Das Examen
Es war bei Gott kein Tag für eine Prüfung. Der Störungseinfluss hatte weiter zugenommen. An der Alpennordseite war es seit Tagen schon bewölkt mit zeitweisem Schneefall. Morgen sollte es noch schlimmer kommen. Das nasskalte Wetter machte Rheumatikern ohnedies schon genug zu schaffen. Kurt quälte sich die Treppe zur Universität hoch, seine fertige Diplomarbeit, gebunden, in dreifacher Ausfertigung, unter den linken Arm geklemmt. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.
Die ganze Nacht über hatte er sich unruhig im Bett gewälzt, Fragen, die er sich selber stellte, beantwortet. Und immer dann, wenn er beinahe schon eingenickt war, schreckte er wieder hoch. Da stand er vor ihm. Hoch aufgerichtet, mit schütterem Haar über dem roten, aufgedunsenen Gesicht, die Hände am mächtigen Körper schlapp hinunterhängend, schwer atmend, Professor Lot. Nein, nur in seiner Fantasie. Ein Albtraum. Kurt zog sich erneut die Decke über den Kopf. Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen sein, sagte er sich.
Aber jetzt, ja, jetzt sollte es ernst werden. Mit seiner ganzen Kraft schob er die schwere Glastüre zum Eingang auf, dann durch die Aula, Stiege fünf, links. Sein Herz schlug wie ein Hammerwerk. Sollte er den Lift nehmen oder die Treppe? Besser die Treppe. Was wäre, wenn der Lift wieder steckenblieb, so wie neulich? Ganze zwei Stunden war er zusammen mit einer Sekretärin Gefangener zwischen Himmel und Erde. Eine durchaus nette Vorstellung, die Dame war weit über fünfzig und brachte gut und gern an die hundert Kilo auf die Waage. Vielleicht war ihr Gewicht der Auslöser für den Defekt gewesen? Ja ja, dachte er, jeder ist, wie er ist.
Kurt verdrängte die Erinnerung an dieses ungewollte Abenteuer. Nun war er bereits oben angelangt. Welches Zimmer? Mein Gott, welches Zimmer? Wo ist denn der verdammte Zettel? Kurt kramte aufgeregt in seiner Manteltasche. Die Hausschlüssel, Taschentuch, Zehn-Cent-Münze. Verflucht! Dann eben in der anderen. Ja, da vorne musste es sein, das Zimmer 411. Das Sterbezimmer, dachte Kurt. Das Schicksalszimmer würde es sein. Ja, er wusste es. Er hatte es immer schon gewusst. Und er würde darin aufgebahrt. Mit Kerzen, links und rechts von ihm.
Mein Gott! Die ganze Sache wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er hätte sich nie auf diesen Prüfer festlegen sollten. Hätte ja genug andere gegeben. Warum war er nicht einfach zum Knoll gegangen? Der Knoll, das war ein friedlicher Mensch. Berechenbar, nett. Und nicht so ein Kapazunder wie dieser Lot! Über die Lande hinaus bekannt. Der konnte ja jede Menge Diplomanden haben. Konnte sich seine Leute aussuchen, musste nicht jeden nehmen. Warum hatte er gerade ihn genommen, fragte sich Kurt? Lot kannte er von einigen seiner Vorlesungen. Aber Kurt war dem sicher nie sonderlich aufgefallen.
Warum musste er sich gerade bei dem anbiedern? Manno! Aber Lots Vorlesungen hatten ihm gefallen, weil sie so erfrischend waren, so neu. Vermittelten irgendwie ein weites Umfeld. Um den rissen sich alle, klar, weil das, was er sagte, anerkannt war, Gewicht hatte, Kompetenz und so. Der war eine Koryphäe! Aber er, Kurt, war eben bloß Durchschnitt, und das wussten sie beide, Lot und Kurt selbst.
Doch jetzt war es zu spät. Das hättest du dir früher überlegen müssen, haderte Kurt mit sich und zählte die Zimmertüren. Ach, würde doch nie die Zahl 411 kommen. 405, 403, 402, verdammt, die falsche Richtung. Kurt hetzte zurück, bog um die Ecke. Scheiß Uni! Da vorne, da war es ja. 409, 410, oh mein Gott, bitte hilf mir jetzt, dass ich das überleb´! 411! Kurt war atemlos. Bis zum Hals schlug sein Herz, stotterte manchmal, hatte kleine Aussetzer. Das ist normal, das hatte ich immer schon, beruhigte er sich. Er hob den rechten Arm, wollte anklopfen, hielt plötzlich inne, den Zeigefinger schon gekrümmt, abgewinkelt, bereit, ihn als Türklopfer einzusetzen.
Was hatte er wegen diesem Lot nicht schon alles durchgemacht, ha! Der Dativ ist des Genitivs Tod, fielen ihm dessen Worte wieder ein. Das war dem Lot seine Vorlesung! Ach was! Als er begonnen hatte, die Diplomarbeit zu schreiben, war ausgemacht, er lieferte ihm wöchentlich so fünf bis acht Seiten. Das hatte er auch getan. Lot hatte sie jedes Mal wohlwollend in Empfang genommen und Kurt gelobt. Gut, gut, hatte er immer gesagt. Machen Sie das so weiter. Vielleicht ändern Sie dies und jenes, hatte er manchmal angefügt. Ob er die Zitate am Fußende so lassen könne, hatte Kurt gefragt. Natürlich, lassen Sie die so, hatte Lot geantwortet. Danach war Kurt wieder sich selbst überlassen. Wühlte in unzähligen Büchern in der Fachbibliothek, saß stundenlang in der Mensa bei einem oder zwei Kaffee, kopierte, exzerpierte, redigierte und inhalierte eine Zigarette nach der anderen.
Weihnachten stand kurz vor der Tür. Dies bedeutete drei Wochen ohne Betreuung. Beinahe als wenn … was ist, wenn dein Psychiater auf Urlaub fährt? Kurt fragte sich, das gibt´s nicht, oder? Wie, wie sollte er denn ohne ihn auskommen? Ohne diesen Lot! Womöglich ist er mit dem, was ich da zusammenschreibe, nicht zufrieden. Dann kann ich die ganze Scheiße noch mal von vorne machen! Im Feber würde die Prüfung sein. Bis dahin musste Lot seine Arbeit korrekturgelesen haben, sie dem Zweit- und Drittprüfer übergeben haben und und und!
Das ginge sich doch nie aus! Kurt war verzweifelt. Dann wäre das Stipendium auch futsch und er müsste arbeiten. Ja, arbeiten! Man würde irgendeinen Job finden. Ja, doch. Sicherlich. Irgendeinen Job würde er schon finden. Geschirrspülen in der Mensa oder so. Oder dort an der Kassa sitzen. Er kannte den Mensa-Chef flüchtig. Ein verkrachter Medizinstudent im Gott weiß wievielten Semester. Musste auch jobben. Na und? Irgendwann würde man schon damit fertig sein. Im schlimmsten Fall könnte man noch einmal antreten.
Da war dieses Zimmer 411! Kurt hielt sein Ohr näher an die Tür. Sie waren schon da. Verdammt! Die Professoren waren drinnen. Er konnte die Stimmen zweier Männer hören. Ob das Lots Stimme war? Kurt war sich nicht sicher. Die andere kam ihm vertraut vor. Natürlich, Professor Wendelin, sein Zweitprüfer. Vielleicht hätte er sogar bei dem schreiben sollen? Allemal besser als beim Lot. Oder doch beim Knoll? Scheiße! Jetzt war es doch egal! Hauptsache, es ging rasch vorüber.
Hoffentlich stellten die anderen keine unangenehmen Fragen, durchfuhr es Kurt. Der Wendelin würde nicht so schlimm sein, aber wer war der dritte? Die Meier, die alte linke Lesbe? Bitte nicht, die fehlte ihm gerade noch. Kurt atmete tief durch. Die Beine wollten versagen. Aber dann – dann klopfte er vorsichtig. Nichts. Sollte er noch einmal? Keine Reaktion. Noch einmal, poch poch poch. Bloß nicht zu laut. Wer weiß, vielleicht kreideten sie ihm an, dass er sich so aufdrängte? Konnte ja sein.
Bei Professoren wusste man nie, wie sie reagieren. Einmal hat einer eine Studentin während eines Seminars zur Sau gemacht, vor allen anderen, bloß weil sie auf die Toilette gegangen war. Ob sie ihren Stoffwechsel nicht in der Pause erledigen könnte, hatte er ihr ins Gesicht geschleudert. Als ob man noch auf der Schule wäre! Kindergartenallüren! Nahm sich nicht einmal die Mühe, hochdeutsch zu sprechen. Do hot der Mann ihm das Buch gebroocht (sic!), hatte er einmal gesagt.
Die Studenten haben gelacht, besonders die Deutschen. Wie kann so einer auf der Germanistik sitzen, haben sie gefragt und sich gewundert. Überhaupt gab es dort die witzigsten Typen unter den Professoren. Einer, der während seiner Vorlesungen ständig ins Libretto abgerutscht war, sobald er sich im Biedermeier und der Romantik befunden hatte, war Professor Keller. Ein Beau. Ein Original! Und optisch doch ein Klon – Mittelding aus Charlton Heston und Maximilian Schell. Aber – ein Mann des Librettos. Ja, das Libretto, seine Leidenschaft.
Als er wieder einmal abglitt, ins seichte Fach der Musen, begannen einige Studenten in Trichter zu blasen, die Tischtrommel zu rühren und den Bariton zu mimen. Eine Sage machte seit seither unter den Hörern die Runde, dass jene ihm während dieser Vorlesung eine regelrechte Kapelle ausgerichtet hätten, mit Topfdeckeln als Tschinellen und Trichtern als Trompeten und nebenbei allerlei Schlagwerk und vielstimmigen Gesang. Daraufhin hatte Keller die Vorlesung abgebrochen und diejenigen unter ihnen aufgefordert, die vorhätten, ernsthaft zu studieren, ihm ins naheliegende Café zu folgen, wo er seinen Vortrag fortzusetzen gedachte. Die Kapelle eskortierte ihn und die Studierwilligen artig bis vor die Pforten der Restauration. Allein der Oberkellner verweigerte deren Eintritt energisch. Ob das alles so stimme, wusste Kurt nicht. Trotzdem, es hatte ihn stets amüsiert. Doch das war jetzt nicht von Belang.
Als Kurt zum dritten Mal anklopfen wollte, öffnete sich plötzlich die Türe und vor ihm stand Professor Wendelin. „Ach, Sie sind´s! Na, da haben wir aber heute ein Pech. Soeben hat uns der Kollege Lot angerufen, dass er heute nicht kommt, weil er krank ist. Tut leid“, fügte er hinzu. Was war das? Der Lot ist heute krank, an seinem Prüfungstag? Ja, ist das denn die Möglichkeit? Kurt traf beinahe der Schlag! „Ja, aber aber“, stotterte Kurt, „wann, also wann muss ich denn dann…?“ „Machen Sie mit ihm einen neuen Termin aus, Herr Kollege“, sagte Wendelin beinahe väterlich, „irgendwann wird er ja wieder gesund werden, nicht wahr? Wie gesagt, heute, tut leid!“ Mit dieser kümmerlichen Phrase ließ er Kurt am Korridor stehen und schloss die Türe hinter sich.
Kurt stand da, verstand die Welt nicht mehr, während die Gedanken in seinem Gehirn Purzelbäume schlugen. Alles vergebliche Mühe, dachte er. Ich werde verrückt! Die schlaflose Nacht! Das ganze Hin und Her! So eine verdammte Scheiße!, und verließ die Universität auf kürzestem Wege.
Vier bange Wochen waren vergangen, als Kurt zum neu ausgemachten Termin seiner Diplomprüfung eilte. Das Wetter war um nichts besser als beim letzten Mal. Doch diesmal sollte das Prüfungszimmer im Parterre sein.
Naja, wenigstens eine kleine Erleichterung, dachte Kurt und eilte durch die engen Gänge. Sein Herz, wie sollte es anders sein, raste ebenso wie damals. Die Beine wollten wie immer versagen. Der Mund war ausgetrocknet wie eine Zisterne in der Wüste Gobi. Vielleicht war er wieder krank, der Lot? Vielleicht war was mit seinem Blutdruck? Weil er immer so rot war? Vielleicht war er sogar überraschend verstorben? Alles wäre ihm recht gewesen. Bitte, lieber Gott, hab Erbarmen!
Doch diesmal fand er die Türe gleich beim ersten Anlauf. Scheiß Uni, wie üblich, durchfuhr es ihn, und oh mein Gott, bitte hilf mir jetzt, dass ich das überleb‘!, flüsterte er wie gewöhnlich. Er war atemlos. Bis zum Hals schlug das tapfere Herz, stotterte manchmal, hatte kleine Aussetzer, wie immer, nichts Neues bei Kurt. Alles normal, habe ich immer, sagte er sich. Da! Da vorne, da musste es sein.
Diesmal zögerte er nicht und klopfte, todesmutig, gleich. Eine harsche Stimme rief schnarrend herein. Kurt wurden die Knie noch weicher. Sein Darm wand sich verdächtig und vom Magen her stiegen ihm heiße Wallungen auf. Ach du große Scheiße! Alle waren sie da, der Lot mit dem roten Gesicht, nein, nicht tot. Der Wendelin und die Dritte, wie er es geahnt hatte, die linke Lesbe, die Meier. Kurt stand da wie angewurzelt. Sein Unterhemd war pitschnass, und man hatte noch nicht einmal begonnen, ihn zu foltern. Lot stellte seinen Prüfling vor und bat ihn, Kurt, möglichst kurz über seine Arbeit zu sprechen, um sie den anwesenden Kollegen in den Grundzügen vorerst einmal vorzustellen.
Jetzt ist es so weit! Jetzt filetieren sie dich, dachte Kurt. Er stotterte etwas von er hätte wenig Zeit gehabt die letzten Wochen und so weiter und wolle sich bemühen, eine Zusammenfassung der Arbeit vorzustellen. Zunächst beleuchtete er das Thema von den klassischen Wurzeln her, leitete dann etwas zittrig im Ton zu den theoretischen Schriften im 19. Jahrhundert über und stellte schließlich fest, dass es bemerkenswert sei, dass die Vermengung der rhetorischen und sprachlichen Formen seit der Antike nachweisbar und eine ziemliche Dehnungsbreite im heutigen Sprachgebrauch aufwies. Es wäre gut, winkte Lot ab.
Nun wetzten sie die Messer. Kurt spürte die Einstiche, noch ehe sie die Klingen angesetzt hatten. Die beiden anderen Prüfer, die bisher keine Fragen gestellt hatten, nickten wohlwollend und reichten Lot ihre vorher erhaltenen Exemplare von Kurts Diplomarbeit. „Ich werde Sie nun noch etwas anderes fragen“, sagte Lot dann, und Kurt stieg die heiße Wallung aus der Magengegend erneut nach oben. Was will er denn noch, fragte er sich erschrocken? Ich weiß doch gar nichts mehr!
„Erzählen Sie uns etwas über das Verb. Was gibt es denn da alles?“ Scheiße, durchzuckte es Kurt, der prüft Grammatik. Aber davon war doch nie die Rede, verdammt! In Grammatik bin ein Trottel, dachte er. „Das Verb, also es gibt..“, stotterte Kurt. Lot, mit hochrotem Kopf, seinetwegen?, dachte Kurt, zog Dackelfalten auf der Stirn. „Nun, Sie werden doch etwas über das Verb wissen, nicht wahr?“, bohrte Lot. „Wer regiert denn eigentlich den Satz, wissen Sie das vielleicht?
Kurt schwitzte. Er rutsche unruhig auf seinem Stuhl umher und dachte fieberhaft nach. „Das, den Satz, der, den Satz regiert, äh, das Substantiv“, würgte er gebrochen heraus. Zack! Blöder hätte es nicht kommen können. Was hatte er da gesagt? Er wollte das doch gar nicht. Es war ihm plötzlich so herausgerutscht.
Die Prüfer sahen sich an. Was für Blicke! „Was reden Sie denn da zusammen?“, grantelte Lot und sein Gesicht wurde noch roter. Kurt dachte immer, farbliche Adjektiva ließen sich nicht steigern. Er wollte in einem Mauseloch verschwinden.
Eine Frage folgte der anderen, Kurt wand sich wie ein Wurm. Doch man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, er hatte ja doch keine Ahnung von der Materie. Raunen im Professorium. Dann fragte Lot vorwurfsvoll: „Haben Sie nicht auf meine Homepage gesehen? Dort steht, was ich im Allgemeinen so verlange.“
Nein, hatte er nicht, hätte er ihm ja sagen können, Mann! Schließlich hatte er noch drei Tage vor Abgabetermin verlangt, die Zitate aus allen Seiten unten zu löschen und im Anhang zu bringen, und das, nachdem er jedes einzelne Blatt schon seit Oktober gesehen und korrigiert hatte. Das ganze Programm war zusammengebrochen. In drei Tagen schrieb Kurt alles noch einmal. Wäre etwas dabei gewesen, wenn er ihm gesagt hätte, he, Sie, werfen Sie mal einen Blick auf meine Homepage. Dort steht, was Sie für die mündliche Prüfung brauchen, oder? Wäre das zu viel verlangt gewesen?
Und dann fiel das Messer des Schafotts. Es kam, wie es hatte kommen müssen. Zack! „Also, das ist zu wenig, Herr Kollege“, sagte Lot enerviert. Man wird doch noch so etwas fragen dürfen, heutzutage, nicht wahr? Kommen Sie im Juni wieder.“ Schwarz! Kurt wurde es schwarz vor Augen. Er hörte und sah nichts mehr. Wie ein Blitz hatte ihn die Nachricht getroffen. Das war´s. Aus! Ende! Verschissen! „Tut leid“, flüsterte der Knoll und grinste. Die linke Lesbe verzog keine Miene, stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden. Kurt erhob sich wie in Trance, grüßte artig, wenigstens das funktionierte bei ihm wie bei einem Roboter, nahm seine Sachen und verließ den Raum mit einem leisen „Auf Wiedersehen“ auf den Lippen.
Norbert Johannes Prenner
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