Aus der Vogelperspektive
Keiner der Mönche, auch nicht Bruder Thomas, hatte bemerkt, dass Georg Matthäus Vischer nach dem Komplet, dem letzten der sieben täglichen Stundengebete, den Schlüssel an sich genommen hatte.
Was der neunjährige Tiroler Bub zu tun beabsichtigte, war streng verboten. Es ging auf Mitternacht zu – alle anderen schliefen bereits – als er sich in die Bibliothek schlich und die Kerze anzündete, die er hinter einen mit Wasser gefüllten Becher gestellt hatte. Von überall her drangen Geräusche, besonders der Holzboden knarrte bei jedem seiner Schritte. Und als der Bub eine Lade des großen Schrankes öffnete und ihr einen Gegenstand entnahm, der in weiches Leder eingeschlagen war, ging auch das nur unter lautem Ächzen des Holzes vonstatten.
Die Kerze warf ihr Licht auf die blassen Linien, Georg packte das Vergrößerungsglas aus und hielt es vor den Globus. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Jetzt, in besserem Licht, würde er es bestimmt sehen können!
Sein Blick fiel zuerst auf Arabien, dort – so hatte er im Unterricht erfahren – war der Lesestein erfunden worden. Er war aus Beryll, einem Kristall, der die Sehleistung des menschlichen Auges erweitern konnte. Der Lesestein des Klosters bestand aus Bergkristall und stellte ein wichtiges optisches Instrument für den Klosterbibliothekar dar, das er insbesondere bei der Abschrift von Büchern verwendete. Georg mochte es, Bruder Thomas bei dieser Tätigkeit über die Schulter zu schauen, leider wurde es ihm nicht oft gestattet. Normalerweise wurde der Lesestein mit der planen Seite direkt auf ein Blatt Papier aufgelegt, jetzt musste Georg ihn ständig mit der Hand im richtigen Winkel über die runde Oberfläche des Globus balancieren und gleichzeitig auf die Kerze aufpassen.
Bruder Thomas hatte ihn davor gewarnt, eine Kerze in der Bibliothek anzuzünden. Wie leicht konnte ein Feuer ausbrechen und die wertvollen Bücher vernichten. 1593 hatte ein Brand große Teile des Stifts zerstört, die älteren Brüder konnten sich noch gut erinnern und hatten ihm davon erzählt.
Das Licht der Umgebung wurde aufgrund der Wirkung der Linse im Objekt gesammelt. Am besten eignete sich eine diffuse Beleuchtung, also war eine allgemeine Helligkeit der Umgebung besser als eine auf den Lesestein gerichtete, punktförmige Lichtquelle. Die Helligkeit des Objektes war somit größer als die der Umgebung.
Georg schreckte hoch, schon wieder hatte er ein Geräusch gehört.
Er konzentrierte sich eine Minute auf seine Umgebung, die allerdings still blieb, um sich danach wieder der Betrachtung des Globus zuzuwenden, er gähnte und es fröstelte ihn. Seit dem Tod seines Vaters vor einem Jahr war er im Stiftsgymnasium nicht mehr wirklich gerne gesehen. Sein Vater war Kastenamtmann für das Zisterzienserstift hier in Stams und damit der für die Verwaltung des Getreidespeichers zuständige Beamte gewesen. Mit großer Selbstverständlichkeit durfte Georg als sein Sohn die stiftseigene Schule besuchen und wohnte seither im Internat, wo er jede Möglichkeit nutzte, seinem Interesse für geografische Fragen nachzugehen. Die Bibliothek besaß mehrere Atlanten und Globen, die ihm die Welt auf wunderbare Weise näherbrachten.
Seine Mutter hatte zwar versucht, das Amt des Vaters selbst weiterzuführen, konnte aber nicht die Zufriedenheit des Abtes erlangen. So nahmen die Dinge ihren Lauf, das Kastenamt wurde jemand anderem übertragen, die Mutter sollte für Georgs Aufenthalt im Klosterinternat plötzlich Kostgeld zahlen und blieb es gezwungenermaßen schuldig. Obwohl erst neun Jahre alt, wusste der Bub doch, dass seine Tage im Gymnasium gezählt waren.
Georg seufzte und besah sich die skizzierten Landmassen auf dem Globus. Er hielt mit der einen Hand den Kupferreifen umklammert, der die Kugel aus Lindenholz von Pol zu Pol umfasste. Der massive Holzsockel verlieh dem Instrument stabilisierendes Gewicht. Das aufkaschierte Pergament war hell und die Landesgrenzen waren mit gelber Farbe eingezeichnet, das Wasser blau gefärbt. Kreuz und quer verliefen in regelmäßiger Entfernung voneinander schwarze dünne Linien. Überhaupt – die Welt war aus der Sicht eines Vogels gezeichnet, obwohl ja wohl kein Mensch fliegen konnte! Wie war das möglich? Aber die Berge waren so skizziert, wie sie von unten aussahen, von oben sollten sie sich also anders ausnehmen.
Georg schüttelte den Kopf. Dann war da noch das Problem der Darstellung der runden Erde, wieso konnte man dann ebene Pläne machen? Ohnehin war ihm diese Vorstellung nicht geheuer, es war nichts von der Erdrundung zu sehen, selbst vom Kirchturm aus nicht.
Georg hob den Kopf, sein Nacken war verspannt. Er beendete seine Forschungen und löschte pflichtbewusst die Kerze, bevor er die Bibliothek verließ, retournierte den Schlüssel und schlich in den Schlafsaal. Er würde irgendwann einmal eine Karte zeichnen, wo die Berge aus der Vogelsicht zu sehen wären, ja, so etwas fehlte!
Michaela Swoboda
Auszug aus dem Roman: Vischers Vermessenheit, Salzburg, Pustet, 2013
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