Kategorie-Archiv: Luise Fötsch
Die Kätzin
Sie ist. Und sie ist immer noch. Sie lebt. Und sie lebt immer noch. Jene grau-schwarze Tigerkätzin mit den smaragdgrünen Augen, die keinen Namen hat. Keinen Namen und keine Identität. Und keinen Herrn. Niemand beschützt sie. Niemand gibt ihr ein Zuhause. Sie ist allein. Allein. Eine Einzelgängerin.
Junge hat die Kätzin nie gehabt. Niemals. Wozu auch? Nachwuchs unerwünscht. Doch ihr fehlt er nicht. Was man nicht kennt, so sagt man, vermisst man auch nicht. Alte Binsenweisheit. Warum aber schnurrt sie laut, wenn sie nur in die Nähe von Katzenwelpen kommt?
Man sagt, Katzen können ihr Spiegelbild nicht erkennen. Es bleibt zu hoffen, dass dies die Kätzin auch weiß. Das Leben hat sie gezeichnet. Ihr Fell ist stumpf und Parasiten quälen sie. In jungen Jahren war sie ein hübsches Tier. Ein wenig kokett, wie es Katzen eben sind. Eitel? Nein. Bestimmt nicht. Nur kokett. Auf charmante Art.
Ihre Vergangenheit ist nicht wichtig. Sie würde auch keinen interessieren. Doch für sich selbst scheint sie manchmal über Vergangenes zu sinnieren. Dann hockt sie in einer Ecke, macht sich klein und starrt ins Nichts. Es ist, als würde sie nach innen schauen. Weggetreten sein. Der Wirklichkeit entrückt sein. Was mag es wohl denken, das Tier? In jenen Stunden, in denen es seine Umgebung nicht mehr wahrnimmt? Man kann nur hoffen, dass es der Gedankenflut Einhalt gebieten kann, die ihm das Hier und Jetzt stiehlt.
Drei Beine. Eines fehlt. Das rechte, hintere. Wie die Kätzin es verloren hat? Leider gibt es niemanden, der Zeugnis ablegen könnte. Vielleicht durch einen Unfall. Vielleicht hat sie mal jemandem gehört. Vor langer Zeit. Vielleicht ist sie deswegen herrenlos. Rausgeschmissen. Unbrauchbar. Unansehnlich. Mit einem solchen Tier ist kein Staat zu machen.
Die Kätzin ist auf Mitleid angewiesen. Sie kann nie wieder unabhängig sein. Sie ist nicht fähig, sich selbst zu versorgen. Wie soll das auch gehen, mit drei Beinen? Doch man ist gütig. Da ein Happen, dort ein paar Bissen. Katzen dauern Menschen. Nicht alle, versteht sich. Aber doch so viele, dass ein Überleben möglich ist. Trotzdem kennt sie Hunger. Sie ist immer hungrig und weiß nicht, was diesen Hunger stillen könnte. Vielleicht gilt ihre Gier den Jahren, die sie sich selbst gestohlen hat. Wer mit sich selbst kämpft, kann nur verlieren. Ob so. Oder so. Am Ende des Tages bleibt die Selbstverleugnung. Sich abzufinden ohne zu resignieren, wie schwer ist das zu bewerkstelligen. Manchmal ist Resignation ein Selbstschutz. Doch meistens stellt sich die Kätzin dem Überlebenskampf – dem äußeren und auch dem inneren. Und ein Tier kann letztendlich nicht weinen.
Herrenlos. Eine streunende, alternde Kätzin. Eine, die das Alleinsein sucht. Es gewohnt ist. Einsamkeit kann auch schützen. Sie kann fast ein Freund sein. Fast. Nur manchmal, da sitzt die Kätzin vor der Tür aus Glas und schaut begehrlich in die Stube. Wärme. Geborgenheit. Frieden. Liebe? Doch die Türe bleibt zu. Ja, es fällt gar nicht auf, dass ein Lebewesen davorsitzt. Wenn es nämlich Schritte hört, huscht es davon. Wie gesagt, nicht alle Menschen sind Katzen wohlgesonnen. Und die Kätzin ist zu alt und zu feige, um sich auf Experimente einzulassen. Sie könnte nicht schnell genug fliehen mit ihren drei Beinen. So ist die Angst ihr ständiger Begleiter. Eine diffuse Angst. Eine berechtigte Angst? Wer würde es wohl über sich bringen, einer dreibeinigen Katze einen Tritt zu geben?
Die Kätzin hat auch ihre guten Stunden. Dann wächst sie über sich hinaus. Versucht, aufrecht zu gehen. Versucht, Kopf und Schwanz zu heben. Trägt Mut, Erhabenheit und Stolz zur Schau. So lange, bis das Almosen sie wieder daran erinnert, dass es keinen Grund dafür gibt. Wenn es im Bauch rumort, ist es schnell vorbei mit Erhabenheit. Sie nimmt den ihr zugedachten Teil ohne Fauchen entgegen. Frisst schnell, als wolle sie den vollen Teller vernichten. Ob sie „Danke“ sagen würde, wenn sie es könnte? Oder ob sie zu gekränkt ist? Hinsetzen, den Kopf beugen, fressen. Und immer ausbalancieren. Wäre doch eine Schande, vor der gefüllten Schüssel umzufallen.
Ein wirkliches Zuhause hat die Kätzin nicht. Ob sie sich eines wünscht in jenen kalten Nächten, die sie in irgendeinem Keller oder Schuppen oder Verschlag verbringt? Ein weicher Polster, eine alte Kuscheldecke, die niemand mehr braucht. Noch gut genug für ein Tier. Gut genug für die Kätzin. Doch ihre Nächte bleiben kalt. Kein Licht leuchtet für sie in dunklen Stunden. Kein Feuer brennt für sie, um sie sanft mit Wärme zu umarmen.
Manchmal träumt die Kätzin. Dann zucken ihre drei Pfoten unkontrolliert; es ist, als wollten sie im Schlaf davonlaufen. Vielleicht laufen sie in ein besseres Leben. Zumindest im Traum, denn in ihm ist alles möglich. Auch das bessere Leben. Doch das Erwachen ist bitter. Es ist ernüchternd. Die lieblose Umgebung lässt die Kätzin sehr schnell wieder in die Gegenwart zurückfinden.
Silvester ist ein furchtbarer Tag. Es wird geschossen und geknallt, man könnte meinen, der Krieg sei ausgebrochen. Die Kätzin versteht nicht, dass der Lärm zwar unangenehm, aber ungefährlich ist. Für sie geht es um ihr Leben. Soll sie davonlaufen? Die Erfahrung zeigt, dass der Krach überall gleich ist. Soll sie sich verstecken? Und sich im Verschlag zu Tode fürchten? Verstecken scheint ihr die bessere Lösung zu sein. Das neue Jahr beginnt, wie das alte geendet hat, nämlich in Angst. Doch sie überlebt. Und niemand streichelt sie oder sagt ihr ein tröstliches Wort, damit sie sich beruhigt.
Ob sie sich überhaupt streicheln lassen würde? Nein. Bis auf eine Ausnahme. Eine alte Frau, die sie manchmal füttert, darf sie angreifen. Aber nur am Rücken. Nicht dort, wo normalerweise das rechte hintere Bein wäre. Das Privileg, ihre Wunde zu streicheln, besitzt niemand. Vielleicht befürchtet sie, dass die Berührung wehtäte. Nach all der Zeit noch wehtäte. Es gibt Wunden, die heilen nie so richtig. Doch man lernt, mit ihnen zu leben. Sie zu integrieren. Denn ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen reicht nicht. Wunden können penetrant sein. Viel Aufmerksamkeit fordern. Es hat lange gedauert, bis die alte Frau die Kätzin streicheln durfte. Sehr lange. Hunger ist die eine Sache. Vertrauen eine ganz andere. Aber es kommt sogar vor, dass die Kätzin ihren Kopf an den Beinen der alten Frau reibt. Dass sie schnurrt. Und das menschliche Geschöpf erfreut sich am tierischen. Ob es umgekehrt auch so ist?
Immer wieder kommt es vor, dass die Kätzin krank ist. Dass sie erbricht. Und dass ihr übel ist. Doch wie eine Tierarztpraxis von innen aussieht, das weiß sie längst nicht mehr. Nach Katzenart verkriecht sie sich. Leidet stumm vor sich hin. Eine Katze, die niemandem gehört, kann sich das Kranksein nicht leisten. Das Wildtier in ihr rät zum Rückzug. Es kann und darf nach außen nicht zugeben, dass es zeitweise am Ende ist. Ist es angeschlagen, kann dies lebensbedrohend sein. So wartet die Kätzin, bis die Körperlichkeit wieder intakt ist. Bis sie ihr Versteck wieder verlassen kann. Freilich, die alte Frau vermisst sie. Doch die alte Frau ist auch klug genug, um zu wissen, dass Krankheit und Tod ständige Begleiter sind. Sie weiß, dass die Kätzin eines Tages überhaupt nicht mehr kommen wird. Dass sie irgendwo ihr Ende empfangen wird. Sie wird sich nicht wehren. Dafür ist sie zu lebenssatt.
Bei dieser Gelegenheit – was weiß eine Katze von Gott? Sie fristet ihr Dasein und nimmt klaglos auf sich, was Er ihr zumutet. Es gibt kein Entrinnen. Tiere sind gottergeben. Sie gehorchen ihrem Schöpfer und unterwerfen sich Ihm. Ohne Fragen. Denn Fragen stellt nur der Mensch. Und wäre die Kätzin ein Mensch, würde sie sicher fragen: Warum ich? Warum muss ich so leiden? Und sie würde erfahren, dass der Himmel stumm bleibt. Dass Er nicht geneigt ist, Antworten zu geben. Seine Wege sind schließlich unergründlich. Und nur der Mensch begehrt ein Wissen, das für ihn nicht bestimmt ist. Was dem Menschen nicht bewusst ist – ob es das für ein Tier ist? Woher kommt seine Gottergebenheit? Vielleicht rührt sie daher, dass ein Tier nicht über sich selbst nachdenken kann? Oder kann es dies doch? Und wir Menschen sprechen ihm diese Fähigkeit einfach ab? Vielleicht sieht es ein, dass jede Schlacht einmal geschlagen ist. Dass es nichts bringt, der Vergangenheit nachzuweinen. Dass die Lebensenergie für das Hier und Jetzt verwendet werden sollte.
Die Kätzin ist alt. Versehrt. Aber sie ist. Und sie ist immer noch. Sie lebt. Und sie lebt immer noch. Sie kann alleine stehen, trotz der fehlenden Pfote. Ihre Augen sind unergründlich. Weisheit tut weh. Nein. Nicht die Weisheit tut weh. Aber all die Erfahrungen, die zur Weisheit führten. Die Kätzin kann über ihre Erfahrungen nicht berichten. Doch ihre Augen spiegeln sie wider. Und wieder …
Luise Fötsch
www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 23114
Das Bild
Ich warte darauf, dass das Bild mir von sich erzählt. Aber noch ist es nicht so weit. Noch schweigt es. Es ist weit gereist, von Wien in die Steiermark, immerhin. Ob es mitbekommen hat, dass es nicht mehr in der Mappe seines Schöpfers liegt? Dass es ein neues Zuhause hat? Wo ist sein neues Zuhause? In meiner linken Hand, während die rechte schreibt? Ich werde es auf rotes Papier legen und dann rahmen. In meinem Wohnzimmer wird es ein würdiges Plätzchen finden.
Kohle auf dickem, weißem Zeichenpapier. Ganz laienhaft ausgedrückt. Ich verstehe nicht viel von der bildenden Kunst, kann kein Motiv in ein Bild umwandeln. So werde ich das meine beschreiben. Format A4. Ein Clowngesicht im Profil. Schwarz-grau-weiß. Verwischte Kohle. Haare, Augenbraue, Nase, Mund, Ohr. Er hält etwas nahe dem Gesicht, vielleicht ist es eine kleine Trommel. Oder ein Korb. Das Bild ist signiert und gewidmet. Roter Filzstift: Für eine Seelenverwandte. Ich habe mir diese Widmung ausgesucht. Das Bild hat mich berührt und als ich eines von den vielen wählen durfte, fiel mir dies nicht schwer. Ich sah es und wusste, was der Künstler beim Malen empfunden hat.
Der Zirkus. Sammelsurium von Menschen, die ihr täglich Brot dort verdienen, wo mit offenem Mund und voller Ehrfurcht gestaunt wird. Wo Erwachsene sich ihrer Kindheit erinnern und eine leise Ahnung von ihr finden. Einen Hauch kindlicher Seligkeit. Strahlende Augen folgen jeder Bewegung des Künstlers. Des tollpatschigen Clowns. Des waghalsigen Artisten. Beherrschung des Körpers und des Geistes. Perfekte Arbeit. Hartes Training. Kein Raum für Zirkusromantik. Draußen in der Manege urteilt das Publikum. Über Gedeih oder Verderb. Über Rampenlicht oder Verschwinden in der Versenkung. Und ständig soll die Nummer ein Magnet sein. Noch waghalsiger, mutiger, selbstloser. Und Monaco heißt der Traum, der einem wie eine Seifenblase auf der Nase herumtanzt. Einen mitunter ordentlich belästigt. Trommelt und pfeift und grinst. Weite Welt. Fremde Länder. Fremde Städte. Doch wie ungebunden ist das Herz? Und wo hat es seine Heimat? Und wo hat es sein Zuhause? Was alles muss sie ersetzen, die Manege? Wem wird etwas vorgegaukelt? Denn im Zirkus, da werden Illusionen verkauft. Hat die Welt in Ordnung zu sein. Flitter und Sternenlicht. Echte Menschen in glitzernden Kostümen. Wie heimelig ist ein Zirkuswagen?
Würde. Wir alle ringen um unsere Würde. Der Clown im Zirkusrund. Und die, die sich von ihm unterhalten lassen. Sie lachen über die komische Gestalt, die immer wieder auf die Nase fällt. Die immer wieder über die eigenen Füße stolpert. Die sich selbst im Wege ist. Die Darbietung ist ein Gaudium für Klein und Groß. Das Publikum applaudiert und hat Gefallen am Zerrbild seiner selbst. Für Geld bekommt es einen Spiegel vorgehalten. Und manch einer ist so weise, sich selbst darin zu erkennen. Einzugestehen, dass das Leben selbst ein mehr oder weniger liebenswürdiges Chaos ist, das der Weisheit eines Clowns bedarf. Einzusehen, dass die Fröhlichkeit vor einem Abgrund tanzt, musiziert, ihre Späße treibt. Dieser Abgrund nennt sich Schicksal. Versagen. Abschied. Dort, wo gelacht wird, wartet auch die Erfüllung allen Seins. Und diese Tragik ist die Triebfeder jener Menschen, die für Applaus und Lachen den Hanswurst mimen. Lebenserfahrung, so heißt ihr Spiel. Ein ewig altes, ein ewig neues Spiel.
Das Bild erzählt. Von der unumkehrbaren, festgeschriebenen Wahrheit, die ein gefälliges Gesicht zeigt – wenn es ihr beliebt. Manchmal schminkt sie sich und verbirgt das Antlitz hinter einem gnädigen Grinsen. Manchmal geruht sie zu spielen. Doch dass sie auch anders agieren kann – wer wüsste das nicht? Eine Frage drängt sich mir auf: Ist das Schicksal per se bösartig? Und was bleibt, wenn der Wind darüber gegangen ist?
Schwarz-grau. Meines Clowns Seelenfarben. Des Künstlers Wirklichkeit. Wie düster kann ein Lachen sein! Wie tragisch eine Gestalt! Tiefste Verzweiflung. Und vielleicht ein wenig Fassungslosigkeit darüber, dass das Leben genau so ist, wie es ist. Widerstand. Ein Sich-Aufbäumen gegen die Hand, die allzu hart den Zügel führt. Und doch ist ein Clown ein duales Wesen. Kennt alle Facetten menschlichen Leides. Kennt die unerschütterliche Hoffnung. Kennt die Unbekümmertheit, die ihn aus Kinderaugen freundlich anlacht. Was mag mein Clown wohl denken? Was mag er wohl fühlen? Das wird immer sein Geheimnis bleiben. Sein Gesicht ist eingefangen in einem Moment, der zur Ewigkeit geworden ist. Für ihn zur Ewigkeit. Für mich zur Ewigkeit. In dir erkenne ich meine Welt. Erkenne aber auch den tiefen Frieden, den die Akzeptanz großzügig verschenkt. Wundersame Begegnung. Wundersame Berührung, für die ich dankbar bin.
Luise Fötsch
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15049
Der Soldat
Waffenruh. Keiner mehr da, der auf den zielen könnte, den er unter anderen Umständen vielleicht seinen Bruder genannt hätte. Tiefe, laue Nacht. Und ein Sternenhimmel wie zur Friedenszeit. Mondlicht.
Er saß am Rande des Schlachtfeldes. Mutterseelenallein. Wo mochte sie jetzt wohl sein, die Mutter? Welchen Rat würde sie ihrem Fleisch und Blut wohl erteilen? Wie lange hatte er ihn nicht gehört, den Rat der guten Mutter?
Stille. Beinahe aufdringlich. Ein Segen nach dem Lärm jenes Geräts, das Menschen erfunden hatten, um ihresgleichen zu vertilgen. Doch die Stille hatte ihren Preis. Sie alle waren nicht mehr. Sie alle, die sich Kameraden genannt hatten. Feind genannt hatten. Sie alle, die Menschen gewesen waren.
Er hatte den Wahnsinn überlebt. Gab es außer ihm noch jemanden? Sein Blick ruhte auf den Leibern, die die Nacht gnädig bedeckte. Das Antlitz des Hasses, hier offenbarte es sich. Im Mondenschein waren alle Waffenröcke grau. Konnte nicht mehr unterschieden werden zwischen Freund und Feind. Wie lange saß er bereits hier? Inmitten der gewollten, angeordneten Vernichtung? Der Ruf hatte sie ereilt und sie waren ihm gefolgt. Für ein Vaterland. Für eine Parole. Für einen, der sich besser und klüger wähnte als der Rest „seines“ Volkes. Für jene Kriegshetzer, die jegliches Leben ohne Skrupel opferten. Für eine größenwahnsinnige Idee.
Ob die Mutter noch lebte? Und warum hatte das Schicksal ihn verschont? Warum war er noch im Diesseits? Um Zeuge zu sein für Grausamkeiten, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen? Um daran zu zerbrechen? Durfte er sich nun Kriegsveteran nennen? Nach dieser Hölle? Sie hatten die Waffen gesegnet. Auch seine. Hatten sie jenem Gott geweiht, den sie angefleht hatten, ihnen zum Sieg zu verhelfen. Sie alle hatten ein Vaterunser vor der Schlacht gebetet. Auch er. Und jetzt? Sollte er es abermals beten? Zum Dank für sein Leben?
Die Schulter tat ihm weh. Doch er wollte die Verwundung nicht in sein Bewusstsein dringen lassen. Irgendwie war sie passiert. Irgendwann hatte er den Schmerz verspürt. Und ihn ausgeblendet. Ein Tier zog sich zurück und leckte seine Wunden. Für ihn gab es keinen Ort, der ihn lockte. So saß er hier am Rande des Schlachtfeldes und schaute wie gebannt die Gefallenen an. Der Kampf war vorbei. Auch für ihn. Was verteidigte er eigentlich mit seinem Leben? Wusste er es noch? Oder hatten ihm die Jahre seinen Glauben geraubt? Die Heimat war fern des Herzens. Fern des Empfindens. Fern der Sehnsucht. Dies hier war die Wirklichkeit. Wohin also sollte er gehen? Mit seinen Wunden?
Plötzlich war es da. Verwundert sah er es an, wähnte sich verrückt. Jetzt war es so weit. Sein Verstand verließ ihn. Narrte ihn. Er bildete sich doch tatsächlich ein, ein Kind vor sich zu sehen. Ein Kind! Seine Halluzination war ein kleines Mädchen mit gelockten Haaren. Es trug ein Kleidchen mit einer Weste darüber. Er schloss die Augen, verharrte ein paar Sekunden und öffnete sie wieder. Doch das Trugbild war noch immer hier. Falls seine Sinne ihn nicht täuschten und dieses überirdische Wesen in der Realität bestand – woher kam es so unerwartet? Die Kleine war im Mondlicht allerliebst anzuschauen. Ein Schleifchen zierte ihr Haar. Wie alt sie wohl sein mochte? Vier? Fünf?
„Wer bist denn du?“, fragte er heiser. Doch das Kind schaute ihn nur an. Mit großen, wachen Augen. Ob es ein verirrtes Flüchtlingskind war? War die Familie mit seiner Armee mitgeflohen? Bevor der Feind ihrer habhaft werden konnte?
„Wo ist deine Mama?“
„Weiß ich nicht …“ Die Stimme klang hell und glockenrein.
„Und dein Papa?“
„Im Himmel beim lieben Gott.“
„Wie heißt du?“
„Ich heiße Anna.“
„Aha …“ Zu mehr war er im Moment nicht fähig. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er musste sie ordnen. Seiner Überraschung Herr werden. Sich auf die neue Situation einstellen. Der Flüchtlingsstrom – war er aufgerieben worden? Eingeholt vom feindlichen Heer? Und die Mutter der Kleinen? Ob sie noch lebte?
„Wie ist dein Familienname?“
„Weiß ich nicht …“
„Und woher kommst du?“
„Weiß ich nicht …“
War sie nicht alt genug, um Nachnamen und Heimatstadt zu wissen? Schon wollte er nachhaken, als ihm bewusst wurde, was das Kind durchgemacht haben musste. Das Entsetzen packte ihn an. Er als Erwachsener tat sich schwer genug, die furchtbaren Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten. Was also musste in der Kleinen vor sich gehen? Womit musste sie fertig werden? Die Mutter war entweder tot oder verschollen. Einerlei. Freiwillig hätte sie ihr Kind nie im Stich gelassen. Eine liebevolle Mutter, die in höchster Gefahr ihrem Kind das Haar frisierte und es band. Das rührte ihn. Schon lange hatte ihn nichts so berührt wie diese Schleife. Und jetzt? Kein Mensch weit und breit, der sich um das Mädchen kümmerte. Gott allein wusste, wie lange es bereits umherirrte. Über Schlachtfelder ging. Es war ein Wunder, dass es noch am Leben war. Und ihn dünkte, dass nun er gefordert war. Anna war auf die Hilfe einer alten Frontsau angewiesen. Eine alte Frontsau, ja, das war er wohl. Ganz vulgär ausgedrückt. Und nun hatte er ein Kind an seiner Seite. Es war unfassbar.
Die Kleine starrte ihn eindringlich an. Ihr Blick ließ ihn schauern. Was hatten diese Augen wohl gesehen? Was hatten seine Augen gesehen? Zu viel, großer Gott, zu viel. Reue überkam ihn. Warum hatte er sich nicht geweigert, damals, als der Einberufungsbefehl gekommen war? Weil sie ihn sofort exekutiert hätten? Nun musste er dafür geradestehen. Vor einem unschuldigen Kind, dem das Grauen zur aberwitzigen Heimat geworden war. Es ließ sich nicht ermessen, welchen Schaden es davontrug. Aber es war am Leben. Genau wie er. Und beide hatten sie nicht mehr als dies nackte, armselige Leben. Und eine Schleife als Vermächtnis einer Mutter. Tränen stiegen in ihm hoch, die er zu unterdrücken suchte. Er musste jetzt funktionieren. Genau jetzt. Die Kleine und sich selbst in Sicherheit bringen. Sie und sich selbst versorgen. Durch das Niemandsland seiner Seele spazierte ein kleiner Mensch. Arglos und unbedarft. War einfach da. Und die Wunde? Ach, vielleicht war sie nicht so schlimm. Er musste den Schmerz erdulden. Stark sein. Er hatte plötzlich eine Aufgabe. Eine, die Sinn machte. Mehr Sinn, als Menschen zu hassen, weil es irgendjemand befahl.
Mühsam erhob er sich. Doch, die Wunde schmerzte. Er musste sie erträglich halten, durfte die Schulter nicht belasten. Anna beobachtete jede seiner Bewegungen. Plötzlich stellte sie sich neben ihn und schob ihre Hand in seine: „Anna mit.“ Er spürte den zarten Druck der kleinen Hand, ihre Wärme. Und ihm war, als hätte sie sein Innerstes ganz sacht berührt. Diesmal rollten ihm die Tränen über die Wangen, er war machtlos gegen sie. Die Kleine wartete. Wartete auf den ersten Schritt des Mannes.
„Komm“, sagte er leise und merkte, wie sein Soldateninstinkt erwachte. Angestrengt lauschte er in die Nacht. Er musste sich zu den Kameraden durchschlagen. Mit dem Kind. Schleichwege finden. Deckung suchen. Der Schutz der Nacht war sein Verbündeter. Wohin sollte er gehen? Er musste einen Bogen um den Feind machen. Durfte ihm nicht in die Hände fallen. Seine Muskeln spannten sich, sein Kopf war wach, seine Gedanken klar. Er würde dieses Kind durchbringen. Er musste es. Versagen ausgeschlossen. Ein letztes stummes Stoßgebet gen Himmel. Ein inbrünstiges Versprechen an die Mutter. Wo immer sie auch sein mochte. Das Kind schwieg. Doch von ihm ging eine Kraft aus, die sich auf ihn übertrug. Er spürte die Leichtigkeit des Frühlings, spürte, wie sie sich mit seiner Erfahrung verband. Und so gingen sie los. Der altgediente Soldat und das kleine Mädchen. Er wusste nicht, was auf sie wartete. Doch sein Schritt wurde fester. Sein Gang aufrechter. Er straffte die Schultern. Und Anna sah zu ihm auf. Demut überkam ihn. Das Schicksal gab ihm einen Grund, ins Leben zurückzukehren. Und wenn sie das hier überlebten, mein Gott, wenn sie das hier überlebten … Spielzeug wollte er ihr schenken und lernen, selbst eine Schleife ins Kinderhaar zu binden. Und so gingen sie voran. Hand in Hand einem neuen Morgen entgegen.
Luise Fötsch
www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15044