Linda und der Obdachlose im Einkaufszentrum

In einem kleinen Einkaufszentrum war Linda gerade auf dem Weg in eine Tierhandlung, als ihr vor dem Geschäft ein junger Mann auffiel, der mit einem Hund auf dem Boden saß, ihn streichelte und liebevoll auf ihn einredete. Oje, ein Sandler, dachte sie. Normalerweise waren Obdachlose in Einkaufszentren gar nicht gerne gesehen, und wahrscheinlich würden sie ihn bald samt Hund hinauswerfen.
Etwas gedankenverloren erledigte Linda ihren Einkauf und als sie das Geschäft verließ, saß er noch immer da. Im Vorbeigehen betrachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Er war etwa Mitte zwanzig, dunkel gekleidet, äußerst rundlich und trug kurzes dunkelbraunes Haar mit Vollbart.
Sie war schon an ihm vorbei, als seine Stimme etwas lauter wurde und sie zu verstehen glaubte:  „Das passt schon, du brauchst mir nichts zu geben.“

Betroffen blieb Linda stehen. Schon wieder war sie einfach vorbeigegangen und hatte nicht geholfen. Allzu viel Geld hatte sie zwar nicht, aber ein paar Cent für einen armen Menschen könnte sie wohl entbehren. Sie kramte in ihrer Jackentasche und fand tatsächlich einige Münzen.
Während das schlechte Gewissen noch weiter auf sie einhämmerte, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zu ihm zurück.
Er hatte keinen Becher für Münzen vor sich stehen und so hielt sie ihm das Geld hin.
Als er aufsah, wandelte sich sein Blick von Überraschung zu Entsetzen.
„Äh, danke“, stotterte er. „Aber ich bin gar kein … Sandler … “
Oh. Oh Mann, dachte Linda. Andere Leute steigen ins Fettnäpfchen, ich nehme gleich ein Vollbad darin. Schwerstens peinlich berührt überlegte sie, wie sie dem Mann erklären konnte, dass er nicht wie ein Obdachloser aussah, obwohl sie ihm gerade genau das unterstellt hatte.
„Nein, natürlich, du siehst ja auch nicht so aus …“, gab sie stammelnd zurück. „Ich dachte nur, wegen dem Hund … “

Da schien der junge Mann die Parallelen zu bemerken und stand verlegen auf.
„Na klar, wenn da wer mit einem Hund sitzt … Das ist übrigens nicht einmal meiner.“
Und so erzählte er, dass seine Freundin shoppen gegangen wäre und er auf dem Weg ins Café einen herrenlosen Hund ohne Halsband gefunden hätte. „Und jetzt“, schloss er „sitze ich halt bei einem Hund statt bei einem Kaffee.“
Um von ihrem peinlichen Kennenlernen abzulenken, überlegten sie zusammen, wen sie jetzt anrufen sollten. Polizei? Feuerwehr? Natürlich, das Tierheim.

Während Linda auf ihrem Handy die Suchmaschine um die Telefonnummer des örtlichen Tierheimes bemühte, streichelte der junge Mann den Hund, was ihm ob seiner Leibesfülle im Stehen schwerfiel. Na klar, durchfuhr es sie, deswegen war er neben dem Hund gesessen.
Da kam eine junge Dame aus dem Geschäft gegenüber und rief den Hund, welcher sofort begeistert auf sie zustürzte.
„Was, der Hund gehört Ihnen?“, fragte der junge Mann überrascht.
„Ja klar“, lächelte sie und wandte sich zum Gehen. „Der wartet immer draußen, wenn ich einkaufen bin. Man sieht doch, dass er gepflegt ist.“
„Aber … “, stammelte er fassungslos „Er hat doch nicht einmal ein Halsband!“
„Braucht er auch nicht“, rief die junge Dame noch über die Schulter zurück und ließ die beiden wieder allein.

Da standen sie nun, und rangen in dieser absurden Situation um Worte.
„Okay“, sagte Linda schließlich. „Also das hat sich jetzt erledigt. Bitte entschuldige, du schaust wirklich nicht aus wie … “
„Nein, das passt schon“, unterbrach er sie. „Aber danke. Danke, dass du Geld hergegeben hättest und mir geholfen hast. Ich geh jetzt meinen Kaffee trinken.“
So verabschiedeten sie sich und als Linda beim Gehen über die Schulter zurücksah, warf er ihr ebenfalls noch einen verstohlenen Blick zu.
Während sie zum Auto ging, überlegte sie, was er wohl seiner Freundin sagen würde, wenn sie zurückkäme.
Freundin (überrascht): „Na, du hast ja deinen Kaffee noch nicht getrunken?“
Er (verlegen): „Ich habe vor dem Geschäft einen herrenlosen Hund ohne Halsband gefunden und mich zu ihm gesetzt. Da hat eine geglaubt, dass ich ein Sandler bin und wollte mir Geld geben. Also habe ich ihr erzählt, dass der Hund niemandem gehört, und wir wollten das Tierheim anrufen. Aber bevor wir die Telefonnummer gefunden hatten, ist die Besitzerin gekommen und hat den Hund mitgenommen.“
Freundin (schüttelt den Kopf): „Dich kann man auch keine zehn Minuten alleine lassen …“

Lydia Kellner

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 20079