Heute trinke ich meinen Kaffee kalt
6 Uhr 20, der Wecker geht ab. Wie jeden Tag quäle ich mich aus dem Bett. Meine Augen sind müde, mein Körper schwer. Ich ziehe mich an, gehe in die Küche und richte mir mein Frühstück. Wie jeden Tag streiche ich ein Honigbrot und trinke eine Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch. Der nächste Griff geht Richtung Handy. Links eine Tasse Kaffee, rechts mein Smartphone, checke ich neue E-Mails und SMS. Es gibt wenig Weltbewegendes, nichts Dringendes, auf das jetzt schon reagiert werden müsste.
Ich lese die Nachrichten. Und so wie jeden Tag sind es hauptsächlich schlechte. ‚Bürgerkrieg, Anschlag, Tote‘ sind Worte, die tagtäglich die Schlagzeilen prägen. Ich lese weiter. ‚Terrorismus, Luftangriff‘. Mein Magen zieht sich leicht zusammen. ‚Asylanten, Grenzschließung‘. Leere, Trauer und Hilflosigkeit machen sich in mir breit. ‚Flüchtlingslager, Verletzte, Abschiebung‘. Mir wird leicht schlecht. Der Boden unter meinen Füßen scheint sich zu bewegen. Verdammt, bin ich krank? Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich fixiere mein Handy und möchte weiterlesen. Doch vor meinen Augen beginnt es zu flimmern. Handy und Tasse fallen zu Boden. Ich greife nach dem Tisch, um mich festzuhalten, aber es ist zu spät.
Ich liege am Boden. Noch bin ich zu schwach, um mich aufzurappeln. Ich sehe hoch, doch es ist, als ob mich der schwarze Schleier der Bewusstlosigkeit noch nicht ganz loslassen will. Ich reibe mir meine Augen, kann aber trotzdem kaum etwas erkennen.
Ich höre lautes Donnern. Aufgewirbelter Staub umgibt mich. Er bringt mich zum Husten. Was ist passiert? Ich liege am Boden, unter meinen Händen ist Erde. Da wo gerade noch mein Zuhause war, ist nun Staub und Dreck? Ein lauter Knall und noch einer. Ich versuche zu erkennen, was hier los ist, und da sehe ich, dass große Schatten von oben auf den Boden herabdonnern. Ich bekomme Angst. Ich schaue genauer hin. Es sind Buchstaben. Schwarze Buchstaben, zweimal so groß wie ich es bin. Es hagelt Riesenbuchstaben? So ein Unsinn! Das muss ein Traum sein! Ich versuche zu lachen. Doch das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Ein Buchstabe nach dem anderen kracht auf den Boden und lässt die Erde beben. Was, wenn mich einer trifft? Ich mache mich so klein, wie es nur geht, verstecke den Kopf zwischen den Armen, schließe die Augen und hoffe, dass ich aufwache aus diesem Albtraum. Es kann nur ein Albtraum sein! Gerade eben war ich noch zu Hause in meiner Küche und nun kauere ich am Boden und habe Angst, dass ich von einer Buchstabenbombe erschlagen werde? Ich schlucke, versuche ruhig zu atmen. Ich hebe meinen Kopf und blicke mich nochmals um. Gibt es nicht irgendetwas, wo ich Schutz finden kann? Nichts. Nur Staub, Dunkelheit und ohrenbetörendes Donnern. Was auch immer hier los ist, mit meinem Zuhause hat das nichts mehr zu tun. Schon wieder rast ein Koloss zu Boden. Ich muss hier weg! Noch einmal atme ich tief ein und renne los. Ich muss mich in Sicherheit bringen! Ich sprinte so schnell ich kann ins Nichts …
… und krache gegen eine Wand. Das gibt es doch nicht! Eine Mauer! Ich schaue nach beiden Seiten. Ich sehe hoch. Es ist eine scheinbar endlos lange Mauer aus unendlich vielen Riesenbuchstaben. Ich bin fassungslos. Doch es bleibt wenig Zeit, um zu überlegen. Ein paar Meter neben mir landet ein Buchstabenkoloss, kippt noch einmal um und verfehlt nur knapp meine Füße. Ich renne die Mauer entlang und entdecke ein kleines Loch. Und da, endlich zeigt sich ein kleiner Hoffnungsschimmer. Auf der anderen Seite der Mauer ist es ruhig. Dort krachen keine Riesenbuchstaben auf die Erde nieder. Ich muss hinter diese Mauer! Das ist meine einzige Rettung. Ich versuche, auf die Mauer hinaufzuklettern. Ich versuche mich durch kleinste Löcher hindurchzuzwängen und durch engste Ritzen zu quetschen, aber ich habe nicht die geringste Chance. Ich komme nicht weg. Ich bin gefangen. Hinter mir donnern die Buchstaben herab wie Bomben, und vor mir ist diese Mauer. Was soll ich denn jetzt tun? In die andere Richtung rennen und darauf hoffen, dass es dort einen Ausweg aus diesem Albtraum gibt? Nein, das würde nicht gutgehen. Es sind zu viele Buchstaben, die da herunterkrachen. In welche Richtung ich auch blicke, es ist nicht das geringste Zeichen auf Rettung zu erkennen. Ich habe Angst um mein Leben. Meine Knie zittern. Und mit der Tatsache, dass ich hier nicht wegkomme, verlässt mich jeder Funken Hoffnung. Ich verliere jedes Quäntchen Mut. Mir ist nur noch nach Heulen zumute. Ich gebe auf. Ich schließe die Augen und lasse mich zu Boden fallen, in der Hoffnung endlich aufzuwachen.
Ich rechne mit einer unsanften Landung auf hartem Boden, die nicht eintrifft. Ich reiße panisch die Augen auf. Wo bin ich? Was passiert mit mir? Doch sobald ich meine Augen geöffnet habe, macht sich Ruhe in mir breit. Es ist hell und es ist ruhig. Da sind kein Staub und keine herabhagelnden Buchstaben. Gerettet! Ich lebe und befinde mich in Sicherheit! Noch nie war ich so erleichtert und so glücklich wie in diesem Moment. Ich atme auf und sehe mich um. Nein, mein Zuhause ist das nicht. Ich stehe auf einem großen Platz, der mit Sand bedeckt ist. Und dort, ein Stück weiter, wo der Sandplatz zu Ende ist, beginnt eine Welt, ganz anders, als alles was ich bisher gesehen habe. Eine Welt, die glänzt und strahlt. Schön ist es hier. Alles wirkt so friedlich. Was ist das für ein Ort? Ich werde neugierig. Ich möchte mehr von dieser Welt sehen.
Ich gehe los und stoße mit dem Gesicht gegen eine Glasscheibe. Hoppla, die habe ich nicht gesehen. Seltsam. Ein Sandplatz eingezäunt mit einer Glaswand? Na gut. Irgendwo gibt es hier sicherlich eine Tür. Ich möchte hinaus, um mir diese faszinierende Welt anzusehen. Was auch immer mich dort erwartet, es kann nur besser sein als herabstürzende Buchstaben und Sand. Also gehe ich los, immer der Glasscheibe entlang.
Nun gehe ich schon eine Weile. Es geht mal bergauf, dann etwas bergab und dann wieder bergauf. Doch so lange ich dieser Wand nun schon folge, Tür ist keine zu finden. Dieses ständige Auf und Ab ist ganz schön kräftezehrend. Laufe ich etwa im Kreis? Ich mache eine Pause. Auf meiner Seite der Scheibe ist nichts weiter als Sand. Wie gerne würde ich auf der anderen Seite stehen und einfach meiner Wege ziehen! Ganz schön deprimierend, hier im Sand zu sitzen und nicht wegzukommen. Ja, ich bin in Sicherheit, aber ein Ort zum Verweilen ist das nicht.
Ich starre auf den Boden und bin ratlos.
Wolken ziehen auf. Es ist etwas dunkler geworden. Ich spüre Blicke auf mir. Werde ich beobachtet? Ich sehe mich um. Niemand. Hier stimmt doch etwas nicht! Ich blicke hinter die Glasscheibe. Da! Da war doch etwas! Ein dunkler Schatten und noch einer. Neben dem Glänzen und Strahlen dieser unbekannten Welt dort draußen sind sie kaum zu entdecken und doch sind sie da. Dunkle Schatten. Schatten, die Angst machen. Ich habe das Gefühl, dass sie mich beobachten. Ich ducke mich und schaue noch einmal etwas genauer hin. Ja, da sind Schatten und es werden immer mehr! Ich will, dass sie wieder weggehen! Da ist diese schöne Welt, die so viel Sicherheit ausstrahlt, plötzlich voller Schatten! Und sie geben mir das Gefühl, dass ich hier nicht sein sollte, dass ich hier nicht erwünscht bin. Ich wende mich ab und mache mich ganz klein.
Ich starre auf den Boden, und erst jetzt bemerke ich, dass sich der Sand vor mir bewegt. Ist da ein Loch, in das der Sand hineinrieselt? Immer mehr Sand verschwindet. Der Krater wird immer größer! Was nun? Ich springe auf. Hinter mir ist diese Glasscheibe, durch die es keine Tür gibt und vor mir scheint der Boden im Nichts zu verschwinden. Nicht mehr lange und der Krater ist so groß, dass er meine Füße erreicht hat. Ich nehme etwas Anlauf, schmeiße mich gegen die Wand und versuche die Glasscheibe zum Bersten zu bringen. Nichts! Die Scheibe kriegt nicht den kleinsten Riss. Ich trete, ich schlage auf diese Wand aus Glas ein, doch es tut sich rein gar nichts. Und nun ist es auch schon zu spät. Der Sand nimmt mich mit. Oh mein Gott! Wo werde ich landen? Ich will nicht wieder in diese Welt der Buchstabenbomben! Ich will nach Hause! Wenn es mein Zuhause denn überhaupt noch gibt?
Ich falle wie ein Fallschirmspringer ohne Schirm. Ich falle so schnell, dass es mir meine Augen, die ich vor Angst geschlossen hatte, wieder aufreißt. Ich rase hinab, ohne jegliche Möglichkeit, den Sturz abbremsen zu können. Was passiert mit mir? Ich will, dass dieser Albtraum endlich aufhört! Wo ist mein ruhiges, langweiliges Leben hin? Wo sind nur Alltag und Sicherheit geblieben?
Und ganz plötzlich ist mein Sturz zu Ende. Ich sitze. Ich sitze auf einer Bank. Ich blinzle und blinzle noch einmal. Ich sitze auf der Bank in meiner Küche! Alles wie weggeblasen. Kein Sand, keine Glasscheibe. Kein Staub, keine Riesenbuchstaben. Ich atme ein und ich atme aus.
Ich schaue auf meine Hände. Links halte ich eine Tasse Kaffee, rechts mein Handy und vor mir steht ein Teller mit einem Honigbrot. Ich bin zu Hause!
Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne geht gerade auf. Ich sitze zu Hause bei meinem Frühstück! Ich atme nochmals ein und atme erleichtert aus. Ich trinke einen Schluck Kaffee. Er ist kalt. Ich blicke auf mein Handy. Der Bildschirmschoner zeigt die Uhrzeit an. Was? Schon 7:00 Uhr! Höchste Zeit um aufzubrechen. Ich bin spät dran. Ich schmeiße mein Handy in die Handtasche, ziehe meine Schuhe und meine Jacke an und renne zum Bus.
Ein Tag wie jeder andere.
Maria Buchegger
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