Atem holen

Alles ist im Fluss, heißt auch nicht viel mehr als: Alles verläuft sich, verrinnt, unterliegt dem Wandel. Andernfalls wäre Existieren die Verewigung des erstarrten Moments – das Schicksal der im Bernsteintropfen eingegossenen Urzeitfliege. Die Metapher vom „Fluss des Lebens“ – mag sie verfangen? Wo soll es denn münden, dieses mäandrierende Gewese? Etwa im Tod, von dem sich der Gläubige erhofft, er stünde zwischen der Verheißung eines Aufgehens in Gott und der irdischen Plackerei? Ist es Sarkasmus, zu monieren, die Zeit hätte lediglich für Lebewesen Bedeutung und keineswegs für die Materie als solche, für das Universum als Ganzes? Lediglich.
Schwermütig sollte man nicht in den Zug steigen. Man wählt einen Platz am Fenster und sieht ein in Gegenrichtung vorüberziehendes Landschaftsband. Darin die vertrauten Intarsien der Geschäftigkeit: Ackerrillen furchende Traktoren, über Baugerüste turnende Maurer, rasende Automobile. Große, weiße Vögel staksen über eine Wiese. Sind es Störche? Kurz vor der Einfahrt in Wels läuft auf der Fassade einer Fabrikhalle ein Mädchen mit abgerissenen Armen – für alle Zeiten in ihrer Dynamik festgefroren – auf den flüchtigen Betrachter zu. Welchen Rat wollte man ihr zurufen?
Hinter Haiding verzehren Maschinen einen Berg. Dieser Waldhügel hieß das Kranall oder Kronal. Der Name soll von den Krähen rühren, die mit den Kreisen ihrer Flugmanöver die Anhöhe umflorten, die das verschwundene Gemäuer einer Feste getragen haben soll. Bald wird es den Berg nie gegeben haben. Die ominöse Burg hat es angeblich schon davor nie gegeben.
Irgendwo zwischen Neumarkt und Riedau wirft sich ein Mensch vor einen fahrenden Zug. Allen nachfolgenden beschert das einen aufgezwungenen Halt, da die Polizei die Ereigniszone für ihre Erhebungsarbeiten kurzfristig sperrt. In welcher Verzweiflung sich einer das antut, sich von anrollendem Stahl über Gleisen förmlich zermanschen zu lassen?

Schärding gilt als Durchfahrtsort auf dem Weg ins benachbarte deutsche Grenzland, als Molkereiadresse und Hochwasserzone allenfalls. Wer hier aussteigt, hat eine Weiterreise also wirklich nicht vor.
Man kann aber auch nach einem Ort sehen, den man vor Jahren einmal flüchtig durchmessen hat und ihn als Ausgangspunkt nehmen den Inn überzusetzen.
Das Bahnhofsgebäude ist ein trostloser Zweckbau, der darauf abgestellt scheint, seinen Zweck nicht zu überleben. Eine Schuhschachtel unter einem gekiesten Flachdach, aus dem an den Tropfkanten Birkenschösslinge windschief sprießen. Die Ankunftshalle präsentiert sich düster verfliest wie eine Rinderschlachtstätte in Rawalpindi. Dem Snackautomaten wurde die Frontscheibe eingeschlagen und der Spenderkasten nie wieder befüllt. Der Automat offeriert ausschließlich Staub und körnigen Glasbruch. Poster, die Reisemöglichkeiten anbieten – wollen sie einem nahelegen, doch woanders hinzufahren? Die Bahnhofsrestauration hat seit ewigen Zeiten zu. Herausgerissene Bänke und umgeworfene Stühle scheinen nicht auf den Anbruch besserer Tage zu hoffen.
Es heißt aber, der Spatenstich zum Start des Neubaus wäre bereits erfolgt. Der amtierende Bürgermeister, ein Vertreter der Österreichischen Bundesbahnen, sowie der Verkehrslandesrat und Landeshauptmannstellvertreter in Personalunion hätten vor versammelter Schar aus Pressevertretern und den unvermeidlichen Gratisblitzern der Feierlichkeitsverköstigung in gelungenem Zusammenspiel lehmigen Aushub auf ihre Schaufelblätter gehäuft.

Man quert die Bahnhofstraße und findet sich wieder vor einem Dornröschenschloss. Das Dornröschenschloss ist ein Gasthaus, das auch Fremdenzimmer anpreist, was im Vorfeld eines Bahnhofs keine abwegige Dienstleistung verheißt. Indes überwuchern den Gastgarten Holunder, Efeu und Dornenranken. Ein Kastanienbäumchen wiegt seine Blätter im zarten Lufthauch. Unter den schlaffen Fangarmen einer Weide morscht, von Stauden umzingelt, ein klobiger Wohnwagenwürfel. Das Gartentor widersetzt sich dem Öffnen mit natürlicher Gegenwehr: Rost heißt hier das Übel. Ein sich aus dem Erdboden wölbender Wurzelstrang liegt auch noch irgendwie im Weg. Man turnt um eine vergessene Mülltonne herum und lässt sich von der Aussicht berücken, hier fließe Bier aus Hacklberg aus dem Zapfhahn. Die Laternen beiderseits des Portals tragen die Embleme der einen der zwei noch existierenden Passauer Brauereien. Schon wähnt man sich in bessere Stimmung versetzt und ignoriert die Spinnweben. Ignoriert auch, dass die zum Aushängen der Speisekarte gedachte Schautafel unter einer der Laternen leer ist. Hinter den geschlossenen Kastenfenstern hängen gräulich gewordene Vorhänge, die Rahmenzier der Fensterlaibungen wirkt stellenweise wie angebissen. Um den Türsturz rankt sich wilder Wein und auf den Steinstufen liegen Laub und verrottende Pflanzentriebe, die der Wind hierher kehrte. Von der zweiflügeligen Kassettentür mit Rauglasoberlichte schält sich der blaugrüne Anstrich, der Türknauf trägt die Farbe der Eisenfäule. Was einen dennoch drängt einzutreten, weiß man hinterher nicht mehr. Vielleicht wollte es die Vollendung einer Bewegung sein, zu der man ansetzte, als man das Gartentor passierte. Die Tür des verlassenen Gebäudes öffnet sich knarzend, aber ohne größeren Widerstand. Lediglich der nicht in der Schwellenvertiefung eingerastete Bolzen eines Standriegels schabt über den Boden und schnitzt eine Kerbe in Form eines Viertelkreises in den mehligen Staub. Den dahinterliegenden Windfang verlässt man durch eine Schwingtür, die einen in den düsteren Zwischenbereich zwischen den Gaststuben fegt. Hier die „Altbayerische Bierstube“, dort der „Frühstückssaal“ und in der Mitte der verschattete Gang ins Haushintere, zu den Toiletten und ins Stockwerk vermutlich. Der abgestandene Geruch von Ewigkeit hinter fest verschlossenen Fenstern schlägt einem entgegen und erinnert einen an die kümmerliche Wohnsituation längst verstorbener Verwandter landwärts. Ein Pult mit darüber aufragendem, ausgeleertem Fächerschrank könnte eine Art Rezeption gewesen sein. In der Staubschicht auf dem Pult hat sich jemand mit dem Schriftzug DOOF in krakeligen Kapitalien verewigt. Was neben allerlei Unrat den Boden bedeckt, könnten die herausgerissenen Seiten eines Telefonbuches sein.

Man wendet sich nach der Bierstube, in die man durch den Rahmen einer eingetretenen Tür einsteigt. Aus der Umfassung ragen Glaszacken, deren Fehlstücke beim Auftreten unter den Sohlen knirschen, wie die Hauer aus dem Maul einer Geisterbahnmonstrosität. Ein kupferfarbenes Blechschild mit der Aufschrift „Pils vom Fass“ hängt über der Theke, deren Borde nichts mehr enthalten als ein paar vereinsamte Gläser, Fliegenleichen und ein Kalenderblatt vom Rauchfangkehrer, Jahre Schnee. Dann meint man die Stille, mit der man rechnete, von einem knurrigen Vibrieren erfüllt. Im Halbdunkel das Refugium eines lauernden Hundes zu stören, wäre das Vorletzte, von dem man sich wünschte, es möge einen ereilen. Dass er einen beißt, das aber wirklich Letzte.
Schließlich entdeckt man über einer Bank hingestreckt den Schattenriss eines schnarchenden Mannes. Zu seinen in schwerem Stollenschuhwerk steckenden Füßen ein aufmontierter Rucksack, wie ihn Huckepacktouristen schultern. Dem friedlich Schlafenden erzittert mit jedem Atemzug sein Vollbart in drolliger Weise, ganz so als wollte der etwas selbständig von sich abbeuteln, was seinen Träger nicht extra zu beschäftigen brauchte. Die über der Brust verschränkten Arme heben und senken sich mit den Lungenstößen. Man schätzt den Liegenden nicht viel jünger als man selbst, mag ihm aber nur ungern das gleiche Gemüt wie das eigene andichten: von zeitweilig geradezu ruppiger Ungeselligkeit und bisweilen sehr verhaltener Freundlichkeit. Wer steigt auch schon in aufgegebene Wirtschaften ein, den nicht die Not, ein Obdach vor den Unbilden zu finden, zwänge? Im Moment lauert im Freien jedoch keine finstrige Nacht oder eiseskalter Dauerregen.
Man versucht sich an den Zapfhähnen, denen aber nicht einmal ein klägliches Fauchen entweicht. Längst sind die an nichts mehr angeschlossen. Dabei täte die Einrichtung der Gaststube es noch machen: Tische und Stühle und Bänke, sowie ein paar verfaulende Sitzkissen. In einem Aschenbecher mumifizieren Kippen. Aus den Lampenschirmen wurden die Birnen gedreht. Über dem vermeintlichen Stammtisch scheinen Mücken zu flirren oder es wabern Spinnweben im fadenscheinigen Gegenlicht vor einem der Fensterkästen mit den patinierten Gardinenschleiern. Von der Decke löst sich Rigips-Dekor. An den Wänden wirken die Fehlstellen der Bilder wie Lichtpausen. Auf einmal denkt man sich die Welt von allen Menschen verlassen, träumt sich dieses Bild ins sonore Schnarchen eines anderen hinein. Was würde einem fehlen? Mit einem Schlage die Möglichkeit, sich von allen anderen absetzen zu können, selbstgewählt alleine zu sein. Das aber würde einen in den Wahnsinn treiben.

Ehe man Wurzeln schlägt, beschließt man, wieder zu gehen, auf dieselbe Weise wie man gekommen ist. Verhalten schlägt die Tür, als man abermals im Unkrautgarten steht. Man umrundet jetzt das Haus, indem man in den Bahnhofweg, in die fußläufige Strecke ins Zentrum, einbiegt. An der Westfassade prangt der Schriftzug GASTHOF auf der Höhe des Stockwerks unter dem Dachfirst. Die Buchstaben G und O haben hier auf der Wetterseite Schaden genommen. Eigentlich steht dort CASTH F zu lesen, aber man weiß jetzt ohnehin schon Bescheid und lenkt seine Schritte weiter, bald entlang eines großen Feldes, in dem in Abständen mächtige Bleistifte liegen, die mit ihren Spitzen auf verplombte, kreisrunde Öffnungen im Erdreich weisen, in welchem ansonsten Bagunta oder eine andere Rübensorte gedeiht. Diese Flur heißt Brunnwies und womöglich haben die seltsamen Bleistifte mit der Beobachtung des Grundwasserspiegels zu tun, sagt man sich, da man niemandem begegnet, der es einem anders deuten könnte.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14073