Kategorie-Archiv: Harald Schoder

image_print

Wahrheit auf Zeit

Und schon im ersten Halbsatz gelogen, mein teurer Tschuschnigg, wenn du mir versicherst, dass es nicht in deinem Interesse ist, denn wenn du mir das mit aller Hartnäckigkeit versichern musst, liegt es ganz und gar in deinem Interesse, an meinen Geldbeutel willst du mir gehen, eine Unterschrift willst du mir abschwatzen, nichts anderes als ein falscher Bibelverkäufer bist du also, eine Bibel mit leeren Seiten versuchst du in mir an den Mann zu bringen, auch wenn ich der Bibel nicht allzu viel abgewinnen kann, das humorloseste Buch, das seit Menschengedenken geschrieben worden ist.

„Nein, ich habe keine Zigarette mehr für dich übrig.“

Nein, Tschuschnigg, du fauler Hund, du kannst ruhig kurz hinaus zu deinem Auto gehen, um dir deine Zigaretten aus dem Handschuhfach zu holen, wo du sie vergessen haben willst, auch wenn ich mir sicher bin, dass du gar keine Zigaretten im Auto liegen hast, und mehr noch, langsam kommen mir die Zweifel, ob du überhaupt ein Auto besitzt.

Und warum mir gerade jetzt diese Episode einer nervensägenden Kaffeehausbekanntschaft in den Sinn kommt, weiß ich nicht zu sagen, wo ich doch einer Lügnerin viel größeren Formats gegenübersitze, hier und jetzt in Ragusa auf seinen beiden widersprüchlichen Hügeln, in dieser Bar getaucht in Jazz, mit einer Theke so lange wie die Einsamkeit, und mir gegenüber diese sizilianische Kellnerin, deren Antlitz der liebe Gott persönlich geschnitzt haben muss. Und mit jedem Glas des vollmundigen Weins, das ich nachfordere, wage ich ihr eine Frage zu stellen, und jedes Mal, wenn sie mir nachschenkt, erwidert sie mir mit der immer gleichen rabenhaften Antwort: magari domani, morgen vielleicht. Morgen, so Gott will, inschallah, und dass Gott morgen sicher nicht will, soweit habe ich sie mittlerweile schon verstanden, und deshalb werden sie mir immer kleiner, die Fragen, bis hin zu meiner letzten:

„Verrätst du mir wenigstens, wie du heißt?“

„Morgen vielleicht.“

Wohltuend jedes Schaudern, wenn du mich anlügst, Magaridomani, immer größer wird das Vergnügen und du mit jeder Lüge schöner, vor lauter Unwirklichkeit deiner Schönheit beginnst du bereits zu flimmern, wie eine Gestalt in einem expressionistischen Stummfilm aus den Zwanzigerjahren.

Vorbei der Spuk von fernen Inseln, vorbei der Spuk einer Erinnerung an eine Begebenheit, die so wahrscheinlich nie stattgefunden hat, nur das Weinglas in meiner Hand scheint mir das gleiche zu sein, ein Glas Wein, von dem ich weiß, dass es besser mein letztes für diesen Abend sein sollte. An einer Brüstung finde ich mich lehnen, und unter mir erstreckt sich der Innenhof des Wiener Museumsquartiers, bunt das Treiben zu meinen Füßen, Pärchen, die Arm in Arm in der Blase ihrer Verliebtheit flanieren, Kinder, die sich in die satte Erschöpfung der Nacht tollen, Studenten, die vertieft in Bier, Zigaretten und endlose Diskussionen sich auf den Bänken räkeln, eine Erscheinung wie aus einem Sommernachtstraum.

Überrascht bin ich von dir, mein Wien, vielleicht sind doch mehr Jahre vergangen als gedacht, seit ich dir den Rücken gekehrt habe, aber so kenne ich dich gar nicht, eine ungekannte Stimmung strahlst du aus, ein Gefühl, das ich immer schmerzlich an dir vermisst habe, denn gütig scheinst du auf sie herabzublicken, auf die Kinder, die so unbedarft in deinem Schoß spielen. Ganz anders habe ich dich in Erinnerung, die zurückreicht an das Ende des letzten, längst vergessenen Jahrhunderts, als du dich noch in Schwarz auf Grau wie aus dem „Dritten Mann“ geschnitten gezeigt hast, als du mir das schauerliche Gefühl über den Rücken gejagt hast, dass sich in deinen Mauern das Leben anschickt, sich diejenigen zu holen, für die bislang nicht einmal der Tod Interesse gezeigt hat.

Und wenn ich dich jetzt so betrachte, mein Wien, in deinem Bemühen, dich aus deinem hundertjährigen Dornröschenschlaf zu schälen, bin ich versucht, mich dir doch noch einmal anzuvertrauen, ein paar Wochen, vielleicht sogar ein paar Monate in dir zu verweilen, aber versprochen, mit Argusaugen werde ich dich dann in jedem Winkel und in jeder Bewegung beobachten, argwöhnisch und misstrauisch, ob du mir nicht doch nur ein potemkinsches Dorf vorgaukelst – und keine Sorge, früher oder später werde ich dir auf die Schliche kommen, denn das habe ich auf meinen langen Reisen gelernt, eine Lüge ist nicht mehr als eine Wahrheit auf Zeit.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16085

Die Physik der Liebe

Es gibt ja wohl nichts Peinlicheres, als von der eigenen Katze verlacht zu werden, dachte ich mir, als ich nach dem Öffnen der Kiste nichts Besseres vorzuweisen hatte als eine weitere Kiste. Mit einem missmutigen Blick bedachte ich die Katze, auf dass sie sich trollte, was sie natürlich nicht tat, sondern zuerst daran schnupperte, an der Kiste in der Kiste, um schließlich mit den Krallen einige unschöne Kratzer an ihr zu hinterlassen. Erst dann trollte sie sich.

Und insgeheim musste ich meiner Katze Recht geben, zum Lachen war die Sache mit der Kiste, das Geschenk zu meiner Volljährigkeit von Onkel Zacharias aus Amerika, der wahrscheinlich nicht einmal Zacharias hieß, und außerdem hatte ich so meine Zweifel, ob er überhaupt mein Onkel war. Was die Familiensaga betraf, kreiste die schöne Legende, dass er mir als Stöpsel von vier Jahren einmal durchs Haar gestrichen und mich daraufhin zu seinem Lieblingsneffen erklärt hatte. Aber vielleicht war Onkel Zacharias auch nicht mehr als der Clown auf meinem Geburtstagsfest gewesen, eingekauft, um uns Kinder mit seinen Sachen zum Staunen und zum Lachen zu bringen.

Nun, das mit Amerika mochte stimmen, wenn ich jetzt all die unzähligen kalifornischen Briefmarken auf der Außenseite der äußeren Kiste betrachtete, dass der Onkel Zacharias sich bis nach Amerika hatte flüchten müssen, das schwärzeste aller schwarzen Schafe in unserer Familie. Und davon gab es beim besten Willen genug, wenn man beispielsweise an Großvater Emil dachte, der Isaac Newton widerlegt hatte und daraufhin in die Schwerelosigkeit entschwunden war. Oder an die bigotte Tante Luise, die auf dem Weg zur täglichen Frühmesse vom Rand der Erdenscheibe gefallen war, zum Lachen peinlich die beiden, aber das tat jetzt nichts zur Sache.

Um Onkel Zacharias ging es, dessen Kiste in der Kiste ich im ersten Augenblick nicht zu öffnen wagte, denn dass sich darin noch eine weitere Kiste befände, so billig würdest du es dir nicht geben, lieber Onkel, einen böseren Scherz als ein unendliches Matrjoschka-Spielchen würdest du dir für mich ausgedacht haben. Denn als den größten aller Gaukler hatte die Sippe dich immer schon gebrandmarkt, wenn sie es ausnahmsweise einmal nicht vorgezogen hatte, dich ganz zu verschweigen. Wüst schon die erste Legende von deinen Gaukeleien aus deiner Jugend, als du dich dem fahrenden Volk angeschlossen haben sollst, den Zigeunern, und dich angeblich als Wahrsager versucht hast. Blutjungen, leichtgläubigen Frauen sollst du aus der Glaskugel gelesen haben, was sie nicht für kluge, schöne und gesunde Kinder zur Welt bringen würden, nur um sie danach im hinteren Teil der Bude zu verführen und zu schwängern. Schlimme Sachen sollst du angestellt haben, nicht zum Lachen und wahrlich Grund genug, dich ins ferne Amerika aus dem Staub zu machen.

Jetzt war ich froh, keine mich verlachende Katze um mich zu haben, denn Onkel Zacharias‘ nächster böser Scherz schien zu heißen, dass sich die Kiste in der Kiste einfach nicht öffnen ließ, nicht mit Zähnen oder Klauen oder Brechstange. Andererseits vollkommen unmöglich, dass mein Onkel nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als mir einen formvollendeten Kubus schenken zu wollen, gerade er, dem nachgesagt wurde, dass er den rechten Winkel für die entmutigendste und entwürdigendste Errungenschaft der Menschheit hielt, humorlos wie die Erbsünde. Hunger müsste sie eigentlich haben, die mir zugelaufene, namenlose Katze, denn auch ich bekam langsam Hunger, je länger ich mich mit dem Kubus herumärgerte. Die allerletzte Sardinenbüchse war ich bereit mit der Katze zu teilen, aber nirgends schien sie aufzutreiben zu sein, und so schweiften meine Gedanken wieder ab, auf den Spuren der Abenteuer des Onkel Zacharias.

Unbegrenzt wolltest du sein in deinen Möglichkeiten, und dafür ist Amerika genau das richtige Land gewesen, weit genug und naiv genug für deine Gaukeleien, und zügellos ausgetobt sollst du dich ja haben, wenn ich dem Glauben schenken darf, was ich so im Fernsehen gesehen habe. Angefangen mit dem Riesenaffen, der dir schon bei deiner Ankunft auf Ellis Island aus dem Rucksack gesprungen ist, den du auf der Spitze des Empire State Building tanzen und nach Flugzeugen grapschen hast lassen, da kann ich nicht mithalten, mit einer einfachen Katze. Aber wie du das mit der Mondlandung hinbekommen hast, den Amerikanern die Gesetze der Raumzeit vorgegaukelt hast, wird mir für ewig ein Rätsel bleiben, nur bei der im Wind wehenden Flagge auf der Mondoberfläche hast du etwas geschlampt. Und dann als Krönung die Sache mit der Mojave-Wüste, die vor deiner Ankunft ein blühendes Tal gewesen sein soll, bevor du deine größte Gaukelei gezündet hast, die Lachende Atombombe. Weit hast du es gebracht, so weit, dass du sogar Pate gestanden haben sollst für die übermannshohe Puppe, die sie jedes Jahr beim Burning Man Festival verbrennen – gib’s ruhig zu, du bist auch noch stolz darauf!

Die Physik der Liebe, davon hatte das teutonische rothaarige Mädchen mit den vorwitzigen Sommersprossen gesprochen, und dass ich keine Ahnung davon hätte, hatte sie noch gehässig hinzugefügt, um mich dann für immer zu verlassen, keine drei Stunden und vierzehn Minuten war das her. Die Physik der Liebe, wie hatte das aus ihrem Mund geklungen, nach in sich verhakten Atomen wie aus einem Bausatz Legosteine, und dessen nicht genug, mit Kleister verstärkt,  anschließend vernietet und verschraubt, sicher wie die Titanic, so hatte sie geschmeckt, die Physik der Liebe auf den spitzen Lippen dieses Rotschopfs. Du verstehst, wovon ich spreche, geliebter Onkel, und wohl als Einziger unserer weitläufigen Sippe. Also, etwas Aufheiterung könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen!

Meine Gedankenverlorenheit musste es gewesen sein, die meine Finger an die richtigen Stellen des Kubus des Onkel Zacharias hatte gleiten lassen, denn auf einmal schnappte der Deckel auf, wie bei einer richtigen Kiste, und darin saß die Katze. Mit einem bösen, giftig grünen Blick bedachte sie mich, und mit einem beleidigten Fauchen, dann war sie mit einem Satz aus der Kiste und trollte sich mit eingezogenem Schwanz unter das Bett.

Schön hast du mich zum Narren gehalten, Onkel, einen Daseinssprung hast du mir also geschenkt, den Quantensprung einer Katze, die von nun an den Namen Schrödinger weghaben wird. Wirklich toll, deine Gaukelei, geschätzter Onkel, nicht mehr als ein Witz also die ganze Sache, selten so gelacht!

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16084

 

 

Hotel Polissja

„Vielleicht inzwischen doch ein bisschen veraltet, dein Reiseführer.“
„Nun ja, die Preise werden wohl nicht mehr stimmen, aber ansonsten, was soll sich schon groß geändert haben?“

Und unbekümmert blätterte mein Vater weiter in dem abgegriffenen Büchlein mit den kyrillischen Buchstaben und den grobkörnigen Fotos in Schwarzweiß, das ihm irgendwann in den achtziger Jahren auf einem Flohmarkt in die Hände gefallen sein musste.
„Ich weiß gar nicht, was du gegen Osteuropa hast. Wäre doch einmal etwas Neues, für den Sommerurlaub der Familie.“

Wieder so ein unvermittelter Zeitsprung, und eine unvorhersehbare Stimmungsschwankung von ihm, hatte er nicht eine halbe Minute zuvor noch von seinen Kindheitserinnerungen aus dem Krieg gesprochen? Von Hitlerjugend und seiner Zeit als Flakhelfer, als die Bomben schneller auf sie herabgeregnet waren, als sie zurückschießen konnten?
„Ich jedenfalls kann es nicht mehr sehen, dieses Frankreich und Italien, irgendwann schaut jede Ecke dort gleich aus.“
„Aber du weißt doch, dass die Mama die weite Fahrerei nicht ausstehen kann.“

Schon lange hatte ich die Versuche aufgegeben, ihn in eine Wirklichkeit zurückzuholen, die sich für ihn auf ein Einzelzimmer in einem schmucklosen Pflegeheim im Vorstadtgürtel Wiens reduziert hatte. Inzwischen spielte ich mit, bei seinen sprunghaften Zeitreisen, die uns für diesen Augenblick in selige Urlaubserinnerungen der Familie vor dreißig, fast vierzig Jahren führten.

Aber unverzeihlich mein Fehler, meine Mutter erwähnt zu haben, ich sah es ihm an, wie es in seinem Hirn raste, hatte er doch schon genug Schwierigkeiten damit, mich als den richtigen unter seinen drei Söhnen zu erkennen, verfangen im Dreieck ihm mittlerweile nichtssagender Namen. Und nun die Erkenntnis, dass für Kinder auch eine Frau vonnöten gewesen sein sollte, für die er in seinem jetzigen Bewusstseinszustand keinen Anker fand, keinen Namen und schon gar kein Gesicht. Trotz fünfzig Jahren Ehe, dachte ich anstelle seiner hinterher, aber er hatte schon längst zu seinem altbekannten Spiel der Ablenkung gegriffen.
„Da, schau her, was für eine schmucke Stadt. Sogar einen Rummelplatz mit Riesenrad haben sie. Das wär doch auch was für die Kinder.“

In schizophrene Welten fühlte ich mich entführt, dass er mich als mittlerweile erwachsenes Kind um Rat fragte, ob ich mich als vierzig Jahre jüngeres Kind dort wohl gefühlt hätte, wohlfühlen würde oder werde.
„Und die Unterkunft sieht auch nicht übel aus: Hotel Polissja“, las er mir mühelos vor, zu meinem Erstaunen, dass er, obwohl er so viel vergessen hatte, besonders die gesamte Gegenwart, sich nach wie vor des Russischen entsinnen konnte, aufgeschnappt in den Jahren der Besatzungszeit und seither nie wieder benutzt.

Mit einem Seufzer ließ ich mir den Reiseführer reichen, um die von ihm so gepriesenen Bilder zu begutachten, und für eine Weile versank ich tatsächlich in die Welt eines vergangenen Jahrhunderts, in die Farben und Formen meiner Kindheit, die es in dieser Art nicht mehr gab. Ein Déjà-vu bereitete mir diese Zeitreise, mir war, als hätte ich diese Bilder schon einmal gesehen, nur anders, als wäre ich schon einmal dort gewesen, in dieser Stadt, so schmuck in ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Und dann traf mich der Schlag der Erkenntnis, nur zu gut kannte ich sie, wie oft hatte ich diese Stadt im Fernsehen gesehen, immer wieder über die letzten Jahrzehnten hinweg Schauplatz von Dokumentationen, aufgrund ihrer Einzigartigkeit. Dreißig Jahre her, seit das letzte Kinderlachen in ihr verhallt war, nur eine in der Hast zurückgelassene, im Staub versunkene Puppe gab noch Zeugnis anderer Zeiten ab, das eindrucksvollste Bild, das mir im Gedächtnis haften geblieben war, diese Puppe, die vergilbt auf einem der Balkone der Plattenbauten liegen geblieben war und verloren auf die Szenerie unter sich blickte. Auf das reglos, rostige Treiben des Rummelplatzes, die im Boden festgefressenen Scooter des Autodroms und die traurig im Wind schaukelnden Gondeln des Riesenrads, und aus jedem Schlitz und jeder Ritze sprießte entfesselt die verstrahlte Flora. Und dann wusste ich alledem auch einen Namen zu geben:

Prypjat, nahe Tschernobyl, so hieß diese Stadt, deren unverwechselbare Totenmaske in die Zeit gestanzt war.
Fassungslos reichte ich meinem Vater den alten Reiseführer für die sowjetische Ukraine zurück, dieses Mal fehlten mir tatsächlich die Worte für die Weltentrücktheit meines Vaters, der den Urlaub mit seiner Familie neben einem Atomreaktorunfall verbringen wollte. Und die Verstörtheit in meinen Augen schien auch ihn in Verwirrung gestürzt zu haben, wild fuhr sein Blick umher, dann packte er mich an den Handgelenken, schmerzhaft fest der knochig klammerhafte Griff, dann schrie er wirr auf mich ein, sodass mir seine Spucke im Gesicht kleben blieb:
„Ich bin kein Trottel, mein Sohn! Ich weiß ganz genau, wie es dort ausschaut, in Prypjat, wahrscheinlich sogar besser als jeder dieser Strahlungstouristen, die je dort gewesen sind, denn mein Gehirn, das ist Prypjat! Nein, noch schlimmer, Tschernobyl, das ist mein Gehirn, zuerst explodiert und dann in einem Sarkophag gefangen – und Zelle für Zelle verstrahlt, ja, Tschernobyl, das ist der Ort, wo die Ärzte einen Körper mit einem toten Geist am Leben erhalten, einzig aus dem Grund heraus, dass sie wissen, wie das geht.“

Und sein wild verzweifelter Blick drückte aus, wie er sich in diesem Augenblick empfand, gefangen in den letzten Zuckungen des Lebens und von außen schon begierig vom Tod betrachtet. Dann allmählich begannen sich seine Augen im Schattenglanz zu verlieren, er war bereits wieder im Begriff, in eine andere, fernere Wirklichkeit abzugleiten, die Hände löste er von mir, und mit einem Räuspern nahm er eine formelle Haltung ein.
„Sie wollen wissen, wo Sie mich antreffen können, mein Herr? Hotel Polissja, Prypjat. Kennen Sie nicht? Ganz einfach, geradewegs nach Tschernobyl, immer den Pfeilen nach. Und nicht vergessen, bei Reaktor Nummer vier rechts abbiegen, dann kann nichts mehr schiefgehen!“

Nach einer Visitenkarte kramte er eine Zeitlang gedankenverloren, in der Brusttasche seines Pyjamas, dann hatte mein Vater mich endgültig aus seiner Wahrnehmung verbannt. An das Fenster war er getreten, das ihm den Anblick auf die das Panorama beherrschende Müllverbrennungsanlage Spittelau bot, im Hintergrund die Ausläufer des Wienerwalds. Sinnlos, mich von ihm verabschieden zu wollen, leisen Schrittes schlich ich mich davon, als ich ihn in meinem Rücken flüstern hörte:
„Ist doch immer wieder eine Offenbarung, Lissabon um diese Jahreszeit – selbst wenn man das Meer von hier aus nicht sehen kann.“
Und mit einem letzten Blick zurück sah ich, dass ihm Tränen der Glückseligkeit in die Augenwinkel getreten waren.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16083

 

 

Im Labyrinth der Zeit

Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.
– Tomasi di Lampedusa: „Il gattopardo“

„Parlare, parlare, parlare, so lösen wir die Probleme hier in Sizilien.“

Und die Erleichterung steht meinem Zimmervermieter ins Gesicht geschrieben, dass mein Fernsehanschluss wieder funktioniert, dass das Kabel gefunden worden ist, über das die minderbemittelten Maurer von der Baustelle nebenan gestolpert sein müssen, dass der Nachbar des einen Nachbarn den richtigen Stöpsel gefunden hat und ein anderer Nachbar das richtige Kabel dazu. Ein paar Worte über die Niederträchtigkeit der Maurerzunft im Allgemeinen fallen noch, dann löst sich die Hausgemeinschaft, die vorher noch so wortreich aufgeregt das schmale Gässchen vor meinem Quartier bevölkert hat, in Wohlgefallen auf, um einer sinnvolleren Tätigkeit nachzugehen, wie zum Beispiel fernsehen.

Und trotzdem will ein Anflug schlechten Gewissens angesichts des stundenlangen parlare nicht aus seiner Miene weichen, meinem Zimmervermieter, und so fragt er mich, ob er mir noch irgendwie helfen könne, mir als Reisendem von nördlich der Alpen, angesichts dieser fremden Stadt hier.

„Eine Bar mit einem ordentlichen Wein könnte mir jetzt nicht schaden.“

Breit sein Grinsen, seine Lieblingsbar will er mir zeigen. Und los marschieren wir, quer durch Ortigia, dem auf einer Insel vorgelagerten Stadtteil von Siracusa, quer durch das Gassenwerk der alten Viertel. Und angesichts der Einfachheit meiner Bitte scheint sich seine Zunge gelöst zu haben, den Fremdenführer im Schnelldurchgang spielt er, hier der normannische Teil, schau dir nur die gotischen Spitzbögen an, da der bourbonisch-spanische, siehst du ja an den prächtigen Palazzi, und dort der arabische, ja, die Bauweise gleicht einer Kasbah. Keine zehn Minuten lässt er mir Zeit für die Verdauung einer tausendjährigen Kulturgeschichte, die Völker aus allen Herren Länder auf diese Insel gespült hat, mir schwindelt es im Kopf vor lauter Zeitscheiben, gnädigerweise erspart er mir die tausend Jahre davor, die Phönizier, Griechen und Römer, damals als Wien noch ein Sumpf an der Donau gewesen war.

„Dein Quartier ist übrigens im ehemaligen jüdischen Viertel.“

Ja, das habe ich mir schon gedacht, angesichts der Tatsache, dass mein gewundenes Gässchen in eine kaum weniger gewundene, kaum weniger breite Gasse namens Via Giudecca mündet, überhaupt die gesamte Anlage meines Stadtteils, der so gar keine Anstalten zeigt, etwas mit der Außenwelt zu tun haben zu wollen, in sich verschroben und verdreht wirkt, und dessen Gässchen bis auf wenige Ausnahmen in sich selbst zu münden scheinen. Kein Wunder, sind es die Juden doch schon seit Jahrhunderten gewohnt, als Erste den Kopf hinhalten zu müssen, wenn die Menschen um sie wieder einmal etwas aus der Bahn wirft.

Unser Ziel erreicht haben wir, so scheint es, denn unvermittelt ist er stehengeblieben, voller Enttäuschung in seiner Miene.

„Chiuso.“

Ich wiederum mag seine Enttäuschung nicht teilen, denn als ich die Fassade seiner Lieblingsbar genauer in Augenschein nehme, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich dahinter nichts anderes als ein ordinäres Puff verbirgt. Und mir steht das Verlangen tatsächlich nicht nach mehr als einem Glas Wein, nicht heute, nicht nach der ganzen Aufregung wegen eines Fernsehkabels.

Dass er es eilig habe, dass er noch etwas Anderes erledigen müsse, damit verabschiedet er sich hastig, dann ist er um die Ecke verschwunden, in einem der verwunschenen Gässchen. Und hat mich stehengelassen, in einem dunklen Winkel des labirinto von Ortigia, an dem ich nie zuvor gewesen bin, von dem ich nicht einmal sagen könnte, in welche Himmelsrichtung ich schaue, vielleicht hat er mich gar in einem anderen Jahrhundert ausgesetzt. Egal, setze ich ein paar mich selbst beschwichtigende Schritte, so groß ist die Inselstadt mit ihren Gassenschluchten nun auch wieder nicht, alle Wege führen einen irgendwann an die windige Stadtmauer, an die ein Mittelmeer wütend seine Brecher schlägt, so ganz anders, als es beispielsweise in der Bucht von Venedig vor sich hindümpelt.

Keine zwei Gassenwindungen weiter umspült sanfter Jazz meine Ohren, wie von Sirenen lasse ich mich von ihm dazu verführen, seinen Klängen zu folgen, und tatsächlich, da ist sie leibhaftig, die Bar, die ich mir in meinen Wünschen ausgemalt habe. Schnell komme ich mit dem Barbesitzer ins Gespräch, mit dem ersehnten Glas vino in der Hand, und stelle ihm die unvermeidliche Touristenfrage, wie es Ortigia so ergangen ist, seit der Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe – eine Frage, die ich sogleich bereuen sollte.

„Peggiora, peggiora, peggiora.“

Und weiter geht sein Sermon, wie hier alles vor die Hunde geht, sich nichts ändert, zur Fußgängerzone hätte Ortigia schon längst umgebaut werden sollen, aber dass die Reichen sich dagegen sträuben, weil sie mit ihren Autos weiterhin hereinfahren wollen, obwohl es doch sowieso keine Parkplätze gibt, und außerdem scheißen die Hunde die Gassen voll und keinen kümmert es.

Unverkennbar gehört der Barbesitzer zu der jungen zornigen Generation von Sizilianern, die auf Grund der miserablen wirtschaftlichen Lage schon die halbe Welt gesehen haben und mit dem frischen Wind ihrer Ideen ihre Heimat umgestalten wollen. Ein zweischneidiges Schwert, so denke ich mir im Stillen, einerseits kann ich seinen Unmut nur allzu gut nachvollziehen, andererseits überkommt mich das traurige Gefühl, die Insel in dieser Form zum letzten Mal gesehen zu haben: In spätestens zwanzig Jahren wird Ortigia von den Geschäftemachern vereinnahmt worden sein, zur zona turistica verkommen sein, durch dessen Gassen sich quengelnde Deutsche und rosige Engländer vorbei an Läden voller Souvenir-Schnickschnack schieben; und abends in internationalen Bars beschallt von internationaler Hitparade mit internationalen Longdrinks in der Hand um sich grölen.

„Österreicher?“, fragt mich jemand in den Rücken, in einer mir unerwartet heimatversöhnlichen Sprache, die mich nach einer Woche mit schwierigem Italienisch und unverständlichem Sizilianisch einige Sekunden kostet, um den richtigen Schalter in meinem Kopf umzulegen. Zwei Mädchen sind es, die am Tisch hinter mir sitzen, und wie mich die eine, eine Tirolerin, als ihren Landsmann entlarven konnte, wird ewig ein Rätsel vor dem Herrn bleiben. Aus der Po-Ebene die andere, Padova, um genau zu sein, also beide Ausländer der ersten Kategorie gleich mir, hier in Ortigia, der Siracusa vorgelagerten Insel im tiefsten Süden Siziliens.

Nach meinem Glas Wein fasse ich und setze mich an ihren Tisch, und nach dem ersten Schlagabtausch der üblichen Klischees, was das Leben nördlich und südlich von Hannibals Alpen unterscheidet, nach einiger Vertrautheit und einigen Gläsern schließlich die gegenseitige Beichte, welche Winkelzüge des Schicksals uns jeweils hierher verschlagen haben. Eine Heirat die eine, Schafehüten auf einer sizilianischen Alm die andere, aber den mir gebotenen Erzählungen fehlt es an lässiger Glattheit, komplizierte Lebensgeschichten einschließlich erlittener Niederlagen spiegeln sich darin.

Und während ich Glas für Glas Wein die Groteske unseres Dreiecks klarer in Augenschein nehme, einerseits das Mädchen aus Padova, das sich hierher geflüchtet hat, um in einer Zeitscheibe Urlaub vom Leben zu nehmen, andererseits die Tirolerin, aus deren Mienenspiel ich ablesen kann, dass sie hier festklebt, nicht mehr weg kann, ihren Aufenthalt hier Monat für Monat hinauszögern wird, und schließlich mich mittendrin, den ein zerbrochener Lebensabschnitt bis in den südlichsten Winkel Siziliens flüchten hat lassen, um wieder zu einem klaren Gedanken zu gelangen, kommt mir ein Zitat aus einem berühmten sizilianischen Roman in den Sinn:

„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, wird sich alles ändern müssen.“

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16077

Eine Handvoll Schach

Schön, dich hier zu haben, Alessandro, mein Freund, auf einem deiner äußerst seltenen Besuche in Wien, weiß ich doch, dass dir diese Stadt nicht behagt, und dies nicht allein wegen der dir fremden Sprache.

Aber warum Alessandro meine Auszeit auf der Toilette dazu genutzt hatte, ein Schachbrett auf dem Kaffeehaustisch zwischen uns aufzubauen, und jetzt mit aller Sorgfalt die Figuren in Reih und Glied aufstellte, entzog sich meinem Verständnis, denn als ernstzunehmende Spieler waren wir beide nicht zu gebrauchen, miserabel unser Zugang zu diesem Spiel. Einerseits Alessandro, bekannt dafür, in seiner ihm eigenen Hitzigkeit verführerisch erfolglose Angriffe zu führen, dem kein Opfer auch angesichts von Hoffnungslosigkeit zu schade war, andererseits ich, Nachlässigkeit mein zweiter Name, mit der mir meine Schlüsselfiguren meist verlustig gingen, geopfert für einen vermeintlich größeren Überblick über das Spiel. Und so opferten wir uns für gewöhnlich vor uns hin, bis zum unvermeidlich unbefriedigenden Remis, in dem sich zwei einsame Bauern aufeinander zu über die Linien quälten, bis zum Aufprall ohne Ausweg. Spätestens dann würde einer von uns mit dem Gefühl geteilter Langeweile das Schachbrett zuklappen, und der andere darüber froh sein; meist war Alessandro schneller zur Hand, denn so endete es doch immer.

So hat es bisher immer geendet, Alessandro, und so wird es wohl auch immer enden, denn ein Remis gegen dich ist nichts anderes als ein Sieg, und dessen bin ich mir sicher, nicht viel anders ergeht es dir mit mir.

„Diese Bauern habe ich nie verstanden“, begann Alessandro in seinem sonoren Italienisch, angesichts der schwarz aufgefädelten, zweiten Figurenreihe der Gleichförmigkeit vor ihm, „in ihrer Aufopferungsbereitschaft und als höchstes Glück vor Augen, sich vielleicht doch bis zur hintersten gegnerischen Linie durchschummeln zu können, naiv wie Aschenputtel sind sie, in der Hoffnung, in den obersten Adelsstand erhoben zu werden.“

„Sogar geschlechterübergreifend, als Königinnen“, ergänzte ich mit einem Schmunzeln, aber er war schon mit ganz anderen, viel weitreichenderen Gedankengängen beschäftigt, denn er hatte das Brett gewendet, sodass seine Bauern gegen die eigenen Reihen standen.

„Acht gegen acht, da müsste doch etwas zu machen sein, ein überraschender Angriff, mit dem sie sich auf das abgehalfterte, altersschwache Adelsgeschlecht in ihrem Rücken stürzen. Geben sich ja sonst auch so bauernschlau, diese Bauern, denk nur an ihr fieses en passant.“

Die linke Faust hob ich zur Bestätigung – Revolution! –, mit mir konnte Alessandro rechnen, mit wehender Fahne war ich bereit, neben ihm unterzugehen, dem Garibaldi des Schachspiels. Und gleichzeitig bereute ich meine stumme, unbedachte Zustimmung, denn nun kam er so richtig in Fahrt, während er das Brett in seine Ausgangslage drehte.

„Schau sie dir doch nur einmal an, diese Königin, nur ein Blendwerk ihre Machtfülle an Bewegungsmöglichkeiten. Nicht mehr als eine Zugehfrau ist sie, für einen greisen, demenzkranken König in Pantoffeln, der nur noch lahm von Feld zu Feld zu humpeln vermag.“

„Aber die Rochade –“, wagte ich einzuwerfen, aber sein höhnischer Blick brachte mich augenblicklich zum Schweigen.

„Ja, eine Rochade steht ihm zu, sein einzig großer Hüpfer, und schon ist ihm die Puste ausgegangen. Und was hat er davon? Nichts anderes, als sich auf seinen Turm zu stützen, eine Gehhilfe groß wie ein Fernseher, mit Schlagersendung im Programm. Denn mit einem Turm lässt sich keine angeregte Unterhaltung führen, diesem tumbtreuen Vasallen, dieser engstirnigen und einspurigen Kampfmaschine, die nicht anderes im Sinn hat, als Bauernopferreihen zu sprengen.“

Höchste Zeit, Alessandro, deinem Redefluss Einhalt zu gebieten, der wieder einmal zu einer Tirade auszuarten droht, jetzt bin ich an der Reihe, meinen Beitrag zu diesem Diskurs zu leisten.

„Ich wiederum kann diese Läufer nicht leiden. Die sehen in Diagonalen, lugen um die Ecken, wie Spitzel, die Geheimpolizei unter den Schachfiguren, die einen die eigene Unaufmerksamkeit abstrafen. ‚Kommen S’ mit!‘, und schon haben sie einen in einer dunklen Straßenecke am Arm gepackt und vom Spielfeld abgeführt.“

Ob ihn meine Ausführung zum Schmunzeln gebracht hatte, wusste ich nicht zu sagen, vielleicht war der Grund dafür auch nur, dass die letzte verbliebene Gruppe von Spielfiguren eine mildere Beurteilung von ihm erfuhr. Einen der Springer nahm er vom Feld, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, und geradezu poetisch seine Betrachtung dazu:

„Einzig die Rössel bestechen durch ihre Unberechenbarkeit, wenn sie so über Bauernhecken springen, abschließend einen Schwenker einmal nach rechts, einmal nach links, als könnten sie es sich nach Gutdünken aussuchen, welches Bein ihnen gerade lahmt. Lustig, diese Gesellen, immer den Schalk im Nacken, Hofgaukler in dieser ansonsten so steifen Gesellschaft, fällt ihnen doch immer wieder etwas Neues ein.“

Nahezu versöhnlich nun sein Gesichtsausdruck, und diese Versöhnlichkeit nutzte ich, um all die Möglichkeiten meines ersten Zugs abzuwägen, und besonders perfide kam er mir vor, mein Zug aller Züge: e2 – e4.

„Und, Alessandro, wie gedenkst du dieses Mal meine immer gleiche Eröffnung zu parieren, vielleicht mit einer ungewöhnlichen Goldberg-Variation?“

Mitleidig, sein Lächeln, mit dem er meinen intellektuellen Kalauer bedachte, und als er seinen Blick wieder dem Schachspiel zuwandte, war selbst dieses verschwunden.

„Ich habe die Schnauze voll“, räumte Alessandro mit einem Wisch all die Figuren vom Brett und griff nach der erstbesten Zeitung, die auf dem Nebentisch lag, einem intellektuellen Wiener Wochenblatt ohne viele Bilder.

„Remis?“, fragte ich ihn über den Zeitungsrand hinweg.

„Remis, wie gehabt“, bestätigte er ohne aufzusehen, ganz in einen Artikel versunken, vom dem er kein einziges Wort verstand.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16012

 

In Sand gemeißelt

Hinter uns die Nacht, im Schlafzimmer eines alten Bauernhofs inmitten der Toskana, die Nacht, in der es uns nach ungezügelter Liebe gelüstet hatte, jetzt am Morgen gelüstete uns nach Zahnbürsten, wer von uns schneller war, an der Regenrinne im Hof, grinste umso breiter. Und weggeputzt der Nachgeschmack der Nacht, gelüstete uns nach einem Nachspiel, nur weicher, gefühlvoller, sie jetzt obenauf. Und als auch dies vollbracht, umfiel uns die Langweile der Sprachlosigkeit zwischen zwei Fremden, die ein Schnellwaschgang aus Zufall und Schicksal zusammengespült und ins gleiche Bett hatte fallen lassen.

Die Hand entzog sie mir, mit der ich gerade noch gespielt hatte, Finger, über die ich gerade noch hinweggestreichelt war, Finger, die so ganz anders waren, als alle Finger der Frauen bislang, mit denen ich mich eingelassen hatte. Früher einmal gegossen aus Milch und Glas, aber nun schwielig und schwülstig mit Marmorstaub unter den eingerissenen und angebrochenen Nägeln, geschundene Finger, die den stundenlangen Umgang mit dem schweren Eisen von Hammer und Meißel gewohnt waren, entschlossene Finger, im Fassen, Führen und Fühlen geschult. Mit einem letzten Blick auf sie wurde mir bewusst, dass es diese Finger gewesen waren, mit denen ich schlafen hatte wollen, als ich gestern wie zufällig in ihre Werkstatt geschneit war, neugierig geworden durch die Skulpturen im Hof davor. Und nun, da sie mir ihre Hand entzogen hatte, fehlte mir jegliche Grundlage, eine Fortsetzung mit dieser Filomena zu finden und zu knüpfen, und auch sie war in abgekühltes Schweigen verfallen.

„Ans Meer könnten wir fahren.“

Mit der Kraft der Lustlosigkeit schließlich in die Leere des Raums geworfen dieser Satz, und wer ihn von uns beiden von sich gestoßen hatte, ließ sich nicht mehr nachvollziehen, den Gedanken ließen wir einige Zeit im Schlafzimmer kreisen, bis wir ihm das nötige Maß an Gefallen abgewinnen konnten, in Ermangelung einer anziehenderen Idee. Und so waren wir eben hinunter ans Meer gefahren, weil uns nichts Besseres eingefallen war, aus Langeweile und Sprachlosigkeit, und auf einer Düne waren wir zu sitzen gekommen, still und schweigsam, und mit Wohlwollen hatten wir bemerkt, wie leer der Strand unter uns war, leergefegt von jeglichen Sonnenölgerüchen, Liegestühlen und Kindergeschrei. Denn von übler Laune zeigte sich das Meer, verärgert von dem scharfen Wind in seinen unberechenbaren Böen, der unablässig an seiner Oberfläche zog und zerrte und kratzte, und auch uns Haar und Hörsinn zerzauste. Und in dieser Welt, in der wir nun schweigend vor uns hinsaßen und hinblickten und in der nur das Meer zu atmen schien, übernahm schließlich ich das erste Wort:

„Weißt du, Filomena, es gibt einen Alpenfluss in meiner Heimat, Inn wird er genannt, ein uraltes Wort für Wasser aus längst vergessenen Zeiten, wie auch immer, an diesem Inn gibt es ein verschlafenes Städtchen, und in diesem verschlafenen Städtchen gibt es ein nettes, kleines Lokal, das auf diesen Inn hinausschaut. Und dort sitze ich gerne, schaue dem Fluss nach, bei zu großer Gedankenschwere, und dieser Fluss, der Inn, spült dann meine Gedanken weg, einen nach dem anderen. Besonders im Frühling liebe ich diesen Fluss, zu Zeiten der Schneeschmelze, denn dann reißt er mir wild die Gedankenketten aus dem Leib, nutzlos angesammelt über einen langen, gnadenlosen Winter. Aber das Meer, besonders wenn man es hier vom Strand aus betrachtet, spült einem die Gedanken immer wieder zurück, einen nach dem anderen, in einem fort –“

„Ich hasse das Meer“, unterbrach sie mich, setzte mich dem Gefühl aus, dass sie mir nicht eine Sekunde zugehört hatte, mich nicht mehr als ein Raunen im Wind wahrgenommen hatte.

„Ich hasse das Meer, denn es lässt sich nicht meißeln. Mit jedem neuen Blick rutscht es einem hinweg, mit jedem Ansatz des Meißels kräuselt es sich grinsend davon.“

Und dann wusste ich, was sie so fern und fremdartig machte, jene Filomena, nämlich, dass sie es nicht zu ertragen wusste, jemandem lange in die Augen zu sehen oder in die Augen gesehen zu werden, sondern den Blick zur Seite schlug, versunken in ihrer Gedankenwelt, die sich ihre eigenen Bilder ausmalte, Bilder, mit denen sie leichter zu Rande kam. In ihrem Falle Standbilder, die zum Meißeln geschaffen waren, von Standbild zu Standbild dachte sie, zeitlupenhaft, nicht für die Ruhelosigkeit des Meeres geschaffen, das sich in unablässiger Bewegung ausdrückte, das keine Ruhe kannte, das ganz unruhig wurde, wenn es zur Ruhe hätte kommen sollen. Aber nun wandte mir Filomena doch ihr Gesicht und ihren haselnussbraunen Blick zu, lächelte mich mit der Gewissheit einer verschwörerischen Verbundenheit an, nämlich der, dass wir beide das Meer nicht leiden konnten.

„Gehen wir hinunter zum Strand“, sagte sie, und nun reichte sie sie mir wieder, ihre harte, geschundene Hand. Das Meer züngelte nach unseren Füßen, verärgert über die Nichtachtung, die wir ihm entgegenbrachten, denn der vom Vortag noch warme Sand hatte es uns angetan, mit jedem Einsinken der Fußballen hob sich unsere Laune, bald übermütig wie kleinen Kindern wurde uns zumute. Und aus diesem Übermut heraus wagte ich es, sie endlich danach zu fragen, denn auch wenn ich sie gestern erst von Angesicht zu Angesicht kennengelernt hatte, kannte ich doch ihren Ruf, die Gerüchte, die ihr vorauseilten, die Geschichten über die Klinikaufenthalte, ausgelöst durch unbeherrschte Wut, mit der sie, Hammer und Meißel in der Hand, auf die Gesichter Fremder losgegangen sein soll. Und tatsächlich, auch sie zu einer Antwort bereit, getragen von einer Welle des Übermuts:

„Und ähnlich dem Meer geht es mir mit Gesichtsausdrücken der Menschen, der Leute, die nicht in der Lage sind, mehr als einige Sekunden ihren Blick, ihren Gesichtsausdruck zu halten, die es nicht schaffen, sich zurückzuhalten, die es nicht schaffen, zurückzulügen, was sie vor nicht allzu langer Vergangenheit vorgelogen haben, und diesen Augenblick versuche ich zu meißeln, diesen Augenblick festzuhalten, und in die Wangen könnte ich ihnen den Übergang hineinmeißeln, ihre falschen Augen möchte ich ihnen dann festkratzen –“

Eilig unterbrach ich sie, bevor ihre Welle zu hohe Größen erreichen konnte, sie zu übermannen und über ihr zusammenzubrechen drohte.

„Und, hast du es jemals zustande gebracht, die Vergangenheit zurückzumeißeln, in einen festen Zustand, zurück zu ihrem Ausgangspunkt?“

Und zu meiner Überraschung rollte sich ihre Welle in einem Lächeln aus, fernentrückt dieses Lächeln, das sich über das Meer vor uns zu breiten schien, kein Wort kam ihr über die Lippen, vergessen schien sie mich zu haben. In die Hocke war sie gegangen, und sie begann sich damit zu beschäftigen, einen Kegel aus Sand aus dem meerumspülten Strand aufzurichten. Sinnlos und kindlich dieses Unterfangen, und viele Worte hätte ich zuvor gesagt haben wollen, zu einem besseren Zeitpunkt, und diese Möglichkeit verpasst zu haben, reizte mich umso mehr zu widerspenstigem Trotz, und so warf ich ihr entgegen:

„Würdest du mich meißeln? Ich meine, würde es dich jemals reizen, mich aus einem Stein hervorzumeißeln?“

Kindlich der Blick im Ansatz, der langsam der Fratze von Belustigung wich, je länger sie mich betrachtete, mich von oben bis unten in meiner Festigkeit, mich in meiner Persönlichkeit bemaß, und schließlich kehlig ihr Gelächter.

„Wie sollte man Sand je meißeln können?“

Und wie zur Bestätigung ihrer Antwort schlug sie mit aller Kraft ihre Faust in den Sandkegel, sodass mir der Sand bis in die Augen spritzte, zu ihrer Schadenfreude. Und als ich mir den brennenden Sand endlich aus den Augen gerieben hatte, war sie mittlerweile den Strand weiter entlanggelaufen, schon zwanzig, dreißig Meter von mir entfernt, mich schon längst in Sand und Dünung vergessen.

In der Zeitung hab‘ ich’s gelesen, Filomena, gerade jetzt, wo ich hier im Warteraum sitze, ob in einer Bahnhofshalle oder an einem Flugplatz, weiß ich nicht zu sagen, denn ganz in den Bann bin gezogen von dem Foto von dir, hier in der Zeitung, links unten auf dritten Seite des Lokalteils. Und auch wenn unter dem Foto von dir ein mir unbekannter Name steht, so bin ich mir dennoch vollkommen sicher, dass du darauf abgebildet bist, unverkennbar dein Gesicht, und unverwechselbar deine Finger, die am unteren Bildrand noch zu erkennen sind. Lang ist er ja gerade nicht, der Artikel, der deinem Foto folgt, mehr ein Lückenfüller scheint er mir, aber dennoch deutlich genug in seiner Ausführung der Umstände. Scomparsa, das Wort darin, das einem immer wieder in die Augen springt, verschwunden und vermisst, aber die weißen Lücken zwischen den Zeilen wollen eigentlich suicidio andeuten. Dennoch, Selbstmord kann ich mir bei dir nicht wirklich vorstellen, Filomena, gar nichts kann ich dem Bild abgewinnen, dem Sonnenschirm an einem toskanischen Badestrand mit deiner Tasche mit Geld, Dokumenten und Telefon in seinem Schatten, und dann stehst du auf und gehst zum Meer ohne einen Blick zurück, und dann gehst du ins Meer, tief hinein, für immer. Nichts da! Zu banal, geradezu lächerlich erscheint mir, was dieser Schreiberling in seinem Artikel im hinteren Lokalteil andeuten will, auch wenn ihn entschuldigt, dass er dich nicht kennt, dass er nichts über dich wissen kann, Filomena, die das Meer nicht zu meißeln vermag, und schon gar nichts über deine Finger. Dass du unmittelbar aufgestanden bist, du dem schützenden Schatten des Sonnenschirms entflohen bist, so weit bin ich bereit, der Geschichte zu folgen, aber irgendein sturer Gedanke muss dich gepackt haben, ein Gedanke, der dir einerlei sein ließ, ob du Geld, Dokumente und Telefon im Sand zurücklässt. Dass du einfach drauflos gegangen bist, ja doch, so kann ich es mir ausmalen, geradewegs nach Süden, den Strand entlang, das Meer zur Rechten und die Pinienwälder zur Linken. Und ich vermag zwar nicht zu beurteilen, wie stur dein Gedanke gewesen ist, aber während sie jetzt diesen toskanischen Strandabschnitt mit Tauchern, Küstenwache und Hubschraubern nach dir absuchen, nichts anderes als den einen oder anderen armen ertrunkenen Teufel von illegalem Einwanderer aus dem Meer fischen, wirst du wahrscheinlich schon die Region Latium erreicht haben, oder sogar schon Kampanien. Zu Fuß, immer den Strand beziehungsweise die Küste entlang, denn so wie ich dich kenne, hast du dir nichts Geringeres als den südlichsten Punkt am Stiefelschaft Italiens in Kalabrien in den Kopf gesetzt. Oder gar Sizilien.

Gib’s zu, Filomena, du schwimmst gerade über die Straße von Messina, du ewiger Sturkopf!

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15148

 

Die keltische Kriegerfürstin aus Sizilien

Verdammt, Paolo, du weißt doch ganz genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du mir wildfremde Leute an den Tisch setzt, selbst wenn deine Taverne gerammelt voll ist, du sogar schon ein paar Stühle von drinnen hier auf der Terrasse aufstellen hast müssen. Ja, ich weiß, Kinder sind nicht billig, besonders deine, die ja unbedingt in dem teuren Rom vor sich hinstudieren müssen, aber inzwischen solltest du deinen treuen Stammgast kennen, der dich seit ein paar Wochen Tag für Tag beehrt, solltest du wissen, was ich von ungebetener Tischgesellschaft halte, überhaupt von diesen Touristen, die einem den Abend lang die Ohren vollschwärmen, wie schön der Ausblick von deiner Terrasse doch ist, wie edel sich der Sonnenuntergang hier über den Horizont neigt, wie erhaben überhaupt das ganze Italien bis zur untersten Stiefelspitze. Andererseits, alles sei dir verziehen, Paolo, nach diesem unübertrefflichen Wildragout, mit dem du mich heute verwöhnt hast, dessen Nachgeschmack meinen Gaumen noch den ganzen Abend verzücken wird, und damit sei dir auch das Häuflein Elend verziehen, das mir nun gegenübersitzt und mir die verdiente Aussicht über die tausend Hügel der Toskana versperrt.

Nicht einmal zu einem anständigen Gruß ist sie imstande gewesen, oder zu Dank für den Platz an meinem Tisch, und auch jetzt verliert sich ihr Blick an der Unterkante des Tisches, in Gedanken versunken an irgendetwas Zerbrochenes. Und passend zum ersten Eindruck zerknittert ihr Sommerkleid, als hätte sie die letzte Nacht in einem Auto zugebracht, oder in Paolos Scheune, und zerdrückt auch ihr schon länger nicht mehr gepflegtes Haar. Aber dennoch eindrucksvoll diese Mähne, das Feuerrot, das ihr in ungebändigten Naturlocken ins Gesicht fällt, und welch ein Kontrast dazu ihre porzellanbleiche, ja nahezu wasserleichenhafte Haut, gut sichtbar das Netz der blauen Venen auf der Innenseite ihrer Arme; Haut, die sich nicht mit den Breiten hier verträgt, auf der sich die toskanische Sonne unbarmherzig in Form zahlloser rotbrauner Sommersprossen ausgetobt hat. Und als wäre all den Kontrasten nicht schon Genüge getan, fängt das Abendlicht sich in ihren stahlgrünen Augen, bündelt sich im leuchtenden Widerschein darin.

Woher sie wohl kommen mochte? Immer weiter fährt mein Finger die geistige Landkarte hoch, immer weiter gegen Norden, über die Alpen hinweg, über den Ärmelkanal hinweg, und erst als es mir ausreichend feucht wird, hält er inne: Schottland, Hebriden, Irland, ja, auf einer windumtosten, regengepeitschten Insel, dort, wo die Sonne nicht so recht scheinen will, dort sehe ich die Blasshäutige zu Hause. Ist wohl dem Ruf eines glutäugigen Italieners in den Süden gefolgt, diese Irin, und nun von ihm sitzen gelassen, auf einem namenlosen Hügel der Toskana, er ihrer überdrüssig, nachdem er sich nun auch einer rothaarigen Trophäe brüsten kann. Wie alt sie in ihrer Gutgläubigkeit wohl sein mochte? Geschätzte neunundzwanzig seit drei, vier überfälligen Jahren, auch wenn die vorwitzigen Sommersprossen ihr einen Hauch unbedarfter Jugendlichkeit zurückzugeben vermögen.

Zu einem Excuse me? setze ich an, der Höflichkeit halber, aber da überrascht sie mich, als sie wie ein sizilianischer Ziegenhirte murmelnd vor sich hin flucht, während sie in ihrer Tasche kramt, einer dieser unförmigen Taschen, weitläufiger und unergründlicher als der Wilde Westen. Und um sich die Suche zu erleichtern, stellt sie ungeniert eine Schachtel Tampons auf den Tisch, und danach eine Dose, die ich erst auf den zweiten Blick als Pfefferspray ausmache, und weiter flucht sie und kramt sie und flucht sie. Hier, Mädchen, nimm eine von meinen, weiß ich doch deine fahrigen Bewegungen zu deuten als jemand, der auch nicht die Finger von den Zigaretten lassen kann.

Tatsächlich, fließendes Italienisch in deinen verlegenen Dankesworten, wie nur ein Einheimischer es zu sprechen vermag, und manchmal rutscht dir ein sizilianischer Unterton dazwischen, auch wenn du ihn zu unterdrücken versuchst. Und kurz schießt dir verlegene Röte ins blasse Gesicht, als du mich noch um Feuer bittest – Maler müsste man sein, das perfekte Rot ließe sich in deinem Antlitz finden, in der spektralen Palette rotblonder Haarlocken, rotbrauner Sommersprossen und dem rötlichen Violett auf deinen Backen; und zu allem Überfluss im Hintergrund noch der Abendrotkitsch der untergehenden toskanischen Sonne.

Keine Sorge, du brauchst gar keine so ablehnend missmutige Miene zu ziehen, keine dummen Fragen werde ich dir stellen, schon gar nicht diese eine, die dir wahrscheinlich jeder stellt, der dich kennenlernt, nein, meine eigene Geschichte reime ich mir im Zusammenhang mit dir zusammen: Operation Husky, die Landung der Alliierten in Sizilien, und im Gefolge des unverwüstlichen Generals George Patton auf seinem unverwüstlichen Panzer auch der gutaussehende amerikanische GI mit irischen Wurzeln, mit den roten wuscheligen Locken und dem lebenslustigen Blitzen in seinen stahlgrünen Augen. Keine Dorfschönheit hat ihm widerstehen können, deinem Großvater, dem schönsten GI von Palermo bis Texas, und weidlich wusste er dies auszunutzen, von einem eroberten Dorf zum anderen, den halben italienischen Stiefel hinauf bis vor die Tore Roms: seine persönliche Rache an Mussolini und anderen Rassenwahnvorstellungen, und beeindruckend in ihrer Nachhaltigkeit, diese Rache, wenn selbst in dritter Generation es dir noch auferlegt ist, sie auszutragen.

Wie bitte, mit welchem Namen hast du dich gerade vorgestellt? Besonders rauschend wohl das Fest, auf dem deine Eltern ausgeglitten sind, als sie sich auf diesen Namen verschworen haben, wo mag das gewesen sein, Woodstock, oder noch abgefahrener, Burning Man? Jedenfalls als ein erlesenes Vergnügen stelle ich es mir vor, Boudicca, benannt zu sein nach einer keltischen Kriegerfürstin, die sich zweitausend Jahre zuvor so verwegen, so todesmutig und so vollkommen aussichtslos den Römern in den Weg gestellt hat, schlussendlich von ihnen zu Tode getrampelt. Ja, wenn du als junges Mädchen mit diesem Aussehen, dieser Herkunft und diesem Namen einen sizilianischen Schulhof überlebt hast, dann hast du deiner Namensvetterin alle Ehre gemacht, dann musst du ganz schön hart im Nehmen sein.

Paolo, ich habe dir Unrecht getan, der Abend beginnt unterhaltsamer zu werden als anfangs gedacht, und verzeih mir, denn du hast natürlich gewusst, dass dieses rotlockige Geschöpf meine Neugier wecken und mich den Ausblick auf die tausend Hügel der Toskana vergessen lassen würde. Und jetzt, wo du dieser zerknitterten sizilianischen Irin namens Boudicca einen Berg dampfender Pasta vor den Mund stellst, und ein Glas Weißwein dazu, ohne dass sie einen Blick in die Speisekarte geworfen oder eine Bestellung aufgegeben hätte, werde ich noch neugieriger, denn dazu kenne auch ich dich zu gut, Paolo, an die Saiten deiner Gutherzigkeit rührt diese Frau. Und wie sie die Pasta heißhungrig in sich hineinschaufelt, beweist, wie sehr sie dies zu schätzen weiß, und wie der Wein ihr die Zunge löst und sie sich alles von Seele schnattert, zeigt mir, Paolo, dass auch du auf meine Gutherzigkeit zählst, auf die Gutherzigkeit meiner Ohren.

Für das Feuilleton einer namhaften Mailänder Zeitung schreibst du also, Boudicca, und das Funkeln in deinen grünen Augen verrät mir, wie stolz du darauf bist, den steinigen Weg geschafft zu haben von einem sizilianischen Provinzblatt in das arrogante Mailand. Und noch mehr abenteuerlustiges Grün blitzt dir aus deinen Augen, als du erzählst, dass du gerade dabei bist, den großen Coup zu landen, das große Interview mit einem großen Schriftsteller, der allerdings auch darin groß ist, sich allen Interviews zu verweigern, ja, von dem man nicht einmal weiß, wo er sich seit dem letzten Jahrhundert herumgetrieben hat, von zeitgemäßen Fotos ganz zu schweigen. Und so verworren du mir auch alles erzählst, verstehe ich sie jetzt, die ganze Geschichte, die dich hierher verschlagen hat, als Ausgangspunkt dein Status als freie Mitarbeiterin bei dieser Mailänder Zeitung, von Artikel zu Artikel mit ein paar Euro abgespeist, zu wenig zum Leben und erst recht zu wenig zum Sterben.

Und dann der Tipp, aufgeschnappt vom Freund einer Freundin des Halbbruders einer Cousine, dass dieser geheimnisvolle Schriftsteller hier in der Gegend, hier in der schönen Toskana seine Zelte aufgeschlagen haben soll. Und da bist du in dein altersschwaches Auto gesprungen, Boudicca, und bist den weiten Weg bis hierher gefahren, aufs Geratewohl, mit nicht mehr als ein paar Hundertern in der Tasche, Vorschuss vom Chefredakteur deiner Zeitung, Almosen, die kaum für das Benzin gereicht haben. Zu groß ist die Verlockung gewesen, denn wenn du diesem großen Schriftsteller tatsächlich ein Interview abschwatzen könntest, würdest du den Paradiesvogel deiner innigsten Wunschträume abschießen, der da heißt: Festanstellung.

Tja, ist wohl nicht so glatt gelaufen wie erhofft, Boudicca, wenn ich mir dich so anschaue, hat wohl deine rostgeplagte Karre auf halbem Weg den Dienst versagt, hast du dich mit dem Daumen hoch am Straßenrand durchschlagen müssen, und das Geld ist inzwischen auch schon aufgebraucht, bist wohl froh, wenn die Bäckerin im Dorf dir mit mitleidigem Blick ein paar Brötchen zusteckt oder Paolo dir eben mit einem Teller Pasta aushilft. Und die letzte Nacht hast du wahrscheinlich in der Laube im Park über die Runden gebracht, noch ist das möglich, noch sind die toskanischen Nächte mild genug. Dennoch, von dem Schriftsteller nach wie vor keine Spur, keiner kennt ihn, einige wenige wollen ihn vor Jahren zwar gesehen haben, aber alles nur falsche Fährten, nichts als trügerische Sackgassen.

Und, wer ist denn nun dein auserwählter Schriftsteller, scheu wie ein Reh? Lachen muss ich, als ich den Namen des Gesuchten höre, tut mir leid, Boudicca, aber vielleicht hättest du für den Anfang einen leichter aufzustöbernden Künstler wählen sollen, Thomas Pynchon, zum Beispiel, oder vielleicht Banksy. Ist deiner nicht schon lange tot? Jedenfalls habe ich schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, geschweige etwas Neues gelesen. Bitte fang jetzt nicht zu weinen an, Boudicca, vom anderen Tisch sehen sie mich schon so merkwürdig an. Ein Bild geben wir ab, als würde ich meiner etwas einfältigen Geliebten erklären, dass nun doch nichts aus der Scheidung wird: Die Kinder, das musst du verstehen, und das Haus gehört auch meiner Frau, ich weiß nicht, wie ich mir das alles leisten soll.

Lächle, Boudicca, ja, lächle wieder, und nimm es dir nicht so zu Herzen. Warum erfindest du es nicht einfach, dein großes interview, erzählen einem doch eh immer das Gleiche, diese Schriftsteller, von der großen Herausforderung gerade bei ihrem letzten Wurf, gleich Fußballern sind sie, aufgeregt und noch nicht zu Atem gekommen nach dem Spiel ihres Lebens. Aber verschwiegen darin, was ihnen die Schreiberei tatsächlich abverlangt, anfangs mag sie ja noch Vergnügen bereiten, aber dann entwickelt sie sich zur Qual, und zum Schluss artet sie nur in noch Schlimmeres aus, nämlich Arbeit. Und noch etwas, weil ich gerade so schön in Fahrt bin, hüte dich vor dem Nachlass, Boudicca. Alles, was nie zu einer Veröffentlichung getaugt hat und dem Künstler zu Lebzeiten nicht zu verbrennen vergönnt war, das findest du in einem Nachlass. Nichts als alte Skier im Keller, so ein Nachlass.

Jetzt habe ich dich also doch zum Lachen gebracht, Boudicca, und ein anerkennendes Nicken von Paolo habe ich mir damit verdient. Nein, Paolo, damit allein gebe ich mich nicht zufrieden, eine neue Flasche Wein stellst du uns auf den Tisch, ja, ja, du hast meine Handbewegung schon richtig verstanden. Und morgen werde ich es bereuen, dass ich zu schnell zu viel getrunken habe, aber du langst ja auch ganz schön zu, Boudicca, erweist deiner keltischen Herkunft als Kriegerfürstin alle Ehre, hier, nimm noch eine von meinen Zigaretten. Auf den Leim beginne ich dir zu gehen, und auch das werde ich bereuen, aber zugegeben, du spielst dich mit Geschick: einerseits deine kecke, vorlaute Art, andererseits etwas von treuherzigem Kindchenschema, wenn dir wieder die Röte in die Wangen schießt, so wie eben. Aber besonders bereuen werde ich, was mir jetzt über die Lippen kommt:

Überredet, liebe Boudicca, morgen machen wir uns mit meinem Wagen gemeinsam auf die Suche nach deinem Schriftsteller, wir werden ihn schon finden, irgendwo in den tausend Hügeln der Toskana – oder vielleicht einen Hügel mehr, nämlich den, auf dem sein Grabstein steht.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15130

 

Der ewig Reisende

Alte Wäscheständer, mein erster nachhaltiger Eindruck in dieser Wiener Wohnung, nachlässig in sich geklappt an die Wände gelehnt, schon lange haben sie keine Wäsche mehr gesehen, die ihnen zum Trocknen auferlegt worden ist, alte Wäsche, die ich verborgen in den hintersten Reihen des mächtigen Einbauschranks vermute, wahrscheinlich nur unpersönliche Wäsche, wie Bettlaken und Handtücher. Eine Durchgangsstation diese Wohnung, einem Bahnhof gleich, so ziemlich jedes mir bekannte Familienmitglied hat einmal hier gehaust, zum Durchschnaufen, Atem holen für einen neuen Sprung auf das Fließband des Leben. Und auch ich nicht davon ausgeschlossen, nur zu gut kann ich mich an meine paar Monate hier erinnern, damals, auf der Suche nach Asyl und Exil und Durchatmen, nach einem viel zu langen Durchrauschen von Gedächtnislücken, nach einem Leben, das es mich fast gekostet hätte. Und wie knapp ich damals davongekommen bin, ruft mir das flaue Gefühl im Magen angesichts dieser Mauern wieder ins Gedächtnis, trotz der langen Zeit nach wie vor nicht getilgt von der Flut inzwischen neu angesammelter Lebenseindrücke.

Jetzt habe ich sie also geerbt, diese Wiener Wohnung, fast zehn Jahre später, glücklich und unvermutet aus verworrenen Schicksalsfügungen heraus, und wie unvorbereitet ich darauf bin, macht mir die verlorene Geste bewusst, mit der ich nach einem der Wäscheständer fasse, der lieblos gegen ein Bild an der Wand lehnt, und mich nicht entschließen kann, wo ich ihn abstellen soll. Genauso, wie es mir an Entschlusskraft fehlt, was nun anzufangen, mit dieser Wiener Wohnung, sie zu vermieten, zu verkaufen oder wiederzubeleben, angesichts all des wertlosen Plunders aus einem vergilbten Jahrhundert, wahllos zusammengestellt, ein paar verwaiste Betten hier, ein abgesessenes Sofa da, abgesessen von Hintern, die keinem Lebenden mehr zuzuweisen sind, daneben ein zerkratzter Schreibtisch, der Rest abgeräumt von zu vielen Durchgangsgästen, von Fernseher oder anderer Form von Abendunterhaltung ganz zu schweigen.

Dennoch, ein Hauch von Gemütlichkeit hat sich in der Ecke des Wohnzimmers erhalten, aus der ich noch immer die glaszarten Klänge einer Zither hören zu können vermeine, auf der mir meine Großmutter vor mehr als einem Vierteljahrhundert vorgespielt hat: „Harry Lime’s Theme“ an diesem stillen Novemberabend in einem späten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, als Wien sich noch immer in Grau und Schwarz wie aus dem „Dritten Mann“ geschnitten gezeigt hatte, nach wie vor nicht erwacht aus seinem albtraumhaften Dornröschenschlaf. Als man in dieser Stadt noch mit einem Schaudern über den Rücken von dem Gefühl heimgesucht war, dass sich hier das Leben anschickte, diejenigen sich zu holen, für die bislang nicht einmal der Tod Interesse gezeigt hatte.

Und mit einem Seufzer wird mir bewusst, vor der Entscheidung zu stehen, mich in den Strudel weiterer trübsinniger Stimmungen ziehen zu lassen, in Schichten immer tieferer Melancholien - oder doch dein Paket zu öffnen, tesoro, mein Schatz, das stumm auf dem angestaubten Esstisch vor mir liegt. Dieses mit Aufklebern eines Schnellzustelldienstes bedeckte Paket, dem ich seinen langen Weg über die Alpen, aus dem fernen Italien ansehen kann, leicht abgestoßen der Karton in der linken, unteren Ecke, offensichtlich mit einem nachlässigen, fahrlässigen Wurf auf die Ladefläche eines Kleinlasters befördert. Dein Paket, mia cara, von dem ich zwar nicht weiß, was seine Schale im Konkreten umschließen, aber ich mir ausmalen kann, was aus seinem innersten Inneren auf mich zuströmen wird: Verharren in Ungewissheit, Sehnsucht, Verständnislosigkeit, Anklage, wie alle deine Pakete, wie alle deine Briefe, die du mir an meine jeweiligen Aufenthaltsorte bisher nachgeschickt hast.

Und mit einem weiteren Aufseufzen fasse ich jetzt nach dem Paket, ziehe und reiße ich an seiner Hülle aus steifem Karton, an den widerspenstigen Klebebändern, meine Ungeschicklichkeit verfluche ich, aber nur um Unwilligkeit handelt es sich, weiß ich doch, dass mir sein Inhalt wieder einen Stich ins Herz versetzen wird, wie immer, mia carissima, so gut wie du mich kennst. Endlich will es mir gelingen, den Mund des Pakets aufzureißen, mit der Hand lange ich hinein, mit unbewusster Vorsicht, als könnte es noch nach mir schnappen, bekomme seinen Inhalt in seinem Schlund zu fassen, etwas Kompaktes, etwas im Ganzen, etwas Rechteckiges, was ich da ans Licht zerre:

Ein Fotoalbum, ganz in der Machart des letzten Jahrhunderts.

Tatsächlich, bohrend tief der Stich ins Herz, als mir beim Aufschlagen des Albums bewusst wird, welchen Preis du dieses Mal bezahlt hast, welch unumkehrbares Risiko du dieses Mal eingegangen bist, mio amore, denn glückliche Kindheitsfotos lachen mir entgegen, die originalen Bilder aus deiner Kindheit, aus deiner stolzen italienischen Heimatstadt. Agfacolor, der leicht überbelichtete Stich der Farben auf den Fotos, so wie sie überhaupt waren, leicht überbelichtet die hoffnungsfrohen Farben der Siebziger, ganz im Gegensatz zu dem feigen Pastell der beiden vorangegangen Jahrzehnte. Nur das Schwarz so, wie Schwarz auch in Wirklichkeit damals war und es immer noch ist, das Kohlrabenschwarz in deinen Augen, im Schwung deiner Augenbrauen und das Kohlrabenschwarz in den Locken deiner Haare, schon damals als Kind, tesoruccio.

Auf eine italienische Zeitreise entführst du mich, auf der Rückbank der legendären Alfa Romeo Giulia deiner Eltern, die mit den Doppelscheinwerfern, Baujahr ´70, schätze ich, um ein vom Smog schwarz getünchtes Kolosseum fahre ich mit dir in deinen Urlaub, und besonders schief erscheint uns der Turm von Pisa, aus Kinderperspektive, und die einsetzende Flut umspült unsere Sandburg am toskanischen Strand, mit dem Einwickelpapier der damals beliebtesten Eismarken haben wir sie beflaggt. Und auf vielen der Fotos trägst du so hinreißend ein einfaches glattes weißes Kleid mit satten roten Punkten, aber noch viel hinreißender dein vergnügtes Kinderlachen, aus dem später einmal dein eigentümliches, einzigartiges Lächeln geboren werden wird.

Und schmuck auch dein Elternhaus mit Vorgarten, mia cara, das auf so vielen deiner Fotos den alles zusammenhaltenden Hintergrund bildet, immer in einladender Frische getüncht das Haus, und hingebungsvolle Pflege ist dem Garten anzusehen. So ganz anders als der hastig auf einen Acker hingeworfene, in Beton geworfene Wohnblockwürfel aus der Nachkriegszeit, in dem ich aufgewachsen bin, ein Wohnblock in einer Vorstadt zu einer Stadt, der das Schicksal auferlegt ist, Bindeglied zwischen zwei bei weitem bedeutenderen Städten zu sein, also ein Wohnblock in einer Vorstadt einer Vorstadt. Der erbaut im billigen Nachkriegsbeton schneller feucht ergraut ist als jedes andere Haus, und der inzwischen einer Autobahnumfahrung gewichen ist, also mit der Zeit gegangen ist, im wortwörtlichen Sinne, von ihr plattgemacht und ausradiert. Kein Foto könnte ich dir von ihm zeigen, tesoro, denn sein feuchtes Grau ist von niemanden jemals einer Aufnahme wert befunden worden, nur zu der Kurve in der Autobahnauffahrt könnte ich dich führen, dort wo der Wohnblock sein trostloses Dasein abgesessen hat, eine Achtzigerbeschränkung ist ihm als Denkmal geblieben.

Ähnlich meiner Familie, zusammengewürfelt aus den Resten einer aus der Zeit gefallenen k. und k. Monarchie, deren Vergangenheitsbewusstsein sich spätestens mit drei Generationen in einer böhmischen Schuhfabrik, einem ungarischen Steppenstreifen oder einem galizischen Grenzdorf verliert. Und beim Aufblitzen in der Landschaft der Zeit ist es für meine Familie geblieben, in unserem Wohnblock in der Vorstadt einer Vorstadt, denn mittlerweile auch ihre Kinder, meine Geschwister entschwunden in den Ecken Europas, den einen verschlagen auf eine feuchte Insel mit ungenießbarem Essen, den anderen in ein Donautal, dessen einzige Abwechslung zur geistigen Einöde die alljährliche Überschwemmung bringt; und von meinem mir abhandengekommenen Sohn ganz zu schweigen, Norwegen, sein erklärtes Wunschziel, als wir uns vor Jahren das letzte Mal gesprochen haben. Und mich, zu was mich dies alles gemacht hat, deine ewige Frage, mia cara carissima, zwischen all deinen Zeilen, all deinen Briefen und Paketen?

Ja, mit der Zeit habe ich mich gewandelt, vom ewig an der Theke Klebenden, einer Theke so lange wie die Einsamkeit, zum ewig Reisenden, il Viaggiatore, der nunmehr seine Theken wie die Socken wechselt, Stadt für Stadt.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15124

Zwiespältig, sein Lächeln

Ein Tisch, irgendwo in Italien.

„Zu welch Unsinnigkeiten man sich doch hinreißen lässt, aus Gründen der Einsamkeit –!“

Was meinen Sitznachbar zu einem Lächeln veranlasst, Alessandro an seinem italienischen Stammtisch. Fahr fort, deutet still seine Handbewegung.

„– sogar deine Sprache versuche ich mühsam zu erlernen.“

Amüsiert hebt er nun die Augenbraue, dieser Alessandro, im Schweigen lässt er mich sterben.

„Du hast wohl nie das Bedürfnis verspürt, eine andere Sprache zu erlernen, Alessandro, nicht wahr?“

Zuviel Lärm und Aufruhr beherrscht mittlerweile unseren Tisch, als dass ich eine Antwort seinerseits verstehen könnte, eine Geste begleitet von seinem Lächeln beantwortet mir die Frage, seine Geste über den Tisch weisend, an dem ein einziges Kommen und Gehen herrscht, sei es eine verflossene Freundin oder eine Schwester dritten Grades, sei es der taube Opa aus Sizilien oder die Mailänder Tante mit dem unvermeidlichen Pinscher, immer Neues gilt es zu besprechen und zu beschwätzen, hier an diesem überlauten Tisch.

„Hätte ich dich doch nie erfunden, Alessandro“, murmle ich mich geschlagen gebend, den Kopf gesenkt vor mich hin: nicht dich, nicht diesen Tisch, nicht all diese Leute, zu wohlgelaunt, so nahe um mich. Und als hätte er meine Worte hören können, fasst Alessandro mich an der Schulter.

„Nicht doch, du hast mich nicht erfunden“, beschwichtigt mich sein Zuraunen in mein Ohr, „du hast nur etwas zu viel getrunken.“

„Vielleicht haben wir alle etwas zu viel getrunken“, entrinnt mir, als wollte ich diesem Abend zu vieler Willkür noch etwas Versöhnliches abringen.

Aber nun ist es entschwunden, das Lächeln aus Alessandros Gesicht, ernst und kalt seine zuvor noch so belustigten Augen. Entgangen ist mir die Bewegung im Augenwinkel, vielleicht ein angedeutetes Schnippen mit seinen Fingerspitzen, das den zuvor noch so bewegten Tisch schlagartig innehalten lässt. Still ist es mit einem Mal um uns, eingefroren die Gestalten zu Schemen, die Gesichter zu offenen Mündern erstarrt.

„Sieh dich um, Fremder“, durchschneidet Alessandros Stimme die gemäldehafte Stille, „sieh ihn dir an, diesen Kreis der ewig wiederkehrenden Leute, diesen Kreis der ewig kreisenden gleichen Worte, heute hat jemand geheiratet, und heute ist jemand gestorben, morgen jemand schwanger und morgen eine andere geschieden.“

Zurückgekehrt sein Lächeln, aber es hat nicht mehr die sanfte Subtilität von zuvor, süffisant gekräuselt sind seine Lippen jetzt.

„Und aus diesem Grund bist du der Erfundene, Fremder aus dem Norden. Als Gegengewicht zu all dem Inzest, der mich hier umgibt.“

Wach werde ich an dieser Stelle, nicht zu Missbrauch aus so nichtigen Beweggründen bereit. Zu sehr aus Fleisch und Blut fühle ich mich, als dass ich mich zu einem bloßen Gedankenspiel eines Alessandro erniedrigen zu lassen bereit wäre.

„Unmöglich!“ schreit es aus mir aus Protest, „Nur zu gut, in aller Deutlichkeit kann ich mich an die mühselige Fahrt über die Alpen hierher erinnern, an all die Hitze und den Schweiß. Unmöglich, dass du, Alessandro, der nie einen Schritt vor deine Stadt setzt, dies alles in mich hineinerfinden hättest können.“

Jetzt ruht seine Hand nicht mehr auf meiner Schulter, angewachsen an ihr scheint sie zu sein, so schwer lastet sie auf mir.

„Wo du doch mit allem Nachdruck von dir behauptest, nicht erfunden zu sein, wer bist du dann, Fremder mit dem unaussprechlichen Namen?“

Und so ziehe ich das mir selbst auf den Leib geschneiderte Manifest aus dem Gedächtnis, Wort für Wort, so wie ich es mir jenseits der Alpen steif vorübersetzt habe:

„Im wirklichen Leben arbeite ich als Softwareentwickler, beschäftige mich also mit virtuellen Sprachen, programmiert zwischen Mensch und Maschine. Im privaten, intimen, also virtuellen Leben widme ich mich der Literatur, also wirklichen Sprachen, gesprochen von Mensch zu Mensch.“

Und nun ist es spöttisch geworden, Alessandros Lächeln, widerlich spöttisch.

„Schön gesprochen, Fremder. Aber auf mich wirkst du, als wolltest du die beiden tauschen, dein reales Leben gegen dein virtuelles. Also doch nur alles erfunden?“

Und als hätte er alldem nichts mehr hinzuzufügen, setzt mit einem Mal der Trubel an diesem Tisch wieder ein, das lärmende Rauschen mit all seinem Geschnatter und Geschwafel, Gelächter und Prostest, hier ein anklagender Zeigefinger, dort eine entschuldigende Geste, rechts von mir der Griff nach der Weinflasche, links wird Brot gebrochen.

Verdammt fühle ich mich, einerseits dazu verdammt, jedes noch so sinnentleerte Wort an diesem Tisch verstehen zu wollen, und andererseits dazu verdammt, den Stummen abgeben zu müssen, nicht mächtig mit meinem hilfsbedürftigen Italienisch, in diesem reißenden Strom viel- und schnellgesprochener Worte mithalten zu können.

„E tu? Chi sei tu? Che fai tu?“

Und, wer willst du schon sein, Alessandro? Wie eine Anklage, wie eine Bedrohung fauche ich ihm dieses „fai“ verächtlich entgegen. Aber mittlerweile ist sie schon gekippt, die Sprache an diesem Tisch, Furlan vermag ich aus ihr herauszuhören, diesen mysteriösen rätoromanischen Dialekt, den niemand versteht, der nicht in ihm geboren ist, und der mich nun erst recht stumm und taub zurücklässt, mich erst recht dazu verdammt, den Fluss der Worte verständnislos an mir vorüberziehen zu lassen.

Zur vollen Stunde schlägt der Glockenturm nebenan, und es ist mir, als sei eine Schar Fledermäuse aus ihm hochgestoben, bereit zur nächtlichen Jagd, aber als ich meinen Blick zu Erden senke, ist der Spuk um mich vorbei, leergefegt der Tisch, an dem ich sitze, wie überhaupt alle Tische rund um mich.

Nur Paolo, der Schankwirt, steht im Türrahmen, und wahrscheinlich hat er mich schon seit geraumer Zeit im Blick, denn nun ist es an ihm, ein subtiles Lächeln auf den Lippen zu tragen.

„Piano, piano.“

Nur ruhig Blut, mein Freund, Paolos Worte, mit denen er auf mich zukommt und mir die Hand beruhigend auf die Schulter legt. Und dann reicht er mir die Rechnung – hoch ist sie, als hätte ich eine ganze Sippe zum Abendmahl geladen.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15113

Straßengedanken

Halbgedanken, Luftgedanken, Dunstgedanken, mehr an Angedachtem will mir nicht durch den Kopf gehen, hier auf diesem pfeilgeraden Autobahnstrich knapp hinter Villach, diesem sonnenüberfluteten Band Asphalt im Niemandsland vor der Grenze zu Italien. Nicht mehr als ein Gedankenrauschen, das mich durchflutet, eingeharkt den Tempomaten auf milde Hundertdreißig, geistig zu nichts anderem angespannt, als ein Lenkrad schnurgerade in der Spur zu halten.

Spurgedanken, Schnurgedanken, die sich wie Perle an Perle reihen, Erinnerungsperlen an ähnliche Straßenfahrten, denn es ist wohl der Einfall des Sonnenlichts, die Art, in der es auf dem hitzigen Asphalt widerprallt, die Frequenz, mit der es durch die Windschutzscheibe bricht und mich im Augenwinkel blendet, was mich in eine Erinnerung zurück nach Sizilien wirft, die Strecke Palermo – Catania durch einsam hügeliges Hinterland einige Wochen zuvor.

Non sono stato io – das war ich nicht!“

Blitzgedanken, Schockgedanken, Schuldgedanken durchfahren mich, das bin ich nicht gewesen, das mit der Brücke. Zugegeben, werte Autovermietung, das mit den Stoßdämpfern, das nehme ich auf meine Kappe, in bemitleidenswerter Erinnerung ist er mir noch, der zartbesaitete Kleinmietwagen, konzipiert für feingliedrige Hausfrauenhände auf dem Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, sein Aufstöhnen der Stoßdämpfer ist mir noch im Ohr, gleich einer Elefantenfamilie angesichts des rettenden Wasserlochs nach Durchqueren der Wüste. Rauch und Dampf vermeinte ich damals aus den Seitenkästen der Radaufhängung aufsteigen zu sehen, nachdem ich den Wagen schonungslos über die Rippen der Autobahn Palermo – Catania und zurück gejagt hatte, gnadenlos durchgeholpert war ich, die Nadel nicht unter hundertvierzig, hundertfünfzig. Als Bandscheibenvorfall hatte ich den Wagen damals der Autovermietung zurückerstattet, unbrauchbar für den Nachmieter, wahrscheinlich nun statt meiner zur Verantwortung gezogen.

Aber nicht das mit der Brücke, das bin nicht ich gewesen, dass sie ein paar Tage nach meiner Überfahrt in sich eingeknickt ist. Verstörte Gesichter von Brückeningenieuren, Brückenstatikern, Brückenbegutachtern habe ich noch vor Augen, abgebildet in der Internetzeitung, in ihrem Rücken der geborstene Stahlbeton, die in die Höhe gereckten nackten Stahlstreben, die in sich verkeilten Straßenstückplatten inmitten der fröhlichen Frühlingshügel Siziliens. Selbst den Verkehrsminister hatten sie eingeflogen, aus dem fernen, ansonsten mit sich selbst beschäftigten Rom, vor einem geschundenen Pylon hatte er salbungsvolle Worte des Trostes, der Hoffnung und des Wiederaufbaus für die Brücke übrig gehabt, Worte, die der Frühlingswind, sanft das Mikrofon umspielend, sogleich ins Reich des Vergessens getragen hatte – wie auch immer, das bin ich nicht gewesen, das mit der Brücke.

„Das war ich nicht, das war schon so.“

Fließend der Gedankenübergang zum Lieblingssatz meines Sohnes, seine Satzperle gegenüber einer von ihm hinter sich gelassenen Sintflut, und kurz fällt mein Blick hinüber auf den Beifahrersitz, der ihm auf so vielen Fahrten mit mir sein Reich gewesen ist. Dieses Mal ist er allerdings leer, der Sitz, auf der jetzigen Fahrt, auf dem schnurgeraden Straßenabschnitt knapp hinter Villach, knapp vor Italien. Sein Beifahrertum hat er dieses Mal abgesagt, aus Pubertätsgründen, denn wer will schon sich mit fünfzehneinhalb im Beisein seines skurrilen, aus der Zeit gefallenen Vaters ertappen lassen, in Fleisch und Blut, in Zeiten peinlich überraschter Schnappschüsse im Internet? Was soll‘s, schon als Kind die Undankbarkeit schlechthin als Beifahrer gewesen, Müdigkeit, sein erster Einstiegsgedanke ins Auto immer schon gewesen, kaum angegurtet schon entschlafen, kaum dass mir die Zeit geblieben ist, das Auto anzulassen. Verziehen sei dir, mein Sohn, ist er mir wenigstens erspart geblieben, der Lieblingsspruch deiner Altersgenossen, beim Halt an der ersten Ampel:

„Sind wir schon da?“

Achtung! Ein Ordnungsgedanke, ein Aufmerksamkeitsgedanke, ein Habachtgedanke, der mich wachruft, aus dem Bann des Tempomaten und meiner an ein schnurgerades Lenkrad gehefteten Hände, da ist doch etwas gewesen, rechter Hand von mir, ein Verkehrsschild. Von einer Zählstelle hat es gesprochen, mich ermahnt, nicht die Spur zu wechseln, damit hier gezählt werden kann, automatisch wohlgemerkt, der Autodurchfluss, das sogenannte Verkehrsaufkommen, das, wenn ich unbedarft vor mich und durch den Rückspiegel hinter mich blicke, sich allein auf mich beschränkt. Mit dicker Sperrlinie auf dem Asphaltband mahnt sie nochmals zur Aufmerksamkeit, die automatische Zählstelle im Laufe des nächsten Kilometers.

Daseinsgedanken, Existenzial- und Sentimentalgedanken füllen meinen Kopf, denn schwermütig, so male ich mir den Zählstellenbeauftragten aus, wenn er wöchentlich mit einem orangegetünchten Einsatzwagen der Straßenwacht auf dem Pannenstreifen entlangtümpelt, auf dem Weg zu seiner Zählstelle, ebenfalls in Orange ein eintönig kreisendes Warnlicht auf dem Dach über seinem Kopf, und auf der Ladefläche neben unzähligen anderen Utensilien der unvermeidliche Schneebesen, hochgestakt wie eine Fahne. Mittlerweile ein kleines Bäuchlein angesetzt, so stelle ich ihn mir vor, den Zählstellenbeauftragten, wie er vor dem Zählstellenkasten hält und ihn entriegelt, ihm ein Kästchen voll angesammelter Daten entnimmt, und dann steckt er etwas in den Kasten zurück, ein frisches Kästchen, das nun Daten für die nächste Woche sammeln darf. Ja, damals in den Achtzigern, da war das noch etwas gewesen, der letzte Schrei der Technik, diese vollautomatische Zählstelle, besonders seine Vollautomatik, vorbei die Zeiten verschmierter Strichlisten von Hand. Und jetzt? Kontrolldaten, erklären sie ihm seinen archaisch analogen Aufwand, Kontrolldaten zu Datenfluten, die Satelliten in Blitzeseile aus dem Weltall herabschießen, genauer, akkurater, keine die Autobahn querende Ameise, die ihnen entgeht. Alles in allem keine Karriere, deren Früchte mein Zählstellenbeauftragter eines Tages an seinen Erstgeborenen würde weiterreichen können.

Und den Schalk im Nacken bin ich nun erst recht versucht, mich in Schlangenlinien durch diese Zählstellenpassage zu winden, trotz aufwarnender Sperrlinie. Wie wird der auf Automatik geeichte Zählautomat wohl auf mein aufsässiges Mäandern reagieren, wird er mich doppelt, vierfach, achtfach ankreuzen? Oder noch verwegener, nur halb, zu einem Viertel, zu einem Achtel? Oder noch schlimmer, lächle ich vor mich hin, wird am Pannenstreifen wie ein Pappkamerad ein Verkehrspolizist mit Kelle aufklappen, der zu allem Überfluss auch noch mein schwächelndes Rücklicht links hinten entlarvt?

Kreisgedanken einerseits, die sich wohlgefällig abrunden, deren Gedankenkettenglieder sich in sich schließen, und andererseits Scherengedanken, die, bereit zum Ausscheren, mit ihren Scheren nach weiteren Gedanken schnappen, um sie in den Kreis ihres Einflussbereichs zu ziehen, immer tiefer lullt es mich in Gedankenwelten so vieler abgefahrener Straßen, jeder Straßenmeter mit einem Straßengedanken behaftet, der noch daran klebt, wenn ich ihn wieder abfahre. Einen neuen, reiferen Gedankensplitter klebe ich dann hinzu, in den teerigen Asphalt, auf dass er dort haften bleibe, bereit zum Aufklauben bei der nächsten Durchfahrt.

Und an dieser Stelle kleben sie im Dutzend, hier auf dieser endlos zeitlosen Geraden dieses Autobahnabschnitts knapp hinter Villach, knapp vor der Grenze zu Italien, so oft bin ich hier durchgefahren, wie ein treuer Pilger. Zu einem schweren Gedankentropfen haben sie sich zusammengeklebt, teerig wie der Asphalt. Und in diesem Tropfen des Stillstands fühle ich mich gefangen, keine zwei Kilometer vermeine ich auf diesem Autobahnband im Niemandsland während der letzten gefühlten halben Stunde hinter mich gebracht zu haben, im unendlichen Fluss von Halbgedanken und Gedankensplittern.

Zurückversetzt in eine ähnliche Gedankenblase wähne ich mich, zurück an den langen Tisch einer Abendgesellschaft unter freiem Sternenhimmel, umtönt vom Geklirr sich zuprostender Gläser und dem Klappern der Gabeln, dem Schwätzen der Alten und dem spitzen Lachen der Frauen. Und dann stimmen die Jungen die Gitarren an, stacheln sich gegenseitig zu immer steileren Kadenzen hoch, und die Mädchen drehen sich im Rausch der Musik, ihre Hüften schwingen in der Trance des Tanzes, und mit einem vergessenen Lächeln verfolge ich das Schauspiel heraus aus einem Tropfen stillgewordener Zeit. Genauso fern und vergessen auch hier zwischen Villach und Italien der Gedanke an ein Ankommen, an das Erreichen meines Ziels, was auch immer es gewesen sein mag, ob Udine, Triest, Venedig oder gar ein entlegenes Ravenna, auf Wesentlicheres hat sich all meine Gedankenkraft konzentriert, einzig und allein dem Dazwischen gilt jetzt meine Aufmerksamkeit.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15115