- Abgrundtiefe Freundschaft
- Auf der Fahrt ins Gleichgewicht
- Der ewig Reisende
- Eine Handvoll Schach
- Hotel Polissja
- Im Labyrinth der Zeit
- Im Zwiespalt von Kunst und Macht
- In den Schluchten der Altstadt von Genua
- In Sand gemeißelt
- Kein Knoblauch
- Die keltische Kriegerfürstin aus Sizilien
- Il Mare
- Das neue Auge
- Die Physik der Liebe
- Sieben an der Zahl
- Die Stadt der Anderen
- Straßengedanken
- Von der Last der Farbe befreit
- Wahrheit auf Zeit
- Wenn die Moka singt
- Zwiespältig, sein Lächeln
Kategorie-Archiv: Harald Schoder
In den Schluchten der Altstadt von Genua
Ruhig Blut, Lucy, meine geliebte Kamera, du verbrennst ja mir beinah die Hand, so wie du vor Neugier glühst; auch ich kann es kaum erwarten, nach einem langen Jahr wieder in die Altstadt von Genua abzutauchen, meiner Gegenstadt zu Wien, aber lass mich meinen morgendlichen Cappuccino in Ruhe fertig trinken, schätzt du es doch, mit gelassener Hand geführt zu werden. Und lass mich noch etwas mit dem alternden Transvestiten mit feuerrotem Haar und seinem gewinnenden Lächeln schwatzen, der diese Bar führt, hat er doch meinen Kaffee so liebevoll mit Kakaopuder bestäubt. Besser soll das Wetter demnach werden, aufklaren soll es im Laufe des Vormittags, also gute Nachrichten für dich und dein klares Auge, Lucy.
Selten, nur selten gelingt er einem, der perfekte Schuss, vollendet in Farbe und Belichtung, und mit Senken der Kamera umspielt ein Lächeln der Gewissheit einem die Lippen, dass dieses Bild keiner Nachbearbeitung bedarf, im Gegenteil, seinen Zauber würde ihm all das virtuelle Pixelschieben rauben. Wie auch in diesem Fall, der Hausfassade mit den hervorstehenden Fratzen, ihr höhnisches Gelächter würde verschallen und der beißende Spott in ihren Augen würde erlöschen, den diese Teufelchen für die Passanten unter sich übrighaben, denn in der Gewissheit treiben sie ihren Schabernack, jeden einzelnen in der Hölle wiederzutreffen.
Schwärzer als letztes Jahr scheint mir mein Genua geworden zu sein, noch mehr Afrikaner beleben die alten Viertel, mein Gefühl, denn auch an ihren Rändern sind sie mittlerweile unverrückbares Bild der Straßen. Und bestätigt wird mir dieses Gefühl, als ich auf drei afrikanische Mädchen im Stiegenhaus des ansonsten herrschaftlichen Palazzos meiner Unterkunft treffe, von denen zwei der dritten mit aller Sorgsamkeit das Haar flechten, während der Ghettoblaster zu ihren Füßen Lieder aus ihrer fernen Heimat weint. Mein freundlich gesinntes buon giorno scheint sie noch mehr zu verschrecken als die üblichen Drohungen und Beleidigungen, die sie wahrscheinlich täglich über sich ergehen lassen, aber als im zweiten Blickkontakt misstrauische Neugier in ihren Augen aufblitzt, bin ich an meine tägliche Fahrt mit der Wiener U6 erinnert, in der Deutsch mittlerweile den Minderheitensprachen angehört, und wohlig stellt sich in mir das bekannt heimatliche Gefühl ein, Ausländer unter den Ausländern zu sein.
Und ihr Gesicht zeigt die Altstadt zur Abendstunde, wenn in einer Gassenecke übergewichtige Hafenhuren sich die Füße platt stehen und keine zwei Meter nebenan sorgsame Mütter ihren aufstrebenden Nachwuchs in die Buchhandlung zur Kinderbuchlesung führen. Bebrilltes intellektuelles Bürgertum kann ich durch die Schaufenster im Vortragsraum erkennen, und auch den schrulligen Vermieter meiner Unterkunft mache ich in dieser Gruppe aus, Ausgaben der lotta communista versucht er an den Mann zu bringen, einer Zeitschrift, die in mir die Nostalgie weckt, fünfzig Jahre zu spät erschienen zu sein. Und verstärkt wird diese Nostalgie mit jedem meiner Atemzüge, denn in der Luft liegt der allzu bekannte Geruch einer Kräuterzigarette, die zwei an der Hauswand lehnende Asiaten zwischen sich hin- und herwandern lassen, hier in aller Öffentlichkeit ohne Scheu vor allfälliger Obrigkeit.
Und allmählich lerne ich, dieses für eine andere Stadt undenkbare Kaleidoskop des absurd unterschiedlichen Nebeneinanders selbstverständlich zu finden, mich selbst als Teil dessen zu fühlen in dieser erzwungenen Dichtheit des Zusammenlebens in den tiefen Gassen der Altstadt von Genua, in der jeder unablässig ein Auge auf jeden wirft. Und ich glaube damit eine Erklärung gefunden zu haben, weshalb hier alle Rassen- und Klassenkämpfe im Ansatz erstickt sind und weshalb er nicht ausbricht, der eigentlich in den nächsten fünf Minuten zu erwartende Bürgerkrieg …
Harald Schoder
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18128
Abgrundtiefe Freundschaft
Spiel weiter, Alessandro, lass deine Finger weiterhin so anmutig über den Hals der Gitarre gleiten. Lass es mich nochmals hören, dieses scharfe Glissando, und dazu der kurze Aufschrei deiner rauen Stimme. Nicht satt kann ich mich an dir sehen, dein feines Antlitz gelöst wie selten, und nicht satt wird meine Kamera, dich abzubilden trotz des spärlichen Lichtes, das uns umgibt, hervorgerufen von ein paar funzeligen Kerzen auf dem Tisch zwischen uns im Kampf gegen das Dunkel des toskanischen Nachthimmels.
Denn wieder einmal ist einer unserer Abende in den Zustand der Zeitlosigkeit abgetaucht, einzig durchflutet von unserer abgrundtiefen Freundschaft, dem Durchfluss blinden bedingungslosen Vertrauens zueinander, der vor gefühlten Jahrhunderten seinen Anfang genommen hat. Du weißt schon, damals in Udine, als du mich Unbekannten, mich Fremden von jenseits der Alpen an deinen Tisch in Paolos Taverne geladen hast, und wir uns mehr mit Händen und Füßen als mit Worten unterhalten haben, so erbärmlich ist mein Italienisch damals gewesen, aber in der Kunst der Handbewegungen spielst du als Italiener sowieso in einer eigenen Klasse.
Sing weiter, Alessandro, stimme nochmals diesen melancholischen Refrain des Lebensglücks an, der so gut zu dem toskanischen Hügel passt, auf dem wir hier sitzen, wir beide ganz alleine, umgeben einzig von stummen Olivenbäumen, die sonderbare Schatten werfen.
Sonderbar auch der Zufall, als ich dich einige Monate später zur erbarmungslosesten Winterzeit in Wien aufgelesen hatte, der Stadt, die du nicht ausstehen kannst, und die du nur besucht hattest, um es mir gleichzutun, im Springen über die Alpen – und das gerade du, der so heimatverwurzelt in seiner udinesischen Ebene ist. Und wie du deinem Ärger über das bitterkalte Wien Luft gemacht hast, im Kaffeehaus nebenan bei unserem vergeblichen Versuch einer Partie Schach, als du ausgezogen bist, deine Bauern gegen ihre eigenen Reihen aufzuhetzen, sie zur Revolution aufzuwiegeln gegen das altersschwache Adelsgeschlecht hinter ihnen mit dem verkalkten König, der hochnäsigen Königin und den anderen zu Kreuze kriechenden Vasallen. Und als sie deinem Ruf des unheilbaren Anarchisten nicht folgen wollten, hast du nach der nächst erreichbaren Zeitung gegriffen und dich trotzig in das Kleingedruckte eines Artikels vertieft, verfasst in einer Sprache, von der du kein Wort verstehst. Keinen einzigen Schachzug haben wir an diesem Tag zustande gebracht.
Ja doch, Alessandro, ich schenke uns noch den Rest der Flasche nach, und die nächste ist ebenfalls bereits offen, aber du mach weiter mit dem Drehen der Kräuterzigarette für uns anstatt so viel zu quatschen. Ja, allen erdenklichen Schabernack werden wir treiben, wir Lausbuben allein unter uns, die ohne Obhut sich selbst überlassen sind, nichts davon werden wir bereuen und schon gar nichts werden wir daraus gelernt haben, am nächsten Morgen.
Es tut mir leid, Alessandro, dass mir über die Lippen gekommen ist, du würdest zu viel reden, gut hat es uns getan, dass wir die Sache mit Filomena zwischen uns aus der Welt schaffen haben können, dass du nicht – wie von mir angenommen – es mir übel genommen hast, dass ich mich damals mit deiner Schwester so tief eingelassen hatte. Sondern im Gegenteil, dass du es ihr zum Vorwurf gemacht hattest, mich so unentrinnbar in den Bann gezogen zu haben, so gefährdet und gefährlich wie sie war, keinem noch so hässlich gähnenden Abgrund abgeneigt. Und dass ich endlich die Gelegenheit habe wahrnehmen können, dir die Wahrheit zu erzählen, was sich auf Staglieno, dem Friedhof von Genua, tatsächlich zugetragen hat, dass ich gezwungen gewesen war, deine Schwester zurückzulassen, Filomena sich nicht mehr von mir finden hatte lassen wollen, am Ende ihres lebensmüden Weges war sie gewesen. Und wie knapp es auch für mich gestanden hatte, für immer dort zu verbleiben, ebenfalls hinter der Kurve in der Straße zu verschwinden, hinter der man nicht mehr gesehen werden kann. Hoch hatte das Schicksal damals mit mir gewürfelt, einem Wunder gleich, dass wir beide, Alessandro, jetzt und hier in einer nachtverträumten Toskana bei zu viel Wein sitzen und uns in die Arme fallen können, nun, da unser letztes Missverständnis aus dem Weg geräumt ist.
Komm schon, Alessandro, ein letztes Lied noch, auch wenn ich bereits so berauscht bin, von all den Dingen, die wir zu uns genommen haben, und besonders von der endlosen Wertschätzung dir gegenüber sowie der hemmungslosen Zuneigung zu dir, denn wahrlich abgrundtief auch unsere Freundschaft, die uns fast aufgezehrt und umgebracht hätte, in der Sehnsucht, der eine im anderen zu sein.
An diese eine sizilianische Klippe kannst du dich bestimmt noch erinnern, Alessandro, zu deiner bleiernen Zeit, in der es dir so schlecht gegangen ist, dir die Seele aus dem Ruder gelaufen ist, und du mich in Fesseln geschlagen und mich unbarmherzig zu treten und zu steinigen begonnen hast, während dir die Tränen unaufhaltsam aus den Augen liefen. Ja, diese schroff überhängende Klippe, das Meer tosend unter ihr, von der du uns beide beinahe in den felsigen Tod gestoßen hättest, in deiner maßlosen Verzweiflung, wäre es mir nicht gelungen, an dein Herz des Italieners zu appellieren: dass ich nicht weit von hier einen Gastwirt kenne, der den besten tonno des gesamten Mittelmeerraums zuzubereiten weiß. Und wie hatten wir diesen Paolo zum Staunen gebracht, als wir blutüberströmt in seine Taverne eingekehrten und aßen wie die Löwen. Überhaupt, ein letztes Geheimnis zwischen uns wirst du mir eines Tages noch lüften müssen: warum alle Gastwirte in deinem Land auf den Namen Paolo hören.
L’alba, der Ausdruck dafür, was als Einziges unser Band zu zerschneiden vermag, das Morgengrauen, das uns aus unserem Zwillingsgefühl reißen, und dessen hartes Licht uns jeweils in die Einzelhaftigkeit entlassen wird. Ach, wie liebe ich dein ansatzloses Auflachen, während ich dir die Doppeldeutigkeit der deutschen Übersetzung erkläre, dieses Lachen, das meine Kamera als letzte Aufnahme zur Unvergesslichkeit dieses Abends stempeln wird – mit einem letzten unvergesslichen Klick.
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18114
Das neue Auge
Sinnlich liegt sie mir in der Hand, und ihre Anschmiegsamkeit wärmt mich bis unter die Haut, auch wenn meine Finger noch nicht die richtigen Stellen blind treffen, ich noch nach ihren Knöpfen taste und linkisch an ihren Rädchen drehe, die meiner neuen Geliebten, der kürzlich erworbenen Kamera — meinem neuen Auge.
Und durch viele Hände bist du gegangen, ich sehe es dir an, gröber als meine, so mancher Kratzer ziert deine Hülle, vergilbt so mancher Aufdruck, und der Staub in deinen Ritzen klebend verrät mir, wie achtlos abgelegt du warst.
Vorbei deine schlimmen Zeiten, durch den Rausch der ersten Verliebtheit taumeln wir beide nun, kein noch so unsäglicher Wirklichkeitsausschnitt ist uns für einen Abdruck zu schade, und am gegenseitigen Kennenlernen und Erforschen können wir uns nicht sattbekommen.
Denn mit jedem Bild, mit jedem gemeinsam verbrachten Erlebnis vertieft sich unser beider Gewissheit, dass uns in Zukunft eine tiefgründige, eine große Liebe verbinden wird …
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 18052
Im Zwiespalt von Kunst und Macht
Palazzo della civiltà italiana – Rom
Eine leichte Brise ist aufgekommen, jetzt, wo die Sonne beginnt, sich hinter den Horizont zu neigen, und ein Frösteln in meinen Fingerspitzen macht mich darauf aufmerksam, wie zeitlos lange ich hier gesessen bin, am Rande der Plattform versunken in Betrachtung dieser Bögen; versunken im Versuch, jeden einzelnen von ihnen zu erfassen, und gleichzeitig sie alle im Gesamten - und wie ich daran gescheitert bin, wirr in Gedanken, hypnotisiert von ihrer Aufragung, einer über dem anderen, in ihrer Anordnung in Reih und Glied, keinem gestattet, sich hervorzutun gegenüber den anderen, um als Blickfang, als Einladung zum Eintritt zu dienen.
Und steif meine Glieder, als ich mich erhebe und anschicke, eine weitere Runde um diesen Kubus zu drehen, der mir von jeder seiner vier Seiten immer das ewig gleiche Gesicht zeigt, kalt und pur; und dennoch, nicht entziehen kann ich mich seinem Bann, auch nicht nach der dritten Runde, magisch zieht mich der Bogenklotz in seine Kreise - schon längst als lästig ignoriert das beständige Vibrieren meines Telefons, belanglos mir mittlerweile die Nachrichten meiner Reisegefährtin, die zu anderen Treffpunkten mahnt, Aufbruchspunkten zu neuen Abenteuern, Petersdom und Engelsburg bei Nacht!
Nein, hier werde ich satt, im Herzen den Rest von Rom bereits zum Abklatsch abgekanzelt.
***
Als ob ich nicht wüsste, wofür dieser unwirkliche Koloss ursprünglich stehen sollte, als Huldigung für eine zukunftsträchtige Ideologie und ihrer jahrtausendalten Berechtigung, deren Untergang sich bereits beim Beginn des Baus abzuzeichnen begonnen hatte und die seine Fertigstellung nicht einmal mehr erleben sollte. Die Ideologie in seiner Menschenverachtung hat die Geschichte mit sich in den Abgrund gerissen, das Kunstwerk in seiner Fragwürdigkeit steht immer noch da; und ich vor ihm, achtzig Jahre später.
Und meine Gedanken wandern zu den Architekten eben diese achtzig Jahre vor mir, die im Sog des italienischen Faschismus diesen Tempel der Selbstbeweihräucherung der italienischen-römischen Zivilisation entwarfen und die sich auch nicht zu schade waren, den Namen von Benito Mussolini in der Anzahl der Bögen zu verewigen - waren auch sie geblendet von der Zukunftsverheißung ihrer Zeit? Oder lag in ihrer Architektur des Razionalismo nicht auch etwas Subversives, etwas über den plumpen Faschismus Hinausgehendes, das es mir gestattet, mich von der Purheit dieses Gebäudes so in seinen Bann ziehen zu lassen?
Allerdings, wie hatte es ein Freund von mir einmal so treffend formuliert: »Wenn es dir vergönnt sein sollte, mit einer Zeitmaschine auch nur hundert Jahre in die Vergangenheit zu reisen, würdest du in jener Welt keine fünf Minuten überleben.«
Und im zweiten Gedankenzug bin ich mir im Klaren, dass ich mich nie zu einer Recherche über die wahre Gedankenwelt der Architekten herablassen werde, nicht einmal, wer sie waren und wie sie hießen, dass mir von der Geschichte an die Macht gespülte Diktatoren und die ganze politische Betroffenheit zum Buckelrutschen ist; mir, achtzig Jahre später, in einer Welt, in der sich all die Ideologien gegenseitig am Zahn der Zeit aufgerieben haben und nur der Kapitalismus als einzige Ideologie uns heimlich und trocken in die Knochen gekrochen ist, ohne sich großartig als solche zu erkennen gegeben zu haben - und dass dieser Palazzo mir den Atem raubt, wie kaum ein anderes Gebäude auf all meinen Reisen zuvor in diesem Jahr.
***
Und dennoch, kommt mir zu Bewusstsein, während ich meinen Blick die Gebäudekante nach oben gleiten lasse, Schönheit ist nicht das Wort, das ihm gerecht wird, und eine Zeitlang ringe ich nach dem richtigen Begriff, bis ich ihn stumm über meine Zunge rollen lassen kann: perfekt.
Und ein Lächeln kommt mir über die Lippen, weil ich ihn getroffen habe, denn wahrlich perfekt ist dieser Bau. Ähnlich perfekt wie vielleicht die Cheopspyramide, schießt mir in den Sinn, kurz nach ihrer Fertigstellung, denn perfekt war ihr Anspruch, perfekt wie es sich für eine Gottheit gehört; und ein Tempel der Perfektion ist auch dies hier, der Glaube und die Sehnsucht nach der Perfektionierung der Menschheit in der Welt der Moderne, der Zukunft - so sehr, wird mir mit einem Mal schmerzlich einsam bewusst, dass ein Gesicht ich dir abringen möchte, und wenn es nur ein Stück Moos in einer Kante ist, das dir entwächst.
Erst mit Hören von Schritten hinter mir merke ich, wie sich meine Gedanken aufgesplittert haben zu zehnt, zu hundert, zu tausend, wie eine Armee, die gegen sich selbst antritt, in all ihrem Gewusel, deren Fäden ich nicht mehr zu ihrem Ende folgen vermag; und dass ich mich erneut erschöpft auf den Stufen niedergelassen habe, trotzdem der Stein sich mittlerweile unangenehm kühl anfühlt.
»Sitzt du noch immer da, vor diesem Klotz?«
Meine Reisegefährtin ist es, die vor mich getreten ist, gekommen, um mich aufzulesen - und ihren Blick kurz und belanglos über die Fassade schweifen lässt.
»Weißt du, was diesem Ort fehlt?«
Dann steckt sie die Hände trotzig in ihre Jacke und beantwortet die Frage an meiner statt.
»Menschen.«
Was mich dazu veranlasst, die Kamera aus der Tasche zu nehmen und sie ins Visier zu nehmen. Und während ich mit dem Sucher ihr Gesicht an mich heranziehe, sind es ihre warm leuchtenden braunen Augen, die mir heute Abend noch pasta, vino, und sofern die Sterne gut stehen, amore verheißen …
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 17190
Von der Last der Farbe befreit
Und manchmal stört es einen, von der Überfülle der nackten Blickeswahrnehmung vor einem überfallen zu werden - gesegnet die Kurzsichtigen, die mit Abnahme der Brille die Welt in eine Verschwommenheit zu tauchen vermögen, um sie klarer, umfassender, einnehmender aufnehmen zu können.
Und ähnlich verhält es sich mit der Farbe, manchmal vermeint man sie aus dem Blickfeld vor einem mit einem Putzlappen wegwischen zu müssen, um im kalten Schwarzweiß an das Dahinter des Gesehenen zu gelangen, an die wahren Formen, Strukturen, an ihr wahres Skelett; und dabei sie herauszuschneiden aus jeglichem Zusammenhang, aus erlebter Zeit und aufgefundenem Ort, aus dem wahrgenommenen Ich.
Auf dass diese Bilder ihren eigenen Bann entfalten, ihren eigenen Ausdruck entfesseln, sich nackt der Betrachtung, der Einwirksamkeit stellen, auf dass in uns Geschichten, Märchen und Erinnerungen sich erzählen zu beginnen - und uns entführen in die Zeitlosigkeit des Augenblicks …
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 17166
Il Mare
Glanzlos liegst du mir zu Füßen,
und vertraulich umspülst du mir mit deinem Zungenschlag die Zehen,
ganz harmlos stellst dich mir dar, als sei dir an nichts anderem gelegen,
als weich gekräuselt einige leichtsinnige Sandkörner aufzuwirbeln.Im Einklang zur abgleitenden Sonne stellst du dich dar,
spiegelst verzerrt ihren Strahlenglanz wider, nahezu unterwürfig,
als sei dir tatsächlich im Grunde etwas daran gelegen,
den windstillen Frieden der Abendrotstimmung teilen zu wollen.Aber abgrundtief hasse ich dich,
mit all meiner Hassenskraft,
für diese eine windumtoste Nacht,
als du so gnadenlos zum Wellenschlag ausgeholt,mir die Segel zerfetzt,
den Mast zerfräst, den Führerstand zerhackt,
mit unersättlicher Gier alles Greifbare in deinen Schlund gerissen hast,
in deine Tiefen abgesaugt, und auf deinem Grund in Ewigkeit vergraben.Und darunter auch mein Schwesterchen,
das pechschwarze Haar zu unschuldigen Zöpfen geflochten,
die Augen angsterfüllt geweitet angesichts deiner Wucht,
und die Puppe Schutz suchend an die Brust geklammert.Und umso mehr bin ich von grenzenlosem Hass zerfressen,
denn nie wolltest du mir ihren zarten Körper wieder preisgeben,
hast mich vergeblich Nacht für Nacht deine Weiten absuchen lassen,
nur ihre Puppe, die hast du mir achtlos an den Strand gespuckt!Mehr als ein halbes Jahrhundert nunmehr vergangen,
ein ganzes Fischerleben darin aufgebraucht,
und nichts als deine sanfte Sandspülung
vermag mir lindernder den Gichtschmerz aus meinen Zehen zu ziehen.Deine erhabene Größe der Formlosigkeit, deine Fassungslosigkeit,
die einem zwischen den Fingern zerrinnt, sobald man sie in Händen hält,
und deine Zeitlosigkeit, an deren Rücken alles zu Bedeutungslosigkeit schmilzt -
nur ich, in meiner Sterblichkeit, konnte nicht vergessen.Denn nichts sei dir verziehen,
wütend halte ich die abgegriffene, verblichene Puppe in Händen,
jetzt, wo ich mit der lächerlich kleinen Jolle in dich ausgefahren bin,
gleich der Nacht wie damals, windumtost und wellenbrecherzersaust;in der Hoffnung, in deinen Schnellen zwischen Skylla und Karybdis zerrieben zu werden,
in deine Abgrundtiefe gesaugt zu werden, dorthin, wo mein Schwesterchen ruht;
aber zum zweiten Mal hast du mich verraten, mich nochmals der Daseinslächerlichkeit preisgegeben,
indem du mich schiffbrüchig am schwarzen Strand des aschewerfenden Stromboli ausgespien hast -verdammt dazu, an meinem eigenen Atem zu ersticken ...
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17098
Sieben an der Zahl
Vorgeschmack
Das Zitat zum Morgenkaffee – unbeirrbar prangt es uns entgegen, in der Zeitung, im sozialen Medium unserer Wahl oder auf dem Kalenderblatt; und plump meist sein Versuch, uns gute Laune abzuringen für einen Tag, den das Schicksal für uns bereits mit dem Erwachen als gescheitert abgekanzelt hat; oder uns moralisch zu besseren Menschen belehren will, uns, deren graue Seelen abzuholen selbst dem Teufel zuwider ist – meist geschrieben von Dichtern und Denkern, die uns schon zu Schulranzenzeiten verhasst waren, und von denen wir nicht einmal Traum daran denken, jemals wieder ein Buch zu öffnen, geschweige ein Wort darin zu lesen.
Und dennoch, es gibt sie, diese Sätze, die uns innehalten, uns im Lesefluss innestocken lassen, deren abgrundtief hintersinniger Schalk uns ein Lächeln auf die Lippen treibt, ein Lächeln, das uns in atemberaubender Geschwindigkeit aus der Tiefe der Seele entgegenspringt, schneller als unser Verstand begreift, dass er diesen Satz verstehen will, und ihn andererseits auch nicht verstehen kann, unfähig, ihn in sein Archiv der tausend Schubladen zu pressen, denn immer wieder wird dieser Satz schräg und frech zwischen all den Karteikarten der Rechteckigkeit hervorlugen.
Sieben an der Zahl, die Sätze, aus der sich diese Collage zusammenstellt – mit völliger Absicht aus jedem Zusammenhang gerissen, in Unformen und Unordnung gebracht, mit Vor- und Nachgeschichtchen umgarnt, mit Sicherheit abseits jeder ursprünglichen Intention des jeweiligen Dichters, will sagen: mit einer kräftigen Prise Dada im Nacken …
EINS – Sich die Zeit genommen, um die Zeit totzuschlagen
Und die Anzahl der Dosen billigen Bieres verrät es, dass die beiden Nachtschwärmer, die vor dem Würstelstand im Nirgendwo einer Wiener Vorstadt gestrandet sind, nichts unversucht lassen werden, auch zu Morgengrauenschwärmern zu werden – denn allen Grund besitzen sie dazu:
"Kum, gemma endlich."
"Kimma net."
"Wiesodn?"
"Wir woatn auf Godot."
"Ah jo!"
– Samuel Beckett: „En attendant Godot“
[‚Komm, gehen wir.‘ – ‚Wir können nicht.‘ – ‚Warum nicht?‘ – ‚Wir warten auf Godot.‘ – ‚Ach ja.‘]
ZWEI – Vor dem eigenen Türhüter in Ungnade gefallen
Und hatte es sich also doch ausgezahlt, dass er in diesem Straßennuttenviertel Roms einige Zeit lang seine Runden gedreht hatte, denn die puttana, die jetzt an dem offenen Seitenfenster seines abgeschabten Fiat Punto lehnte und die er zuvor noch nie wahrgenommen hatte, hatte es ihm angetan, und es waren nicht ihre überbordenden Brüste, die ihr viel zu schmales Top zu sprengen drohten; ihre Stimme war es, die gesenkt zu einem sirenenhaften Flüstern ihn ganz liebestoll werden lassen sollte:
"Ma lei non sa cos'è un uomo medio? È un mostro, un pericoloso delinquente, conformista, colonialista, razzista, schiavista, qualunquista."
– Pier Paolo Pasolini: „La ricotta“
[„Sie wissen wohl nicht, was ein mittelmäßiger Mensch ist? Ein Monster ist er, ein höchst gefährlicher Verbrecher: ein Konformist, Kolonialist, Rassist, Nazist, ein Was-auch-immer-er-ist.“]
Und am nächsten Tag, bei hellem Tageslicht, ist er der Ausgewechselte, adrett im von seiner Frau sorgfältig gebügelten himmelblauen Hemd, und auch seine Krawatte zeigt sich in aller Senkrechtigkeit, während er in der Mittagspause in seiner Stammtrattoria nach dem Menü verlangt, das Liebesspiel der gestrigen, hitzig verschwitzten Nacht längst verdrängt; aber der Satz spukt ihm noch im Geiste um, und so wiederholt er ihn angesichts seines Stammkellners, den er mittlerweile zum Freund wähnt – und der nach kurzem Nachdenken ein verständnisvolles Kopfnicken von sich gibt:
„Sì, sì, signore, allora che prende da bere?“
[„Aber natürlich, mein Herr, und was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“]
DREI – Der Mut zum kurzgefassten Augenblick
Klein-Toni war es, der den begehrtesten Platz für sich hatte erhaschen können, der mit Ellbogen und Haareziehen sich gegenüber all den anderen Kindern auf dem Spielplatz hatte durchsetzen können und nun auf dem Schoß des Mannes sitzen durfte, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Der vielleicht etwas streng roch und auch etwas zu viel schwitzte, in seinem abgeschabten Anzug und der schlecht gebunden Krawatte, aber eine Süßigkeit nach der anderen aus der Tasche zu ziehen wusste, und so manchen Luftballon. Und Geschichten zu erzählen wusste, spannender als all die Kindergartentanten, die wie üblich in einer langgezogenen Kaffee-, Zigaretten- und Tratschpause abhandengekommen waren – und in Bann gezogen hörte Klein-Toni dem fremden, märchenonkelhaften Mann weiter und weiter seiner Geschichte zu:
"Oder wie ein Blinder, der durchbohrende Blicke wirft. Oder wie ein Reiter im vollen Galopp ohne Pferd."
– Alfred Polgar: „Exzentriks“
VIER – Die Hand gestreckt zum Sternengriff
Und schon leicht glasig die Augen des etwas aus der Zeit geworfenen kommunistischen Politfunktionärs, schmutzigglasig wie das Glas billigen Rotweins, das er als Salut an diesem Stammtisch einer speckigen Taverne in einem Arbeiterviertel Roms hebt, umringt von seinen letzten Getreuen, alle bereits in einem Alter, in dem sie Arbeitslosigkeit gegen eine schmale Rente getauscht haben, zu wenig zum Leben und erst recht zu wenig zum Sterben – aber sein glühendes Manifest hebt die Gemüter, lässt den alten Kampfgeist aufleuchten, wenigstens für ein Salute! lang:
"Se vogliamo che tutto rimanga com'è, bisogna che tutto cambi. Mi sono spiegato?"
– Tomasi di Lampedusa: „Il gattopardo“
[„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, wird es notwendig sein, dass alles sich ändert. – habe ich mich klar ausgedrückt?“]
FÜNF – Das Elternhaus zur Autobahnauffahrt geglättet
Und viel Zeit gibt er sich für die Antwort, so viel Zeit, dass es fast schon skandalös wirkt, dieser unberechenbare Künstler, der immer für einen Skandal gut ist, wenn es ihn wieder einmal danach gelüstet, in einer dieser Talkshows aufzutreten, weil er das Geld gut gebrauchen kann. Und den Schweiß unter den Achseln vermeint man dem Talkmaster ansehen, abriechen zu können, den Ausdruck seiner Angst, dass seine wohlbedachte Frage in falsche Antwortbahnen gerät – aber heute hat der ansonsten unberechenbare Künstler einen seiner stillen Tage, wirkt in Nachdenklichkeit versunken, nahezu versöhnlich seine Worte, mit der er die ihm gestellte Frage nicht im Geringsten beantwortet:
"Es wäre ja auch undenkbar, dass aus dem kleinbürgerlichen Provinzloch Linz, das seit Keplers Zeiten ein tatsächlich zum Himmel schreiendes Provinzloch geblieben ist, das eine Oper hat, in der die Leute nicht singen können, ein Schauspiel, in dem die Leute nicht spielen können, Maler, die nicht malen, und Schriftsteller, die nicht schreiben können, auf einmal ein Genie hervorgegangen wäre, als welches doch Stifter allgemein bezeichnet wird."
– Thomas Bernhard: „Alte Meister“
SECHS – Beipackzettel zur Schachtel Aspirin
Es war das letzte von Medeas Kindern, der Jüngste, der mit den besonders vollen Locken und den fein geschwungenen Lippen, dem sie den zuckersüß warmen Gifttrank verabreicht hatte, dessen Kopf sie nun an ihrer Brust wiegte und mit folgendem Nachtlied in seinen ewigen Schlaf sinken lassen sollte:
"La morte è la curva della strada, morire è solo non essere visti."
– Antonio Tabucchi: „Isabel. Una mandala.“
[„Der Tod ist die Kurve in der Straße; zu sterben heißt nichts anderes, als nicht mehr gesehen zu werden.“]
Generalpause – zwei, drei Takte schweigt alles vor sich hin.
Der Flügelschlag einer auffliegenden Taubenhorde ist es, der wieder Töne in die Landschaft der Sinneswahrnehmungen bringt, auf dieser eintönigen Piazza, auf der ein paar abgeschabte Kaffeehaustische stehen – und an einem von diesen sitzen die beiden Idioten, zwischen denen sich folgender völlig sinnentleerte Gedankenaustausch zum obigen Satz entspinnt, während sie mit den Löffeln klirrend den Zucker in ihre Espressotassen einrühren:
„Non più?“
„Non più.“
„Davvero, no?“
„No.“
„Sei sicuro?“
„Stai zitto – deficiente!“
[‚Mehr nicht?‘ – ‚Nicht mehr.‘ – ‚Wirklich nicht?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Bist du dir sicher?‘ – ‚Halt die Klappe, du Trottel!‘]
SIEBEN – Als würde Paris mich interessieren
Und ich sah es ihr an, dass ich sie nicht mehr halten konnte, hier in meinem geliebten Wien, in dieser Stadt, die sie so zu hassen gelernt hatte, in der ihr so viel Abneigung widerfahren war. Ich sah es ihrem Augenglühen an, dass es sie in andere Breiten trieb, zurück nach Barcelona, zurück nach Marseille, oder selbst nach Havanna, alles Städte, in denen sie auch nicht vermocht hatte, jemals heimisch zu werden. Aber einen Stempel wollte ich ihr setzen, in ihrem Gedächtnis, für die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, hier, wo wir uns gegenseitig abgelitten und abgerieben hatten, bis uns die Wunden zum Lecken zu tief geschnitten geworden waren. Und so brachte ich diesen letzten Toast aus, mit dem Glas Champagner in der Hand, mit dem ich gegen ihres stieß, auf unser gegenseitiges Addio. Und dass sie mich verstanden hatte, konnte ich an ihrem gleichzeitigen Weinen der Versöhnlichkeit und dem Aufschluchzen ihres Lachens ausmalen, und an dem letzten feinen Kuss, den sie mir gab – dass sie ihn in all seiner Fülle verstanden hatte, meinen letzten feinen Satz:
"Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913."
– Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“
Ausklang
Genug der Worte, Schluss mit den Worten, müde bin ich ihrer – wohl an der Zeit, sich die Zeit zu gönnen, sich dem Schweigen hinzugeben, beim Morgenspaziergang durch einen ausladenden Park …
Harald Schoder
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www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17095
Wenn die Moka singt
Mag man irgendwo in Italien in einem noch so unterpreisigen, lausigen Bed & Breakfast abgestiegen sein, am Rande einer Vorstadt nahe der Tangente, wo einem der hitzeüberladene Augustwind unaufhörlich den Straßenlärm durch die Ritzen der herabgelassenen Rollläden spült, und beim Rundgang durch die speckige Küche ein Brotmesser vorfinden, das nicht einmal die Butter zu schneiden imstande ist, die man auf besagtes Brot zu streichen beabsichtigt; oder einen Korkenzieher, der angesichts der Flasche Wein, die man beim Greißler unten ums Eck auf seinen wahren Wert heruntergehandelt hat, in seine Bestandteile zerfällt –
Sie aber fehlt nie, die Moka, oder Espressokanne, wie man sie hierzulande etwas sperrig zu nennen pflegt; prominent, nahezu stolz behauptet sie ihren Platz, meist in der linken oberen Ecke einer etwas windschief geratenen Kredenz. Und sei es nur als kleinste Schwester der gesamten Serie, das minimalistische Modell, das gerade einmal zwei Fingerhut Espresso zuzubereiten erlaubt, abgeschabt und angeschwärzt, des Aluminiumglanzes längst verlustig gegangen, braun im Schlund von tausend und einem durchgelassenen Kaffee – aber da steht sie, in einladender Handgriffnähe, bereit zu einem weiteren Einsatz, in all ihrer Unbeirrbarkeit und Unzerstörbarkeit.
Denn genügsam ist sie, verlangt nicht nach Strom, nicht nach Batterien oder Induktion, altmodisch erfüllt sie ihren Dienst auch in freier Wildbahn, selbst im Dunkeln. Nur nach etwas Wasser gelüstet ihr, und selbstverständlich nach frisch gemahlenem Kaffee, und schließlich nach etwas, das ihr eine gehörige Hitze unter dem Hintern bereitet. Und keine sechs, sieben Minuten später beginnt sie ihr Lied zu singen – nicht das nervtötend sirenenhafte Geheul eines ungezogenen Teekessels; ihr entspringen die Töne aus den Tiefen ihrer Eingeweide, gleich dem Jazz-Bass einer Tuba, rotzig im Fauchen und Blubbern.
Dann aber verlangt sie nach ungeteilter Aufmerksamkeit, ungeduldig von der Feuerstelle will sie genommen werden, mit beleidigter Bitterkeit ihres Inhalts droht sie uns ansonsten. Andererseits, gewähren wir ihr diese Gunst, umso dankbarer verströmt sie im Vorab das verführerische Aroma dessen, was wir alsbald zu uns nehmen werden, diese Schale braunen Goldes, mit der wir es uns wieder einmal erlauben, dem Herrgott einige wertvolle Momente seiner unendlichen Zeit stehlen …
Und mögen wir auch in dem unbewussten Glauben verhaftet sein, dass die Moka bereits seit ewigen Zeiten unsere Feuerstellen geziert hat, sie sich schon bei den alten Etruskern als Grabbeigabe allgemeiner Beliebtheit erfreut hat, soll hier nachgetragen werden: Ein Kind des letzten Jahrhunderts ist sie, um genau zu sein, aus dem Jahre 1933 (ein Jahr, das auch in anderer Hinsicht schicksalhaft für die Menschheit sein sollte). Wie auch immer, ans Licht der Welt brachte sie ein gewisser Alfonso Bialetti aus dem Piemont, Inhaber einer Fabrik für Aluminiumteile. Und ihren wahren Siegeszug trat die Moka nach dem Krieg an, als der Sohn Renato Bialetti die Firma übernahm und mit einer geschickten Werbekampagne für ihre Verbreitung sorgte.
Und dass ihm dieses Unterfangen gelang, zeigt eine Umfrage dieser Tage, wonach in 98% der italienischen Haushalte (zumindest!) eine Moka steht – das ist mehr als die Italiener einen Fernseher besitzen oder den legendären Fiat 500. Und selbst die neueste, ebenso der Vergänglichkeit verschriebene Mode, Kaffee so aufzukochen, wie das Grinsen eines George Clooney es einem vorgaukelt (ein Grinsen, das wohl mehr über die Höhe seiner Werbegage aussagt), wird kaum etwas an dieser beeindruckenden Prozentzahl ändern – die mehr als achtzig Jahre Überlebensdauer dieser unverwüstlichen achteckigen Kanne dienen als Beweis:
Es gibt keine beeindruckendere billigere Methode, einen so beeindruckend guten Kaffee zuzubereiten als mit der Moka …
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17094
Auf der Fahrt ins Gleichgewicht
In Erinnerung an die unverwechselbare Silvana Mangano, die folgende Szene die spitzen Finger am Lenkrad mit drei Augenaufschlägen ihres rabenschwarzen Blicks darzustellen gewusst hätte, ohne auch nur ein einzige Silbe ihrer an sich schönen Stimme in Anspruch nehmen zu müssen …
„Heimat?“, hatte er damals meiner Frage als Gegenfrage entgegengesetzt, dann war sein Blick abgewandert, in eine unbestimmte Ferne gerichtet, so wie es immer schon seine Eigenheit gewesen war, wenn er sich bemüßigt gefühlt hatte, eingehender einem Gedanken nachzugehen.
„Heimat – vielleicht ein Ort, an dem Vertrautheit und Neugier zur richtigen Balance finden; oder anders betrachtet, eine Zeitspanne, in der einen weder die Vergangenheit übermannt noch die Sehnsucht mit sich reißt.“
Und mit dem ihm eigenen halben Lächeln hatte er noch hinzugefügt:
„Alles in allem ist Heimat also ein seltener Zustand – manchmal so kurz wie das Kriechen einer Schildkröte, manchmal so lang wie das Heulen eines Saxophons.“
Und dann hatte er sich zu mir herabgebeugt, mir einen letzten, tiefen Kuss gegeben, mich im Nacken gefasst, mit diesem festen Griff im Nacken, der mich wieder einmal schwach in den Knien werden ließ, und schon war er im Zug entschwunden gewesen, in dem Zug, der ihn jenseits nördlich der Alpen bringen sollte, zurück in ein Land, das ich nicht kannte und beim besten Willen auch nicht kennenlernen wollte. Und da stand ich nun, übriggeblieben mir selbst überlassen, allein auf diesem Bahnsteig in Mestre, der Industriekloake vor Venedig, dessen ganze Erbärmlichkeit nun im gleißenden Licht der Morgensonne zu voller Geltung kam, inmitten aufgestaubter Windböen, die leere Plastiksäcke über die Gleise wehten.
Und warum mir diese Episode, dieser Erinnerungsfetzen, so viele Jahre her, gerade jetzt in den Sinn kommt, weiß ich nicht zu sagen, vielleicht, weil mir dieser Straßenabschnitt nicht mehr so viel Konzentration abverlangt, die Mühsal der vielen Kurven über den Apennin endlich hinter mir gelassen habe und ich den Wagen mit leichtem Handgriff am Lenkrad über das schnurgerade Straßenband gleiten lassen kann, durch die unermessliche Weite dieses Tals vor mir. Das also ist die Toskana, und zu meiner Schande muss ich gestehen, so weit in den Süden hat es mich bislang noch nie verschlagen, mich als verwöhnt ignorante, arrogante Mailänderin, oder besser gesagt, viel weiter in den Süden, die Fotosafari in Südafrika zu Beispiel, oder auch der Flugtrip nach Miami, Florida, liegt das überhaupt südlicher, gemessen an den Breitengraden?
Wie auch immer, diese Toskana hier hat mit den Vorurteilen in meinem Kopf nicht viel gemein, mit Chianti schlürfenden deutschen Altpolitikern und englischen Adelssprösslingen, die sich an einem beheizten Pool vor einer in die Neuzeit renovierten Villa räkeln und sich der Abenteuer der letzten Etappe einer Oldtimerrallye brüsten – keine von Zypressen gesäumten Auffahrten neben mir, nur dichtes Unterholz auf den Böschungen dieses Landstrichs, den ich gerade durchfahre, im Nirgendwo südöstlich von Livorno, hier zeigt sich ursprüngliche, ungehobelte Natur, rudimentär die Dinge, die meiner Einschätzung nach dieses Land hier preiszugeben bereit ist: Holz, Wein, Marmor.
Aufregend war es damals ja gewesen, wenn das Aufpiepsen seiner SMS mich aus meinem eintönigen Lebensfluss gerissen hatte, alle Monate lang, in der Art, fahre über Mestre, habe zwei, drei Tage Zeit, und nichts sonst, kein Wort, kein Gruß. Und umso aufregender, geradezu erregend, mir die nötigen Ausreden zusammenzureimen, um mich aus dem Alltag Mailands zu schälen, immer absurder meine Ausflüchte, bis zum Verdacht hatte ich sie ausgereizt, nur um den nächsten Zug nach Mestre zu erhaschen, nur um in dem immer gleichen schäbigen Bahnhofshotel zu landen, mit ihm in diesem durchgewetzten Doppelbett, das wohl schon in den Siebzigerjahren nach Mottenkugeln gestunken hatte.
Sieh an, habe ich doch glatt seinen Namen über die Jahre hinweg vergessen, ihn aus dem Gedächtnis verloren, nur sein Spitzname, mit den ich ihn im Geiste versehen hatte, ist mir noch im Sinn: der Ewig Reisende. Warum er so viel reiste, immer auf Achse war, nicht nur einmal hatte ich ihn danach gefragt, woher kommst du dieses Mal, und auf dem Weg wohin bist du dieses Mal? Und wieder einmal hatte er sich eines dieser langen, nachdenklichen Blicke in die Ferne bedient, bevor er sich endlich zu einer Antwort herabließ:
„Manchmal muss man sich in den hintersten Winkel Siziliens flüchten, um Wien verstehen zu können. Und nach Überwindung all der Beschwerlichkeiten, die Reise nach Venedig, über Rom nach Palermo, bis nach Ragusa auf seinen beiden widersprüchlichen Hügeln, bin ich schließlich in dieser heimeligen Bar zu sitzen gekommen, mit italienischem Jazz im Rücken. Und noch heute könnte ich schwärmen von dem vollmundigen Rotwein, nachgeschenkt von einer sizilianischen Kellnerin, deren Antlitz der liebe Gott persönlich geschnitzt haben muss. Und dort bin ich zu der Einsicht gelangt, dass man sich manchmal bis nach Wien flüchten muss, um wieder zu einem klaren Gedanken zu kommen.“
Noch heute ist mir nach einem Lächeln zumute, ob dieser Ausführung, und unbewusst bin ich vom Gas gegangen, denn verheißungsvoll das Hinweisschild, das mich in die Abzweigung zu einem nahe gelegenen Dorf lockt, nur vier lächerliche Kilometer von hier, gegen eine dampfende Tasse Espresso hätte ich nichts einzuwenden, und eigentlich muss ich auch pissen wie ein Pferd, aber es läuft gerade so glatt, gut voran komme ich auf meiner Fahrt, die kein Ziel kennt, in einem Wagen, der nicht einmal mir gehört, deshalb ein beherzter Tritt aufs Gaspedal, weiter geht es. Heiß und trocken, die toskanische Luft, die mir durch das offene Seitenfenster ins Gesicht bläst und mir das Haar zerzaust, mir einerlei, denn warmes Wohlgefühl weht sie mir in die Seele, und eine makellose Frisur ist das Letzte, woran ich jetzt einen Gedanken zu verschwenden bereit bin, hier kennt mich keiner, dieser rustikale Abschnitt der Toskana hat so gar nichts gemein mit einer Mailänder Flaniermeile.
In unserer Anfangszeit musste es gewesen sein, kurz nachdem uns ein Schnellwaschgang aus Schicksal und Zufall zusammengespült hatte, als ich ihn zu fragen gewagt hatte, aus welchem Land er eigentlich stammte, von nördlich der Alpen, von jenseits dieser in ewiges Eis gehauchten Bergketten, die mir noch heute unüberwindlich wie zu Hannibals Zeiten scheinen. Und nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass er damals einen schlechten Tag gehabt hatte, als er mir von seiner Heimat erzählte, in der es ein paar Jahrzehnte zuvor einem Thomas Bernhard noch vergönnt gewesen war, sie in Grund und Boden zu schimpfen und zu hassen, aber die mittlerweile ohne ihr eigenes Zutun, nur aus einem Glücksfall der Geschichte heraus, als Binnenland der Union, zu Wohlstand und Sattheit gelangt war, zu einer Insel der Seligen, die mit ihrem Glück nichts Besseres anzufangen wusste, als in ihrer eigenen Langeweile zu versinken und zu ersticken, in ihrer Selbstgefälligkeit, verkommen zu einem Operettenstaat, dessen einzige Erlösung darin bestünde, dass Brüssel einen Gouverneur entsenden würde …
Dass ich zwar von Bernhard gehört hatte, aber nie etwas von ihm gelesen hatte, daran dachte ich während seiner Tirade, so bekannt war Bernhard bei uns nicht, und Skandale wussten wir Italiener uns schon selbst ins Fleisch zu schneiden. Und um seinem Wortschwall ein Ende zu setzen, hatte ich ihn mit der Frage unterbrochen: und Mailand? Was hältst du von Mailand, dort bist du doch sicher auch schon einmal gelandet, als Ewig Reisender, oder? Endlich hatte ich ihn zum Innehalten gebracht, aber dieses Mal verzichtete er auf den Fernblick weitschweifender Überlegungen.
„Erinnert mich an München.“
Ich hatte ihm ja gleich gesagt, dass er nicht die Muscheln bestellen hätte sollen, dass die Muscheln um diese Jahreszeit nichts wert waren, wahrscheinlich kamen sie nicht einmal aus der Lagune, sondern schockgefroren aus Fernost, eigentlich kein Wunder, dass er damals einen schlechten Tag gehabt hatte.
Huch, alter Mann, pass doch auf, diese unübersichtliche Kuppe ist wirklich nicht die beste Stelle, um deine Schafe über die Straße zu treiben, aber zugegeben, viel zu schnell bin ich unterwegs, hinreißen habe ich mich lassen vom Rausch der Fahrt. Piano, piano, ja doch, ich habe deine Handbewegung verstanden, und ich gebe dir Recht, beide haben wir alle Zeit der Welt, niemand wartet auf mich jenseits deiner Herde, und auch dich als einsamen Schäfer scheint keiner zu vermissen, nur deine Schafe blöken voller Ungeduld, angesichts der saftigen Weide jenseits der Straße.
Ein Zigarette, brennendes Verlangen nach einer Zigarette überkommt mich, während ich den Herdentrieb jenseits der Windschutzscheibe abwarte, ein Verlangen wie schon seit Jahren nicht mehr, das meine Gedanken abermals in das schäbige Hotelzimmer in Mestre führt.
„Eine gute Zigarette bringt die Zeit zum Tropfen.“
Ja, ich hatte verstanden, was er zum Ausdruck hatte bringen wollen, obwohl ich noch ganz weltentrückt war, so kurz nach dem Rausch des Liebemachens, ich den Kopf in seine Armbeuge gebettet und er den Rauch seiner unvermeidlichen Zigarette in den Raum hauchend. Aber meiner Erfahrung nach hatte ich selbst immer nur dann zu einer Zigarette gegriffen, wenn mich Nervosität oder Langeweile plagte, und deshalb hatte ich damit aufgehört. Und wenn ich ihn so betrachtete, wie er eine Zigarette nach der anderen in sich hineinqualmte, um endlich an eine gute zu gelangen, schien mir der Preis doch zu hoch, vielmehr verstand ich seine Zigaretten nur als brodelnde Oberfläche, dass er innerlich von gehetzten Gedanken verfolgt war, und dass er mich gut an seiner Seite hätte brauchen können, als Ausgleich. Und ernsthaft war ich versucht gewesen, mich in ihn zu verlieben, mit all dem bedingungslosen Wahnsinn einer echtem Verliebtheit, bereit, alles hinter mir liegen und stehen zu lassen und ewig mit ihm zu reisen, aber dafür tropfte uns die Zeit nicht lange genug, keine auch noch so gute Zigarette kann von dieser Länge sein.
Ja, jetzt bin ich mir sicher, das war unser letzter Abend gewesen, bevor ich am Morgen danach den Bahnsteig in Mestre als so besonders erbärmlich empfunden hatte, aber ich weiß nicht mehr zu sagen, wie die Sache zum Stillstand gekommen ist, hatte ich keine SMS mehr von ihm bekommen, dem Ewig Reisenden, oder war mir die Lust vergangen gewesen, auf seine SMS eine Antwort zu geben? Zu lange ist es her, zu viele Jahre, vergessen habe ich auch das, schlichtweg verdrängt.
Wie auch immer, ich schwöre dir, Tomaso, das ist der einzige Mann gewesen, mit dem ich dich jemals betrogen habe, über all unsere Ehejahre hinweg, und dass ich mich nicht einmal mehr seines Namens entsinnen kann, zeigt, dass es nie von Bedeutung gewesen ist, jetzt schon gar keine Bedeutung besitzt, für den Umstand, dass ich mich fern von dir ziellos durch die Toskana treiben lasse, und das schon den zweiten, nein, den dritten Tag lang. Überhaupt, ich kann dir keine tiefgreifende Erklärung geben, denn nichts Außergewöhnliches ist an diesem Abend geschehen, als wir beide uns zum letzten Mal gesehen haben, Tomaso, ein Abend wie so viele zuvor, an denen wir Gäste geladen hatten.
Wie immer hatte sie sich selbst übertroffen, Rosalinda, die gute Seele unseres Haushalts, und wie immer habe ich den Ruhm dafür geerntet, für Rosalindas Braten. Wenigstens das kannst du mir nicht vorwerfen, Tomaso, bis zum dritten, dem wichtigsten Gang, dem Braten, habe ich durchgehalten. Erst beim Dessert hat mich die Kraft endgültig verlassen, als der Diskurs zwischen dir und deinen Architektenfreunden wieder einmal so richtig in Fahrt gekommen ist, wie üblich als Einleitung eine Zeitreise von Vitruv über Palladio bis hinauf zu Zaha Hadid, und hinter all dem intellektuellen Getue habt ihr nichts anderes zu verbergen gewusst als euer sehnlichstes Verlangen, ihnen gleich zu werden in ihrer Unsterblichkeit. Und angesichts eures Gejammers voller Weltschmerzen ist mir einzig ein Satz von Antonio Tabucchi in den Sinn gekommen, dem Schriftsteller, den du, Tomaso, immer nur als sentimental abgetan hast:
„Der Tod ist die Kurve in der Straße; sterben heißt nichts anderes, als nicht mehr gesehen werden.“
Alles andere als sentimental dieses Zitat, sentimental seid nur ihr im Glanz eurer vom Wein glasigen Augen und rot aufgedunsenen Gesichter gewesen, und genau in diese hätte ich diesen Satz schleudern sollen, auf dass euch die Münder offen stehen bleiben, dann wäre es nicht so weit gekommen, Tomaso. Aber zu nichts dergleichen habe ich mich hinreißen lassen, nur aufgestanden bin ich mit der Entschuldigung, mich frisch machen zu wollen. Aber selbst dazu ist mir die Lust vergangen gewesen, oder besser gesagt, eine andere Art von Frische habe ich gesucht, auf der Veranda bin ich zu stehen gekommen, um tief Atem zu holen. Und auch dafür kann ich dir keinen Grund nennen, dass es mich anschließend von der Veranda auf den Parkplatz vor unserer Villa getrieben hat, und schon gar nicht kann ich dir erklären, warum es mich nicht zu dem spritzig witzigen Mini Cooper gezogen hat, den du mir zum letzten Geburtstag geschenkt hast, Tomaso, sondern ich mich in Rosalindas alten Fiat Tipo aus den Neunzigern gesetzt habe.
Und wie üblich hatte Rosalinda den Schlüssel im Schloss stecken, den Motor habe ich angelassen, vielleicht, weil es mir zu still geworden ist, den ersten Gang habe ich eingelegt, vielleicht aus eingelernter Gewohnheit heraus, und losgefahren bin ich. Und gefahren und gefahren bin ich, anfangs getrieben von der Angst, dass die Telleraugen deines Porsche Cayenne in meinem Rückspiegel auftauchen könnten, hindurch durch Mailand, hinaus aus Mailand, immer weiter gegen Süden, und noch immer fahre ich zu, nur zum Unterschied, dass die Angst einer mir unerklärlichen Lust gewichen ist.
Einzig um Arturo tut es mir leid, und die Unkenrufe über mich als Rabenmutter kann ich von Mailand bis hierher hören, aber jetzt mit seinen vierzehn Jahren ist er mir schon längst entwachsen, vorbei die Zeiten, als ich ihn in die Arme genommen und sein aufgeschlagenes Knie mit einem tröstenden Pflaster versorgt habe. Jetzt sieht er mich mit pupillengeweiteten Augen an, wenn ich ihn beim Computerspielen störe, vorwurfsvoll, ihn beim Erlegen eines Monsters unterbrochen zu haben, nur weil ich ihn zu so etwas Irdischem wie Mittagessen rufe. Und deshalb, Tomaso, deine Vaterpflichten sind jetzt gefragt, das erste Jahrzehnt war ich an der Reihe, aber das nächste bist du dran, und ich zweifle nicht daran, dass es dir auf deine Art und Weise gelingen wird, so sehr wie Arturo nach dir geraten ist, ganz die Gene seines Vaters, ihm in der Blindheit gleich, die Grenzen seiner Möglichkeiten einzusehen.
Wie hat der Ewig Reisende doch so blumig den Begriff Heimat beschrieben, als etwas aus Gleichgewicht von Zeit und Ort, und zu so einer Art von Heimat ist mir mittlerweile diese Kiste Blech geworden, in der ich sitze, dieser Fiat Tipo aus einem vergessenen Jahrhundert. Und ebenso die vergessene Art der Orientierung, eine aufgeschlagene Straßenkarte auf dem Beifahrersitz, selbst die urtümliche Form von Klimaanlage habe ich mittlerweile zu schätzen gelernt, nicht mehr als ein Schiebedach mit Handkurbel. Aber besonders ins Herz geschlossen habe ich das antike Autoradio, das sich mit etwas ebenfalls Vergessenem wie Audio-Kassetten speisen lässt, und solche habe ich auch gefunden, im Handschuhfach, Paolo Conte aus den Achtzigern, ich hätte nie gedacht, dass du solche Musik hörst, Rosalinda, du und Jazz, ich habe dich wohl unterschätzt, schon allein deshalb kannst du gerne meinen Mini Cooper haben.
Und um nochmals auf Tabucchi zurückzukommen, Tomaso, mach dir keine Hoffnungen, ich werde mich nicht um den Baum in der nächsten Kurve wickeln. Das hättest du wohl gern, dann wärest du all deiner Sorgen enthoben und dein Gesicht gewahrt, aber viel zu gut habe ich inzwischen die sperrige Lenkung und die lausigen Bremsen im Griff. Andererseits, dass du mir die Kreditkarte bislang nicht gesperrt hast, derer ich mich nach wie vor üppig bediene, beweist mir deine Zuversicht, mich doch noch zur Vernunft zu bringen. Denn ich weiß, eines Tages wirst du mich aufspüren, Tomaso, auf deine Hartnäckigkeit ist immer schon Verlass gewesen. Aber die einzige Art und Weise, auf die du mich jemals wirst zurückholen können, ist in einem Sarg – zurück in deine Heimat!
Harald Schoder
derewigreisende.net
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