Die Farben der Weihnachtszeit
In dieser Geschichte geht es, wie auch nicht anders zu erwarten, um Weihnachten. Jedoch geht es dabei mehr um ein Kaleidoskop an Emotionen, die diese wunderbar besinnliche Zeit mit sich bringt.
Denn nicht immer ist es einem vergönnt, sich in flauschige Decken gekuschelt und die Füße in Wollsocken gehüllt hinter einem spannenden Roman zu vergessen oder gedankenverloren die Lovestory im neuesten Netflix Weihnachtsfilm zu beseufzen.
Viel mehr ist diese Zeit – nicht nur, aber auch – durch äußere Einflüsse geprägt, die einem regelrecht die Sinne fluten. Sei es durch hektische Menschenmengen in Einkaufszentren, Mariah Carey oder Wham, die aus den Lautsprechern dröhnen, und nicht zuletzt durch organisatorische Belange, die für ein „besinnliches“ Weihnachtsfest geplant und umgesetzt werden wollen. Denn am Weihnachtsabend alle an einen Tisch zu bekommen, ist wahrlich ein frommer Wunsch, dem das eine oder andere graue Haar entschlossen zur Seite steht.
Emotionen sind bunt. So auch bei Helga, der Heldin unserer heutigen Geschichte. Und was wäre reizvoller, als diese Emotionen farblich zu untermauern – nicht zuletzt, um der allgemeinen Befindlichkeit unserer Protagonistin ein adäquates Bühnenbild zu gestalten und ihrem persönlichen Weihnachtsfilm das passende Drehbuch zu liefern.
Wir starten daher mit dem allseits bekannten Ampelsystem in den Farben Grün, Orange und Rot. Welche Farben danach noch hinzukommen, wird im Laufe der Geschichte vielleicht zu erahnen sein.
Helga
Helga war Mitte fünfzig und alleinerziehende Mutter zweier Teenager, da Karl – ihr Ex-Mann – im Rahmen seiner Midlife-Crisis vor zwei Jahren durchaus mehr mit seiner Pilates-Trainerin turnte, als seiner Ehe dienlich gewesen wäre. Doch als treibende Kraft eines gutbürgerlichen, familiären Konstrukts ließ sich Helga davon wenig beeindrucken, da Karls Qualitäten als Ehemann auch davor schon nicht von großer Ausdauer und Hingabe geprägt gewesen waren.
Helga war die zentrale Anlaufstelle der Familie. Die, die das Sonntagsessen mit einer extra Portion Liebe zubereitete, und die, die ihre Familie zusammenhielt, was auch immer geschehen mochte.
So ist es auch kaum verwunderlich, dass ihr gerade die kleinen Herausforderungen des Alltags, wie Feiertage und Familienfeiern, ein ganz besonderes Anliegen waren. Diese meisterte sie stets mit absoluter Präzision und subtilem Nachdruck, denn: Wenn man seine Lieben zusammenhalten wollte, war eine Prise latenten emotionalen Zwangs eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme.
Doch eines sei an dieser Stelle festgehalten: Trotz ihrer Niederlagen und Schicksalsschläge, die sie im Laufe ihres Lebens erleiden musste, hatte sie ein Herz in der Größe eines Kontinents, das jedem Hilfe zukommen ließ, wenn es notwendig war, und das für die Sorgen der Liebsten immer da war.
Doch nun wollen wir Helga ein Stück ihres Weges begleiten und mit ihr gemeinsam in eine phantastische Vorweihnachtszeit eintauchen – lasset die Spiele beginnen …
Grün
Es war der erste Dezember und Helga, die bereits tags zuvor die Herbstdekoration in den entsprechenden Kisten verstaut hatte, freute sich bereits auf Weihnachten und darauf, das Haus weihnachtlich zu dekorieren.
Die ersten Kekse waren schon gebacken und auch das Haus duftete bereits nach Zucker, Zimt und Schokolade. Im Radio liefen die ersten Weihnachtslieder und Helga konnte es sich nicht verkneifen, ihre vollen Hüften im Takt der Musik zu bewegen.
„Endlich Weihnachten“, dachte sie sich und machte sich frisch ans Werk, um auch die restlichen Familienmitglieder sowie die Nachbarn mithilfe zahlreicher LEDs an ihrer Freude teilhaben zu lassen.
Es dauerte knapp zwei Tage, doch dann war es vollbracht. Am dritten Dezember erstrahlte das Haus von innen und von außen in warmweißem Licht, wodurch ihre weihnachtliche Vorfreude visuell zum Ausdruck gebracht werden konnte.
Helga tänzelte durchs Haus und streichelte in Gedanken die Blasengel, die auf der Anrichte im Wohnzimmer drapiert waren. Am Ende ihrer Inspektion angekommen, betrachtete sie zufrieden den Adventkranz, dessen erste Kerze morgen angezündet werden würde.
Dazu hatte sie auch ihre Kartenrunde eingeladen. Eine gesprächige Gruppe an Mittfünfzigerinnen, die es liebten, in ihrer Freizeit Karten zu spielen und den einen oder anderen Dorftratsch zu teilen.
Auch am nächsten Tag ergossen sich Weihnachtsklänge aus dem Radio und Helga hatte bereits am frühen Morgen die Keksplatte vorbereitet, die ihr vor ihren Freundinnen als Trophäe und Beweis ihrer perfekten Backkünste dienen sollte.
Und was am ersten Adventsonntag auf keinen Fall fehlen durfte, war der Eierlikör – selbstverständlich aus eigener Produktion und im Laufe der Zeit perfektioniert, war er ihr absolutes Geheimrezept.
Als die Kartenrunde vollzählig versammelt war, bestaunte man die imposante Dekoration sowie die perfekt geformten kleinen Kekse und ging dann über in den herkömmlichen Rhythmus.
„Hast du schon gehört“, begann Ilse, „die Frau von unserem Bürgermeister hat bei der Gemeindeweihnachtsfeier das Klo vollgekotzt.“
„Na ja, entweder ist sie wieder schwanger, oder sie hat ein Gläschen zu viel erwischt“, entgegnete Maria schulterzuckend.
„Na ja, als Bürgermeistergattin sollte man sich schon zu benehmen wissen“, warf nun Herta ein, woraufhin Sissi erwiderte:
„Aber, aber, wir sind hier ja nicht bei den Royals in Großbritannien, und so ansehnlich sind unsere Häuptlinge auch nicht.“
Daraufhin folgte einstimmiges Gelächter und die illustre Damenrunde war bereits bei der zweiten Runde Canasta angelangt. Man leerte ein ums andere Gläschen Eierlikör, als die sonst eher stille Josefine plötzlich das Wort ergriff:
„Helga, ich muss dir was erzählen.“ Alle Anwesenden hoben neugierig die Köpfe und Helga, die erst neugierig und dann etwas verlegen hinter ihren Karten hervorlinste, erwiderte:
„Spuck’s aus, es wissen ohnedies schon alle …“
„Was, dass dein Karl mit der Pilates-Tussi ein Kind bekommt?“, fragte Josefine unsicher, und Helga entgegnete nüchtern:
„Ja, genau das hab ich gemeint. Und er ist nicht mehr mein Karl, schon lange nicht mehr!“
Die Damen der Kartenrunde blickten teils verächtlich, teils mitfühlend zu Helga, deren Missstimmung nun kaum noch zu verbergen war.
„Was soll man sagen“, durchbrach sie die Stille des Augenblicks, „er war schon immer ein Lump und das wird er auch immer bleiben.“
Die vermeintlichen Freundinnen zuckten bloß die Schultern, doch diese Geste ließ Helga in ihrem emotionalen Elend alleine zurück. Zwar hatte sie im Laufe der Zeit mit der einen oder anderen auch tiefsinnigere und unterstützende Gespräch geführt, doch am Ende des Tages waren sie Hyänen, die sich insgeheim am Leid der jeweils anderen gierig labten.
Orange
Am Ende dieses Tages war Helga deprimiert. Zwar wusste sie bereits um die Schwangerschaft, doch bis heute hatte sie es gekonnt verdrängt.
„Zum Gespött macht er mich, der Saukerl, und ich bin die verlassene Ex-Ehefrau, die mit den zwei Teenagern, die keiner mehr will und die ausgetauscht wurde gegen ein jüngeres, knackigeres Exemplar“, dachte sie insgeheim, als sie die Überbleibsel der Kartenrunde in den Geschirrspüler räumte.
Hübsch war sie gewesen, die Neue, und durchtrainiert, da konnte sie selbst wohl kaum mithalten.
An diesem Abend tröstete sie sich mit ein paar Gläschen Rotwein sowie einem Weihnachtsfilm, in dem der reiche Erbe eines Imperiums durch die sozialen Fähigkeiten einer im Ort beliebten Anwältin nachhaltig den Wert der Nächstenliebe kennenlernte und auch gleich umzusetzen vermochte, und der sich natürlich auch in die hübsche, junge Anwältin verliebte. Friede, Freude Hochzeit – am Weihnachtabend – und die Welt war wieder wunderbar. Zumindest im Fernsehen.
Doch Helga war noch immer am Grübeln, denn ER war noch immer da, der gekränkte Stolz. Er, der ihr die ganze Weihnachtsstimmung vermieste und der an ihr nagte, wie ein Hamster an einer Handvoll Körner.
Am nächsten Tag versuchte sie, die Blicke der Hyänen zu vergessen und ihren Alltag wie gewohnt wieder aufzunehmen. Sie war schließlich ein eigenständiger Mensch und NIE UND NIMMER ließ sie sich ihre heilige Vorweihnachtszeit durch ihren Ex vermiesen.
Gesagt, getan, setzte sie sich in ihr Auto und fuhr ins nahegelegene Einkaufszentrum. Denn einer vorweihnachtlichen Depression musste man mit einer Überdosis Weihnachten begegnen.
Dort angekommen, warf sich Helga todesmutig ins Getümmel. Sie shoppte, was das Zeug hielt, und als die Einkaufstaschen drohten zu platzen, setzte sie noch einen drauf und machte noch einen Abstecher zu Ikea.
Nach all den Vorbereitungen und Einkäufen war sie abends zu Recht müde. Und auch ihr kleines Auto hätte wohl kaum mehr in sich aufnehmen können, ohne mit dem Heck am Boden zu schleifen. Helga fuhr gemächlich zurück nach Hause. Draußen schneite es dicke weiße Schneeflocken und im Autoradio besang – parapapapam – David Bowie seinen „Little Drummer Boy“.
- Fast wäre Helga glücklich gewesen.
- Fast hätte sie die Demütigungen des letzten Tages vergessen und
- fast hätte sie den Weg nach Hause geschafft, wäre da nicht die Eisplatte gekommen, die unter dem Schnee in der nächsten Kurve schadenfroh auf sie wartete.
Helga gab alles. Sie riss das Lenkrad von links nach rechts, versuchte die Rutschpartie durch gekonntes Gegenlenken zu beenden – wie man es im Schleuderkurs gelernt hatte –, doch vergebens. Das Auto rutschte samt Helga und all ihren Einkäufen heckseitig in den Graben.
Rot
„Whoaaaa“, stöhnte Helga, was war das für ein Ritt. War noch alles dran an ihr? Und wie war es um ihr Auto bestellt? Mit zitternden Händen löste Helga den Sicherheitsgurt, öffnete die Autotür und stieg mit ebenso zitternden Knien aus dem Auto, das mit der Hinterseite ein wenig nach unten hing.
Helga stand schweigend da. Sie betrachtete fassungslos ihr Auto, das in ein Bachbett geschlittert war. Trotz ihres Schadens schickt sie ein rasches Stoßgebet nach oben, denn diese Misere hätte noch weitaus schlimmer ausgehen können. Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, griff sie nach ihm Handy. Die Nummer des regionalen Abschleppdienstes war rasch gefunden, doch bevor sie die Nummer wählen konnte, hörte sie ein fernes Geräusch, das näher zu kommen schien – war das ein Traktor?
Geistesgegenwärtig startete Helga die Warnblinkanlage ihres Autos und hupte lange und entschlossen, um den Fremden auf sich aufmerksam zu machen. Und tatsächlich: Wenige Minuten später stand da ein Traktor und ein bärtiger Mann stieg aus der Fahrerkabine.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er Helga, die ihm nun heulend ob des nachlassenden Schocks „ja bitte“ entgegenhauchte.
Ein Abschleppseil war schnell zur Hand und eins, zwei, drei stand ihr Auto wieder auf der Straße.
„Was für ein Glück, dass Sie in der Nähe waren – vielen DANK für Ihre Hilfe“, bedankte sich Helga bei dem Fremden und musterte ihn nun von oben bis unten. Obwohl sie nicht zu sagen vermochte, woher sie ihn kennen könnte, fragte sie: „Kennen wir uns? Sie kommen mir so bekannt vor.“ Auch der Fremde musterte sie nun eindringlicher.
„Bist du die Helga?“, fragte er nach ein paar Sekunden, Helga Enzenbacher? „Fischer“, entgegnete sie nun ein wenig verwirrt. „Enzenbacher ist mein Mädchenname. Und wer bist du?“, fragte sie den Fremden. „Thomas Bauer, wir sind gemeinsam in die Volkschule gegangen, erinnerst du dich nicht mehr?“
Und plötzlich durchfuhr sie ein Geistesblitz, und Erinnerungen über eine längst vergessene Zeit machten sich in ihr breit.
Thomas war ein stiller, freundlicher Junge gewesen. Einer, der sich nicht an den Streichen der anderen beteiligte, und einmal ist er sogar dazwischengegangen, als die restlichen Jungs eine Gruppe von Mädchen, der sie auch angehörte, an den Zöpfen zogen.
„Bist du nicht nach Kanada ausgewandert?“, fragte Helga neugierig. „Du hast doch irgendwas Technisches studiert und dann dort Karriere gemacht. Zumindest erzählt man sich das so bei den Klassentreffen.“
„Ja, so ähnlich“, erwiderte Thomas. „Ich durfte in Kanada bei einigen Forschungsprojekten mitmachen, aber da meine Eltern jetzt zu alt sind, um sich um unseren Hof zu kümmern, bin ich vor drei Wochen zurückgekommen, um ihn zu übernehmen.“
„Na da schau her“, staunte Helga. „Der verlorene Sohn ist zurück aus Übersee, da werden sich deine Eltern sicher sehr freuen, und wie man sieht – sie deutete auf ihr Auto –, war das nicht die einzige gute Tat, seit du zurück bist.“
„Zur rechten Zeit am rechten Ort“, entgegnete er und lächelte ein wenig schelmisch.
Helga war nun gänzlich durchgefroren und auch Thomas spürte die Kälte dieses Winterabends, die ihnen beiden zunehmend unter die Kleidung kroch. Beide waren sich einig, dass sie sich bald auf einen Kaffee im Warmen treffen wollten, um die Erinnerungen der Kindheit nochmals aufleben zu lassen. Zudem wollte Helga ihren Retter auch auf ein Stück Kuchen einladen, denn für seine rasche Hilfe war sie ihm mehr als dankbar.
Zu Hause angekommen bemerkte Helga ihre schweren Glieder. Die Muskeln taten ihr am ganzen Körper weh und sie fühlte sich, als hätte sie ein ganzer Konvoi an weihnachtlichen Coca-Cola-Trucks überfahren. Das musste der Schock gewesen sein, der nun ausließ, und auch die Schlitterpartie ins Bachbett hatte sie ordentlich durchgebeutelt.
Als sie endlich die letzten Einkäufe verstaut hatte, ließ sie sich auf die Couch fallen und ein paar Tränen kullerten ihr über ihr müdes Gesicht: Die Bilanz der bisherigen Weihnachtszeit ließ zu wünschen übrig:
- Ihr Ex, der sie betrogen und für eine Jüngere verlassen hatte, wurde nochmal Vater.
- Die Kartenrunde, oder besser gesagt, die Dorfweiber wetzten das Maul hinter ihrem Rücken und geiferten nach Dramen, um nicht vor ihren eigenen Türen kehren zu müssen,
- und vor wenigen Stunden hatte sie auch noch einen Autounfall. Das war zu viel in zu kurzer Zeit, und weinen half – zumindest für den Moment.
Auch die Tage darauf waren nicht von Glücksgefühlen gekrönt. Sie spürte ihren geschundenen Körper noch immer und auch die depressive Verstimmung wurde nur langsam besser.
Doch nun freute sie sich doch ein wenig, denn am Abend würden ihre Söhne wieder nach Hause kommen. Sie waren in der vergangenen Woche mit ihrem Vater – dem Lump – Schifahren gewesen und obwohl ihr eine kleine Pause vom pubertären Alltag durchaus guttat, hatte sie die beiden ganz schön vermisst.
Beim gemeinsamen Abendessen freute sich Helga schon auf die Geschichten, die die beiden von ihrem Ausflug erzählen würden.
Um die beiden gebührend zu begrüßen, hatte sie Spaghetti Bolognese gekocht und für die selbstgemachten Nudeln war sie fast drei Stunden in der Küche gestanden.
Beim Essen waren ihre Jungs eher wortkarg gewesen. Keine Geschichten über wilde Abfahrten, Après-Ski oder neue Bekanntschaften. Der eine beschwerte sich darüber, dass ihm in der Sauce zu viel Fleisch sei, denn er wollte sich künftig vegan ernähren, wie die Freundin des Vaters, und auch beim Weihnachtsessen könne Helga künftig doch bitte mehr auf Nachhaltigkeit achten.
Der andere war mit seinem Handy beschäftigt, um die coolsten Schnappschüsse aus dem Schiurlaub auf Instagram zu posten. Und als Helga und Sohn 1 bereits fertig gegessen hatte, saß Sohn 2 noch immer vor einem vollen Teller. Nur um sich dann bei Helga zu beschweren, dass das Essen kalt war.
Obwohl Helga ihre Sprösslinge abgöttisch liebte, stieg ihr der Zorn immer weiter hoch. Verwöhnt hatte sie diese Fratzen. Einer undankbarer als der andere, keiner half im Haushalt und ihr Held war ausschließlich ihr Vater. Sie, die Mutter, war schon seit einigen Jahren abgeschrieben.
Als die Jungs wieder mal aufstehen wollten, ohne ihre Teller in den Geschirrspüler zu räumen, platzte ihr der Kragen.
„Bin ich eure Dienstmagd?“, feuerte sie in ihre Richtung. „Räumt eure Teller ab und in Zukunft spielen wir hier andere Töne, habt ihr mich verstanden? Ihr werdet künftig beide im Haushalt helfen, sonst ist euer Taschengeld gestrichen.“
Unbeeindruckt über Mutters kleinen Wutanfall stellten die Jungs ihre Teller in die Spüle und gingen mit verächtlichen Blicken in ihre Zimmer. Aus dem Flur entnahm Helga dann noch einzelne Worte wie „uncool“, „hysterisch“ und „alt“, bevor sich die Zimmertüren für den Rest des Abends schlossen.
Das Letzte, was Helga an diesem Abend durch den Kopf ging, bevor sie – innerlich ein wenig leer – einschlief, waren die Worte „uncool“ und „hysterisch“ und „alt“, die sich wie ein negatives Mantra in ihren Träumen manifestierten.
Schwarz
Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Flug und plötzlich war bereits das dritte Adventwochenende erreicht. Eine Woche noch und Weihnachten stand vor der Tür. Sie freute sich auf den Weihnachtsabend, an dem sie mit ihren Söhnen, ihrer Mutter sowie mit ihrer Schwester und deren Familie das Weihnachtsessen genießen würde. Das Haus würde voll sein, der Tisch würde sich biegen und ihre kleinen Nichten würden große Augen machen, wenn das Christkind im Nebenraum klingelte.
Helga hatte bereits alle Weihnachtsgeschenke beisammen. Die Lebensmittel für das Weihnachtsessen waren weitestgehend besorgt und auch das Haus hatte sie schon vor Wochen blitzblank geputzt.
Am heutigen Adventsamstag würde sie ein letztes Mal ins Einkaufszentrum fahren, um die letzten Besorgungen zu machen.
Dort angekommen staunte sie nicht schlecht, als sie mit Müh und Not noch einen Parkplatz finden konnte. Auch die Fahrt selbst war etwas holprig gewesen, da ihr der junge Fahrer einen Golf GTI frech den Mittelfinger gezeigt hatte, bevor er mit voll Speed an ihr vorbeischoss, und sie konnte gerade noch ausweichen, als ihr ein älterer Herr mit Hut und Brille die Vorfahrt nahm.
Im Geschäft ihres Vertrauens musste sie sich mit einer Altersgenossin verbal um das letzte Stück Butter prügeln, doch dieses würde sie nun als stolze Beute beharrlicher Zickerei im letzten Keksteig verarbeiten.
An der Kasse angekommen, spürte sie mehrmals den Einkaufswagen des Hintermannes in ihrem Rücken, der offenbar versuchte, sie damit zu penetrieren. Helga drehte sich um und blickte ihm geradewegs in sein ignorantes Gesicht.
Der innere Monolog beider Parteien gestaltete sich in absoluter Stille, doch auch Gedanken sind dann und wann telepathisch hörbar:
Helga: „Wenn du mir deinen verdammten Einkaufswagen noch mal in die Flanken schiebst, verprügle ich dich mit deinem Baguette und reibe dir das Gesicht mit deinem beschissenen Vanilleeis ein.“
Hintermann: „Wenn du blöde Zicke mich noch länger anstarrst, anstatt deine scheiß Sachen aufs Förderband zu legen, falte ich dich in deinen Einkaufswagen und schieb dich mitsamt deinen Einkäufen in den nächsten Gully.“
Helga: „Bevor du mich in den Gully schiebst, tunke ich dich mit dem Gesicht voraus ins nächste Kaufhausklo.“
Obwohl die Stille des Augenblicks nie durchbrochen wurde, einigten sie sich dann nonverbal darauf, den Bezahlvorgang so rasch wie möglich abzuschließen.
Auch die letzten Meter zum Auto gestalteten sich abenteuerlich, als ein sensorisch überfordertes Kind Helga brüllend gegen das Schienbein trat, ihr im Wutanfall seinen Kakao vor die Füße kotzte und die Eltern des Kindes sie vorwurfsvoll ansahen, weil sie ihnen nicht half, die Sauerei wegzuputzen.
Zu Hause angekommen wollte sich Helga regelrecht verbarrikadieren. „Nur noch Verrückte da draußen“, dachte sie mit pochendem Herzen, „eine Zombieapokalypse ist ein Dreck dagegen.“
Die folgenden Tage waren eher ereignislos. Zu Weihnachten selbst stand sie bereits um 6:00 morgens auf, um rechtzeitig mit allem fertig zu werden. Sie hackte, kochte, rührte und buk, als würde ihr Leben davon abhängen, und als die letzte Serviette feinsäuberlich gefaltet auf dem Teller drapiert war, kamen auch schon die Gäste.
Beim Essen lästerte Sohn Nr. 1 über die Fleischvielfalt am Tisch, die Nichten bewarfen sich gegenseitig mit Rotkraut und die Schwester schickte Helga drei Mal in die Küche, um das Fresschen von Daisy, ihrem geliebten Chihuahua, auf Temperatur zu bringen. Obwohl Helga all das schon lange gewohnt war, war es diesmal anders. Sie spürte, wie ihr linkes Augenlid zuckte, doch sie wollte sich vor den anderen nichts anmerken lassen.
Als Helgas Mutter das Thema Karl – der Lump – zur Sprache brachte, kochte die Situation jedoch über. Neben Bemerkungen wie „hättest du dich mehr gekümmert“ und „er war ja immer ein guter Ehemann“, war ihr wieder einmal die Schuld in die Schuhe geschoben worden, dass ER fremdgegangen war.
Helga sah rot, dann schwarz und plötzlich hörte sie sich selbst schreien, wie aus weiter Ferne, doch unfähig die Szene harmonisierend zu beeinflussen:
„…Und hättest du, liebe Mutter, dich nicht permanent eingemischt und mir gesagt, was für eine miese Mutter und Hausfrau ICH bin, wäre ich der Situation vielleicht gewachsen gewesen.“
Sie sah zur Schwester, die ihr gerade erneut Daisys Napf in die Hand drücken wollte, und fuhr fort: „Und du meine Liebe bewegst jetzt deinen Hintern in die Küche und wärmst dein Hundsfutter gefälligst selber auf.“
Auch die Jungs bekamen ihr Fett ab, als Helga ihnen die Handys aus der Hand riss, um sie mit einer gekonnten Handbewegung direkt aus dem Fenster zu werfen.
Am Ende war es nun doch eskaliert. Sowohl die Gäste als auch Helga sahen sich schweigend an. Auch den Rest des Abends verbrachte man eher still, und als die Geschenke verteilt waren, verabschiedeten sich alle in Windeseile, auch die Jungs, die hysterisch nach ihren Handys suchten.
Weiß
Helga war müde. Nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen, des heutigen Tages selbst, an dem sie den ganzen Tag in der Küche gestanden hatte und nicht zu vergessen, der Wutanfall, setzte sie sich auf die Couch, legte die Füße auf den Tisch – was sie sonst eigentlich nicht tat – und schloss für einen Moment die Augen. Die Jungs waren mit den Fahrrädern zu ihrem Vater gefahren und Helga genoss die Stille. Als ihr Handy vibrierte, sah sie eine Nachricht von Thomas, der ihr – und sicher auch vielen anderen – „Merry Christmas“ wünschte.
Sie antwortete ihm prompt, doch damit, dass er sie anrufen würde, hatte sie nicht gerechnet. Es war erst 21:30 gewesen und er fragte sie, ob sie auch ins nahegelegene Pub mitkommen möchte. Der Wirt öffnete das Pub am Weihnachtsabend ab 22:00 Uhr und jene, die ein wenig ausgelassener feiern wollten, trafen sich dort noch auf einen nach-weihnachtlichen Umtrunk.
Helga willigte sofort ein. Denn weshalb sollte sie alleine zu Hause bleiben, wenn woanders die Post abging. Lang genug war sie die brave Hausfrau gewesen, doch jetzt wollte sie einfach einmal Gas geben.
Gesagt, getan, trafen sie sich im Pub und ein paar Bier später wusste Thomas, dass Helgas Ex fremdgegangen war, dass Karl ein Lump war, sie zwei undankbare Teenager großzog. Thomas hörte zu, und als sie ihm redlich angeschickert ihr Leid klagte, sich wertlos und alt zu fühlen, ergriff er die Gunst der Stunde, um sie auf den Mund zu küssen.
Helga war verblüfft, doch dem ersten Kuss folgten an diesem Abend noch weitere. Am übernächsten Tag verabredeten sie sich bei Thomas zu Hause. Denn er wollte ihr seinen Hof zeigen und vielleicht noch ein bisschen mehr.
Als Helga den Traktor sah, der sie aus ihrer Misere gerettet hatte, fragte sie schüchtern, ob sie nicht eine kleine Runde drehen könnten. Helga wollte schon immer mal auf einem Traktor mitfahren, doch es hatte sich bis heute nicht ergeben.
Thomas freute sich über Helgas Interesse, und als die Fahrt losging, strahlten beide übers ganze Gesicht. Helga gefror jedoch ihr Lächeln, als sie bemerkte, dass die Fahrt etwas holpriger sein würde als zunächst gedacht. Sie blickte an sich hinab und sah ihren Busen, der sich im Takt des Motors bewegte.
„Herrje“, dachte sie, „ich hätte meinen Sport-BH anziehen sollen.“ Sie ließ sich jedoch nichts anmerken und lächelte ihm immer noch zu.
Auch Thomas waren die aktuellen Geschehnisse nicht entgangen.
„Bewegte Aussicht“, dachte er und gab ein bisschen mehr Gas, um die Dynamik des Augenblicks proaktiv zu unterstützen.“
Helga, die sich noch immer nichts anmerken ließ, hüpfte in der Kabine auf und ab. Thomas genoss den Anblick, doch Helga wurde langsam etwas mulmig:
„Ich muss gleich kotzen“, dachte sie und legte ihm intuitiv die Hand auf die Schulter. Thomas verstand die Geste und blieb stehen. Er zog Helga auf seinen Schoß und die Küsse des Weihnachtsabends fanden ihre Fortsetzung.
Weiß beschreibt den Neuanfang in unserem Bühnenbild. Wie Buchstaben, die sich auf weißem Papier zu neuen Sätzen formen. Auch für Helga ist in neues Kapitel angebrochen, und was bleibt uns anderes, als ihr Glück zu wünschen, und dass sie den nächsten Weihnachtsbaum gemeinsam mit ihrem Thomas schmücken wird.
Verena Tretter
www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23180