelium aufschlagen. In den Versen 44 bis 47 heißt es: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes?“

Ehe meine Schüler diese Stelle finden, die mir schon seit dem Morgengrauen im Kopf rumgeistert, entsteht reichlich Durcheinander: Ist die Bergpredigt im Alten oder im Neuen Testament? Wo ist das Inhaltsverzeichnis? Auf welcher Seite muss ich suchen? Meine Schüler haben diese Bücher schon lange nicht mehr in Händen gehabt, umso erstaunter und aufgeregter sind sie. Wüst wird hin- und hergeblättert. Für Sechzehnjährige im Jahr 2015 ist das in Händen halten der Bibel exotisch und altertümlich.
Dann gibt es einen Aufschrei. Ein Junge ist auf etwas gestoßen, das Anlass zum Aufschauen und Aufhorchen gibt. Alle Blicke richten sich auf die zweite Reihe links vor mir. Er hat die Bibel ungefähr mittig aufgeschlagen und hält mit der linken Hand einen Stapel Blätter hoch, es sind bestimmt gut hundert Seiten, aus denen ein Rechteck von ca. zehn Zentimeter Höhe und fünf Zentimeter Breite herausgeschnitten ist. „Ich war´s nicht“, sagt er, während er mit vier Fingern durch die Öffnung greift und den Daumen schützend um den noch verbliebenen Rand legt. Alle lachen und rufen durcheinander: „Mensch, zeig her! Hey, echt geil!“ Ich schaue wortlos auf das fehlende Rechteck. So etwas ist mir bisher noch nicht untergekommen. Dreist, denke ich! Dabei fällt mein Blick auf ein Plakat, das am Schwarzen Brett hängt. „Guantanamo“ steht groß darüber. Anlässlich eines Referats ist es vor Wochen angefertigt worden und ziert seither die Wand mit  grausamen Folterbildern, Tag für Tag meinen Unmut hervorrufend. Wobei meine Schüler mir stets aufs Neue sagen, ich sei viel zu zart besaitet. Das ist die Realität und davor dürfe man nicht die Augen verschließen. Das mag ja Realität sein, aber ich will sie weder kennen noch im Detail sehen. Deswegen drehe ich das Poster immer um, wenn ich das Klassenzimmer betrete. Heute habe ich es vergessen.

Dann kehrt mein Blick wieder zu dem Loch in der Bibel zurück. Mir fehlen immer noch die Worte, aber das Gejohle unter den Jugendlichen dringt wieder an meine Ohren. Ich klatsche in die Hände, mahne zur Ruhe und nehme die beschnittene Bibel an mich. Der Junge, der sie entdeckt hat, händigt sie mir mitleidig lächelnd aus und meint tröstend: „Sie ist von 1980, aus dem letzten Jahrtausend, älter als ich.“ Klar, nach so vielen Jahren kann man ein Buch getrost ausmustern. Eine neue Bibel kostet nicht mal zehn Euro. Es lohnt nicht, sich aufzuregen.
Trotzdem kann ich nicht anders, als den Schaden eingehend zu betrachten. Der zweispaltig gedruckte Text bildet einen Rahmen um den ungewöhnlichen Hohlraum. Ein Fenster in der Schrift. Das achtunddreißigste Kapitel im Buch Ijob ist betroffen. Das herausgeschnittene Rechteck reicht von der Seite sechshundertelf bis siebenhundertsiebenunddreißig. Das Buch der Psalmen sowie das der Sprichwörter sind gewissermaßen ausgehöhlt. Ebenso die ersten fünf Kapitel im Hohelied. Während ich mir still den Schaden besehe, schauen mir die Schüler und Schülerinnen voll Anteilnahme zu. Das Feixen hat aufgehört.
Ein Packen Schrift ist herausgeschnitten, etwas fehlt, Entscheidendes fehlt, und der umrandende Text ist unlesbar geworden. Die Worte ergeben keinen Sinn mehr. Ich nehme die einhundertfünfundzwanzig malträtierten Seiten in die rechte Hand und befühle das glatte, hauchdünne Papier mit den Fingerkuppen sowie die kaum spürbaren Erhebungen, die der Druck erzeugt hat. Seltsam, so liebevoll habe ich das Innenleben der Bibel noch kaum gestreichelt. Die Schnittflächen am Durchguck sind gestaffelt. Es war bestimmt mühsam, mit einem Taschenmesser durch all die Seiten zu ritzen. Ich kann mir vorstellen, dass mehrmaliges Ansetzen notwendig war.
Jetzt ist in der Bibel ein Geheimfach entstanden, groß genug, um ein Handy darin zu verstecken, ein flaches Schnapsfläschchen, einen Spicker, einen Liebesbrief, Rauschgift, eine geheime Botschaft, eine Abhöranlage, …. wobei meine Fantasie bei James Bond angelangt ist.

Die Bibel ist greifbar geworden und das Buch Ijob hat ein Loch bekommen, kein zufälliges von einer Bücherwurmfamilie herausgefressenes, sondern ein sauber herausgeschnittenes. Die betroffenen Schriften sind unlesbar, aber es ist jetzt möglich, durch die hindurchzuschauen auf das Hohelied. Im sechsten Kapitel der kleingedruckten wohlfeilen Ausgabe ist zu lesen: „Ich gehöre meinem Geliebten, und er verlangt nach mir.“ (Vers11) Diese Aussicht ist nicht zu überbieten. Wie gut, dass das Fenster den Blick durch die vielen Seiten ausgerechnet auf diesen Vers lenkt. Der jahrtausendealte Text, mühsam von klugen Professoren in unsere Sprache übersetzt, während sie sich bestimmt grübelnd hinter den Ohren kratzten, hat jetzt ein banales lächerliches Loch. Kein Wunder, dass die spontane Reaktion der Schüler ein schallendes Lachen war.

Lächelnd klappe ich die Bibel zu, bedecke ihre Scham und berge sie in meiner Tasche.
Es ist nach diesem unvorhergesehenen Zwischenfall nun wirklich an der Zeit, mit den Worten Jesu die Feindesliebe betreffend im Matthäus Evangelium fortzufahren.

Am Nachmittag lege ich das Buch auf  den Tisch in meiner Bibliothek. Liebkosend streichle ich mit den Händen darüber, hülle es in ein besticktes Baumwolltuch und flüstere ihm zu: „Hier bist du sicher. Niemand wird dir etwas zuleide tun.“  An meinen Handflächen nehme ich den gleichmäßiger und ruhiger werdenden Pulsschlag wahr. Ich glaube, der Bibel fallen die Augen zu. Wäre es ein Wunder nach diesen Aufregungen? Wer weiß, wie lange sie mit der unentdeckten Wunde einsam in einer kalten Kiste zwischen fröhlich und entspannt plaudernden Gefährten gelegen hat? Jetzt kann sie sich endlich in den wohlverdienten Schlaf versenken und sich von den Träumen küssen lassen. Erleichtert atme ich tief ein und aus. Wie gut, dass ausgerechnet mir heute dieses Buch in die Hände gefallen ist.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15033

Moritura te salutat

Begrabt mich auf einem Hügel, der sein Gesicht der Sonne entgegenstreckt. Nach meinem Tod will ich soviel Sonne wie möglich haben. Merkt euch das gut! Der letzte Wille ist heilig. Vergesst es nicht, ihr Vergesslichen! Sonne brauche ich, um ruhen zu können. Sonne, die mich wärmt tief unter der Erde. Ich werde mich räkeln in meinem schönen Kleid, das ihr mir anziehen werdet, wenn es so weit ist.
Vergesst auch nicht die Strümpfe und die Schuhe. Die Schuhe sind besonders wichtig. Dicke Sohlen müssen sie haben. Ich habe verschiedene, die sich eignen: Stiefel, Halbschuhe, hochhackige Sommerschuhe. Ich glaube, die mag ich am liebsten. Ich will mich wohlfühlen, wenn ich vor das Angesicht meines Schöpfers trete. Er soll seine Freude an mir haben. Er soll sehen, dass ich glücklich bin, ihm zu begegnen. Ja, ich weiß, dass es nicht so einfach sein wird. Der Weg ins Paradies führt über Dornen. Vielleicht sollte ich doch lieber die schwarzen Stiefel mit den Plateausohlen anziehen, die ich in Salzburg gekauft habe. Mann, war das eine verrückte Zeit. Zieht sie mir an, wenn ich meinen letzten Weg antreten werde. Sie sind praktisch, und ich werde mir auf  meinem Weg durch die Dornen nicht die teuren Strümpfe zerreißen, obwohl das dann auch schon egal wäre, aber solche Gedanken habe ich verinnerlicht. Außerdem kann ich Gott nicht mit Laufmaschen begegnen, das geht gar nicht. Was soll er sich denn von mir denken. Aber später möchte ich doch gern die Stiefel ausziehen und die hochhackigen italienischen Sommerschuhe tragen, die mit der roten Lederblume am Riemen, die sind elegant und werden Gott gefallen. Ich bin gespannt, wie es sich damit auf den Wolken gehen lässt. Aber vielleicht führt mein Weg ja auch über den feinpulvrigen Sternenstaub. Dann brauche ich ein Taschentuch, um mir den Staub von den Schuhen zu wischen, wenn ich die Wohnung Gottes, die fünfzigste Halle, betreten werde. Vergesst also nicht, mir ein Taschentuch mitzugeben. Das zweite Paar Schuhe brauche ich auch. Vielleicht führt mein Weg über den Rücken des Leviathan. Darüber ist bestimmt gut zu schreiten. Er wird Acht haben, dass ich nicht strauchle. Sicher wird er mich geleiten.

Ich möchte, dass ihr mir das graublaue Spitzenkleid anzieht, das mit den kurzen Ärmeln und der Schleife am Dekolleté. Eine Jacke werde ich nicht brauchen. Bestimmt ist es warm. Ich verlasse mich auf die Sonne. Die Nägel lackiert ihr mir mit meinem Lieblingsrot. Sie sollen richtig leuchten, genauso wie meine Lippen. Und die Augen schminkt ihr mir auch. Ich möchte, dass ihr Blau strahlt. Ja, mit strahlenden Augen will ich meinen Schöpfer anschauen. Nehmt bitte meine Worte ernst. Sie sind nicht bloß dahingesagt. Ich will mich auf euch verlassen können. Ihr seid meine engsten Vertrauten. Auch ich habe für euch immer gut gesorgt. Versagt mir also diesen Wunsch nicht, sondern trachtet, ihn zu erfüllen. Ich bitte euch recht herzlich darum. Seid so gut.

Und auf mein Grab legt einen schönen großen Flusskiesel. Ihr werdet schon einen finden, der zu mir passt. Schön geschliffen vom Wasser. Da müsst ihr euch ein paar Tage Zeit nehmen und etwas herumfahren, bis ihr einen passenden ausmacht. Das wird dann ein kleiner Urlaub sein, den ihr in Gedanken bei mir verbringt. Wir werden uns ganz nahe sein, so nahe wie schon lange nicht mehr, glaubt mir. Ja, das ist verrückt. Wenn man sich in derselben Stube gegenübersitzt, ist man oft meilenweit voneinander entfernt, und wenn man weit voneinander ist, vielleicht sogar in anderen Sphären, dann ist man sich ganz nah. Ist das nicht außerordentlich wunderbar? Erinnert ihr euch noch an die Geschichte meiner Mutter, die die Todesstunde ihres Verlobten im fernen Stalingrad zu nachtschlafender Zeit in ihrem Bett im Bayrischen Wald miterlebt hat. Das sind die wirklich wichtigen Dinge, auf die wir achten müssen im Leben. Das gebe ich euch mit auf den Weg und sonst nichts. Versucht glücklich zu sein, lauscht auf die leisen Worte hinter den lauten und bewahrt euch den Blick für die wahre Schönheit der Dinge.

In den Flusskiesel lasst ihr meinen Namen gravieren und vergolden, nur den Vornamen, der genügt. Und das Todesdatum und mein Alter. Falls ich über neunzig werde, werde ich stolz darauf sein, so lange durchgehalten zu haben, und ich möchte, dass es die zufälligen Besucher mit gewissem Erstaunen und Respekt zur Kenntnis nehmen. Alles andere ist ohne Bedeutung. Ich möchte nicht auf einem Friedhof liegen, auf dem sonntagnachmittags alte Frauen spazieren gehen und ihren Enkelinnen Geschichten zu den einzelnen Gräbern erzählen, die sie erschrecken und ihnen die Lust auf das Leben nehmen. Ich werde meine Ruhe finden auf dem sonnenbeschienenen Hügel und hoffentlich Frieden haben von all dem Geschwätz, das ich selbst auch oft gesucht und gemehrt habe in den Zeiten meiner inneren Unruhe.

So, nun wisst ihr Bescheid, wie ich mir das vorstelle am Ende meiner Tage. Es ist eigentlich ganz einfach, und wenn ich jetzt nach dieser Beschreibung innehalte, beschleicht mich ein seltenes Glücksgefühl. Ich habe die wichtigen Dinge geregelt und kann mich nun dem Leben hingeben. So Gott will, schenkt er mir noch ein paar Jahre, und ich will sie dankbar aus seiner Hand annehmen.

Ach ja, ich habe noch vergessen euch zu sagen, dass ihr auch einen Baum pflanzen müsst ans Kopfende meines Hauses für die Ewigkeit. Zuerst dachte ich an eine Birke, weil ich ihre weiße Rinde so liebe. Silbrig leuchtet ihr Laub in der Sonne, doch sie braucht soviel Wasser und wird nicht glücklich werden an meiner Seite. Dann dachte ich an eine Platane. Sie ist so vornehm. In alten Schlossparks habe ich sie zum ersten Mal gesehen und lieb gewonnen. In ihrem Schatten ist so gut zu ruh’n. Sie beflügelt den Geist zu großen Gedanken. Doch sie hat auch so etwas Altes an sich, das mich schwermütig macht.
Eine Weide wäre auch schön. Seit meiner Kindheit liebe ich sie. Vom Flussufer kenne ich sie und ihre tiefhängenden Äste mit den länglichen Blättern. Beim Schwimmen zog ich mich gern an ihnen hoch und ließ mich anschließend ins Wasser plumpsen. Zu dieser Erinnerung gesellt sich eine ausgesprochene Leichtigkeit, die selten in meinem Leben zu finden ist.
Aber an meinem Grab möchte ich doch lieber einen exotischen Baum haben. Vor einigen Jahren führte mich eine Sommerreise nach Slowenien. Mein Mann und mein jüngster Sohn, der damals noch ein Kind war, begleiteten mich, sowie ein befreundetes Paar. Wir suchten ein kleines Dorf, das den Namen Jerusalem trägt und seine Existenz einem erfolgreichen Feldzug gegen die Türken  verdankt. Inmitten von malerischen Weinbergen liegt es. Stundenlang sind wir im Frühsommer durch sie spaziert. An jenes Jerusalem erinnert mich nichts mehr als das Dorfschild, vor dem wir uns gegenseitig fotografiert haben, und eine Malerei mit säbelschwingenden türkischen Reitern, die alle das Fürchten lehrten. Aber ein ausladender mächtiger Baum taucht noch vor meiner Erinnerung auf. Er stand auf einem Hügel und steht bestimmt immer noch dort. Wer würde die Dreistigkeit besitzen, einen derart majestätischen Baum umzuschneiden. Jahrhunderte wird er gebraucht haben, um so groß zu werden und sein Blätterdach zu entfalten. Wir näherten uns vom Tal kommend auf der Landstraße und hatten jenen Baum als Ziel. Keiner von uns hatte jemals so einen Baum gesehen, und wir rätselten, was es für einer sein könnte. Erst als wir unter der mächtigen Krone standen und den dicken Stamm vor Augen hatten, die Blätter und die wunderschönen Blüten bestaunen konnten, erkannten wir die Esskastanie, den Maroni-Baum.
Ich glaube, so einen Baum solltet ihr an mein Grab pflanzen. Der passt zu mir. Das heißt aber auch, ihr müsst  mich an einem Ort bestatten, an dem dieser Baum wachsen kann. Das wird sich natürlich etwas schwierig gestalten, aber euch wird schon etwas einfallen. Da vertraue ich nun ganz auf euren Einfallsreichtum. Ich gebe zu, das wird ein Gescherr geben, aber das kann ich euch nicht ersparen. Dafür habt ihr dann auch eure Ruhe von mir. Wenigstens für einige Zeit, bis wir uns dereinst wiedersehen werden in der anderen Welt.

Da fällt mir aber nun noch etwas ein. Rote Rosen solltet ihr auch pflanzen, die sich am Stamm hochranken. Ein Rubinrot stelle ich mir vor. Wenn sich die Sonne darin bricht, wird es wie Blut leuchten, und ich werde meine Augen vom ewigen Licht losreißen und mich an dem samtenen Licht der Endlichkeit erfreuen und in Gedanken bei euch sein. Wir werden uns begegnen können, und darauf freue ich mich. Also pflanzt auch noch den Rosenstock und dann lasst mir meine Ruhe. Ich sehe euch schon in einem Weinkeller einkehren und über mich schimpfen, weil ich euch soviel Mühe gemacht habe. Aber das sehe ich gerne. Glaubt mir, ich werde von meiner neuen Wohnung aus über euch schmunzeln. Bestellt euch reichlich Wein, seid fröhlich und lacht. Ich labe mich jetzt schon an dem Bild. Die fröhlichen Tage können im Leben nicht zahlreich genug sein, darum nehmt sie so, wie sie euch begegnen. Nehmt sie aus der Hand eures Schöpfers und genießt sie. Hinterfragt sie nicht. Sie sind das Beste, was euch passieren kann.

Jetzt habe ich aber in der Tat mehr als genug über die letzten Dinge gesprochen. Es wird Zeit, dass ich mich dem Leben zuwende.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15027