Haarig oder Wie ich der Provinz entfloh
Oed. Oed bei Amstetten. Halbzeit. Ich sitze in meinem Ford Escort Baujahr 1975, der Motor auf Hochtouren, Rücksitz und Kofferraum prall gefüllt mit meinem wichtigsten Hab und Gut. Ich heiße Ferdinand, meine Freunde nennen mich Ferdl, und bin am Weg in die Hauptstadt. Die ungeliebte Hauptstadt – die Stadt der Raunzer, der arroganten Schnösel und die Stadt in der sich auch das Parlament befindet. Dort, wo wiederum schnöselige Raunzer über das Wohl des Landes bestimmen. Das Wohl, über das sich die Leute gerne und bei jeder Gelegenheit beschweren (die Österreicher sind ja bekanntlich Weltmeister im Raunzen und Beschweren) und sich sehr wohl in ihrem Wohl scheinbar äußerst unwohl fühlen.
Zurück zur A1, kurz nach Oed, in meinen geliebten knallroten Ford Escort – liebevoll auch „Gock“ genannt. Die Kassette im Autoradio leiert, und die ohnehin schon gezerrten und gedehnten Vokale von Liam Gallagher kommen dem Original noch näher – dem Walross und den ewigen Erdbeerfeldern: „I’d like to be somebody eeelse …“ Psychedelic pur.
Ich habe mich dazu entschlossen meine Heimat zu verlassen – ein in der tiefsten oberösterreichischen Provinz liegendes Dorf, wo ich meine ersten zwanzig Lebensjahre verbracht habe. Jeden Baum und jeden Stein kenne und jedes Traktorgeräusch auf Anhieb identifizieren kann. Aufgewachsen auf einem kleinen, idyllischen Bio-Bauernhof, im Stall eine Handvoll Kühe, ebenso viele Kälber und eine Ziege. Ringsherum grüne, saftige Wiesen, diverse Obstbäume, ein Stück Wald und ein dahinplätschernder Bach. Und ein kleines Dinkelfeld, wovon meine Mutter mithilfe einer kleinen Mühle Dinkelmehl mahlt und ab Hof verkauft. „Liebhaberei“ nennen das die Großbauern des Ortes abschätzig. Die politisch tiefschwarz eingefärbten mit ihren grünen, roten und manchmal auch blauen Traktoren. Und deren Viecher keine Namen, sondern Nummern tragen.
Der Grund meines Umzugs in die Hauptstadt ist, nun, nennen wir es „Berufsumorientierung“. Ich werde auf einem privaten College einen Lehrgang für Tontechnik besuchen, ja eigentlich zwei – den des Tonassistenten und anschließend den „Audio Engineer“. Danach sollte ich fähig sein, die bunten Knöpfe eines Mischpultes zu unterscheiden, und darüber hinaus natürlich noch mehr. Der Traum vom eigenen Studio, oder ein Job als Livemischer in einem etablierten Club – was es auch immer sein wird, die Entscheidung ist die einzig richtige. An die grantelnden Bewohner der Hauptstadt werde ich mich schon gewöhnen.
Im Dorf versteht natürlich niemand diesen Schritt: „In das graue, kalte und laute Wien will der Ferdl. Na das wird er sich bald anders überlegen.“
Aber der Ferdl ist Musiker, allerdings erfolglos. Und da muss sich was daran ändern.
Wobei es natürlich auch immer darauf ankommt, wie man Erfolg definiert, oder wer ihn definiert. Natürlich spiele ich regelmäßig Konzerte mit meiner Band, und die sind eigentlich auch ganz gut besucht. Allerdings sehe ich meist dieselben Gesichter vor mir – Freunde, Bekannte, manchmal auch Verwandte.
Und natürlich wird nach einem absolvierten Konzert auf die Schulter geklopft: „War mal wieder so richtig geil heut!“. Nein, war es natürlich nicht. Wahrscheinlich haben wir überhaupt noch nie ein „richtig geiles“ Konzert gespielt, nicht mal annähernd geil. Im besten Fall würde ich es als durchschnittlich bezeichnen – also, mit im besten Fall sind da auch die besten Fälle gemeint. Manche Abende können dann auch besonders mies sein. Wenn in der Pause plötzlich fast alle Freunde abhauen, weil sie angeblich am nächsten Tag früh raus müssen. Verständlich.
Mein Talent auf der Gitarre beschränkt sich auf ganze viereinhalb Akkorde. Klar, ein Neil Young hat mit diesen Akkorden Welthits geschrieben. Ein Noel Gallagher ebenfalls. Der hatte allerdings einen gut aussehenden Bruder, der und vor allem auch dessen Stimme das gewisse Etwas hatte und zur gottgleichen Figur einer ganzen Generation wurde. Später, als sie nur mehr eine Kopie der Kopie veröffentlichten (die allerdings ursprünglich ohnehin schon nichts anderes als eine Kopie gewesen war), kamen wir uns näher. Gallagher der Ältere und ich. Auf songwriterischem Niveau. Ich würd‘ jetzt mal sagen, dass ein paar meiner Songs auf Augenhöhe mit Oasis-Songs der Spätphase mithalten können.
Gut, mit den B-Seiten vielleicht. Und die der Spätphase sind ja nun wirklich nicht mehr der Rede wert. Realistisch gesehen beziehungsweise gehört sind sie Schrott. Die B-Seiten der Gallaghers. Also somit auch meine besten Songs.
Meine musikalische „Karriere“ begann … in der katholischen Jugend. Wer in der bereits erwähnten tiefsten oberösterreichischen Provinz aufwächst, wird schnell vor schwierige lebenswichtige Entscheidungen gestellt:
Feuerwehr und/oder Musikkapelle, Feuerwehr und/oder Fußballverein, Musikkapelle und/oder Fußballverein …? Und zum Erwachsenseinwerden und der damit verbundenen Reifung gehört natürlich auch der Anschluss an die örtliche Jugendgemeinschaft, meist zeitgleich mit dem Beginn einer Lehre oder einer weiterbildenden höheren Schule.
In meinem Fall fiel die Wahl zwischen der Landjugend im Nachbarort oder der katholischen Jugend meiner Heimatgemeinde. Schlussendlich machte Letztere das Rennen, man muss schließlich wissen „wo man hingehört“.
Da ich ständig von meiner Heimatgemeinde erzähle, möchte ich diese auch kurz vorstellen:
Der besagte Ort (dessen Name ich aus privatsphärischen Gründen hier nicht nennen werde) liegt am Fuße des Hausruckwaldes, welcher die Grenze zum Innviertel bildet – dem Viertel, das sich durch einen etwas raueren Umgang auszeichnet und welches durch einen in Braunau am Inn geborenen Wahnsinnigen weltbekannt wurde.
Der Ortskern besteht aus einer etwas sehr überpräsenten Kirche, umgeben vom örtlichen Friedhof, einem Kirchenwirt, einem weiteren Wirt (für die Nichtkirchgänger, damit auch diese unter sich sind) und einer Tankstelle. Und einem Friseur, direkt am Kirchplatz.
Der „Url-Sepp“, wie er liebevoll von allen genannt wird. Erfinder des Trademark-Haarschnitts in unserem Ort: vorne kurz, hinten kurz, Ohren frei.
Ich hab mich seiner Tochter anvertraut – also, rein geschäftlich. Die schneidet mir hin und wieder nach Ladenschluss meine halblangen Haare.
Dem Vater vertraue ich nicht mehr, seitdem er mir ohne mein Einverständnis seinen Trademark-Haarschnitt verpasste, einen Tag bevor ich beim Fotografen in der benachbarten Marktgemeinde einen Termin für ein Passfoto hatte. Und dieser Fotograf es wiederum schaffte, mich so unvorteilhaft wie möglich aussehen zu lassen! Dieses Foto ziert seitdem meinen Führerschein, und ich schäme mich jedes Mal, wenn ich mich damit ausweisen muss.
Und dann noch unser Supermarkt. Aus insolvenzabhängigen Gründen wurde mehrmals der Besitzer gewechselt, zuletzt wurde der Laden um mehr als die Hälfte verkleinert. Die wichtigste Einrichtung ist die Fleischabteilung, damit das Arbeitervolk die tägliche Wurstsemmel bekommt. Und die gestapelten Bierkisten. Ein Kasten Bier soll angeblich der durchschnittliche Tagesvorrat eines Maurers sein, und davon gab es mehrere im Ort. Im Kühlregal genau eine einzige Packung Biomilch. Perfekt abgestimmt auf Angebot und Nachfrage.
Die politische Gesinnung im Ort ist PECH.RABEN.SCHWARZ. Die rote Opposition ist geradezu lächerlich, die blaue Fraktion besteht aus einer Handvoll Altnazis und Grün existiert nicht. Oder so gut wie nicht. Vielleicht ein oder zwei Ganzjahresstrickpulliträger mit verfilzten Rastalocken. Neuhippies, die sich in ein altes Haus am Waldesrand eingenistet haben, mit einem verbeulten VW-Bus rumkurven und tagein tagaus Hans Söllner hören.
Nun ja, wie gesagt: Hier in diesem idyllischen kleinen Ort begann meine Karriere. Als ich sechzehn war bekam ich von meiner Mutter zu Weihnachten eine Gitarre – natürlich eine Konzertgitarre, mit Nylonsaiten. Absolut uncool für einen 16-Jährigen. Deshalb landete die Gitarre erstmal auch in der Ecke, wo sie monatelang fast unberührt verweilte. Monate später verspürte ich plötzlich den Drang, schnellstmöglich die lebenswichtigen (und vorhin bereits erwähnten) paar Akkorde zu lernen, damit ich am Lagerfeuer mit dem Anspielen diverser Klassiker auftrumpfen und die Mädels unseres Dorfes beeindrucken konnte. G, D, C und E-Moll. Später dann auch E-Dur und A-Moll. Das reichte um die der Allgemeinheit bekannten Klassiker aufzuspielen: Fendrich, Ambros, STS und dann noch ein paar englischsprachige Schlager – Beatles, Dylan, Young. Und natürlich Reim, immer wieder Reim. Matthias Reim. Verdammt ich lieb dich. Die Mädels kreischen, die Jungs jaulen. Und ich war Gott. Für viereinhalb Minuten. Am Lagerfeuer.
Beeindruckt zeigte sich auch Herbert, ein in der katholischen Jugend sehr aktiver und ebenfalls musikalischer Schönling aus dem Nachbardorf. Herbert hatte Klavier gelernt, spielte aber auch Gitarre. Besser als ich. Er beherrschte sogar den Barrégriff und war mir somit um vieles voraus.
Herbert war auf der Suche nach Mitgliedern für eine Band, vor allem auch nach Gesangstalenten. Meine „Reimerei“ dürfte Eindruck hinterlassen haben: Eines Tages fragte er mich ob ich denn Lust hätte in die geplante Formation mit einzusteigen. Was für eine Frage – und wie ich Lust hatte! Eine Band!! Hier in der Provinz!! Waaahnsinn! DER Traumboy für alle Mädels!
Wenige Wochen später fanden wir uns wieder, im alten Saal des örtlichen Pfarrheims. Wir probten für unseren ersten Auftritt, eine rhythmische Messe mit einem sehr gewagten Programm, unter anderem bestehend aus Liedern von „Jesus Christ Superstar“ und „Hair“. Vor allem Letzteres hatte es uns angetan – „Let the Sunshine in“ entpuppte sich als unsere Hymne! Textlich so einfach, dass selbst die nicht der englischen Sprache mächtigen Einwohner mitsingen konnten: „Läät se sannschaain! Läät se sannschaain in!“
Nach dem erwartungsgemäß großen Erfolg unserer rhythmischen Messe (abgesehen von ein paar alteingesessenen, stockkonservativen Einwohnern, die irgendetwas von Hippies und „N-Wort“-Musik dahermurmelten) kam auch bald die erste Anfrage: Wir bekamen die große Ehre am jährlichen Dorffest aufzutreten! Da ging quasi ein kleiner Traum für mich und uns in Erfüllung. Selbst meine Mutter erzählte es jedem Menschen, dass ihr geliebter und musikalisch so begabter Junge mit seiner neuen Band am Dorffest auftreten wird. – „Na wie heißt denn die Band?“
Tja. Wie heißt denn die Band … ein großes und äußerst schnell zu lösendes Problem stand somit an. Schließlich musste auf den Plakaten der Name der neuen Local Heroes stehen.
Also fanden wir uns beim Kirchenwirt ein, um uns – neugierig von allen Seiten beobachtet – in der ersten, offiziell angesetzten Bandsitzung über einen Bandnamen Gedanken zu machen.
Sehr schnell war klar, dass er irgendetwas mit unserer Hymne zu tun haben musste. Irgendjemand schlug dann einfach „Haar“ als Bandnamen vor. „Haar“? Klar, warum nicht? Lag doch so nah.
Erste Zweifel kamen uns, als wir uns vorstellten, wie der prall gefüllte Raiffeisensaal im Nachbarort (dies war der nächste Step unseres Masterplans) nach unserer Hymne (die mit dem „Sannschain“) euphorisch und lautstark uns zurück auf die Bühne fordern würde: „Haar! Haar! Haar!“
Das klang einerseits nach Kater Karlos Lachen, andererseits auch nach gar nichts. Vor allem, wo doch in unseren Breitengraden das rollende R sehr stark verbreitet ist. Das kann man den Leuten doch nicht antun: „HaaRR! HaaRR!“. Da musste was anderes her.
Und so begannen wir alles Mögliche mit dem Haar zu kombinieren. Mein grenzgeniales „Haarität“ wurde leider abgelehnt, ebenso (und Gottseidank) auch das „Haaribo“ unseres Schlagzeugers Günter. Herbert konnte sich durchsetzen (klar, er war ja auch quasi Bandleader) und so wurde aus der eben noch namenlosen Gruppe die Band
HAARIG.
Sinnlos zu erwähnen, dass unser Auftritt am Dorffest zu einem überaus großen Erfolg wurde. Manche sprachen von einem Meilenstein, vor allem die Bandmitglieder. Dass die meisten Leute akustisch nichts verstehen konnten, weil unsere zusammengebastelte Anlage – kombiniert mit einem billigen blaufarbigen Mikrophon einer ebenso billigen Stereoanlage – nur brummte und jegliche Frequenzen oberhalb 1000 Hertz quasi gar nicht oder kaum vorhanden waren … nun, diesen Aspekt ignorierten wir einfach. Der erste Schritt zur Welteroberung war getan und wir genossen das omnipräsente Schulterklopfen der darauffolgenden Wochen.
Ein paar Monate später löste sich in einem Nachbarort die Konkurrenzband auf. Der Name der Band ist mir nicht hängengeblieben, ist auch völlig nebensächlich. Aus heutiger Sicht. Damals war das ein großes Ding – in etwa vergleichbar mit dem großen Britpop-Battle zwischen Oasis und Blur. Mindestens. Die Auftrittsmöglichkeiten waren in der Gegend äußerst rar, und unsere Konkurrenten hatten einen großen Trumpf im Ärmel: Sie verfügten über eine Anlage! Inklusive eines Mischpults mit vielen bunten Knöpfen. Ein Traum. Nachdem sich die Band auflöste, musste sie natürlich auch ihren Traum von Anlage verkaufen – und da waren wir am Zug! Überglücklich unterschrieben wir den Kaufvertrag, schleppten und luden die übergroßen Boxen in den Kleinbus von Herberts Vater. Dass uns unsere ehemaligen Konkurrenten gewaltig über den Tisch zogen, war uns damals nicht bewusst. Hauptsache, wir konnten ab sofort Konzerte geben, wo und wann immer wir wollten.
Und vor allem die Anlage für diverse Parties in der Umgebung verleihen, für eine lächerliche Leihgebühr eines unbeschränkten Getränkekonsums aller Bandmitglieder. Und ich bot mich auch noch gleich als DJ an – wiederum eine gute Gelegenheit Mädels zu beindrucken. Dachte ich zumindest.
Irgendwann hatte ich dann auch keine Lust mehr, ständig „Summer of 69“ und andere abgedroschene Gassenhauer aufzulegen. Ich dachte ja, ich könnte der Jugend der Provinz kulturtechnisch weiterhelfen und ihren Musikgeschmack prägen. Mit „Wonderwall“ klappte das noch einigermaßen, bei „Common People“ von Pulp stiegen sie schon alle aus. Forget it.
Von hier an nutzte ich das neue revolutionäre Medium Minidisc, um bereits im Vorfeld 74-minütige Playlists zu erstellen. Wünsche wurden kaum noch erfüllt, der DJ betrank sich währenddessen an der Bar oder hinter seinem Pult.
Einen Sommer später widmeten wir uns dem nächsten Meilenstein: Unsere erste Demokassette sollte entstehen!! In der Zwischenzeit hatte ich begonnen, mit meinen viereinhalb Akkorden Songs zu schreiben. Besser gesagt: Adaptionen von meinen Lieblingsbands – hier ein Schuss Lennon, da eine Prise McCartney, dort ein wenig Neil Young. Die Texte waren natürlich zutiefst tragische Teenageralltagsproblem–Oden. Generation X, mehr muss man wohl nicht sagen.
Im Nachbarort, einer stattlichen Marktgemeinde, gab es einen audiotechnisch versierten Typen, der sowohl über ein kleines Mehrspuraufnahmegerät als auch „richtig gute Studiomikros“ verfügte. Er borgte uns für ein paar Tage sein ganzes Equipment – Zeit genug, um eine 5-Track-Demokassette einzuspielen. Dachten wir zumindest.
Unser Schlagzeuger scheiterte gleich mal an der ersten Hürde – dem laufenden Metronom, in tontechnischen Kreisen schlicht und einfach „Click“ genannt. Und so eierte er sich erstmal einen halben Tag durch die Songs und fluchte was das Zeug hielt. Die hochsommerlichen Außentemperaturen trugen ebenfalls ihren Teil bei, und dass unser temporäres Studio – der ehemalige Proberaum der Musikkapelle, im ersten Stock des Feuerwehrhauses – auch noch südlich lag, machte die Situation ebenfalls nicht besser. Wir leerten literweise Eisteepackungen – abwechselnd Pfirsich und Zitrone.
Nach einer mühsamen Woche des Aufnehmens dann die Erkenntnis, dass der Weltruhm weiter in die Ferne gerückt war, kaum noch erkennbar am Horizont, denn Weltruhm hat in erster Linie auch mit Weltklasse zu tun, und von Weltklasse waren wir noch weit entfernt, und hier untertreibe ich sogar gewaltig. Abschließend übergaben wir das ADAT-Band (ein digitales Band, das aussieht wie eine VHS-Kassette) zum Abmischen der Songs an unseren Hobbytonmeister. Das große, erwartete Wunder passierte bei diesem Vorgang leider auch nicht und so blieb es bei einer, in erster Linie für die Bemusterung von Veranstaltern, reinen Demokassette.
Viel passiert ist dann allerdings auch nicht, aber zumindest wurden wir zu einem Bandcontest in die Hauptstadt geladen. Was heißt geladen – wir durften uns bewerben und gleichzeitig dem Veranstalter ein gewisses Kontingent an Karten abnehmen. Dem Bewerbungsbogen lag noch ein Informationsblatt bei, in dem teilnehmenden Bands vorgerechnet wurde, wie sie denn mit diesem Kontingent Geld machen konnten.
Nämlich indem sie die ohnehin schon viel zu teuren Tickets nochmals um den doppelten Preis an ihre Fans – also Freunde, deren Freunde und vielleicht nochmals deren Freunde – verkauften. Ein vollkommen dämliches System, mit dem diverse Clubs junge unerfahrene Bands ködern, um ihre Hütten an konzertfreien Tagen auszulasten und damit auch noch der Öffentlichkeit verkaufen, dass sie dabei die Nachwuchsmusikszene unterstützen!
Und auch wir waren so blöd und fielen drauf rein, und dachten noch dazu, wir hätten Chancen auf die zweite Runde und eventuell auch noch auf das Finale.
Nun, nachdem wir in dem Laden ankamen, die Belegschaft und auch die Juroren sahen – da wussten wir, dass die Konkurrenzbands bedeutend mehr Chancen hatten und wir mit unserem angloamerikanischen Alternativepop (so bezeichnete man seinerzeit die Art von Musik die wir machten – später änderte man ständig die Kategorien, obwohl sich die Musik kaum veränderte) völlig fehl am Platze waren. Das restliche Programm bestand nämlich ausschließlich aus Metalbands, wo langhaarige Typen in enormer Geschwindigkeit versuchten, möglichst viele Riffs und Töne auf ihren Sechs- und Viersaitern innerhalb einer Minute zu platzieren, während ihre Sänger grunzten und grölten, was das Zeug hielt und die Schlagzeuger auf ihre überdimensionalen Drumsets (wofür zum Teufel braucht man fünf oder sechs Toms?) einprügelten. Und die Nonstopdoppelbassdrumkickerei löste zudem beinahe Herzrhythmusstörungen aus.
Wie auch immer das passiert sein mag – wir landeten trotz allem auf dem zweiten Platz. Was zwar bedeutete, dass wir für die nächste Runde nicht nach Wien reisen durften, allerdings doch genügend Grund war, unseren „Erfolg“ feuchtfröhlich zu feiern.
Dies war das letzte musikalische Erfolgserlebnis, oder überhaupt Erlebnis der „haarigen“ Bande. Für unseren Schlagzeuger ist’s vorerst mal vorbei mit haarig, dem seine Haare wurden nämlich um einen beträchtlichen Teil gekürzt. Der trägt nun auch den Trademarkschnitt vom „Url-Sepp“, allerdings nicht freiwillig, sondern aufgrund einer Einladung zum Wehrdienst.
Herbert studiert seit ein paar Monaten in Graz, Hauptstadt der Steiermark, dem selbsternannten „grünen Herz Österreichs“. Die traditionellen Sonntagsproben fallen somit weg, da er früh genug die Reise antreten muss. Früher als eigentlich sein müsste. Die Steiermark und Oberösterreich trennt eine Gebirgskette, die man zwar bereits durchbrochen hatte und durch die diverse Tunnel führen. Die zu nutzen kostet allerdings Maut, und so entschlossen sich die armen Studenten, den Tunnel großräumig zu umfahren, um die in etwa hundert Schilling zu sparen. Dies kostet ihnen zwar zwei Stunden ihres Sonntags (und in schneereichen Monaten auch einiges an Nerven), für das ersparte Geld kann sich aber die gesamte Fahrgemeinschaft eine Runde Bier spendieren und das ist doch eindeutig ein wesentlicher Punkt, der für die Umfahrung spricht.
Und ich? Ich sitze in meinem knallroten Ford Escort, auf der A1 kurz nach Loosdorf, und frage mich gerade, wie ich denn ohne Stadtplan mein Ziel finden soll? Erstmal abwarten, wird schon werden.
Ich lasse St. Pölten hinter mir und durchquere anschließend zum ersten und mit Sicherheit nicht letzten Mal den Wienerwald.
Die leiernde Oasis-Kassette musste inzwischen dem Radio weichen, wegen Verkehrsfunk und so. Der seit kurzem zum reinen Formatradio mutierte größte Sender des Landes spielt die neue Single von Paul McCartney. Klingt wie Electric Light Orchestra für Arme, inklusive eines furchtbaren Gitarrensolos mittendrin. Warum schneidet denn dies bitte niemand raus? Normalerweise müssen doch Gitarrensoli immer daran glauben, wenn ein Song nicht ins Formatradioformat passt. Aber wer erwartet denn bitte von Herrn McCartney noch irgendwelche musikalischen Wundertaten? Nach dem Verbrechen im Zuge der Beatles-Anthology-Veröffentlichung, dem aufgepeppten Demo eines Songs von John Lennon, den dieser zu Recht niemals veröffentlicht hatte.
Während ich mich noch über dieses Stück Scheiße (welches uns der staatliche, also von Steuergeldern finanzierte Sender als einen der „größten Hits der 70er, 80er und 90er“ verkaufen möchte) ärgere, taucht vor mir die Ortstafel auf … W I E N. Here we are!
Ein paar hundert Meter weiter entdecke ich eine Tankstelle, gleich daneben ein hoffentlich rettendes Infoschild. Nachdem ich meinen Escort mit bleihaltiger Flüssigkeit gefüllt habe, wandere ich zur Infostelle, wo ich auch sogleich von einer freundlichen Dame begrüßt werde. Auf meine Frage drückt sie mir einen kleinen Stadtplan in die Hand, ein übergroßes Manner-Logo erklärt dann auch warum dieser gratis ist. Ich erfreue mich an meiner Errungenschaft, die Dame lächelt mir nochmal zu und wünscht einen „schönen Aufenthalt in Wien“.
Glücklich und zufrieden latsche ich zurück zum Auto. Die Sache mit den Vorurteilen werde ich wohl noch etwas überdenken müssen.
Bernhard Eder
Links: www.bernhardeder.net, Blog
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 14066
(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text teilweise im Original belassen.)