LIES MICH!
Roman schlendert durch die Innenstadt, als ein Buch direkt vor ihm auf den Gehsteig knallt. „Raus damit!“, hört er zugleich eine Frauenstimme aus einem weit geöffneten Fenster im dritten Stock kreischen. „Raus!“ – „Raus!“ – und mit jedem weiteren „Raus!“ wird temperamentvoll ein Buch aus dem Fenster geschleudert. Ein junger Mann stürzt aus dem Haustor und beginnt hastig, die Bücher aufzusammeln.
„Meine Freundin ist wütend auf mich, weil ich lieber lesen als mich mit ihr unterhalten will“, klärt er Roman unaufgefordert auf, während ihnen beiden nun gelbe Reclam-Hefte um die Ohren flattern. „Tja, meine baldige Ex-Freundin ist sehr temperamentvoll“, fügt der Mann seufzend dazu. Roman, der sich weder mit aus Fenstern fliegenden Büchern noch mit Konflikten fremder Leute auseinandersetzen, sondern in Ruhe seinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang fortsetzen will, möchte diesen dramatischen Ort rasch und dezent passieren, als ihm ein schweres Buch auf den Kopf fällt und dann vor seinen Füßen landet.
„LIES MICH!“, kann Roman noch den in Goldbuchstaben gedruckten Titel des dicken, rotgebundenen Buches entziffern, bevor ihm schwarz vor Augen wird.
„Oh, wie furchtbar!“, hört er den jungen Mann entsetzt rufen. „Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt!“
„Aber nein, alles gut“, beeilt Roman sich, diese Gefahrenzone nun endlich zu verlassen. „Alles gut, alles gut.“
Und er geht, nein, er schwebt nun förmlich weiter, fühlt sich trotz Brummschädel so ungewohnt beschwingt, dass er ernsthaft überlegt, ob eventuell durch die Wucht, mit der dieses schwere Buch seinen Kopf getroffen hat, irgendein bis dahin schlummerndes Areal seines Gehirnes aktiviert worden ist und dies jene wunderbare Leichtigkeit in ihm auslöst.
„Lies mich, lies mich …“, summt er fröhlich die beiden Wörter vor sich hin, die golden vor seinem inneren Auge leuchten.
‚Warum eigentlich nicht?‘, denkt Roman übermütig, ‚warum eigentlich nicht wieder einmal ein Buch lesen?‘
Er überlegt, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen ist. Es liegt tatsächlich viele, viele Jahre zurück. Roman ist ein Spaziergänger, ein Billardspieler, ein Katzenfreund, ein Pfeifenraucher. Roman ist vieles, aber kein Leser. Er biegt in die Fußgängerzone ein und schreitet feierlich auf eine kleine Buchhandlung zu. Höflich lässt er einer alten Frau den Vortritt, die ebenfalls in den Laden will und folgt ihr hinein. Drinnen grüßt er lächelnd die telefonierende Buchhändlerin, und nickt freundlich einem älteren Mann zu, der tief in einem Ohrensessel und in ein Buch versunken ist. Der Lesende, die alte Frau, die sogleich zielsicher ein Regal mit der Kennzeichnung Lyrik ansteuert, und er, Roman, sind die einzigen Kunden.
Roman sieht sich um und stellt sich schließlich vor eine Bücherwand mit der Aufschrift Romane – nomen est omen. Als er seinen Blick über die Bücher in den Fächern schweifen lässt, bleibt dieser auf einem ihm bekannten, dicken roten Buch hängen.
„Ah!“, entfährt es Roman überrascht und „He!“, ruft er empört, als ihm plötzlich der vertraute, goldene Titel „LIES MICH!“ ins Auge springt. Seine gute Laune verschwindet schlagartig. Tiefste Beunruhigung macht sich stattdessen in ihm breit.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigt sich die Buchhändlerin, die ihr Telefonat beendet und sich kundenfreundlich zu Roman gesellt.
„Ich bitte darum! Stellen Sie sich vor: Der Titel dieses Buches da ist mir soeben ins Auge gesprungen. Wenn Sie so nett wären …“
„Aber gerne. Dieses hier?“ Sie greift nach dem roten Buch. „Igitt! Was klebt denn da Ekliges auf dem Cover? Und warum steht da kein Titel darauf?“
„Das Eklige“, räuspert sich Roman beleidigt, „ist mein Blick, der an dem Buch hängen geblieben ist. Und der Titel ist mir, wie schon gesagt, vorhin ins Auge gesprungen. Bitte helfen Sie mir, ihn wieder herauszufischen, es juckt entsetzlich!“
„Ich fische doch nicht in fremden Augen“, weicht die Buchhändlerin, das rote Buch zwischen spitzen Fingern, hinter ihr Kassapult. „Ich ersuche Sie, Ihr Problem eigenhändig zu lösen.“
„Aber ich schaffe es nicht ohne Hilfe“, klagt Roman, und zwinkert mitleiderregend. „Und schließlich entstand mein Problem aufgrund eines Buches Ihrer Buchhandlung.“
„Junger Mann, ich will mich ja nicht einmischen“, mischt sich der ältere Mann im Ohrensessel ein, „aber ich finde Ihr Jammern so dermaßen absurd. Offensichtlich haben Sie keine Ahnung von Büchern. Der Sinn und Zweck guter Bücher ist doch, dass sie uns zunächst einmal ins Auge springen. Und dann, beim Lesen, da sollen sie uns im Innersten treffen, uns aufwühlen, uns den Atem, den Schlaf, ja, sogar den Verstand rauben! Dieses hier zum Beispiel“, hebt er das Buch in seinen Händen demonstrativ hoch, „dieses Buch liegt mir schon nach wenigen Sätzen im Magen, es geht mir an die Nieren – und, jammere ich deswegen?“ Er schnauft verächtlich. „Im Gegenteil, ich freue mich darüber! Sie sollten dankbar sein, wenn Ihnen ein Buch ins Auge sticht, denn dann will es von Ihnen gelesen werden! Also kaufen Sie es gefälligst, anstatt sich zu beklagen, und setzen Sie sich mit ihm auseinander!“
Und sichtlich, erschöpft nach seinem langen Plädoyer, verschwindet der Mann wieder hinter seinem Buch.
„Das sind die Kunden, die wir brauchen“, seufzt die Buchhändlerin zufrieden, und sagt dann an Roman gewandt: „Auch ich empfehle Ihnen, jenes Buch zu kaufen, an dem Ihr Blick kleben geblieben ist. Das Lesen dieses Buches wird Ihnen garantiert die Augen öffnen. Es kostet zwanzig Euro.“
Flink befördert sie das rote Buch in eine Papiertasche und reicht sie Roman.
„Sie erlauben doch –“, drängt sich die alte Frau vor. „Sie erlauben doch, dass ich zuvor diesen Lyrikband bezahle? Wissen Sie, ein Gedicht darin hat mich direkt ins Herz getroffen.“
„Aber natürlich, bitte, sehr gerne“, flüstert Roman und reibt beschämt so unauffällig wie möglich sein Auge.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 24068