Das Wespennest
Ein sonniger Frühsommernachmittag hatte sich auf den sanften Hügeln und grünen Wiesen des kleinen südburgenländischen Ortes niedergetan. Bienen summten, Vögel zwitscherten in den Geästen zahlloser Obstbäume und Schmetterlinge tanzten über bunte Wiesenblumen. Eben durch diese Idylle quälte sich Maurermeister Josef Lagler samt seinen einhundertzwei Kilo mühsam den steilen Weg zu seinem neuen Einsatzort hinauf. Eine Mauer sollte er aufstellen. Ein Mäuerchen, auf dem Dachboden eines weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannten Kunstmalers und Bildhauers. Eine Trennwand, kurzum Feuermauer genannt. Der Rauchfangkehrer hatte befundet, hier gehöre eine Feuermauer hin. Punktum! Kein Kunststück.
Und dennoch hatten es ein paar seiner Kollegen Monate davor nicht geschafft, gerade an diesem Haus eine solche stabil zu errichten. Eine simple Mauer als Anbau an eine bereits bestehende. Unter der Ägide eines umtriebigen Bauingenieurs hatten sie es fertiggebracht, auf die Verzapfung ihres Kunstwerkes zu vergessen. Eine ganz normale Ziegelwand, an eine glatte Mauer anzubauen, geriet somit außer Kontrolle, als sich der Kunstmaler voll Vertrauen in ihre Stabilität an sie lehnte, um gleich darauf samt ihr in den anschließenden Garten hinauszustürzen. Gott sei Dank hatte er sich dabei nicht verletzt. Die Betonkünstler konnten sich was anhören. Der Maler war außer sich. Er hatte nicht zuletzt ein Sprichwort zu diesem Vorfall bemüht: Wie der Herr, so das G’scherr! Denn der Bauingenieur war dafür bekannt, dass seine Werke nicht von langer Dauer waren. Er selbst erzählte einmal von einer Brücke, die er über einen Bach gebaut hätte. Sie wäre Jahre später eingestürzt, fügte er damals emotionslos hinzu.
Josef Lagler hatte das bescheidene Anwesen des Kunstmalers unter Keuchen und Stöhnen schwitzend erreicht. Er ließ seinen strapazierten Rucksack mit dem Werkzeug fallen, setzte sich auf die Gartenbank vorm Haus, zündete sich eine Zigarette an und öffnete eine Flasche eiskalten Bieres, welche ihm der Kunstmaler als Willkommensgruß schon bereitgestellt hatte. Vielleicht tat jener das auch nur aus Angst vor neuerlichen Schwierigkeiten mit Handwerkern und um ihn in richtige Stimmung zu bringen, sein Werk auch ordentlich zu vollenden. Lagler nahm mehrere tiefe Schlucke aus der Flasche und sah sich um. An den Außenwänden des kleinen Bauernhauses waren zahlreichen Kunstwerke angebracht. Wandmalereien zierten die Mauern auf der einen Seite, Steinplastiken auf der anderen. Ein fetter schwarzer Kater räkelte sich faul auf einer von der Sonne erwärmten Steinplatte und gähnte gelangweilt.
Als vor Jahren einmal ein Burgenlandamerikaner hier zu Besuch war, der all die Bilder ums und im Haus bemerkte, fragte dieser beeindruckt, oh, beautiful! Wer da streichen?, erzählte ihm der Maler. Aber Lagler hatte nicht verstanden, worum es ging.
Der Kunstmaler selber war bei den Ortsbewohnern nicht sonderlich beliebt. Ob es daran lag, dass er ein „Zuagraster“, also ein Zuwanderer war, oder an seiner Malerei, man wusste es nicht. Tatsache war, dass er die Dorfbewohner in seinen Bildern als auch in einem darüber gedrehten Amateurfilm ziemlich verrissen hatte, und sie ihm das sehr übel nahmen, als sie sich Wochen später im Regionalfernsehen wiedererkannten. Verglichen Kenner seine Malerei nicht zuletzt mit den skurrilen Werken eines Hieronymus Bosch. Dies aber hatte für den Maler schwerwiegende Folgen gehabt. Die Leute grüßten ihn von da an nicht mehr oder wechselten sogar den Gehsteig, wenn er ihnen begegnete. Auf einem seiner üblichen Spaziergänge über die nahen Wiesen wurde er sogar einmal von einem Jäger aus dem Ort mit angehaltener Doppelläufiger mit den Worten bedroht, schleich di, oder i blos di aus die Schuach!
Maurermeister Lagler hatte indes seinen Durst gelöscht. Also wurde es Zeit, an die Arbeit zu gehen. Wo er denn die Mauer aufstellen solle, fragte er. Oben, auf dem Dachboden, antwortete der Maler und wies mit seinem Kopf in die Richtung. Ein Dachboden wie jeder andere. Ein meist nur primitiv isolierter, kaum eingerichteter Raum, in dem allerlei Gerümpel gelagert war. Üblicherweise führten Treppen oder Leitern in solche Räume. So auch hier. Lagler stieg das schmale Stiegenhaus leise fluchend und laut ächzend hoch. Die Ziegel waren bereits herangeschafft worden. Mittels eines Autokranes über die Dachluke. Wenigstens etwas, stöhnte Lagler erleichtert. Das Meita, wie man hierzulande den Mörtel nannte, musste er selbst anrühren. Bei der Hitze unter dem Dach keine leichte Sache für einen älteren übergewichtigen Menschen. Krutze, zischte er leise. Aber da war noch was. Denn just an der Stelle, an der er die Mauer errichten sollte, hing ein gigantisches Wespennest vom Dachbalken und versperrte ihm den Weg.
Da ist ein Wespennest, rief der Maler von unten, haben Sie das Nest gesehen? Ja, hat er, er war ja nicht blind. Lagler kratzte sich am Hinterkopf. Zefix, fluchte er. Ein Nylonsackerl!, rief er nach unten. Ein was? I brauch a groß’ Nylonsackl!, rief Lagler jetzt lauter. Es dauerte. Er hatte mit Akademikern und so – Kunstg‘sindel, wie er es nannte, nicht viel am Hut. Einmal hatte er auch bei einem gearbeitet. Der wusste alles besser. Und einmal hatten sie ihm einen akademischen Restaurator beigestellt, damals, als die Arbeiten in der Kirche anfielen. Den Herrn Magister! Auch so einer, der nur g’scheit reden konnte und nichts weiterbrachte. Oaschloch, kaunst an Putz?, hatte Lagler ihn gleich zu Beginn der Arbeiten gefragt. Wenn er keinen Putz hätte können, hätte man gar nicht anfangen können. Und Lagler hatte einen Riecher für sowas. Der konnte tatsächlich keinen! Den brauchte man aber für die Erneuerung der Fresken, die nur im feuchten Verputz gemacht werden konnten. Also musste er alles allein machen.
Und der hier, dieser Künstler – schien auch ein solcher zu sein, so ein Siebeng’scheiter. Redete nur Unsinn und wirres Zeug und stellte unnötige dumme Fragen. Ein Besserer. Konnte nicht einmal ein Nylonsackerl organisieren. Na, immerhin. Wenigstens hatte er kaltes Bier zu Hause. Na endlich! Das Nylonsackerl. Da bitte, sagte der Maler und reichte ihm ein Billasackerl über die Bodentür. Was wollen Sie denn damit? Lagler schwieg. Ganz langsam und bedächtig nahm er die Plastiktasche, richtete sich auf und schritt gemessenen Schrittes hin zum Wespennest. Er trug nur ein kurzärmeliges Hemd und eine lange schmutzig-weiße Leinenhose, sonst nichts. Keine Handschuhe, nur sein Maurerkapperl, das schief auf seinem hochroten Kopf saß. Es war ein heißer Tag. Die Wespen, sehr geschäftig, schwirrten zornig brummend um ihn herum. Vorerst zündete sich der Meister eine neue Zigarette an. Rauch konnte nie schaden bei einem Unternehmen wie diesem.
Sie müssen sie von ihrem Aufenthaltsort weglocken, rief der Künstler von untern hinauf, was? Lenken Sie sie ab. Ich bringe Ihnen etwas Basilikum. Oder noch besser, Zitronen, mit Nelken drin, was? Das mögen die nicht. Lagler kümmerte sich nicht um das, was der Herr Künstler sagte und zog nur bedächtig an seiner Zigarette, die an seinem rechten Mundwinkel hing. Zefix, brummte er. Die Wespen umsurrten ihn neugierig. Ich hätte so ein Duftöl, Teebaumöl, nehmen Sie das. Der Maler ließ nicht locker. Und nach einer Weile: Knoblauch ist auch nicht schlecht, was? Ich schneide Ihnen welchen klein, nicht? Keine Antwort. Nur das Brummen der schwarzgelb Gestreiften. Salmiak!, rief der Maler, wissen Sie? Das ist es! Ich reiche Ihnen einen Lappen mit Salmiak hinauf, was? Oder warten Sie. Möchten Sie einen Kaffee? Ich stelle Ihnen einen Kaffee rauf, was? Den Geruch mögen sie auch nicht, die Wespen. Lagler reagierte nicht. Der Maler faselte etwas wie man müsste Kaffeepulver oder Kaffeebohnen irgendwie in einem feuerfesten Gefäß glühend machen oder so ähnlich, das würde die Wespen schon vertreiben. Alles vergebliche Mühe. Lagler tat, was er tun musste.
Ganz vorsichtig begann er, den Plastiksack von unten her über das Wespennest zu stülpen. Die Tiere umflogen ihn wie wild. Aber der Ziegelschupfer ließ sich in seiner Tätigkeit nicht von ihnen beirren. Wir hätten mehr Tomaten anbauen sollen, was?, rief der Maître von unten hinauf. Die mögen sie auch nicht. Lagler fiel die lange krumme Asche zu Boden. Meine Frau hat irgendwo Räucherstäbchen, brauchen Sie die?, fragte der Maler erneut. Früher haben wir immer Kupfermünzen auf den Tisch gelegt, beim Essen, mein’ ich. Das soll auch helfen, was? Lagler hörte alles genau, aber er kümmerte sich nicht darum. Vielleicht stellen Sie ein Glas Bier neben sich, was? Dann trinken sie und fallen dort rein? Lagler hatte eine Wespe mit Daumen und Zeigefinger unabsichtlich gequetscht und sie hatte ihn sofort gestochen. Zefix, murrte er und kratzte sich. Vielleicht ist ihre weiße Hose zu auffällig, was?, meinte der Maler nun besorgt. Da werden sie dann aggressiver, was?
Lagler kämpfte mit der Luft. Der Zigarettenrauch war ihm in die Augen gestiegen. Er kniff ein Auge zu. Aber blasen durfte er nicht, das wusste er, das mochten die Wespen schon gar nicht. Fast hatte er das Nylonsackerl schon um das gesamte Nest geschlungen. Fehlte nur noch der obere Teil. Der da unten ging im auf die Nerven mit seinen dauernden Vorschlägen. Da war die Königin, gut zwanzig Millimeter lang. Die kleineren Drohnen und noch kleineren Arbeiterinnen versuchten sie zu schützen, so gut es ging. Um diese Zeit ernährten sie sich von Weidenblüten. Und davon gab es genug in der Gegend. Ist alles in Ordnung bei Ihnen, was?, rief der Maler hinauf. Jojo, antwortete Lagler nun doch, wenn auch grantig, um seine Ruhe zu haben. Lagler schüttelte den Kopf.
Gleich würde er den Plastiksack oben schließen und das Nest mit der Hand vom Balken abnabeln. Die alte Königin würde im Spätherbst sterben. Danach löst sich ihr Wespenstaat völlig auf. Und wenn der Frost kommt, sterben die letzten heimatlosen Wespen auch. Lagler zog an seinem Zigarettenstummel. Alles würde einmal zu Ende gehen. Auch mit ihm. Zefix, murmelte er. Seine Hand wies dort, wo ihn die Wespe erwischt hatte, eine leichte Rötung auf. Lagler kratze erneut die juckende Stelle. So, jetzt war es so weit. Er schloss den Plastiksack mit der Faust und schickte sich an, die Treppen nach unten zu steigen. Im Nylonsack tobte und toste es bedrohlich. Als er mit seiner gefährlichen Beute unten angekommen war, standen der Maler und seine Frau mit offenem Mund da und kriegten kein Wort heraus. Wou is’ da Wossahaun?, fragte Lagler.
Äh – der – dort! Dort an der Wand, wo die Gießkanne…, stotterte der Künstler. Seine Frau wich vor Entsetzen zurück, als Lagler mit dem tosenden Beutel an ihr vorüberschritt. Er bewegte sich langsam auf die Wasserstelle zu, hob den Sack hinauf und öffnete ihn blitzartig gleich unter dem Wasserrohr. Rasch umschloss seine Faust Nylonsack und Wasserhahn. Besonnen und mit einer Gelassenheit, die das Künstlerehepaar an den Rand äußerster Spannung trieb, drehte er das Wasser auf. Der Beutel füllte sich nach und nach. Wurde dick wie ein Ballon. Das Tosen und Brausen im Sack wurde leiser. Schließlich verstummte es ganz. Nichts regte sich. Eine Schar Spatzen zwitscherten am Dachfirst. Ein paar versprengte Wespen flogen noch eine Zeit lang um Laglers Kopf, änderten aber bald ihre Route und flogen in Richtung Garten davon. Sixtas?, sagte Lagler siegessicher, und fügte ein „zefix“ an. Den Plastiksack verschnürte er mit den beiden Henkeln und meinte, den solle man ruhig hier bis zum Abend so stehen lassen. Erst dann ausleeren. Woraufhin er sich behäbig in Richtung Bodenstiege umwandte und diese ächzend zum Dachboden erklomm. Zefix, hörte man leise von oben.
Norbert Johannes Prenner
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