Der tolle Mann - ein Fragment
Plötzlich verstand ich sie. Warum sie von ihm nicht loskam, was es war, das sie so unglaublich anzog, über Jahre schon. Und warum es ihr unmöglich war, von ihm zu lassen.
Er war ein echt toller Mann. Er hatte, was die Mehrheit der Geschlechtsgenossen so schmerzlich vermissen ließ: Humor, Scharfsinn, Charme und Ironie in der genau richtigen Dosierung. Darüber hinaus war er feinsinnig und großzügig, einer der wenigen, die sich nicht nur dem eigenen Ego verschrieben hatten, viel zu lange schon. Solche wurden bitter, hart und hartnäckig verschwiegen, vergraben in das Eine, das Einzige, das Ewige, das Selbst. Wie mager diese Ausbeute, was war da schon zu holen? Immer das Gleiche, in unzähligen Varianten, die genauer betrachtet gar keine waren.
Dieser Mann war anders. Er überraschte sie, war spontan und hingebungsvoll, und wenn er etwas mit sich selbst auszumachen hatte, so äußerte er zumindest das, sodass sie es gut nehmen und ihn in Ruhe lassen konnte.
Er hatte nur einen offensichtlichen Haken, dieser Traumprinz, und dieser Haken glänzte golden.
Er gehörte einer anderen. Falls ein Ehering Besitz symbolisieren sollte, und für manche tat er das auch. Wie sie das sah, wusste ich nicht. Ich verstand nur, dass sie bis zu einem gewissen Grad zurückschreckte vor dem letzten Schritt, der einen Frage, dieser einen Entscheidung, vor die sie ihn nie stellte: „Sie oder ich?“
Diese Frage blieb also unbeantwortet, vielmehr ungestellt. Auch wusste sie nicht, wie das Zusammenleben mit ihm war. Wie schwermütig seine Abende ohne sie verliefen, wie wenig er sich mochte und wie gut er an sich selbst leiden konnte.
Das sprühende Charmebündel, das er nach außen gab, war innen nicht gefestigt, eine lose Konstruktion, gebildet, um anderen zu gefallen.
Es klappte ganz gut, das fehlende Fundament zu verbergen, außer, man verbrachte die vielen Tage und Abende und Nächte mit ihm, in denen er zweifelte, meinte, in und an allem zu versagen, nichts wert zu sein und darum auch nicht geliebt zu werden. Wer es dennoch tat, mit dem musste etwas nicht stimmen.
Was half alles Gegenreden, Mutzusprechen, Ermutigen und Ermuntern, wenn die Seele in ihren Grundfesten erschüttert war? Ich wusste nicht, wie es mit ihr gewesen wäre, wenn sie es wirklich versucht hätte, alles, ihr Leben seinen Stimmungsabschwüngen unterordnen, seine Kraft sein wollte, seine Lebenslust, seine Muse. Ich wusste es nicht.
Ich wusste aber, es würde schwer werden, bleischwer. Und ich musste es wissen. Ich hatte es die vielen Jahre versucht, mit diesem tollen Mann, meinem Mann.
Carmen Rosina
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