Lama und Eisbär
Die beiden Männer, die im großen Besprechungsraum ihres Unternehmens beisammensaßen, kamen ohne Umschweife zur Sache.
„Du weißt, dass diese Strategiesitzung streng vertraulich ist?““, sagte Walter Schmied.
„Natürlich weiß ich das, Walter“, gab Paul Schuster zurück. „Wenn das, was wir heute zu besprechen haben, an die Öffentlichkeit dringt, werden wir von allen Medien an den Pranger gestellt.“
„Das stimmt leider. Also, den Deal haben wir abgeschlossen. Die Süßwarenfabrik gehört uns.“
„Sehr gut!“, freute sich Paul. „Was hat sie uns gekostet?“
„Einen Pappenstiel, verglichen mit der Summe, die die neuen Produkte dieser Firma in unsere Konzernkasse spülen werden.“
„Und was ist mit den Produkten, die sie bisher produziert hat? Behalten wir die Bonbons in unserem Sortiment?“
„Nein, kein Hahn kräht mehr nach Bonbons!“
„Wann stellen wir die Produktion um?“
„In zwei Wochen ist alles bereit für die neuen Süßigkeiten.“
Paul lachte.
„Wie sieht es mit der Eigentümerstruktur aus? Werden wir verschleiern können, wem die Fabrik gehört?“
„Nein, wenigstens nicht lange. Doch das stellt kein Problem dar.“
„Warum nicht?“, fragte Schuster.
„Weil wir immerhin eine gesündere Alternative zu unseren bisherigen Produkten anbieten.“
„Na ja, gesünder? Die Anti-Fett-Lobby wird sich auf uns einschießen.“
„Natürlich wird sie das. Die Veganer übrigens auch, und auch die Diabetiker werden ihren zuckerfreien Senf dazugeben.“
„Wie werden wir auf die Kritik reagieren?“
„Gar nicht. Es ist schließlich nicht verboten, Süßigkeiten herzustellen.“
„Natürlich nicht“, pflichtete Schuster seinem Vorstandskollegen Schmied bei. „Ich frage mich, wie viel wir mit dem neuen Produkt einnehmen werden.“
„Es wird unseren Konzern auf jeden Fall profitabler machen. Wir holen unsere zukünftigen Kunden bereits in jungen Jahren ab und nehmen sie mit auf eine Reise, die ihr ganzes Leben dauern wird und die von uns begleitet wird.“
„An sich ist der Plan gut. Doch in einer Zeit, in der immer mehr Menschen gegen uns sind, wird es schwer werden, ein positives Image zu generieren.“
„So schwer wird es auch wieder nicht. Wir verkaufen den Kindern Süßigkeiten, und die Älteren, die von unserem Premiumprodukt loskommen möchten, haben die Möglichkeit, auf Süßes umzusteigen. Natürlich mit der gebotenen Vorsicht im Umgang damit.“
Den letzten Satz sagte Schmied in einem Tonfall, der beide zum Lachen brachte.
Er legte zwei Blätter Papier auf den Tisch.
„Sieh dir die Entwürfe an, Paul.“
Paul Schuster betrachtete die Skizzen und grinste.
„Die Markennamen ‘Lama’ und ‘Nord’ sind gut gewählt“, sagte er.
„Das denke ich auch. Ist die die Ähnlichkeit der Schrift aufgefallen?“
„Ja, die ist unverkennbar. Wie wird das Produkt denn aussehen?“
„Das ist der Clou an der Sache!“, rief Walter. „Wie unser Produkt für Erwachsene, nur unschuldiger.“
Er zog zwei Packungen Süßigkeiten hervor und reichte sie Paul.
Dieser öffnete sie und nahm zwei Kaugummizigaretten heraus.
„Es stimmt, sie sehen unschuldig aus.“
Er machte Anstalten, eine der beiden Zigaretten aus dem reinweißen Papier, in das sie gewickelt war, zu schälen, doch sein Kollege hielt ihn davon ab.
„Lass das!“, sagte er.
„Ich werde wohl noch kosten dürfen! Immerhin bin ich im Vorstand.“
„Natürlich darfst du das, doch rate ich dir davon ab. Die Regel, dass wir den Mist, den wir produzieren und verkaufen, nicht selbst konsumieren, gilt auch für unser neuestes Produkt.“
Schuster legte sie Süßigkeiten weg.
„Ich verstehe“, sagte er. „Werden wir das Zuckerzeug denn durch die Kontrollen bringen?“
„Wenn du die Zulassung meinst: selbstverständlich. Alle Auflagen werden peinlich genau eingehalten. Das wäre ein gefundenes Fressen für unsere Gegner und Mitbewerber: Kinderzigaretten herstellen und durch den Zulassungstest fallen!“
„Das Lama sieht niedlich aus“, meinte Schuster. „Der Entwurf der Sorte ‘Nord’ aber gefällt mir nicht. Eine Windrose auf der Packung einer Süßigkeit? Ich glaube nicht, dass Kinder viel damit anfangen können.“
„Was wäre denn besser?“
„Hm, das Produkt heißt ‘Nord’. Ein Eskimo vielleicht? Meine Kinder lieben Eskimos.“
„Ich weiß nicht recht. Ich halte es für problematisch, Menschen abzubilden.“
„Dann einen Eisbären. Alle Kinder mögen Bären.“
„Und was macht der Bär?“
„Er sitzt vor seinem Iglu und blickt glücklich auf die halbvolle Packung ‘Nord’ in seiner Tatze.“
„An dir ist ein Werbefachmann verlorengegangen, Paul“, sagte Walter Schmied anerkennend.
„‘Nord’ sollte Menthol beinhalten, Walter“, fuhr Schuster fort. „Der Absatz unserer Mentholzigaretten ist rückläufig. Da kann es nicht schaden, wenn sich unsere zukünftigen Raucher schon in jungen Jahren an den Geschmack gewöhnen.“
Schmied machte sich ein paar Notizen.
„Und das Lama sollte in der Wüste stehen, vor einer Pyramide.“
„Aber Lamas leben doch – ich verstehe! Ein kleines Kamel vor einer Pyramide. Du bist ein Genie!“
„Nein, das bin ich nicht. Ich denke bloß logisch.“
„Dann kannst du vielleicht auch folgende Frage beantworten: Wie kriegen wir die Kinder, die unsere Kaugummizigaretten konsumieren, dazu, ab ihrem, sagen wir, vierzehnten Lebensjahr, unsere Zigaretten zu rauchen?“
„Wir müssen sie eben begleiten, Walter. Erst mit Maskottchen, dem Lama und dem Bären, die bei Partys auftauchen und Kinderzigaretten verteilen, dann mit Geschenken wie Rucksäcken für die Schule, T-Shirts und coolen Computerspielen.“
„Das ist schön und gut, Paul, und auch teuer. Aber wie machen wir sie zu Rauchern?“
„Werden Kinder nicht von selbst zu solchen?“
„In der heutigen Zeit leider nicht mehr. Die Eltern, die Lehrer, die Medien – alle sind mittlerweile gegen das Rauchen.“
„Das ist mir klar. Lass mich einen Augenblick nachdenken. Es ist doch so: Süßigkeiten machen dick, oder?“
„Ja, und weiter?“
„Rauchen hingegen macht schlank, weil es den Appetit zügelt.“
„Das stimmt. Worauf willst du hinaus, Paul?“
„Wir brauchen ein Vorbild für die Kinder, einen Star. Einen Jungen, der durch den Konsum unserer Kaugummizigaretten immer fetter wird, jedoch ohne allzu hässlich zu werden, es aber trotzdem schafft, berühmt zu werden. Er spielt in einer Fernsehserie mit, und als er in die Pubertät kommt und sich für Mädchen interessiert, will ihn keine haben. Dann verschwindet er für ein paar Monate von der Bildfläche und kehrt schlank zurück, mit einer unserer Zigaretten in der Hand. Er findet eine hübsche Freundin, wird glücklich und bleibt, weil er raucht, schlank.“
Walter Schmied sprang auf.
„Das ist genial, Paul!“, rief er.
„Und das Beste ist: Ich habe einen solchen Jungen bei der Hand!“
„Wer ist er?“
„Mein Neffe. Seine Mutter macht sich nicht viel aus ihm, und mein Bruder braucht ständig Geld.“
„Wie aber machen wir aus deinem fetten Neffen einen Star?“
„Ist diese Frage ernst gemeint, Walter?“
„Ja.“
„Sieh dir einmal unseren Gewinn aus dem letzten Jahr an! Mit den Millionen und Abermillionen wird es uns ein Leichtes, den Bengel zu einem Star zu formen, glaube mir.“
„Dennoch hat dein Plan einen Haken, Paul.“
„Welchen denn?“
„Wir werden von allen möglichen Seiten angegriffen werden. Von der Politik, den Medien, den militanten Nichtrauchern – einfach allen!“
„Das mag sein, Walter. Es ist aber auch so, dass uns all diese Anfeindungen nicht tangieren müssen.“
„Ach ja? Und warum?“
Paul Schuster lachte.
„Das wirst du erkennen, wenn du dir unsere Gewinne anschauen wirst.“
Michael Timoschek
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