Eine Frage der Konzentration
Normalerweise würden die dopaminhaltigen Zellausläufer den Botenstoff freigeben, wenn sie an der Kontaktstelle zum nächsten Neuron ein Signal ihrer Zelle übertragen sollen. Dann durchquert das Dopamin dort den schmalen synaptischen Spalt zu dem Neuron, wo es an ein passendes Rezeptormolekül andockt, und das Neuron empfängt das Signal. Später schafft ein Transportsystem das Dopamin wieder zurück in den Zellausläufer zur Wiederverwendung. Suchtmittel verstärken oder simulieren, jede auf ihre Weise, die Dopaminwirkung. Bald, besonders bei wiederholtem Gebrauch der Substanz, beginnt sich das Belohnungssystem an den Zustand anzupassen. Das leitet die Sucht ein…
Er zwang sich, munter zu bleiben, einen aufrechten, interessierten Eindruck zu machen, während er der sonoren Stimme des Professors lauschte. Die Jahre in der Politik hatten ihn gelehrt, seine inneren Regungen selbst vor dem aufmerksamsten Betrachter zu verbergen. Sein Blick wanderte von dem aufgeschlagenen Folder in seiner Hand zu seinen gepflegten Fingernägeln. Auch das Kauen darauf hatte er sich abgewöhnt. Während er als junger Student noch vor jeder Rede, ja vor jeder noch so kleinen Prüfung seinen Stress so abgebaut hatte, ließ er nun seinen gesamten Frust beim wöchentlichen Tennisspiel mit dem CEO eines internationalen Großhandelskonzerns raus.
Der Raum war warm und durch die hohen Fenster schien die Vormittagssonne direkt auf die Köpfe der Journalisten, Polizisten und Politiker, die nun schon seit geschlagenen zwei Stunden Vorträge über sich ergehen lassen mussten. Eine Pause war erst nach dem nächsten Vortrag vorgesehen, das reichhaltige Buffet war noch nicht angerührt.
Während er sich die Krawatte richtete, warf er einen verstohlenen Blick nach rechts. Der Nachteil, in der ersten Reihe zu sitzen, war es, die Leute nicht beobachten zu können, sondern selbst beobachtet zu werden.
Zwei Stühle weiter saß das Mariechen, wie er sie im Stillen nannte. Für ihn war sie nicht mehr als eine Randnotiz, eine blondgefärbte Frau Mitte dreißig, die trotz ihres Ehrgeizes und ihres Intellekts wie eine unbeholfene Schülerin wirkte und wegen ihres fehlenden Charismas und ihrer diplomatischen Inkompetenz kaum Freunde außerhalb und innerhalb ihrer Partei hatte. Ihren derzeitigen Status hatte sie Unstimmigkeiten, die zu der Schwächung ihrer Partei geführt hatten, zu verdanken. Nur als Notlösung und um den Schein der Einigkeit zu wahren, war sie schließlich auf diese Position gehoben worden.
Lange würde sie allerdings nicht in den vordersten Reihen mitspielen können, und weil ihr dies durchaus bewusst war, hatte sie mit allen Mitteln versucht, diese letzte große Aktion durchzuboxen.
Wenn Rauschgifte das Belohnungssystem mit Dopamin überschwemmen, steigt die Empfindlichkeit von Nucleus accumbens und ATV gegenüber Glutamat. Die erhöhte Sensitivität auf Glutamat könnte jene neuronalen Bahnen stärken, die Erinnerungen an den Drogenkonsum mit Lustgefühlen verknüpfen.
Dieses Projekt war auf ihrem Mist gewachsen. Es war ihrem Streben und Einsatz zu verdanken, dass genügend finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden konnten, um den Drogenkampf, den sich ihre Partei ja schon seit Jahren auf das Banner geschrieben hatte, nun endlich in breiter Front durchzuführen.
Das dachte sie jedenfalls. Doch ihr Einsatz war nur ein kleiner Teil des Erfolges gewesen.
Eine Zuwendung, ein kooperatives Entgegenwirken seinerseits, hatte ihr diese Möglichkeit überhaupt erst eröffnet. Dafür konnte er nun in anderen Gebieten mit wenig Gegenwind, ja sogar mit vollständiger Windflaute rechnen. Quid pro quo.
Genauso hatte er es vor ein paar Monaten mit den umweltschützenden Idioten, die es immerhin seit zwanzig Jahren in das Parlament schaffen, gehalten. Um ihr Ansehen bei den elf Prozent der Bevölkerung, die sie ihre Wähler nennen, wahren zu können, brauchten sie einen Erfolg, den sie sich allein auf die Kappe schreiben konnten. Den bekamen sie in Sachen Verkehrspolitik. Nun mussten sie vor ihm zu Kreuze kriechen.
… delta-FosB entsteht nach Drogenkonsum in Neuronen des Nucleus accumbens und einigen anderen Hirnregionen und bleibt dort einige Wochen bis Monate aktiv. Dadurch reichert es sich bei wiederholter Drogengabe allmählich an, nimmt also bei chronischem Missbrauch immer mehr zu.
Dieser Tag war einer Reihe von Veranstaltungen gewidmet, um Journalisten und die Öffentlichkeit zu informieren. Gefolgt von polizeiinternen Fortbildungen, dem Ausbau einer Drogenberatungsstelle in der Innenstadt, Vorträgen in Schulen und sogar Kindergärten landesweit und finanzieller Unterstützung der Forschung und der Exekutive. Umfassende Razzien in verrufenen Stadtgebieten würden schnell Titelseiten füllen.
Ja, Mariechen hatte alle Register gezogen, um das Projekt an die Leute zu bringen. Auch seinem Ruf würde es nicht schaden, dass er seine Unterstützung für die Aktion öffentlich bekanntgemacht hatte.
Das Gehirn versucht, der unnatürlichen Überschwemmung mit Dopamin entgegenzuwirken. Dabei hilft das Protein CREB mit, das als ein so genannter Transkriptionsfaktor die Aktivität bestimmter Gene reguliert. Nun stimuliert CREB die Synthese bestimmter Proteine, welche das Belohnungssystem drosseln.
Er hatte sehr lange seine schützende Hand über ein Szenelokal in der Innenstadt gehalten, so lange es ihm möglich war und die Öffentlichkeit nichts davon wusste. Ein alter Schulfreund hatte die Bude bereits in den neunziger Jahren eröffnet und schnell wurde hinter vorgehaltener Hand bekannt, dass man dort alle möglichen Substanzen bekommen würde. Etliche Petitionen gegen das Lokal waren im Laufe der Jahre im Sand verlaufen. Mit der Polizei wurde ein natürlich inoffizielles Abkommen geschlossen: Ihr schaut nicht weg, aber ihr schaut auch nicht zu genau hin. Dies war natürlich auch zu ihrem Vorteil, da sie nun die Drogenszene an einem überschaubaren Ort mehr oder weniger überwachen konnten.
Mit der neuen Offensive gegen Drogen würde sich nun das Lokal zerschlagen und mit ihr die Szene. Das würde im Endeffekt die Arbeit der Polizisten nicht leichter machen, doch die breite Öffentlichkeit hatte hysterisch nach mehr Sicherheit im Nachtleben geschrien, und Mariechen hatte ihre Chance gewittert.
Das System liefert nun nicht mehr von selbst genug Dopamin. Der Körper verlangt nach der Droge, es entsteht Abhängigkeit. CREB wird bei Drogenverzicht schon nach ein paar Tagen wieder inaktiviert. In Zukunft ist der Organismus für den Suchtstoff überempfindlich.
Er für seinen Teil war ein rechtschaffender Bürger und deshalb natürlich auch Befürworter der neuen Regelungen. Er galt als liebender Familienvater, treusorgender Hundeliebhaber, konservativer Kirchgänger und ab und zu auch Biertrinker am Stammtisch im Heimatort. Und wenn er allein war und Frau und Kinder im Bett oder aus dem Haus, nahm er sich sein Cannabis und rauchte. Das half auch gegen das Fingernägelkauen.
Nene Stark
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