Verdammt, Paolo, du weißt doch ganz genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du mir wildfremde Leute an den Tisch setzt, selbst wenn deine Taverne gerammelt voll ist, du sogar schon ein paar Stühle von drinnen hier auf der Terrasse aufstellen hast müssen. Ja, ich weiß, Kinder sind nicht billig, besonders deine, die ja unbedingt in dem teuren Rom vor sich hinstudieren müssen, aber inzwischen solltest du deinen treuen Stammgast kennen, der dich seit ein paar Wochen Tag für Tag beehrt, solltest du wissen, was ich von ungebetener Tischgesellschaft halte, überhaupt von diesen Touristen, die einem den Abend lang die Ohren vollschwärmen, wie schön der Ausblick von deiner Terrasse doch ist, wie edel sich der Sonnenuntergang hier über den Horizont neigt, wie erhaben überhaupt das ganze Italien bis zur untersten Stiefelspitze. Andererseits, alles sei dir verziehen, Paolo, nach diesem unübertrefflichen Wildragout, mit dem du mich heute verwöhnt hast, dessen Nachgeschmack meinen Gaumen noch den ganzen Abend verzücken wird, und damit sei dir auch das Häuflein Elend verziehen, das mir nun gegenübersitzt und mir die verdiente Aussicht über die tausend Hügel der Toskana versperrt.
Nicht einmal zu einem anständigen Gruß ist sie imstande gewesen, oder zu Dank für den Platz an meinem Tisch, und auch jetzt verliert sich ihr Blick an der Unterkante des Tisches, in Gedanken versunken an irgendetwas Zerbrochenes. Und passend zum ersten Eindruck zerknittert ihr Sommerkleid, als hätte sie die letzte Nacht in einem Auto zugebracht, oder in Paolos Scheune, und zerdrückt auch ihr schon länger nicht mehr gepflegtes Haar. Aber dennoch eindrucksvoll diese Mähne, das Feuerrot, das ihr in ungebändigten Naturlocken ins Gesicht fällt, und welch ein Kontrast dazu ihre porzellanbleiche, ja nahezu wasserleichenhafte Haut, gut sichtbar das Netz der blauen Venen auf der Innenseite ihrer Arme; Haut, die sich nicht mit den Breiten hier verträgt, auf der sich die toskanische Sonne unbarmherzig in Form zahlloser rotbrauner Sommersprossen ausgetobt hat. Und als wäre all den Kontrasten nicht schon Genüge getan, fängt das Abendlicht sich in ihren stahlgrünen Augen, bündelt sich im leuchtenden Widerschein darin.
Woher sie wohl kommen mochte? Immer weiter fährt mein Finger die geistige Landkarte hoch, immer weiter gegen Norden, über die Alpen hinweg, über den Ärmelkanal hinweg, und erst als es mir ausreichend feucht wird, hält er inne: Schottland, Hebriden, Irland, ja, auf einer windumtosten, regengepeitschten Insel, dort, wo die Sonne nicht so recht scheinen will, dort sehe ich die Blasshäutige zu Hause. Ist wohl dem Ruf eines glutäugigen Italieners in den Süden gefolgt, diese Irin, und nun von ihm sitzen gelassen, auf einem namenlosen Hügel der Toskana, er ihrer überdrüssig, nachdem er sich nun auch einer rothaarigen Trophäe brüsten kann. Wie alt sie in ihrer Gutgläubigkeit wohl sein mochte? Geschätzte neunundzwanzig seit drei, vier überfälligen Jahren, auch wenn die vorwitzigen Sommersprossen ihr einen Hauch unbedarfter Jugendlichkeit zurückzugeben vermögen.
Zu einem Excuse me? setze ich an, der Höflichkeit halber, aber da überrascht sie mich, als sie wie ein sizilianischer Ziegenhirte murmelnd vor sich hin flucht, während sie in ihrer Tasche kramt, einer dieser unförmigen Taschen, weitläufiger und unergründlicher als der Wilde Westen. Und um sich die Suche zu erleichtern, stellt sie ungeniert eine Schachtel Tampons auf den Tisch, und danach eine Dose, die ich erst auf den zweiten Blick als Pfefferspray ausmache, und weiter flucht sie und kramt sie und flucht sie. Hier, Mädchen, nimm eine von meinen, weiß ich doch deine fahrigen Bewegungen zu deuten als jemand, der auch nicht die Finger von den Zigaretten lassen kann.
Tatsächlich, fließendes Italienisch in deinen verlegenen Dankesworten, wie nur ein Einheimischer es zu sprechen vermag, und manchmal rutscht dir ein sizilianischer Unterton dazwischen, auch wenn du ihn zu unterdrücken versuchst. Und kurz schießt dir verlegene Röte ins blasse Gesicht, als du mich noch um Feuer bittest – Maler müsste man sein, das perfekte Rot ließe sich in deinem Antlitz finden, in der spektralen Palette rotblonder Haarlocken, rotbrauner Sommersprossen und dem rötlichen Violett auf deinen Backen; und zu allem Überfluss im Hintergrund noch der Abendrotkitsch der untergehenden toskanischen Sonne.
Keine Sorge, du brauchst gar keine so ablehnend missmutige Miene zu ziehen, keine dummen Fragen werde ich dir stellen, schon gar nicht diese eine, die dir wahrscheinlich jeder stellt, der dich kennenlernt, nein, meine eigene Geschichte reime ich mir im Zusammenhang mit dir zusammen: Operation Husky, die Landung der Alliierten in Sizilien, und im Gefolge des unverwüstlichen Generals George Patton auf seinem unverwüstlichen Panzer auch der gutaussehende amerikanische GI mit irischen Wurzeln, mit den roten wuscheligen Locken und dem lebenslustigen Blitzen in seinen stahlgrünen Augen. Keine Dorfschönheit hat ihm widerstehen können, deinem Großvater, dem schönsten GI von Palermo bis Texas, und weidlich wusste er dies auszunutzen, von einem eroberten Dorf zum anderen, den halben italienischen Stiefel hinauf bis vor die Tore Roms: seine persönliche Rache an Mussolini und anderen Rassenwahnvorstellungen, und beeindruckend in ihrer Nachhaltigkeit, diese Rache, wenn selbst in dritter Generation es dir noch auferlegt ist, sie auszutragen.
Wie bitte, mit welchem Namen hast du dich gerade vorgestellt? Besonders rauschend wohl das Fest, auf dem deine Eltern ausgeglitten sind, als sie sich auf diesen Namen verschworen haben, wo mag das gewesen sein, Woodstock, oder noch abgefahrener, Burning Man? Jedenfalls als ein erlesenes Vergnügen stelle ich es mir vor, Boudicca, benannt zu sein nach einer keltischen Kriegerfürstin, die sich zweitausend Jahre zuvor so verwegen, so todesmutig und so vollkommen aussichtslos den Römern in den Weg gestellt hat, schlussendlich von ihnen zu Tode getrampelt. Ja, wenn du als junges Mädchen mit diesem Aussehen, dieser Herkunft und diesem Namen einen sizilianischen Schulhof überlebt hast, dann hast du deiner Namensvetterin alle Ehre gemacht, dann musst du ganz schön hart im Nehmen sein.
Paolo, ich habe dir Unrecht getan, der Abend beginnt unterhaltsamer zu werden als anfangs gedacht, und verzeih mir, denn du hast natürlich gewusst, dass dieses rotlockige Geschöpf meine Neugier wecken und mich den Ausblick auf die tausend Hügel der Toskana vergessen lassen würde. Und jetzt, wo du dieser zerknitterten sizilianischen Irin namens Boudicca einen Berg dampfender Pasta vor den Mund stellst, und ein Glas Weißwein dazu, ohne dass sie einen Blick in die Speisekarte geworfen oder eine Bestellung aufgegeben hätte, werde ich noch neugieriger, denn dazu kenne auch ich dich zu gut, Paolo, an die Saiten deiner Gutherzigkeit rührt diese Frau. Und wie sie die Pasta heißhungrig in sich hineinschaufelt, beweist, wie sehr sie dies zu schätzen weiß, und wie der Wein ihr die Zunge löst und sie sich alles von Seele schnattert, zeigt mir, Paolo, dass auch du auf meine Gutherzigkeit zählst, auf die Gutherzigkeit meiner Ohren.
Für das Feuilleton einer namhaften Mailänder Zeitung schreibst du also, Boudicca, und das Funkeln in deinen grünen Augen verrät mir, wie stolz du darauf bist, den steinigen Weg geschafft zu haben von einem sizilianischen Provinzblatt in das arrogante Mailand. Und noch mehr abenteuerlustiges Grün blitzt dir aus deinen Augen, als du erzählst, dass du gerade dabei bist, den großen Coup zu landen, das große Interview mit einem großen Schriftsteller, der allerdings auch darin groß ist, sich allen Interviews zu verweigern, ja, von dem man nicht einmal weiß, wo er sich seit dem letzten Jahrhundert herumgetrieben hat, von zeitgemäßen Fotos ganz zu schweigen. Und so verworren du mir auch alles erzählst, verstehe ich sie jetzt, die ganze Geschichte, die dich hierher verschlagen hat, als Ausgangspunkt dein Status als freie Mitarbeiterin bei dieser Mailänder Zeitung, von Artikel zu Artikel mit ein paar Euro abgespeist, zu wenig zum Leben und erst recht zu wenig zum Sterben.
Und dann der Tipp, aufgeschnappt vom Freund einer Freundin des Halbbruders einer Cousine, dass dieser geheimnisvolle Schriftsteller hier in der Gegend, hier in der schönen Toskana seine Zelte aufgeschlagen haben soll. Und da bist du in dein altersschwaches Auto gesprungen, Boudicca, und bist den weiten Weg bis hierher gefahren, aufs Geratewohl, mit nicht mehr als ein paar Hundertern in der Tasche, Vorschuss vom Chefredakteur deiner Zeitung, Almosen, die kaum für das Benzin gereicht haben. Zu groß ist die Verlockung gewesen, denn wenn du diesem großen Schriftsteller tatsächlich ein Interview abschwatzen könntest, würdest du den Paradiesvogel deiner innigsten Wunschträume abschießen, der da heißt: Festanstellung.
Tja, ist wohl nicht so glatt gelaufen wie erhofft, Boudicca, wenn ich mir dich so anschaue, hat wohl deine rostgeplagte Karre auf halbem Weg den Dienst versagt, hast du dich mit dem Daumen hoch am Straßenrand durchschlagen müssen, und das Geld ist inzwischen auch schon aufgebraucht, bist wohl froh, wenn die Bäckerin im Dorf dir mit mitleidigem Blick ein paar Brötchen zusteckt oder Paolo dir eben mit einem Teller Pasta aushilft. Und die letzte Nacht hast du wahrscheinlich in der Laube im Park über die Runden gebracht, noch ist das möglich, noch sind die toskanischen Nächte mild genug. Dennoch, von dem Schriftsteller nach wie vor keine Spur, keiner kennt ihn, einige wenige wollen ihn vor Jahren zwar gesehen haben, aber alles nur falsche Fährten, nichts als trügerische Sackgassen.
Und, wer ist denn nun dein auserwählter Schriftsteller, scheu wie ein Reh? Lachen muss ich, als ich den Namen des Gesuchten höre, tut mir leid, Boudicca, aber vielleicht hättest du für den Anfang einen leichter aufzustöbernden Künstler wählen sollen, Thomas Pynchon, zum Beispiel, oder vielleicht Banksy. Ist deiner nicht schon lange tot? Jedenfalls habe ich schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, geschweige etwas Neues gelesen. Bitte fang jetzt nicht zu weinen an, Boudicca, vom anderen Tisch sehen sie mich schon so merkwürdig an. Ein Bild geben wir ab, als würde ich meiner etwas einfältigen Geliebten erklären, dass nun doch nichts aus der Scheidung wird: Die Kinder, das musst du verstehen, und das Haus gehört auch meiner Frau, ich weiß nicht, wie ich mir das alles leisten soll.
Lächle, Boudicca, ja, lächle wieder, und nimm es dir nicht so zu Herzen. Warum erfindest du es nicht einfach, dein großes interview, erzählen einem doch eh immer das Gleiche, diese Schriftsteller, von der großen Herausforderung gerade bei ihrem letzten Wurf, gleich Fußballern sind sie, aufgeregt und noch nicht zu Atem gekommen nach dem Spiel ihres Lebens. Aber verschwiegen darin, was ihnen die Schreiberei tatsächlich abverlangt, anfangs mag sie ja noch Vergnügen bereiten, aber dann entwickelt sie sich zur Qual, und zum Schluss artet sie nur in noch Schlimmeres aus, nämlich Arbeit. Und noch etwas, weil ich gerade so schön in Fahrt bin, hüte dich vor dem Nachlass, Boudicca. Alles, was nie zu einer Veröffentlichung getaugt hat und dem Künstler zu Lebzeiten nicht zu verbrennen vergönnt war, das findest du in einem Nachlass. Nichts als alte Skier im Keller, so ein Nachlass.
Jetzt habe ich dich also doch zum Lachen gebracht, Boudicca, und ein anerkennendes Nicken von Paolo habe ich mir damit verdient. Nein, Paolo, damit allein gebe ich mich nicht zufrieden, eine neue Flasche Wein stellst du uns auf den Tisch, ja, ja, du hast meine Handbewegung schon richtig verstanden. Und morgen werde ich es bereuen, dass ich zu schnell zu viel getrunken habe, aber du langst ja auch ganz schön zu, Boudicca, erweist deiner keltischen Herkunft als Kriegerfürstin alle Ehre, hier, nimm noch eine von meinen Zigaretten. Auf den Leim beginne ich dir zu gehen, und auch das werde ich bereuen, aber zugegeben, du spielst dich mit Geschick: einerseits deine kecke, vorlaute Art, andererseits etwas von treuherzigem Kindchenschema, wenn dir wieder die Röte in die Wangen schießt, so wie eben. Aber besonders bereuen werde ich, was mir jetzt über die Lippen kommt:
Überredet, liebe Boudicca, morgen machen wir uns mit meinem Wagen gemeinsam auf die Suche nach deinem Schriftsteller, wir werden ihn schon finden, irgendwo in den tausend Hügeln der Toskana – oder vielleicht einen Hügel mehr, nämlich den, auf dem sein Grabstein steht.
Harald Schoder
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