Kategorie-Archiv: Claudia Kellnhofer

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Was bleibt. Besuch in der Regensburger Synagoge

Später sollte sich herausstellen, dass es die letzte Begegnung mit Dr. Andreas Angerstorfer war. Im darauffolgenden Juli wurde er tot in der Toilette der theologischen Fakultät aufgefunden.

Es ist ein Apriltag im Jahr 1942. Es ist nicht der 1. April und das, was geschieht, ist wahrlich kein Scherz. Ein Zug von Männern bewegt sich durch die Maximilian Straße, sie gehen auf der Fahrbahn in Richtung Bahnhof. Die Standarte des Begräbnisvereins wird von einem jungen Burschen vorausgetragen, nicht freiwillig. Er wurde genauso wie alle anderen gezwungen, an diesem traurigen Marsch teilzunehmen. Aber sie führen keinen Verstorbenen mit sich. Es handelt sich um kein Begräbnis. Die Männer richten den Blick beschämt zu Boden. Sie gehen, setzen Schritt vor Schritt und wollen da nicht hin, wohin sie der Weg führt.
Die Bürgersteige links und rechts sind dicht bevölkert. Schulkinder, Männer und Frauen. An einem Donnerstagvormittag ist schulfrei und offensichtlich auch arbeitsfrei. Alle nehmen sich Zeit, um diesem Schauspiel beizuwohnen. Auch die Fenster im ersten Stock der anrainenden Häuser sind mit Schaulustigen besetzt, von denen sich später niemand mehr an den traurigen Marsch erinnern wird. Zum Zeitpunkt des Fotos aber sind alle noch interessiert an dem, was passiert. Sie wollen es mitbekommen, sonst hätten sie sich in die hintersten Winkel ihrer Wohnungen verzogen und die Bettdecke über den Kopf gezogen, um nicht nur nichts von diesem Auszug der Juden aus ihrer Stadt zu sehen, sondern auch die begleitenden Geräusche nicht hören zu müssen.

Hat man Derartiges einmal durch Augen und Ohren in sein Innerstes gelassen, so plagt es einen ein Leben lang und lässt sich nicht mehr abschütteln. Man muss die Erinnerung daran bekämpfen, sie unterdrücken, leugnen, tottrampeln und hartnäckig behaupten, nichts gehört und gesehen zu haben, sonst lassen einen diese Bilder und Geräusche nicht in Ruh. Ist das die Rache der Sensationslust? Tatsache ist, dass die Wenigsten zu ihrer Erinnerung stehen. Leugnen scheint einfacher zu sein, aber es scheint nur so.

Es gibt auch Uniformierte, die den Zug der Männer mit den gesenkten Köpfen begleiten. Sie sind an diesem Tag in der Rolle der Stärkeren und vermeintlichen Sieger. An diesem Tag und einer Reihe von anderen Tagen. Sie feixen und grinsen schadenfroh. Sie weiden sich am Leid, an der Scham, am Unglück der anderen. Es werden noch viele Tage folgen, dreimal dreihundertfünfundsechzig ungefähr, an denen ihnen das trügerische Glück hold zu sein scheint. Die schmucke Uniform, die Braunhemden und die Halstücher werden sich abnützen, aber auch das Feixen wird ihnen vergehen und ihre grinsenden Grimassen werden sich in Leidensmienen verzerren, die vortäuschen wollen, Opfer statt Täter zu sein. - Aber das ist an jenem 2. April noch nicht abzusehen.

Die erhaltenen zehn Fotos, allesamt Auftragswerke, sind heute Zeitdokumente. Auf Befehl der NSDAP Kreisleitung wurde dieser Schandmarsch auf Zelluloid gebannt. Stolz hielt man fest, wie siegreich und tapfer die moderne Zeit mit den Juden fertig wird und sie zum Güterbahnhof treibt. Den Männern mit den gesenkten Köpfen ist es peinlich, fotografiert zu werden. Ihnen steht die Demütigung ins Gesicht geschrieben. Sie haben Mühe, Haltung zu bewahren. Was wird ihnen zugerufen? Die Fotos erzählen davon nichts. - Gott sei Dank, wer könnte es ertragen zu hören? Die Ahnung davon reicht schon aus, um einen erschaudern zu lassen. In den Köpfen dieser Männer überschlagen sich die bösen Ahnungen, die Erinnerungen, die Bemühungen, Haltung und Würde zu bewahren. Gibt es noch ein Entrinnen? Lässt Gott ein Wunder geschehen?

Es ist ein Tag im April, vermutlich kündigte sich der Frühling schon an. Der Rabbiner, ein stattlicher, schlanker großer Herr trägt einen gut geschnittenen Mantel. Er schreitet aufrecht vorbei. Ein schwerer Weg ist ihm zu gehen beschieden. Später erfahre ich, dass ihm noch die Flucht nach London gelang, doch dort fand er bei einem Luftangriff den Tod.
Neben ihm geht ein jüngerer Herr, um die vierzig. An seinen Namen erinnert sich niemand mehr. Wer weiß, was ihn noch alles erwartet hat? Er ist am 2. April 1942 frisch rasiert und das Gesicht mit seinen klaren sympathischen Zügen konnte sicher auch lachen und andere zum Lachen bringen. Ein feiner zurückhaltender Mann, der gut gekleidet ist und aufrecht vor sich hin schreitet, der sein Schicksal annimmt an diesem Tag, der die Augen von der Kamera abwendet und lieber ins Unbestimmbare blickt. Oft und lange betrachte ich diesen Unbekannten nun schon auf dem Foto. Immer habe ich es bedauert, seine Augen nicht sehen zu können. - Jetzt bin ich mir sicher, dass es besser so ist. Bestimmt würden diese Augen sich so in den Blick des Betrachters eingraben, dass ich die Trauer und Angst nicht ertragen und nicht mehr loswerden könnte. Die Ahnung davon ist schon zu viel. Ich will mich nicht in weitere Gedanken versteigen. Es ist doch so vieles, was bleibt, was den Blick öffnet, die Erinnerung bewahrt und eine Begegnung ermöglicht.
Auch wenn es nur ein Foto ist, das verblasst. An die Namen der abgebildeten Menschen erinnert sich schon jetzt niemand mehr. Es findet dennoch Einlass durch meine Augen und fängt dort wieder zu leben an.

Zum ersten Todestag von Anderl, meinem Hebräischlehrer, der meinen Blick für so manches geschärft hat.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15026

Maria

Maria ist ein Mensch, der mit den Augen spricht. Warm schauen sie einen an, dunkle Augen aus dunklen Höhlen. Sie legen sich auf einen und bringen Wärme und Ruhe. Alle Freude und alles Glück, die Maria ein Leben lang in sich gesammelt hat, und die oft unbarmherzig zurückgeschleudert wurden, wenn sie sie geben, schenken wollte, sie haben sich nicht in Gram und Widerborstigkeit verwandelt. Maria hat die zurückgeschlagenen Wogen, die sich wie nasse, schmutzige Putzlappen um sie legten, sie einhüllten und fesselten, nach einer Schrecksekunde, die sich oft unendlich lang ausdehnte, immer wieder eingesammelt, ausgewrungen und verwandelt in sich aufgenommen. Das kostet mehr Kraft, als die meisten Menschen aufbringen können.

Ich habe Maria kennengelernt, als sie um die sechzig war. Eine aufrechte Frau mit eben diesen sprechenden Augen, die so viel wissen und so viel schenken können, wenn man sie nur lässt. Leider sind sprechende Augen stumm und machen nicht lautstark auf sich aufmerksam. Sie warten und legen den Blick auf so vieles, was den meisten in ihrer Geschäftigkeit entgeht. Marias Augen ruhen still und unmerklich lächelnd auf ihrem Gegenüber. Sie sind bereit, alles einzulassen, was nun kommt. Es sind neugierige Augen, die ob all der Widrigkeiten nicht müde geworden sind, mit Spannung das zu suchen, was bereitsteht, was ihrer Eigentümerin zugedacht ist, sei es so oder so.
Ich versuche mir vorzustellen, was im Laufe von Jahrzehnten an ein derart aufmerksames Augenpaar anklopft. Unkompliziert hat Maria allem Einlass gewährt, selbst wenn sie wusste, dass ihre Gastfreundschaft mit Kummer verbunden sein wird. Reichtümer haben sich leise im Verborgenen angesammelt.

Wenn mich Maria anschaut, wird mir gleich wohler ums Herz. Seltsam, wie das geschehen kann. Eine stille Frau, die den Frieden, den sie im Laufe eines langen und beschwerlichen Lebens gefunden hat, gern und mit offenen Händen an jeden weitergibt, der seiner bedarf. Sie hat gelernt, die Unaufmerksamkeit hinzunehmen, die Interesselosigkeit abgleiten zu lassen und, was mir am Erstaunlichsten erscheint, sie hat keine Bitterkeit angesammelt. Immer wieder begegnet sie allen mit Freundlichkeit, mit einem Lächeln.
Unsere Augen hatten sich schon lange getroffen, aber trotzdem hat es noch einmal lange gedauert, bis wir zueinandergefunden haben.

Einige Male durfte ich das Strahlen deiner Augen erleben. Es galt mir, nur mir und ich konnte es gar nicht fassen, dass du dich so freust, mich zu sehen. Du gehst auf mich zu und richtest dich auf und umarmst mich und dann blicken mich deine Augen an, aus denen alle Wärme und alles Glück der Welt strahlen. Was braucht es mehr, was kann es mehr geben?
Aber dein Blick verunsichert mich. Verschämt weichen meine Augen aus. Ich bin nicht daran gewöhnt, so herzlich begrüßt zu werden. Aus Marias Augen strömen nicht nur die Welten und Zeiten, sondern auch die sieben Himmel. Ich spüre es, ich die Jüngere, die Fremde und doch so Vertraute. Maria, dein Herz ist so übervoll, in dir wohnt so viel Liebe, die die Menschen nicht zulassen können und aufnehmen wollen. Sie haben Angst, dir in die Augen zu schauen. So wird das wohl sein.

Jetzt bist du über siebzig und gehst schwer. Dein Rücken ist krumm und jeder Schritt bereitet dir Schmerzen. Es ist ein Kreuz. Kein Wunder, irgendwo lagern sich die Enttäuschungen und Rückschläge im wahrsten Sinne des Wortes auch im Körper ab. Du schleppst tagtäglich dein ganzes Leben mit dir herum und oft wird es dir zu schwer. Wen wundert es?
Als Kind musstest du die böhmische Heimat verlassen. Zum ersten von vielen Malen lerntest du damals bereits, das Vertraute und Schöne zurückzulassen. Nein, nicht zurückzulassen, sondern im Herzen zu bewahren. Ja, du hast es in dich aufgesogen, so wie all das Spätere, die Zurückweisungen, Trennungen und Enttäuschungen, die Entbehrungen, die Sorgen, den Kummer und die Schmerzen. Du gehörst du den Menschen, die die Kraft haben, all das zu verwandeln. Deine Augen sprechen von den Perlen, die du im Laufe deines Lebens in dir angesammelt hast. Aus all dem Ballast hast du sie mühselig herausgefiltert. Dein Rücken hat sich gebeugt, aber dein Blick ist klar und ruht auf denen, die ihn zulassen können, die ihn aushalten. Je länger ich dich kenne, umso vertrauter wird mir dein Blick, der mich umarmt und getrost ankommen lässt in deiner Nähe.

Schon bei der ersten Begegnung hast du mich fasziniert. Wir sind beim Studium der hebräischen Buchstaben aufeinander aufmerksam geworden. Ich habe sofort gemerkt, dass du so viel weißt, und dass sich in dir so viel von jenem Wissen zu einem Ganzen fügt, wenn es dir auch nicht vergönnt ist, es in Worte zu fassen. Du wusstest Zusammenhänge zu erkennen, die mir verschlossen sind. Beschämt in meiner Unkenntnis senkte ich damals den Blick. Jetzt, Jahre später, öffne ich meine Augen, um in deine zu schauen und darin all das zu erahnen, was nicht zu verstehen, sondern nur zu begreifen ist. Wir sind uns vertraut geworden und erzählten uns von diesem und jenem. Einmal hast du gesagt: Ich glaube, du erzählst mir mein Leben. Ist unser Weg so ähnlich?

Ich denke, in dir ist sich alles recht geworden. In dir ist eine Ordnung entstanden, und die Entdeckung des Hebräischen hat das mitbewirkt. Der Himmel hat dir einen flüchtigen Einblick gewährt, der dich trägt. Du ahnst, wie sich dort alles fügt und wie du gehalten und gestützt wirst, selbst wenn du zu stürzen meinst und jeder Schritt im Hier dir zu Qual wird. Du bist ganz geworden im Lauf deines Lebens. Du lebst in Frieden, wenn man dich lässt. Die Tiere sind dir zugetan. In ihnen entdeckst du vielleicht das, was den Menschen abhandengekommen ist, was du bei ihnen vermisst, was du oft vergeblich gesucht hast.

Wenn deine Augen zu mir sprechen, kann ich mich setzen und ruhen und alles drumherum wird unwichtig. So etwas können nur Augen ausrichten, in denen der Ozean ein Zuhause gefunden hat, aber nicht der blaue, der kalte, sondern der warme, der ewige.
Maria, deinem Namen müsste noch ein M zugefügt werden, damit er ganz wird, abgeschlossen und abgeschirmt gegen Verletzungen, rund. Mariam, das glaube ich, ist dein wirklicher Name.

Anmerkung: marjam (hebr. mar-bitter; majim-Wasser) Wasser steht für die Zeit, der im Hier und Jetzt alles unterworfen ist. So wie Mose mit dem Binsenkörbchen ins Wasser gelegt worden ist, ist sein Schicksal bestimmt worden, seinen Part in der Welt zu spielen. Er musste sich auf die Welt einlassen und alles auf sich nehmen. Seine Schwester heißt ja Mirjam und wird ihm immer wieder helfend zur Seite gestellt. So wie den Frauen aus biblischer Sicht die Aufgabe zukommt, die irdischen Belange zu lösen, um dem Himmlischen zum Durchbruch zu verhelfen.


Vor einem Jahr ist Maria verstorben. Ich habe aber oft das Gefühl, dass sie mir nahe ist, sich um mich kümmert. Ich bin so dankbar, dass sich unsere Wege gekreuzt haben.
18. Februar 2015

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt  | Inventarnummer: 15025

Birkengeheimnis

Bei dem Begriff Birken denke ich nicht in erster Linie an Cechov und die anderen russischen Autoren. Vor allem habe ich einen abgewetzten Schuhkarton vor Augen, in dem meine Mutter ihre Feldpostkarten gesammelt hat.
In melancholischen Abendstunden holte sie ihn hervor, zog einzelne Karten heraus und las vor. An ihren Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern, genausowenig an einzelne Karten.

Nur eine Einzige hat mich von Anfang an fasziniert; sie war aus Birkenrinde und stammte von der Ostfront, also vom Russlandfeldzug.
Ich weiß nicht, ob der Absender sie wegen Papiermangels gefertigt und verschickt hat. Auf jeden Fall war sie korrekt auf Postkartenformat zurechtgeschnitten, ordentlich beschriftet und adressiert, und sie erreichte meine Mutter aus der Ferne des  Kriegsschauplatzes. Die Buchstaben waren dunkel und gleichmäßig nach rechts geneigt.
Kam sie von einem Verehrer oder einem ihrer Brüder?

Jedenfalls vermochte die Karte noch Jahrzehnte später  meine Mutter zu verzaubern und an eine Zeit des Glücks zu erinnern, obwohl in den 40iger Jahren so vieles auf den tiefsten Abgrund zusteuerte.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15022

Eine von vielen Geschichten

In mir wohnen viele Geschichten. Manche wollen gestaltlos im Verborgenen bleiben, andere verlassen zu Worten geformt den Mund und hangeln sich von den Lippen zu den Ohren, um eingelassen zu werden, wieder andere drängen zur Hand, um aufgeschrieben zu werden, und warten auf ein Paar Augen, das sie aufnimmt, bewahrt und vielleicht verwandelt. Manchmal hat eine Geschichte die Kraft zu verwandeln.
Auf jeden Fall setzt sich unser Leben aus vielen Geschichten zusammen, aus solchen, die wir selbst erleben, aber hauptsächlich aus tradierten. Es ist wichtig, Geschichten weiterzugeben.

Kurz vor dem dreiundzwanzigsten Geburtstag meiner Mutter, sie schlief im Dachgeschoß ihres Elternhauses, wurde sie durch ein pfeifendes Geräusch geweckt, das den Himmel durchschnitt. Sie schreckte auf und war im Nu hellwach. Dem scharfen Pfeifen folgte ein dumpfer Knall. Sie glaubte, etwas aus Metall sei auf das Ziegeldach unmittelbar über ihr gefallen und rolle nun nach unten. So plötzlich, wie alles gekommen war, so plötzlich hörte auch alles wieder auf. Es war eine angsteinflößende Situation. Eine Situation, die das Fürchten lehrt. Es war stockdunkel und die Januarkälte hatte es sich gemütlich gemacht. Meine Mutter, die damals noch nicht meine Mutter war, schaute zur Seite und sah, dass ihre um drei Jahre jüngere Schwester ebenfalls wach war. Wortlos lauschten sie in die Finsternis hinein, aber nichts folgte mehr.
Am nächsten Morgen schauten sie im Hof nach, suchten mit den Augen auf dem Dach des eingeschoßigen Hauses und fanden nichts, was das Geräusch der Nacht erklärt hätte.
Wenige Tage später erfuhr meine Mutter aus dem runden Lautsprecher des Volksempfängers, dass im fernen Russland eine grausige Schlacht gefochten worden war, und sie erahnte den noch grausigeren Ausgang.
Von Stalingrad kam keine Post, nicht in den nächsten Tagen, auch nicht in den nächsten Wochen und schon gar nicht in den nächsten Monaten. Auch in den folgenden sechzig Jahren und mehr kam kein Lebenszeichen mehr vom Fritz. Ich weiß nicht, wie lange meine Mutter gehofft hat.

Sein Foto hat sie mir oft gezeigt, ein postkartengroßes Schwarzweiß-Bild, das einen schneidigen Soldaten zeigte, mit fescher Uniform und klaren Gesichtszügen, voller Mut und Tatendrang. Sie hatte ihm mit Feldpost einen warmen Pullover geschickt und eine Mütze, die das ganze Gesicht gegen die russische Kälte schützen sollte und nur die Augen aussparte, natürlich selbst gestrickt.
Neben dem Foto hatte sie von ihm noch einen Ring aus arabischem Altsilber, wie sie immer sagte. Eine Hand zierte den Ring, den sie mir schenkte. Ich ließ ihn größer machen, um ihn tragen zu können.
Meiner Mutter war er zeitlebens zu klein. Es war ihr nie ein Anliegen, ihn an den Finger zu stecken. Ich hingegen trug ihn gern, weil mich die Geschichte, die mit ihm verbunden war, die aber eigentlich nichts mit mir zu tun hatte, faszinierte. Eines Tages kam mir der Ring abhanden und es bleibt mir nur noch die Geschichte.

Seitdem ich mich mit dem Hebräischen beschäftige, hat die Hand, die Chamsa, für mich eine besondere Bedeutung bekommen. Stellt sie doch das Verhältnis eins zu vier dar, zwischen Daumen und restlichen Fingern. In der Tora kommt das gleiche Verhältnis zwischen dem Buch BeReschit und den weiteren Vieren zum Ausdruck. Gott steht der Welt und den Menschen gegenüber. Ich denke, dass jener Ring mir schon vor langer Zeit die Botschaft brachte, die für mein Leben wichtig ist. Damals war ich auf unbestimmte Art davon berührt, schloss den Ring in mein Herz. Im Lauf von vielen Jahren erschloss sich mir ein Zusammenhang und nun, nachdem der Ring leider wieder weg ist, beginnt die Geschichte in mir zu leben.

Noch etwas gibt es, was die traurige Liebesgeschichte überdauert. Fritz war Schreiner gewesen und hatte ein Holzbrett in Form eines Schweins ausgeschnitten und meiner Mutter zum Geschenk gemacht.
Jahrzehnte lang wurde es in unserem Haushalt benützt und lag auf der Ablage im Buffet. Irgendwann, als die Vergangenheit keine Rolle mehr spielte, benützte mein Vater das Schwein als Vorlage für weitere Bretter. So findet sich auch in meiner Küche eines, das inzwischen von meinem Sohn Sebastian, der auch Schreiner ist, erneut als Vorlage für weitere verwendet wurde.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt  | Inventarnummer: 15015

Ratzenkopf

Im zweiten Semester habe ich mir die Haare ganz kurz abschneiden lassen. Völlig ungeplant habe ich auf der Durchfahrt in Straubing einen Friseur aufgesucht und gesagt: Ganz kurz, bitte! Die Friseuse war etwas älter als ich und fing, ohne nochmals nachzufragen, sofort an, meine Haare zu schneiden. Eine Stunde später verließ ich den Salon als neuer Mensch. Ich fühlte mich richtig gut. Das Gefühl am Kopf war völlig anders. Wenn ich mir mit den Fingern darüber fuhr, war ich überrascht. Es fühlte sich ungewohnt an, aber gut. Meine Freundin Andrea hätte bestimmt klass gesagt, aber Andrea kannte ich damals noch nicht. Mein Spiegelbild im Schaufenster überraschte mich. War das wirklich ich?
Als ich zu Hause ankam, sagte meine Mutter nichts. Das war ihre Art, ihr Missfallen auszudrücken. Sie hatte die Angewohnheit, nichts Unangenehmes sagen zu wollen, deshalb schwieg sie lieber. Anscheinend war ihr meine neue Frisur zu wenig weiblich. Sie konnte es auch überhaupt nicht leiden, wenn ich keinen BH trug. Sie selbst hatte sich während des Krieges von russischen Gefangenen das Nähen eines Büstenhalters zeigen lassen. Erstaunlicherweise konnten die das, obwohl die russische Sprache über kein eigenes Wort für Büstenhalter verfügt. Die gefangenen Frauen waren alle gebildet, hatten eine höhere Schule besucht und verstanden es, den deutschen Mädchen die Anfertigung von so unentbehrlichen Kleidungsstücken beizubringen. Für meine Mutter gehörte das Tragen eines Büstenhalters zur unbedingten Notwendigkeit. Woher hatte sie nur ihre Sicherheit? Für sie stand ohne Zweifel fest, was man tat und was nicht. Sie brauchte keine Zustimmung und revidierte ihre Meinung auch nie, und falls doch, dann nur, weil sie meinem Vater das Gefühl geben wollte, dass sie seine Sicht der Dinge respektierte.
Auf jeden Fall schaute sie mich mit meiner neuen Frisur nur an, wandte sich nach wenigen Sekunden wortlos ab, um den Putzlumpen auszuwringen, ihn schwungvoll um den Schrubber zu legen und energisch den Boden der Stube zu wischen. Ich stand da und mir war klar, dass es höchste Zeit war, mir eine Arbeit zu suchen.

Den bodenlangen Rock, den mir die Tante aus rot-weiß gestreiftem Stoff genäht hat, hat meine Mutter auch nie leiden können. Wenn ich ihn trug, weigerte sie sich, mit mir spazierenzugehen. In ihren Augen gehörte es sich nicht, einen bodenlangen Rock zu tragen. Miniröcke hingegen gefielen ihr. Mit Maxiröcken wollte sie in keinster Weise in Verbindung gebracht werden, selbst wenn ich, ihre Tochter, einen trug. Mir fiel es schwer, an meiner Entscheidung festzuhalten. Ich war mir nicht mehr sicher, ob mir die Frisur und der Rock wirklich gefielen. Auch an der Weigerung, einen Büstenhalter zu tragen, zweifelte ich. In meinem Zimmer fand ich gleich drei Stück vor, die sie extra beim Vertreter für Textilien bestellt hatte. Es waren ausgesprochen modische Modelle, und ich probierte sie der Reihe nach an. Alle drei passten. Dafür hatte meine Mutter einen Blick. Sie drängte mich, alle zu behalten. Das war eine existenzielle Anschaffung, und es war falsch, an Büstenhaltern zu sparen. Noch dazu jetzt, da die Haare abgeschnitten waren.

Am nächsten Tag war die Hochzeit meines Cousins. Es hieß, er müsse heiraten, weil seine Freundin schwanger sei. Wir hatten kaum Kontakt mit der Verwandtschaft, aber ich konnte mir meinen Cousin überhaupt nicht als Ehemann vorstellen. So wenig ihm der Hochzeitsanzug stand, passte die Frau an seiner Seite zu ihm. Auch das Hochzeitsfest sowie das Feiern überhaupt passten zu uns allen nicht.  Meine Familie und Verwandtschaft feierten nie freiwillig. Wir konnten das alle nicht. Wir konnten nie fröhlich und ungezwungen sein. Ich habe keine Erklärung, warum das so war. Trotzdem gehörte es sich, zur Hochzeit zu gehen, und meine Mutter sperrte am Samstagmittag sogar ihren Laden zu. Das musste man ihr hoch anrechnen, weil das ja doch einen beträchtlichen Verdienstausfall  bedeutete. Ich zog das Dirndl an, das ich mir in München gekauft hatte. Auch das mochte meine Mutter nicht. Sie trug nie eine Tracht. Sie war eine Städterin, obwohl sie ihr Lebtag lang auf dem Dorf gewohnt hatte und nie länger als wenige Tage in München oder Regensburg zu Besuch war. Andere Städte hat sie ohnehin nicht bereist. Sie trug einfache, aber elegante Damenmode mit klaren Linien. Ihre Schwester nähte alles nach ihren eigenen Vorstellungen, und es musste passen, sonst zog sie es nie an. Ich frage mich immer wieder, warum sie mir diese Kompromisslosigkeit nicht vererbt hat. Damit könnte ich viel leichter durchs Leben gehen. Aber wahrscheinlich wollte es mir meine Mutter einfach nicht zu leicht machen.

Die Hochzeitsfeier fand bei hochsommerlichen Temperaturen statt. Die Braut mit langen braunen Haaren lächelte in ihrem weißen Brautkleid, das sich für eine Schwangere auch nicht mehr gehörte. Ihr Mann lächelte jenes süffisante Lächeln, das ihm und uns allen so eigen ist. Genauso wenig wie wir feiern können, können wir einfach fröhlich sein und schon gar nicht lachen. Wir können uns lediglich verschreckt, über uns selbst beschämt lächelnd, bedauern. Das tat nun auch mein Cousin an seinem Hochzeitstag, während seine Frau linkisch an seinem Arm hing. Ich ging neben meiner Mutter einher und fühlte mich leidlich wohl in meinem neuen hochgeschlossenen Dirndl mit taubenblauer Schürze und den recht kurz geschnittenen Haaren. An den Ohren und im Nacken fühlte ich mich reichlich nackt und fuhr immer wieder mit den Händen darüber. Ein entfernter Verwandter, der hinter mir ging, sagte beim Überholen zu meiner Mutter: „Aha, das ist deine Tochter! In der Kirche habe ich schon immer überlegt, wer das Mädchen mit dem Ratzenkopf sein könnte.“ Meine Mutter antworte nicht. Das lag zum einen daran, dass sie den Mann verachtete und es ihn auch spüren ließ, und zum anderen lag es daran, dass sie mich vor ihm nicht der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Soweit fühlte sie sich mir als Mutter in Solidarität verpflichtet. Ich selbst konnte nicht anders als süffisant zu lächeln. Der Nachmittag verlief total langweilig. Eine Band spielte nicht. Wenn die Braut schwanger war, gehörte sich das nicht. Außerdem war mein Onkel, der Vater des Bräutigams, verstorben. Das war ebenfalls ein Grund, ohne Musik zu heiraten. Wahrscheinlich wären die Ausgaben für eine Kapelle auch zu hoch gewesen. Und an das Fröhlichsein waren wir alle ohnehin nicht gewöhnt, ob mit oder ohne Musik.
Es gab Kaffee und Kuchen. Der ältere Bruder des Bräutigams war Bäcker. Meine Mutter warf einen fachkundigen Blick auf die Gebäckstücke, kostete mit einem Gesichtsausdruck, der dem Prüfungsausschuss der Bäckerinnung bei der Abnahme der Meisterprüfung im Konditorhandwerk gestanden hätte, und sagte vertrauensvoll zu mir: „Alles mit billigem Öl!“ Es war klar, dass wir uns beim Verzehr zurückhielten. Die Verwandtschaft sollte ruhig merken, dass wir die billigen Zutaten aus den Torten herausschmeckten. Niemand konnte uns zwingen, uns den Magen zu verderben. Ich rührte im Kaffee und blickte umher. Das gleiche taten all die anderen. Schließlich bestellte meine Mutter für uns beide einen trockenen Weißwein. Damit signalisierte sie, dass sie Stil hatte.
Ich langweilte mich, kam mit niemandem ins Gespräch. Diejenigen, die sich mit meiner Mutter unterhielten, meinten mit einem schrägen Blick zu mir: „Dir schaut's aber überhaupt nicht gleich, deine jüngste Tochter!“ –„Ja mei, die schaut auch in die Kramerart. Ich hab mich bei keinem Kind durchgesetzt.“ Und wenig glaubwürdig fügte sie noch hinzu: „Aber meine Schwägerinnen sind ja allesamt so feine und elegante Damen.“ Unschwer war herauszuhören, wie sie sie verachtete. Auch wenn sie teure Seidenstrümpfe mit Naht trugen und mit Stöckelschuhen rumstolzierten, konnten sie nicht im Entferntesten mit ihr mithalten. Dessen war sie sich sicher, obgleich sie das Gegenteil davon in Worte fasste. Meine Mutter hatte von der schweren Arbeit Krampfadern an den Schienbeinen und trug aus Sparsamkeit billige Perlonstrumpfhosen, aber bei ihr stimmte immer das Erscheinungsbild. Keine Ahnung, wie sie das machte. Darum beneide ich sie noch heute.

Ich hatte mir also einen Rattenkopf schneiden lassen, und es würde mindestens bis zum Winter dauern, bis die Haare wieder etwas nachgewachsen wären. Lediglich meine Cousine, die ältere Schwester des Bräutigams, die ich insgeheim bewunderte und die mir immer recht selbstbewusst erschien, obwohl sie ohne abgeschlossenes Grundschullehramtstudium mit fast dreißig Jahren immer noch unverheiratet in München lebte, sagte zu mir: „Coole Frisur, du traust dich!“ Ich lächelte erneut jenes süffisante Lächeln und zuckte mit den Schultern. Antworten brauchte ich nicht, denn sie schickte noch neugierig interessiert die Frage nach: „Hast du einen Freund?“ Auch darauf antwortete ich lediglich mit einem Schließen der Augen und einem Aufeinanderpressen der Lippen, was sie als verschämte Zustimmung auffasste. Mir hingegen war zu Ohren gekommen, dass sie, obwohl sie so gut aussah und die halblangen blonden Haare zu Locken gedreht hatte, an einen verheirateten Mann geraten sei, der sie hinhalte. Sie meinte noch: „Dass du jetzt auch Lehramt studierst, versteh’ ich nicht. Du warst doch immer so gescheit. Warum studierst dann nicht auch was Gescheites?“ Ich wusste nichts zu antworten, und meine Mutter mischte sich in dem Glauben, mir beistehen zu müssen, ein: „Sie braucht einen gescheiten Beruf. Wer weiß, ob sie einen zum Heiraten findet.“ Das war natürlich auf meine Cousine gemünzt, die sich erneut süffisant lächelnd anderen Gästen zuwandte. Schließlich war sie der einzig interessante Hochzeitsgast. Sie hatte zwar nicht einmal das von allen als komplett primitiv eingestufte Pädagogikstudium an der PeHa geschafft, hatte aber während ihres überaus langen Studiums vor allem die ebenfalls langen Semesterferien zum Verreisen genutzt und konnte etwas erzählen. Ihre Eltern schimpften einerseits, weil sie so viel teures Geld vergeudet hatte. Davon hätte man wahrscheinlich locker ein weiteres Haus bauen können, aber irgendwie waren sie dennoch stolz auf ihre unkonventionelle Tochter. Bloß zum Heiraten wär's halt langsam Zeit geworden.

Das Brautpaar verließ am Spätnachmittag überraschend und wortlos die Hochzeitsgesellschaft. Beinahe hätte es gar niemand mitbekommen, wenn sie sich nicht so unbeholfen in ihren ungewohnten Kleidern bewegt hätten. Jene Cousine verkündete dann, dass das Paar zum Flughafen fahre. Das war nun in der Tat etwas völlig Neues. Keiner der Anwesenden war bestimmt jemals am Flughafen gewesen, geschweige denn mit dem Flugzeug geflogen. Das war also die neue Zeit. Das Brautpaar ging auf Hochzeitsreise. Unvorstellbar. Flitterwochen kannte man lediglich aus den Hollywoodfilmen. Die Cousine meinte: „Die beiden sollten es sich gut gehen lassen. Es geht ja sowieso alles so schnell vorbei.“ Dabei hatte sie etwas Melancholisches in ihrem süffisanten Lächeln, und ich verstand, wie ihr eigentlich zumute war.
Die Hochzeitsreise sollte zu einem jener verführerisch klingenden Orte im Süden gehen, die mir alle gleichsam unbekannt waren. Mallorca, Rimini oder Split. In Gedanken stellte ich mir den Flughafen, den Innenraum des Flugzeugs mit den Stewardessen, die Drinks reichten, vor. Auch vom palmenbestandenen Sandstrand tauchte in meinem Kopf ein Phantasiebild auf, das mir gut gefiel, und das ich in Gedanken ständig weiter ausbaute. Dann wanderten meine Vorstellungen zum Hotel, zur marmornen Eingangshalle, zum Pagen in Uniform, der das Gepäck entgegennahm, zum Lift, der mit Spiegeln ausgestattet war, und zur Hochzeitssuite, in der sich das Brautpaar seiner Leidenschaft hingab. Es erschien mir aber fraglich, ob sie noch leidenschaftlich sein konnten, nachdem die Braut ja bereits schwanger war.
All diese Vorstellungen lebten lange in meinem Kopf und tauchen auch jetzt wieder auf, wenn ich mir jenen fernen Tag in die Erinnerung zurückrufe.

Nachdem sich das Brautpaar so davongestohlen hatte, löste sich auch die Hochzeitsgesellschaft rasch auf. Es hatte sich erneut herausgestellt, dass das Feiern nichts brachte, zumal es meiner Verwandtschaft eigen war, nicht fröhlich, geschweige denn ausgelassen und unbeschwert sein zu können.
Wir gingen heim, saßen in der Stube noch strickend beieinander und waren uns einig, dass diese Hochzeitsfeier nichts Gescheites gewesen war. Daran hat nun auch die schöne Braut mit den langen braunen Haaren nichts ändern können. Mit meinem Ratzenkopf war ohnehin über Jahre hinweg an keine Hochzeit zu denken.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 15014

Alles Müll

Müll bleibt übrig, wenn alles verwertet ist. Müll ist etwas Entbehrliches, oftmals vermeintlich. Heutzutage wird so viel weggeworfen wie nie zuvor, man spricht aber nicht mehr nur von Müll, sondern von „Wertstoff“. Dinge werden produziert, verbraucht oder gebraucht, manchmal ein Leben lang, aber meist nur für wenige Sekunden oder gar nicht. Vieles entsteht lediglich um der Produktion willen. Wir leben in einer Zeit, die überflüssige Dinge hervorbringt um ihrer selber willen.
Ich persönlich verbinde mit dem Wort Müll noch etwas anderes.
Meine Vorstellungen gehen in jene Zeit zurück, als noch keine organisierte Müllabfuhr existierte. Es gab aber einen ausgewiesenen Platz außerhalb des Dorfes, auf den man den Abfall brachte, um, wenn das ursprüngliche Niveau des Bodens erreicht war, Erde darüberzubreiten und auf diese Art und Weise wieder eine Nutzfläche zu schaffen. Bauschutt und Verrottendes war Aufschüttmaterial.  In den Haushalten fiel jetzt aber mit rasender Geschwindigkeit Müll an. Die neue Zeit hielt Einzug. Spraydosen, Plastiktuben, Kunststoffverpackungen kamen in die Häuser und man wusste nicht, wohin damit. Im Herd verbrennen ging nicht, also schmiss man sie auf das Müllfeld. Das Gleiche geschah mit alten Schuhen, Kleidung, Haushaltswaren, Elektrogeräten und so weiter. Man fing auch an, die Sachen nicht mehr zu verwenden, bis sie unbrauchbar waren, sondern man ersetzte sie schon vorher durch neue. Zudem gewöhnte man sich an, die Wohnungen zu entrümpeln, Neues und Modernes anzuschaffen, endgültig die alten Zöpfe abzuschneiden, wenigstens in Form von Gebrauchsgegenständen. Die unsichtbaren alten Zöpfe sind bekanntlich schwerer abzuschneiden.

Es wurden regelmäßige Fahrten zur Sandgrube mit dem Zugkarren notwendig. Mein Bruder übernahm diese Aufgabe. Das Wegschaffen des alten Zeugs schien ihm nicht nur Freude zu bereiten, sondern er suchte sogar selbst nach wegwerfbaren Gegenständen, sortierte aber das Falsche aus, wie sich später herausstellte. Meine Mutter hatte, da sie im Laden stand, nahezu nie Zeit, die Fuhren zu kontrollieren und abzusegnen. Meinem Vater mussten sie vollends verborgen bleiben, weil er grundsätzlich alles aufheben wollte. Einmal geriet auf diese Art die geliebte Kamelhaardecke meiner Mutter unwiederbringlich in die Sandgrube. Es war ein Mitbringsel ihres Bruders aus dem Krieg gewesen. Als sie den Verlust bemerkte, war es um die Decke bereits geschehen.
Ich begleitete meinen Bruder auf den Fahrten und fand das aufregend, zumal es gewöhnlich am Abend geschah. Bei hereinbrechender Dunkelheit war der unwirtliche Ort besonders gruselig. Hatten wir alles weggeworfen, suchten wir auf ekligem und unsicherem Untergrund nach brauchbaren Dingen, die wir wieder mit nach Hause nahmen. Ein besonderer Reiz ging vom Müllplatz aus, wenn ein Feuer entfacht wurde, um den Abfall zu dezimieren und zu desinfizieren. Die Feuer loderten an verschiedenen Stellen und man musste Acht haben, dass die Flammen nicht auf angrenzende Bäume übergriffen. Feuer war für mich mit äußerstem Schrecken besetzt, nicht aus eigener Erfahrung, sondern weil sich die Erinnerung an den Werkstattbrand 1957 in das Gedächtnis meiner Mutter so tief  eingebrannt hatte, dass sie dieses Schreckgespenst ständig beschwor, etwa bei einem Gewitter, beim Ertönen der Sirene, beim Kauf von Zündhölzern durch Kinder. Feuer war für sie extreme Lebens- und Existenzgefahr, allerdings sagte meine Mutter oft: Viel habe ich mitgemacht, den Weltkrieg und das Abbrennen der Werkstatt, aber die Geburt von Zwillingen ist mir erspart geblieben.

Das Abbrennen des Müllplatzes zählt zu meinen stärksten Erinnerungen. Stinkender, beißender Geruch erfüllte die Abendluft und brannte in den Augen. Die Hitze breitete sich aus und es wurde einem gefährlich heiß, bis man sich abwenden und das Gesicht mit der geöffneten Jacke schützen musste. Trotzdem schaute ich immer wieder auf die einzelnen Brandherde. Seltsam zischende Geräusche entstanden. Am aufregendsten aber war es, wenn Spraydosen in der Hitze mit einem dumpfen Ton zerbarsten. Meinen Ohren ist erstaunlicherweise noch das ganze Konzert dieser Müllverbrennung gegenwärtig. Ängstlich und trotzdem fasziniert schlich ich umher, beobachtete, wie das Feuer Holzteile und Rupfen mit schmatzenden Geräuschen verzehrte. Kunststoff verformte sich, schmolz zusammen, nach einem letzten Aufbäumen. Bewegung entstand in den toten Gegenständen, als wollten sie noch einmal aufbegehren, bevor sie im Schlund des Feuers für immer verschwanden. Hatten wir noch Spraydosen in Reserve, flogen sie gezielt in die Flammen, um den faszinierenden Ton beim Zerbersten noch einmal zu hören. Reflexartig ging ich in Deckung. Diesem Abenteuer beizuwohnen, war für mich unersetzlich. Geliebte Fernsehsendungen wie Daktari konnten dagegen nicht bestehen. Was konnten Fernsehlöwen schon Interessantes bieten angesichts dieses Feuerbrausens?
Gleichaltrige verstanden das nicht, fanden es sogar eklig, sich dort herumzutreiben. Deren Eltern hielten es vollends für verantwortungslos, aber meine Mutter hatte durch ihr Geschäft keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, und vertraute der Vorsehung. Zu ängstlich sollte man nun auch wieder nicht sein.

Es gab auf dem Müllplatz ein Heer von Ratten, die über das Feld huschten. Mir grauste furchtbar, ich schaute aber trotzdem von der Ferne zu, wie sie umherflitzten. Aus Angst, eine würde auf mich zukommen, stieg ich auf die Stufen des Transformatorhauses, dessen weiß gestrichene Blechtür beschmiert und rostig war.  Dies war die Heimat der Ratten, das war schnell klar. Im Dämmer musste ich aufpassen, nicht von ihnen angeknabbert oder gar angefressen zu werden, wie es die alten Männer aus den Kriegstagen erzählten. Ich fasste grundsätzlich nichts an, um den Ratten keine Gelegenheit zu geben, an mir hochzuklettern. Am liebsten wäre ich weggelaufen, blieb aber trotzdem vor Grauen wie angewurzelt stehen. Wenn es dunkel wurde, wurde der Müllplatz lebendig. Ratten über Ratten, große, kleine, dünne, fette. Mit ihren spitzen Schnauzen schnüffelten sie am Grund, während sie zwischendurch vorsichtig umherblickten. Ein einziges Geräusch genügte, und sie huschten weg.
Doch sie waren auch unerschrocken und mutig, weil sie so viele waren. Ich hatte Angst, schaute ständig an meinem Körper hinab, versteckte meine Hände in den Taschen und hatte bei der kleinsten Berührung oder einem Windhauch das Gefühl, schon klettere eine Ratte an mir hoch. Als sich dann das Feuer ausbreitete, flohen die Ratten und liefen um ihr Leben. Gemeinerweise legte man die Feuer so, dass es für sie kein Entrinnen gab. Die Fluchtwege waren abgeschnitten. Die Ratten erlitten den Flammentod. Jetzt taten sie mir schon wieder leid, waren sie doch Opfer eines hinterfotzigen Mordes geworden. Irgendwie hatte ich nun das Gefühl, auch Ratten hätten Rücksicht verdient. Die Rattenbekämpfer waren noch echte Kriegserfahrene, die wussten, wie man mit Ungeziefer umgehen muss. Nach vollendeter Tat herrschte ausgelassene Stimmung und Siegesbewusstsein. Das war mir zuwider. Mit Grauen angefüllt lief ich heim, verkroch mich in mein Bett, hatte bei geschlossenen Augen ständig die Ratten vor mir, wie sie liefen und tollten und schließlich im Feuer verbrannten. Ich konnte diese Bilder lange nicht loswerden. Immer wieder tauchten sie aus dem Nichts auf und quälten mich. Ekel überkam mich, ich glaubte, ihr widerliches nasses und glattes Fell auf der Hand zu spüren. Deswegen verbarg ich die Hände in den Ärmeln und schlief mit dem Kopf unter der Decke, aber auch das half nicht. In meinen Träumen suchten mich die Ratten heim. Ich sah ihre breiten Hinterleibe mit den langen Schwänzen an Böschungen hochklettern und sah sie auf riesigen Bäumen herumturnen. Angst hatte ich davor, dass sie sich auf mich fallen lassen könnten. Deutlich erinnere ich mich an eine Zeit, in der ich diese Traumbilder überhaupt nicht mehr loswurde. Ich konnte aber weder darüber reden noch sie wegzaubern. Sie blieben einfach, bis sie mit der Zeit verblassten und von anderen, nicht minder schrecklichen abgelöst wurden. Sie hatten ihren Ursprung in Erlebnissen, denen ich mich wider besseres Wissen nicht entzogen hatte.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15003

 

Das Schiff

Das Leben ist eine immerwährende Verwandlung. Dennoch besteht unser Hauptbemühen darin, den flüchtigen Augenblick festzuhalten und zu bewahren. Wir suchen Sicherheit gegenüber Veränderungen, die unweigerlich über uns hereinbrechen. Wie jämmerlich ist unsere Angst, wie überflüssig unsere Anstrengung, wie lächerlich unsere Hybris.
Verwandlung geschieht unmerklich und ständig, auch wenn wir die Augen davor verschließen und uns festhalten wollen am Bekannten und Sicheren.
Dabei ist die Fähigkeit zur Verwandlung unser größtes Geschenk. Nehmen wir es an, wird uns der Himmel zuteil, verweigern wir uns ihm, bleiben wir gefangen oder binden uns selbst die Fesseln. Wollen wir die Zeit nützen, machen wir uns zu Sklaven. Lernen wir, uns verwandeln zu lassen, werden wir frei.

In meiner Kindheit gab es eine entlegene Einöde, in der ein Mann lebte, der eines Tages damit begann, ein Schiff zu bauen. Man redete davon, wie verrückt es sei, an einem Hang, einem sanften Hügel im Bayrischen Wald ein Schiff zu bauen. Trotzdem ließ der Pionier sich nicht beirren und werkelte unverdrossen auf der Wiese neben seinem Haus. So entstand eine Arche. Das ging langsam vorwärts und zog sich jahrelang hin. Er muss Pläne studiert und Bücher gewälzt haben, um diese Idee in die Tat umsetzen zu können.
Lange habe ich nur davon gehört und mir das Wachsen dieses Schiffes in meinem Inneren ausgemalt. Es ergab sich keine Gelegenheit, es anzuschauen. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht ansehen. Mir genügte das Bild, das ich davon im Kopf hatte. Davon ging so viel Kraft aus und es lebt bis heute in mir.

Ich stellte mir vor, im Bauch dieses Schiffes zu sein, als eine Passagierin im Zwischendeck. Im Deutschen Museum in München gibt es dazu eine eigene Abteilung, die meine diesbezügliche Vorstellung speiste. Ärmliche Familien, die nach Amerika auswandern und wochenlang darben. Ich bin an Bord und breche in die Neue Welt und ein neues Leben auf, voller Hoffnung, dem alten für immer zu entrinnen, sobald Manhattan am Horizont erscheint. Dabei gibt es keinen anheimelnderen Ort als den Bauch des Schiffes, der trotz der Enge, der Dunkelheit und des Dröhnens so viel Geborgenheit besitzt. Auch der Ozean erscheint mir nicht als Gefahr. Das Wasser schaukelt meist sanft, manchmal auch etwas fester, auf dass ich seekrank werde, aber das macht mir keine Angst. Das Schiff trägt mich über den Ozean und eigentlich will ich nie ankommen. Die Bilder der Neuen Welt können gar nicht so verlockend sein.

Einmal kam ich aber dann doch am Schiff auf der Wiese vorbei. Es war auch schon fast fertig und grau verschmiert. Ich wunderte mich über die Höhe des Rumpfes. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie tief ein Schiff im Wasser liegt. Ich sah es auf der Wiese neben dem kleinen Wohnhaus stehen, festgezurrt, allzeit bereit zum Stapellauf. Dieses Bild hat sich eingeprägt. Ob es jemals zum fernen Meer gelangt ist, hab' ich nie mehr erfahren. Ich wollte es auch nie mehr wissen. Vielleicht steht es ja immer noch dort und wartet auf den rechten Augenblick. Was kann einem noch passieren, wenn man ein Schiff im Garten hat, wohlgemerkt ein seetaugliches.

Jahre später las ich den Leviathan von Joseph Roth und erinnerte mich wieder an das Schiff auf der abschüssigen Wiese. Der Korallenhändler Nissen Piczenik aus Progrody will nach Kanada auswandern, um dem Unglück zu entfliehen, aber es kommt zum Schiffbruch. Anstatt sich zu retten, folgt er dem Sog der Korallen, um neben dem Leviathan Frieden zu finden. Wie fix kann doch eine Idee werden, dass man der rufenden Stimme folgen muss, und sei es bis auf den Grund des Meeres. Auch den Schiffbauer aus dem Bayrischen Wald muss ein ähnlicher Ruf erreicht haben.

Insgeheim hoffe ich, dass der graue Rumpf unverändert auf der Wiese wartet, inzwischen schon verwittert und etwas morsch geworden. Das Schiff steht sicher da und kann keinen Passagier der Verlockung der Fluten aussetzen und dem Ruf der Meerestiefen. Und dann möchte ich wieder darin wohnen, losgelöst von der Zeit, im seligen Dämmern des Halbdunkels, ohne das geringste Bedürfnis, nach draußen zu gehen.
Einfach zu stehen, zu sitzen, zu liegen und zu horchen. Den anderen Sinnen bieten sich keine Reize. So höre ich auf ein Knacksen im Holz als Zeichen der Bewegung im Außen. Ein Klopfen macht mich neugierig und ich bewege mich in die Richtung, aus der es kommt. Vielleicht klopfe ich zurück, aber ich glaube eher nicht. Ich fühle mich ja nicht gefangen, sondern geborgen. Dann höre ich ein sanftes Rauschen, ein Wind streichelt die Außenwand. Die Umarmung ist auch innen zu spüren. Selbst ein Sturm kann dem Schiff nichts anhaben, er will nur auf sich aufmerksam machen. Es gibt die Bewegung im Außen, das darf man nicht vergessen.
Und nach dem Hauch sehne ich mich dann auch, so wie der Korallenhändler Nissen in Joseph Roths Geschichte sich nach dem Leviathan sehnt.

So kehre ich immer wieder mit meinen Gedanken zu dem Schiff auf der Wiese zurück und habe mich dort längst eingerichtet. Zu einem Stapellauf wird es wohl nie mehr kommen, der wird ja auch von niemandem mehr erwartet.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15006

Eine Freitagsgeschichte

Der Freitag ist der Tag des Fisches und ich möchte darüber erzählen. Nun lebe ich weder an der Ostseeküste noch habe ich die sieben Weltmeere durchstreift. Nicht einmal ein Fluss steht mir besonders nahe, in dem Fische zu Hause sind. Meine Begegnung mit Fischen ist ganz anderer Art. Ich stamme aus einem Kramerladen und meine Mutter war die Kramerin. Die einen nannten sie Kuni, andere wieder Kunerl. Die kannten sie schon aus ihrer Kindheit. Ich fand das immer seltsam, wenn man sie so verniedlichend ansprach, denn das passte überhaupt nicht zu ihrem Wesen. Trotz ihrer Einfachheit besaß sie bis ins hohe Alter eine innerer Größe, vielleicht sogar etwas Aristokratisches, freilich im guten Sinne. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Die Kuni war also die Kramerin und stets bemüht, ihren Kunden besondere Waren in das dörfliche Einerlei zu bringen. So bot sie feinste Angorawolle an und Büstenhalter in allen Größen, aber auch Zigarren, deren Marke mir entfallen ist. Sie müssen aber etwas Besonderes gewesen sein, weil sie nur der Friseur gekauft hat, der immerhin während seiner Jugend in Berlin Haare geschnitten und dort einiges an feiner Welt miterlebt hat, was aber im Dorf keinerlei Wertschätzung erfuhr.
Auch die Zigarettenmarken „Salem ohne“, im grünen Päckchen, und „Mokri“, im gelben, zählten zum exquisiten Warenangebot. Erstere rauchte mein Vater, und zwar zwei Schachteln täglich, was mich zum Nicht-Raucher machte. Mokri rauchte sein Jugendfreund, ein Kriegsheimkehrer aus russischer Gefangenschaft. Leider oder Gottlob kennt man diese Zigaretten heute nicht mehr. Sie bilden aber einen erheblichen Teil meiner Kindheitserinnerungen.

Neben derartigen Luxusgütern gab es im Laden natürlich auch Dinge des täglichen Gebrauchs, wie Rasierklingen und Palmoliv-Rasierseife sowie Lebensmittel aller Art. Während der Wintermonate waren die Bratheringe der Firma Anker sehr beliebt. Die rote runde Dose mit der mutig geschwungenen Aufschrift in gelb stand direkt an der Budl, wie wir den Verkaufstisch nannten. Alle im Dorf liebten den Anker-Brathering. Besonders die Leute von den Einöden gönnten sich am Wochenende einen, meistens nach der Freitagsbeichte, die sie übrigens noch im Laden mit meiner Mutter nachbesprachen, was ich hinter den Regalen verborgen und mit Babykleidung spielend mit Interesse verfolgt habe. Diese Gespräche haben wesentlich zu meiner Lebensfähigkeit beigetragen. Allerdings muss ich hinzufügen, dass sich mir vieles aus diesen Beichtgesprächen erst später und oft viel später erschloss. Aber nun zurück zu den Bratheringen, die am Freitag nach Beichte und Buße gekauft wurden.
Die frisch geöffnete Dose ließ ihren Duft entströmen, der den Kunden verführerisch in die Nase stieg. Der Essiggeruch löste sofort die herrlichsten Gelüste aus. Verstärkt wurde die Begierde noch durch das ansprechende Bild, das sich dem Betrachter beim Blick in die Dose bot. Die braune ölige Flüssigkeit wurde von oben schwimmenden Lorbeerblättern und Wacholderbeeren bekrönt, sodass die Heringe ihren letzten Weg in betörender Lake antreten konnten. Kaum einer widerstand dem aufsteigenden Duft und dem Anblick der schwimmenden Fische, sodass die Dose mit den fünfzig Stück bald leer war. Was meine Mutter mit Stolz erfüllte, und sie entweder die nächste öffnen ließ oder eben nicht, und dann die Leute darben mussten. Manch Verfressener sollte nicht jeden Freitag einen Brathering haben und ruhig mal eine Woche auslassen, das schade gar nicht. Und meine Mutter nahm sich jederzeit die Freiheit zu sagen, dass die Bratheringe ausverkauft seien oder die letzten am Dosengrund bereits bestellt. Die von den Einöden und Dörfern sollten auch noch einen Fisch bekommen. Da war die Kuni absolut konsequent. Verärgert zogen die Zurückgewiesenen ab. Sie hatten ja auch keine andere Möglichkeit, sie mussten in der nächsten Woche wiederkommen, weil es sonst nirgends Anker-Heringe gab. Die Konkurrenz bot nur „Unser Fisch“ an, der wesentlich billiger war, aber geschmacklich überhaupt nicht an „Anker“ herankam.

Lieferant war ein gewisser Herr Sabrowsky, ein Heimatvertriebener mit schlesischem Akzent und Glatze, der bereits in seiner Heimat mit Fischen gehandelt hatte und als Kenner galt. Ich weiß nicht, ob dieses Schlesien am Meer gelegen ist. Auf jeden Fall belieferte Herr Sabrowsky, ein feiner Herr mit guten Manieren, der offensichtlich bessere Zeiten gekannt hatte, meine Mutter mit Vorzug. Er brachte gewissermaßen die große untergegangene Welt dieses Schlesien mit seinen Fischen zu uns in den Laden und ins Dorf. Alles an Herrn Sabrowsky war fremd, nicht nur sein Name und seine Sprache. Er war so vornehm und freundlich und immer in Eile und behandelte meine Mutter stets wie eine Dame. Das alles befremdete mich und ich hoffte immer, dass er mich nicht ansprechen möge, was er auch meistens nicht tat. Dieser fremde Mann also brachte die exotischen Bratheringe der Güteklasse A. Er fühlte sich aber auch selbst so fremd und verließ deshalb möglichst schnell wieder unseren Laden. Heute glaube ich, dass er ein sehr trauriger Mensch war und hinter dem Fischhandel seinen Kummer versteckt hat. Trotz der gut gehenden Geschäfte ist er nie heimisch geworden. Der Bayerische Wald war einfach nicht Schlesien.
Herr Sabrowsky verfügte auf jeden Fall über einen exquisiten Qualitätsgeschmack, außerdem kannte er die besten Grossisten und lieferte zuverlässig. Ein Geschäftsmann mit Ehre. Am wichtigsten für die Kuni war aber, dass er allein sie im Dorf und der näheren Umgebung belieferte. So war sie außer Konkurrenz. Das war ihr auch immer ein kleines Geschenk in Form von Zigaretten oder einem original Arnschwanger Brotlaib aus der Backstube meines Onkels wert.

Die Kunden, die einen Brathering kauften, hatten meist ein Geschirr dabei, in das der Fisch mithilfe eines gelben oder orangen Plastiklöffels umgebettet wurde. Ganz vorsichtig natürlich, er musste ja ganz bleiben. Wenn das Gefäß zu schmal war, blieb dem Brathering nichts anderes übrig, als auf dem Kopf stehend in Schräglage auf den Esstisch der Kunden transportiert zu werden.
Manche wollten viel Soße, andere wieder wenig, und manche nahmen gleich drei Fische. Es gab auch Kunden, meist waren es Männer, die sich eigentlich nur Zigaretten kaufen wollten, dann aber durch den Essigduft verführt, nicht mehr widerstehen konnten und einfach sagten: „Kuni, gib mir einen Hering.“ Mangels Geschirr musste der Hering manchmal völlig unwürdig, wie ich fand, in eine Plastiktüte verfrachtet werden. Damit er sich nicht gar so verraten und verloren fühlte, erhielt er auch noch etwas Soße und schaukelte an der Hand seines künftigen Verzehrers heim, wo er hoffentlich noch in einen Teller umgebettet wurde, ehe er verspeist und verdaut wurde.
Weil das Geschäft so prächtig lief, bedankte sich die Kuni alljährlich mit einem Weihnachtsgeschenk bei ihren Kunden, einem Plastikbecher in verschiedenen Farben. Orange, Gelb und Grün waren damals modern. Diese Becher brachten die Leuten zum Bratheringkauf mit und sie erinnerten noch lange in den Haushalten an den Kramerladen, auch als es ihn nicht mehr gab.
Meine Familie liebte natürlich auch Bratheringe, aber es gab nicht immer welche zum Essen. Die Kunden gingen vor. Hin und wieder blieb aber einer übrig. Ich habe auf jeden Fall so viele gegessen, dass mir der Geschmack auf ewig eingeprägt bleibt.

Herr Sabrowsky vertrieb auch andere Fischkonserven, wie etwa den wesentlich billigeren Sulzfisch, der einen, zu Quadraten geschnitten, mit seinem Karottenauge anstarrte. Manchmal gab es auch geräucherte Fische, die sehr teuer waren und rasch verkauft werden mussten. Meine Mutter plagte immer die Angst, auf den Räucherfischen sitzenzubleiben und viel gutes Geld zu verlieren. Ich glaube aber, dass ihre Sorge unbegründet gewesen ist. Diese Fische gab's nur selten, vor den Weihnachtsfeiertagen und später auch am Karfreitag, wenn es kalt genug war. Sie blieben etwas Besonderes und der Herr Sabrowsky pries sie zudem als etwas Seltenes an. So sollte es auch sein.
So feine Sachen isst man eben nicht alle Tage!

Mich haben an den Räucherfischen immer die Gräten gestört. Das Essen war unheimlich anstrengend, und es gab ja auch die vielen Geschichten von fastenden Mönchen, die beim Verzehr eines Fisches an einer Gräte erstickt oder in letzter Sekunde durch Gottes Hilfe gerettet w orden waren. Für mich war der Räucherfisch nichts. Es fehlte auch die Soße, die einfach zum Fisch dazugehört.
So hat sich mir der Brathering in der roten 50-Stück-Dose als Freitagsessen eingeprägt. Die leeren Dosen waren übrigens unheimlich begehrt, weil sie sich als Futternapf für die Gänsezucht hervorragend eigneten. Meine Mutter führte Listen, wer die nächste leere Dose für die Gänse bekommen sollte, welche für Sankt Martin und Weihnachten großgezogen wurden. Die haben mir aber nie geschmeckt.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 15001

Vom Stangl g'haut

Der alte Pauli ist auf Malta in den Armen seiner Geliebten verstorben, im Hotelbett, sagt die Moni, seine Tochter. Dabei hatte er schon auf dem Schiff so eine Ahnung gehabt, wie sein Gspusi später erzählte. „Wird's mich doch jetzt nicht vom Stangl hau'n! Wer zahlt denn dann die Überführung?“ Solche Worte graben sich tief in die Erinnerung ein und bleiben in der Seele hocken und lassen sich nicht abschütteln und später martern sie einen und man wird sie nicht mehr los und es plagt einen das Gewissen. So ging es der Berti, die den Oberforstrat Pauli nach Malta begleitet hat. Sie hat ihn geliebt und war die Freude seines Alters. So sagt man wenigstens und redet sich schön, was eigentlich gar nicht schön ist. Sei's drum. Die beiden fuhren gemeinsam nach Malta, um dort Urlaub zu machen, natürlich heimlich, inkognito, niemand durfte es wissen, denn zuhause wartete die Frau Pauli, und obwohl sie schon seit Jahren getrennt lebten, war sie doch eifersüchtig auf die Berti, die fette!
Prompt trat in der Nacht genau das ein, was nicht hätte eintreten sollen. Den alten Pauli ereilte ein Herzinfarkt. Er krampfte sich im fremden Bett zusammen und ahnte den Tod nahen. Die Berti stand ihm bei, so gut sie konnte. Sie war ihm wirklich nahe, wagte aber keinen Arzt zu rufen, damit die heimliche Reise nicht aufflöge. Lange, immer sollte sie sich deswegen Vorwürfe machen, bis die Vergesslichkeit des Alters sie davon eigentlich erlöste.
Schließlich half kein sanftes Streicheln der starken Stirn, die viele Jahrzehnte große Gedanken beherbergt hatte, und auch kein gutes Zureden mehr. Auch den Druck der Hand erwiderte er nicht mehr. Völlig reglos lag er da und es war vorbei mit dem alten Pauli. Es hatte ihn tatsächlich vom Stangl gehauen! Ausgerechnet auf Malta hat der Herrgott ihn den Lebensatem aushauchen lassen. Im Hotelbett ist er abberufen worden, mitten aus dem Leben, unerwartet, überraschend, plötzlich, grausam für die Berti, die überhaupt nicht mehr wusste, was zu tun sei. Die neben ihm saß und ihm nicht helfen konnte, die aber auch die Schmach und Schande der illegitimen Beziehung, die nun öffentlich werden würde, erwartete und über sich hereinbrechen sah.

Nachdem sie genug geweint hatte über den geliebten Toten und über ihre eigene missliche Lage, fasste sie sich doch ein Herz und tätigte die notwendigen Anrufe. Es wird nun alles rauskommen und alle werden ihr die Schuld geben, aber was hilft's. So ist zunächst die Strafrede der Frau Pauli über sie hereingebrochen, die sie aufs Übelste beschimpfte und ihr jegliche Ehre absprach. Dem Arzt musste sie bei der Totenschau das entwürdigende Geständnis machen - nein, sie sei nicht die Ehefrau.  Auch die Kondolenzworte des Hoteldirektors verlangten nach einer Richtigstellung. Die scheinheilig-überraschten Blicke musste sie ertragen und gut vernehmbares Tuscheln hinter ihrem Rücken. Das war die Vorbereitung auf die Beerdigung, das wusste sie. - Nicht einmal die kurze Freude mit dem Pauli, diesem g‘standenen Mannsbild, war ihr vergönnt gewesen. Jetzt musste sie so bitter dafür bezahlen. Schließlich organisierte sie die Überführung, nahm stumm Abschied, packte überstürzt und nahm das nächste Schiff.

Unterdessen kümmerte sich die Frau Pauli um die Beerdigung im oberbayrischen Faistenhaar. Zuerst dachte sie, der Lump, der alte Depp, aber eigentlich war ihr doch das Herz recht schwer. Zu lange waren sie verheiratet gewesen, zu viel hatten sie gemeinsam erlebt. Zu oft hatten sie sich im Streit gezeigt, dass da immer noch eine gewaltige Spannung zwischen ihnen war. Ja, so ist das mit der Liebe!
Jetzt ging es aber darum, ihn anständig unter die Erde zu bringen, den Oberforstrat Pauli, ihren Mann und Vater ihrer Töchter. Es sollte eine schöne Beerdigung werden und alle sollten kommen und und und … Nun wollte doch tatsächlich auch die Berti kommen. Unterwürfig, kleinlaut brachte sie telefonisch diese Bitte vor, eine letzte Bitte, aber die Frau Pauli verstand jetzt überhaupt keinen Spaß mehr. Da hört sich doch wohl alles auf, dass sich die Leute am Grab auch noch das Maul zerreißen, so weit kommt's noch. Schluss, aus, ich will nichts mehr davon hören. Schluss, Schluss! Und sie schnaubte noch und rang nach Atem, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Diese Person schreckt ja vor gar nichts zurück, der ist wohl gar nichts heilig, nicht der Ehestand und nicht der Tod!

Der alte Pauli war inzwischen aufgebahrt in der Faistenhaarer Dorfkirche. Das stattliche, ja stolze Familiengrab war ausgehoben und erwartete den Neuankömmling. Bald würden goldene Lettern den schwarz geschliffenen Granit mit Namen, Titeln und Daten des lieben Verstorbenen zieren. Eine ehrenvolle Grabstelle, die lange die Erinnerung wachhalten würde. Der Oberforstrat erwartete wohlgerüstet mit Janker, Gamsbart am Hut und Haferlschuhen die Besucher. Stattlich war er beieinand‘ und es kamen viele, sehr viele, die sich von ihm verabschiedeten. Ein ganzer Bus treuer Freunde aus Simbach reiste zum Begräbnis an. Schließlich hatte er dort lange die Forstdienststelle geleitet und zwar hervorragend. Er war sehr beliebt gewesen. Jagdhornbläser gaben ihm das letzte Geleit, der Pfarrer hielt eine schöne Predigt, die Familie hatte sich einträchtig versammelt. Auch seine Schwester Mathild war gekommen, immer schon eine patente Person. Zur Überraschung der Trauergäste schleppte sie einen Sack mit sich, drängelte sich selbstbewusst durch die Menschenmenge und positionierte sich schließlich vor dem ausgehobenen Grab, in das der Sarg ihres Bruders eben hinabgelassen worden war. Raschelnd öffnete sie den Sack und holte eine Schaufel voll Erde hervor, die sie in die Grube fallen ließ. Es war Erde vom heimatlichen Hof, wo sie zusammen mit vier weiteren Geschwistern aufgewachsen waren. Dumpf schlug die schwere Erde auf, und die Mathild sagte: Das ist von mir, deiner Schwester Mathild! Hörst mich? Diese Geste wiederholte sie noch viermal. Stellvertretend für die anderen Geschwister gab sie dem Bruder je eine Schaufel voll Heimaterde mit auf den Weg. Auf die Trauergemeinde nahm die Mathild keine Rücksicht. Sie sah und hörte nichts, sondern war mit ihrem Bruder ganz alleine und sagte immer wieder: Hörst mich? Als sie fertig war, bahnte sie sich wieder ihren Weg durch die Menge und stellte sich schweigend zur Verwandtschaft.  Alle waren gekommen, wirklich alle. Frau Pauli erfüllte es mit Stolz, wenn sie in die Runde blickte und die große Trauergemeinde sah. Er war halt doch ein besonderer Mann gewesen, der Pauli, ein Mann, auf den man zu Recht stolz sein konnte, erst recht jetzt. Wie unwichtig erschienen ihr nun die Kleinigkeiten, die in den letzten Jahren die Ursachen für Streitereien gewesenen waren. Es wurde ihr wieder bewusst, wie schneidig er gewesen war, früher, … und was war er für ein toller Musikant gewesen, eine Stimmung hat er in jede Gesellschaft gebracht, alle haben ihm schöne Augen gemacht, aber sie hat er geheiratet.

Zuletzt hatte die Frau Pauli doch noch der Berti erlaubt, auch ans Grab zu kommen und Abschied zu nehmen. Das war jetzt auch schon egal. Sollten sich doch alle das Maul zerreißen! Er ist ja doch als ihr Mann gestorben. Sei's drum! Die Berti hat sich nicht  aufschauen getraut, sie hat sich dazwischengeschoben und ganz klein gemacht. Ja, so geht’s einem als Gspusi, aber geliebt hatte sie ihn doch und sie schämte sich auch nicht dafür.
So hat man den alten Pauli mit allen Ehren unter die Erde gebracht und nachher ging man in die Wirtschaft zum Leichentrunk und man hat sich nicht lumpen lassen. Und nach einem guten Essen und einigen Schnäpsen ist die Gesellschaft lustig geworden und hat alte Geschichten aufleben lassen. Dann kam es fast schon wieder zu Unstimmigkeiten und man ging lieber schnell heim, bevor man noch heftig widersprechen hätte müssen und bevor es vielleicht doch noch zum Streit gekommen wäre. Nicht heute.

Das alles hat mir die Moni erzählt, die ich im Lehrerreferendariat kennengelernt habe. Damals hat sie sich lapidar mit den Worten vorgestellt: Ich bin die jüngste von fünf Schwestern. Was mir vor Neid und Bewunderung den Mund offenstehen ließ und den Seminarvorstand zu der Floskel verleitete: So wurde der Wunsch nach einem Sohn der Vater vieler Töchter. Nun ist ihr Vater, der alte Pauli, wie sie sagt, tot.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15002

Eine Banane mag ich nicht

„Eine Banane mag ich nicht, die hat der Neger ang‘langt.“ Dieser Satz ist von der Tante Anni verbürgt. Die Tante Anni ist die Tante meiner Freundin Beate-Baby. Sie hat mir die Geschichte erzählt, und ich muss sie gleich aufschreiben, weil sie so kurios ist.

Tante Anni, Gott hab' sie selig, wohnte im Parterre in der alten Villa, wie das umgebaute Schulhaus neben der Kirche allgemein bezeichnet wird. Die Tante Anni war mir vom ersten Moment an sympathisch, obwohl ich sie ja nur aus Erzählungen kenne. Eine aufrechte Person, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt, die Dinge beim Namen nennt und auch dazu steht. Geboren wurde sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Den Fotos nach zu urteilen, war sie ein hübsches Mädchen, sie quälte sich aber selbst, wie Beate-Baby sagt, ihr Lebtag lang mit der Überzeugung, nicht so schön wie ihre Schwestern zu sein. Sie litt darunter und gewöhnte es sich an, jedes Kompliment sofort zu entkräften und entschlossen zu kontern. Sie war sich gewiss, nicht schön zu sein, und niemand brauchte ihr Honig ums Maul zu schmieren. So war das! - Weil sie also davon fest überzeugt war, entwickelte sie andere Vorzüge, welche die Menschen in ihrer Umgebung oft verwirrten. Tante Anni zeigte allen, dass sie selbstständig war, niemanden brauchte und schon gar keinen Mann. Sie wollte mit Respekt behandelt werden. Auf andere wirkte sie eigensinnig. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann tat sie das auch, und niemand konnte sie aufhalten. Heute würde man sagen, sie war emanzipiert. Damals nannte man so eine Person gerne eine Beißzange oder Bissgurke. Das ist böse und trifft bestimmt nicht zu, weil Tante Anni andererseits höchste Lust beim Beten empfand. Sie war die fleißigste Kirchenbesucherin. Schließlich wohnte sie ja auch nebenan, und die Kirche war der einzige Ort, wo sie sich außer in ihrem Wohnzimmer noch wohl fühlte. Wenn sie schon keinem Menschen trauen wollte, dann wenigstens Gott und der Jungfrau Maria. Die verstanden sie, auf die war Verlass. All die Menschen in ihrer Umgebung waren ihr suspekt. Sie wollten sie entweder aushorchen, waren ihr neidig, waren auf ihr Geld aus oder wollten ihr aus irgendeinem heimtückischen Grund schöntun. Tante Anni war auf der Hut, sie nahm sich in Acht. So gelang es ihr, sich ein Leben lang Enttäuschungen vom Leib zu halten, aber leider auch das Glück und die Freude.
Da sie als Wirtstochter standesgemäß das Internat im Kloster besucht hatte, galt sie als gebildet, und sie war sich ihrer gehobenen Stellung auch bewusst, umgab sich mit einer Aura der Besonderheit und gewöhnte sich eine herablassende Art an. Dies geschah nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Hilflosigkeit, aber die Dorfdeppen verstanden das als Hochnäsigkeit und die Fronten verhärteten sich.

Ihren Wunsch nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit konnte die Tante Anni verwirklichen, als sie Posthalterin wurde. Im ersten Stock der Villa, direkt über ihrer Wohnung, richtete sie die Poststelle ein und fuhr mit einem Fahrrad, das einen Hilfsmotor hatte, die Post im Dorf aus. Da schauten alle, da waren sie ihr schon wieder neidig, die Grattler, die Dienstboten, die Hungerleider. Tante Anni lernte damit zu leben. Sie war kurz angebunden, saß aufrecht auf ihrem Gefährt, eine Amtsperson! Einmal holte eine alte Frau ein Packerl bei der Post ab. Ein Verwandter hatte es ihr geschickt, und es war Kaffee drinnen. Die Tante Anni sagte herablassend: „Seitdem die gewöhnlichen Leute auch einen Kaffee trinken, schmeckt er mir nimmer.“ - Ja, nicht einmal diese stille Freude des Herausgehobenseins war ihr mehr vergönnt. Alle mussten alles haben, da konnte man sich nur noch zurückziehen, in die Villa.

Um sich vor überraschenden Besuchern zu schützen, brachte sie am Gartentor eine Klingel an, die, wie Beate-Baby zu erzählen weiß, dermaßen ohrenbetäubend laut war, dass bei ihrem Ertönen nicht nur der Klingler, sondern auch Tante Anni im Wohnzimmer regelmäßig fürchterlich erschrak und einen Schreckensschrei ausstieß, der noch im Garten zu vernehmen war. Erst jetzt konnten die Nichten vorsichtig über die Veranda eintreten, Tante Anni war gewarnt. Sie empfing die Mädchen nicht, weil sie sich freute oder weil sie sie mochte, sondern weil sie sich verantwortlich fühlte. Die Verwandtschaft war nach ihrem Gefühl nachlässig mit der Erziehung. So oblag es der Tante Anni, ihren Nichten die Grundkenntnisse im Taschentucheckenbügeln beizubringen und im Putzlumpenauswringen. Beim Putzen legte sie besonderen Wert auf die Ecken, sie mussten gründlich gewischt werden, da war sie eigen, genau wie bei den Ecken der Taschentücher. Jaja, die Eckerl, da schaut manch einer gern drüber hinweg, aber gerade daran erkennt man den Charakter.
Außer ihren Nichten ließ sie niemanden in die Wohnung. Nur einmal machte sie eine Ausnahme. Beate-Baby stellte ihr eine Freundin vor. Zuerst war die Tante skeptisch, als sie aber erfuhr, dass das Mädchen aus der Stadt sei und noch dazu adelig, ließ sie die beiden herein. Sie durften dann den Kühlschrank mit einer kleinen Gartenhacke enteisen. Wenn man den Leuten bei der Arbeit auf die Finger schaut, lernt man sie kennen.

Besonders eindringlich beschreibt Beate-Baby das Wohnzimmer der Tante. Eine Wand war mit einer Fototapete beklebt, die einen stürmischen Ozean mit Palmenstrand zeigte. Das Kruzifix hing in der linken Ecke und in der rechten stand das ganze Jahr über das Kripperl mit Maria und Josef, dem Jesukindlein und Ochs und Esel. Über dem Jesukindlein hing eine Laterne, die mittels einer Schnur hinter dem Vorhang eingeschaltet werden konnte. Diesem Arrangement verdankt Beate-Baby ihr Grundwissen über Jesus. Glaubte sie bis dahin, Maria sei in Oberbayern, in den Alpen, niedergekommen, so klärte Tante Anni sie auf, dass das kindisch, naiv und völlig falsch sei. Der Heiland sei vielmehr in Israel geboren und aufgewachsen. Und da gebe es viele Palmen und Meer und es schaue so aus wie auf der Tapete. -  Dass sie mit dieser klaren und durchaus folgerichtigen Anschauung überall aneckte, versteht sich von selbst. Die Wahrheit will halt keiner gern hören oder sehen. Tante Annis prophetisches und revolutionäres Gedankengut verhallte nahezu ungehört in der Heimat.
Das Allerskurrilste im Wohnzimmer der Tante Anni aber war ihr Grabstein. Sie hatte ihn vorsichtshalber schon zu Lebzeiten machen lassen. Sie sorgte vor, auf die Erben war ja eh kein Verlass, wenn sie erst mal das Geld hatten. Tante Anni wollte sich eine letzte Enttäuschung ersparen und sorgte daher selbst für einen angemessenen Grabstein und ließ auch die Schrift gleich einmeißeln und vergolden. Lediglich das Sterbedatum war ausgespart. Im Wohnzimmer verstaubte der Stein natürlich und so mussten die Nichten ihn von Zeit zu Zeit mit Sidolin abreiben und anschließend mit einem feuchten Lappen polieren. Tante Anni schaute ihnen zu, auf einer Gartenliege ausgestreckt, die auch im Wohnzimmer stand. Mit Blick auf die Fototapete, mit dem Gelobten Land, und mit Blick auf den Grabstein lehnte sie sich fast zufrieden zurück, aber auch jetzt war noch nicht alles geklärt. Den putzenden Mädchen eröffnete sie, dass sie auch noch eine Grabplatte beim Steinmetz in Auftrag geben werde, weil sie befürchte, dass die Erben zu faul sein würden, das Unkraut vom Grab wegzuzupfen.

Ja, so hat die Tante Anni für alles vorgesorgt, in dem Bewusstsein, dass sie sich auf nichts und niemanden verlassen konnte, und auf den Zufall hat sie nicht vertraut. Israel, das Gelobte Land, wo Milch und Honig fließen und wo der Heiland geboren ist, ist halt auch ewig weit weg. Und ob es wirklich so ist wie auf der Fototapete, weiß man ja auch nicht gewiss.

Die Nichten hat sie fürs Putzen, Taschentücher Bügeln, Grabstein Polieren und Semmelknödel Machen nicht bloß anständig, sondern sogar fürstlich bezahlt. Knickrig war sie nicht, das wollte sie sich nicht nachsagen lassen, das ganz gewiss nicht. Lieber gab sie das Geld den Mädchen statt irgendwelchen Fremden, dann blieb es wenigstens in der Verwandtschaft.
Mit der Zeit kam Beate-Baby auch auf die Idee, Tante Anni als Bank zu nutzen und lieh sich Geld von ihr. Nun war auch wieder die Berufserfahrung als Postbeamtin von Nutzen, denn Anni kannte sich natürlich auch mit Bankgeschäften aus. Sie entwarf offizielle Schuldscheine und hatte immer welche griffbereit in einer Schublade, wenn die Nichten kamen. Korrekt wurde bei Bedarf ein  Schuldschein ausgefüllt und von beiden Geschäftspartnern unterschrieben. So hatte alles seine Ordnung. Beate-Baby sagt, die Tante Anni hat leidenschaftlich gern unterschrieben. Mit ihrer Unterschrift fühlte sie sich sicher. Alles war beglaubigt, juristisch korrekt. Das mochte sie.
Die Schuldscheine verstaute sie in den zahlreichen Schubladen ihres Mobiliars. Meist fand sie sie in ihrem Saustall nicht mehr, sagt Beate-Baby. - Aber nach dem Tod der Tante Anni, als der Grabstein schon seinen Platz auf dem Friedhof nebenan gefunden hatte und die Verstorbene wieder Anna  geworden war wie bei ihrer Geburt, sich in ihrem Haus für die Ewigkeit wohlig und gemütlich eingerichtet und bestimmt auch endlich erfahren hatte, wie das mit dem Jesulein und dem Heiland und Israel wirklich ist, da haben die Erben in ihren Schubladen gekramt und die vielen Schuldscheine gefunden. - Beate-Baby meint, dass sie da wirklich Glück gehabt habe, weil die Erben Gott sei Dank das Geld nicht zurückhaben wollten. Mit den Jahren war nämlich einiges zusammengekommen. Die Angehörigen glaubten, die alte Tante habe in ihrer Eigenbrötelei und Seltsamkeit immer nur Bank gespielt. - Weit gefehlt! So hält man das Naheliegendste oft für das Abstruseste.

Auch dem Genuss der Bananen hat die Anna ein Lebtag lang entsagt, weil sie immer das Bild von dem Neger vor Augen hatte, der sie nach landläufiger Meinung pflückt und in seiner schwarzen Hand hält. Davor hat ihr gegraust. Und selbst wenn ihr einmal nicht mehr davor gegraust hätte, wäre sie viel zu stolz gewesen, das zuzugeben. Sie konnte also nicht anders als in Sturheit zu verharren, um vor sich selbst bestehen zu können. Bestimmt ist sie unter ihrer Grabplatte auch davon erlöst worden und nimmt jetzt ganz vergnügt Bananen aus den Händen schwarzer Engel entgegen.

Claudia Kellnhofer

Dieser Text ist mit weiteren im September 2018 bei
EINBUCH Buch- und Literaturverlag, Leipzig
unter dem Titel "Eine Banane mag ich nicht" erschienen.

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