Musik und Mord
Lange grüble ich schon darüber nach, wende die Sache in meinem Kopf hin und her und kann zu keinem objektiven und endgültigem Urteil kommen. Aber vielleicht braucht es gar keine Objektivität, kein Urteil, und schon gar kein endgültiges. Wie komme ich überhaupt dazu, mir anzumaßen, ein Urteil fällen zu können, das bis zum Ende der Zeiten gültig sein soll?
Höchstwahrscheinlich ist mein Verstand nicht dazu gemacht, dies zu entscheiden, nicht scharf, nicht analytisch und nicht genau genug. Aber kann überhaupt ein Verstand dazu im Stande sein, eine solche Entscheidung mit den Mitteln der Vernunft zu treffen? Es hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass die menschliche Rationalität begrenzt ist. Gleichzeitig ist es gerade die vorläufige rationale Kontrolle, die es uns erlaubt, der Fantasie scheinbar alle Freiheit zu lassen. Daher habe ich entschieden, die beiden Seiten der Sache darzustellen und den Gefühlen und der zeitweiligen Urteilskraft der Leser freien Lauf zu lassen.
Es war einmal ein Russe namens Wladimir Fjodorowitsch Odojewski, der lebte zwischen 1803 und 1869 in St. Petersburg und Moskau. Er stammte aus einer reichen, fürstlichen Familie, war Jurist, Schriftsteller, Komponist, Philosoph, Kinderbuchautor, Musikpädagoge und Naturforscher, hatte lange die Stelle des Direktors der kaiserlichen öffentlichen Bibliotheken inne, später des Rumjanzew-Museums in Moskau. Fürst W. F. Odojewski war sicherlich kein einfältiger Mensch, sondern fast so etwas wie ein Universalgelehrter. In seinen späten Jahren gerierte er sich wie Faust in seiner Studier- und Alchimistenstube. Mit seinen zahlreichen Romanen und Erzählungen beeinflusste er die Großen der Literatur wie Turgenjew, Dostojewski und Tschechow. Er bezieht sich eindeutig auf die deutsche Romantik, dabei vor allem die Phantastik eines E.T.A. Hoffmann, und bringt die epische Sprache des Russischen zu ihrem ersten Höhepunkt. Trotz seiner adeligen Herkunft enthalten viele seiner Erzählungen in Form der Satire scharfe Kritik am russischen Adel und dem zaristischen Absolutismus. Kein Geringerer als Dostojewski bekennt 1861, selbst schon berühmt, wie sehr ihn Odojewskis Schreiben geformt hat und wie sehr er ihn verehrt und liebt.
Als Komponist und Musikpädagoge beschäftigt er sich intensiv mit Bach, Wagner und Piranesi, auch mit dem für ihn größten Gestirn, mit Beethoven. Nur sechs Jahre nach dessen Tod schreibt Odojewski die Erzählung „Das letzte Quartett Beethovens“, lange bevor eine umfassende Lebens- und Werkbeschreibung erschienen ist. Er verrät nicht, wie ihm als sehr jungem Menschen bekannt geworden ist, dass der russische Fürst Nikolai Galitzin 1822 bei Beethoven „ein, zwei oder drei Streichquartette“ bestellt hat. Er schickte einen Brief an „Monsieur Louis van Beethoven a Viennes“. Solche vagen Angaben reichten damals, dass die Post aus dem fernen St. Petersburg den berühmten Komponisten in Wien erreichte, und das bei den Dutzenden von dessen Wohnadressen. Galitzin fühlte eine enge Verbindung mit Wien, war doch einer seiner Vorfahren lange Zeit Gesandter am Hof von Maria Theresia und Joseph II. gewesen. In diesem Schreiben bezeichnet sich Nikolai Galitzin als leidenschaftlichen Cello- Spieler und Bewunderer von Beethoven. An seinem Hof habe er ein von ihm bearbeitetes Streichquartett aufgeführt, berichtet er ihm. Gleichzeitig poltert er gegen den schlechten musikalischen Geschmack in Europa, vor allem gegen „la charlanterie italienne“, die derzeit vorherrsche, aber vergänglich sei im Gegensatz zu den unsterblichen Meisterwerken Beethovens. Als ob er es gewusst hätte, dass sich Beethoven ständig in Geldnöten befand, überließ er es dem Meister, den Preis selbst festzusetzen. Beethoven schlug ein und setzte die exorbitante Summe von 50 Dukaten pro Streichquartett fest, auszahlbar durch eine St. Petersburger Bank nach Lieferung.
Kurz zusammengefasst, Beethoven lieferte, konnte liefern, weil er schon einige Zeit etwas im Kopf hatte: Op. 127, op 131 und op 130 gelten als die „Galitzin-Quartette“. Das erste schrieb er in nur zehn Wochen und schickte es ab. Es traf die prompte Zahlung ein, für die beiden anderen verzögerten sich die Transfers, teils weil die Bank sie verweigerte, teils wegen eines Streits mit Galitzin. Beethoven hatte es sich nicht nehmen lassen, sie alle vorher mit seinen bewährten Musikern in Wien uraufführen zu lassen. Dann gestand Galitzin ein, in finanziellen Schwierigkeiten zu sein, weil er sich an dem zaristischen Feldzug gegen Persien, an dem er selbst teilnahm, überhoben habe. Der Geldstreit um die Streichquartette hielten Beethovens Erben und Testamentsvollstrecker noch bis 25 Jahre nach seinem Tod in Atem. Es ist nicht einmal gesichert, ob der Besteller selbst je eines von den Streichquartetten gehört hat.
Odojewski klärt das in seiner Erzählung ebenso wenig auf wie die Frage, ob er selbst sie kannte. Aufgrund der vagen, dafür umso schwulstigeren Wortkaskaden, die auf viele Musikstücke zutreffen könnten, ist das zu bezweifeln.
Jedenfalls bezieht er sich nicht auf eines der drei „Galitzin-Quartette“, sondern auf das allerletzte, das F-Dur, op 135, an dem Beethoven bis zu seinem Tod gearbeitet hat.
Aber offensichtlich geht es ihm gar nicht um das Streichquartett und die Umstände seiner Entstehung, sondern um die Verteidigung des Meisters gegen die Wiener. Die Erzählung ist eine infame Verteufelung und Verhöhnung der Wiener, die nichts von dem Genie in ihrer Mitte verstanden hätten. Odojewski, der nie in Wien war und nie am musikalischen Leben in dieser Stadt teilgenommen hat, weiß es besser. Die Wiener sind Phäaken und Ignoranten mit schlechtem Geschmack, sie gingen lieber ihren niedrigen und ungezügelten Leidenschaften nach, Wein, Weib und Gesang, Gesang vor allem von billigen Italienerinnen, die er allesamt in den Niederungen von Untalentiertheit, Strich und Puff ansiedelte. Er insinuiert sogar, dass die Wiener das göttliche Genie, dessen sie nie würdig waren, ihn indirekt umgebracht haben, indem sie ihn nicht genügend anerkannt und gefeiert hätten. Und übrigens sei er taub geworden, damit er ihr schales Gerede in einer verhunzten Sprache (komisches Deutsch) nicht mehr anhören musste.
Nur Russen wie der Fürst Galitzin (und natürlich er selbst) hätten ihn retten können vor den von Wald, Walzer und Wein besoffenen Wienern. Das ist schon eine großartige Fernsicht aus St. Petersburg. Mit seiner übergroßen Liebe zu Beethoven schimpft sich der russische Fürst in eine überschäumende, geifernde Verunglimpfung des Wiener Musiklebens und ihrer Liebhaber hinein, die ein klassisches Vorbild hat:
Puschkin hat die Richtung und den Ton vorgegeben mit seiner „Kleinen Tragödie“ über Mozart und Salieri. Eine in marmorne Poesie erstarrte Lüge über den angeblichen Giftmord Salieris an Mozart, die Legende vom Kampf des akkuraten, alternden Handwerkers gegen das überschäumende, junge Genie. Puschkin wusste von dem unhaltbaren Gerücht, es passte ihm aber in den eigenen Kram, es als vom Zaren persönlich verfolgter Künstler aufzufrischen und in eherne Verse zu gießen. Ich selbst traf auf viele Russen, die vom Giftmord völlig überzeugt waren. Ein trauriges Zeugnis für die Erkenntnisschwäche der Russen, aber auch für die Macht der Poesie. Darüber hinaus konnte ich mich davon überzeugen, dass die Russen nichts so sehr lieben wie Verschwörungstheorien, den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, wobei sie sich so gern auf die Seite des vermeintlich Guten stellen und damit selbst gut werden. Tausende Male diskutiert, warum keine andere Kulturnation so viele seiner Dichter, Komponisten, Kritiker, Regisseure, Wissenschaftler, Lehrer und Geistliche über die Jahrhunderte an die Staatsmacht ausgeliefert und in Sibirien ermordet hat. Das waren doch nicht wir, das war damals die zaristische Ochrana, das war die Tscheka, der NchWD, der KGB, der FSB. Und was machen sie jetzt mit Serebrennikow?
Aber zurück zu diesem philanthropischen Fürsten Odojewski.
Also, die Wiener sitzen ununterbrochen auf langen Bänken unter den Kastanien, fiedeln und tanzen und trinken ihren frischen, sauren Wein, für den der Fürst nur Verachtung hat im Vergleich zu seinem französischen Champagner oder dem heimischen Wodka.
Während sie sich so vergnügen, stirbt das Genie. Wie können sie nur. Odojewski leidet mit aus der Ferne. Es kümmert ihn nicht, dass sich Beethovens Todeskampf von Dezember 1826 an abgespielt hat und am 26. März 1827 ausgestanden ist. Als sich die Nachricht von Beethovens Krankheit in Wien verbreitet, hört der Besucherstrom vor dem Schwarzspanierhaus nicht mehr auf. Bis auf die engsten Freunde und Familie wird niemand mehr vorgelassen, aber die Wiener bringen stapel- und kistenweise Wein, Kuchen, Süßigkeiten, Honigmet, Riechflaschen, Wein, Arzneien, Kräutertrank, Mandelmilch, Blütentee, Petersilsuppe und andere Geschenke. Die Wiener wussten sogar, dass er beim Bier das dunkle Horner aus dem Waldviertel bevorzugte. Es waren dem Volk nicht nur die vielen Wohnadressen bekannt – er ist ganze zweiundvierzig Mal umgezogen – sondern auch seine Vorlieben, von denen sie viele mit ihm teilten. Sie wussten, dass Beethoven sein Leben lang dem Wein gerne und meist im Übermaß zugesprochen hat. Rhein- und Moselweine sind seine Favoriten, aber er verschmähte auch keinen alten Gumpoldskirchner oder frischen Grinzinger, wenn einmal der Rüdesheimer ausging. Sein Bruder Johann schwor auf den Wachauer aus Gneixendorf.
Am 5. Jänner traf ein großes Paket aus London ein: die Gesamtausgabe von Händels Werken in vierzig Bänden; sie machte ihm große Freude, weil Händel für ihn der größte Komponist gewesen ist. Er freute sich wie ein Kind und ließ sich immer wieder einen Band reichen, über den er zärtlich mit der Hand strich, berichtet ein Besucher. Er musste vielen davon erzählt haben, denn die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode brachte am 27. Jänner eine Meldung darüber. Nicht nur Freunde und Kollegen eilten herbei, als Beethovens schlechter Gesundheitszustand bekannt wurde. Auch der halbe Hof und viele Adelige stellten sich ein, schickten Botschaften und Geschenke. In den drei Monaten nahmen die Wiener regen Anteil an Beethovens Krankheit.
Am 21. März diktierte er den letzten Brief an Fürst Galitzin, in dem er diesen an seine Zahlschuld für die zwei letzten Streichquartette erinnerte, die Nr 13, op 130 und Nr 14, op 131. Die Erben und Nachlassverwalter werden noch fünfundzwanzig Jahre mit den Russen darüber streiten.
Am 25. März, kurz nach der letzten Ölung durch einen Priester, traf ein Kistchen mit Wein und Kräuterbalsam ein, zwei Flaschen Rüdesheimer 1806, ein hervorragender Jahrgang. Der Diener stellte es auf das Tischchen neben Beethovens Bett, der schaute sie an und sagte: Schade, schade …. zu spät. Man tröpfelte ihm davon löffelweise auf die Lippen, aber er konnte nicht mehr schlucken, er war ins Koma gefallen.
Am Montag, dem 26. März, machten sich gegen Mittag seine engsten Gefährten, Vater und Sohn Breuning von der Schwarzspanierstraße aus auf den Weg hinaus ins Währinger Dörfl, um auf dem Friedhof eine Grabstelle auszusuchen. Der aus Graz herbeigeeilte Freund Anselm Hüttenbrenner – Komponist, Pianist und Musiklehrer – und die Haushälterin Sali sind die einzigen Menschen neben dem Sterbenden.
Zeitgenossen und Biographen stimmen überein, dass sich am Montag, dem 26. März im Laufe des Nachmittags ein schreckliches Gewitter zusammenzuziehen begann, dunkle Wolkenfelder ganz niedrig, ein Ungewitter, mit Schneegestöber und Hagel.
„Da fährt unter einem gewaltigen Donnerschlag ein greller Blitz, von einem gewaltigen Donnerschlag begleitet, herunter und erleuchtet das Zimmer im Schwarzspanierhaus. Beethovens Augen öffnen sich weit, er hebt die rechte Hand, ballt sie zur Faust und starrt ernst und drohend in die Höhe. Dann sinkt die Hand wieder auf das Bett und die Augen schließen sich halb.“ (Der Biograf … ) Der Musiker Anselm Hüttenbrenner ist neben der alten Haushälterin Sali in Beethovens Sterbezimmer. Hüttenbrenner legt dem Sterbenden die Hände auf die Brust. Beethoven atmet nicht mehr und sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Hüttenbrenner drückt ihm die Augen zu und küsst seine Lider. Dann zieht er seine Uhr heraus, es ist dreiviertel sechs. Jetzt lässt Hüttenbrenner den jungen Maler Josef Teltscher ins Sterbezimmer rufen, damit er einige Zeichnungen vom Toten anfertigt. Danach schneidet er ihm eine Locke aus dem Haupthaar und bewahrt sie in seinem Notizbuch auf.
In der Sterbematrik der Minoriten auf der Alser Straße steht eingetragen: Ludwig van Beethoven, gest. 26. März 1827, lediger Tonsetzer, geb. 1770 zu Bonn im Reichsgebiet, gest. an Wassersucht, begraben am Gottesacker des Dorfes Währing.
Beethoven wurde am 29. März in der Alserkirche aufgebahrt. An den Feierlichkeiten und dem Trauerzug nahmen 20 000 Menschen teil, damals die Hälfte der Bewohner der Innenbezirke.
Das Gedränge war so groß und die Stimmung so heftig, dass Militär eingesetzt werden musste, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Schulen und Ämter blieben geschlossen. Es ging heftiger Schneeregen nieder und es wehte ein eisiger Wind. Das Leben in Wien steht praktisch still. Am Eingang zum Friedhof trägt der Schauspieler Heinrich Anschütz die bewegende Grabrede, die Franz Grillparzer verfasst hat, vor. Den Sarg begleiten 36 Fackelträger, von denen Franz Schubert einer ist. Nur ein Jahr später wird er selbst unter großer Anteilnahme der Wiener zu Grabe getragen.
… Drum scheidet trauernd, aber gefaßt von hier, und wenn euch je im Leben, wie der kommende Sturm, die Gewalt seiner Schöpfungen, übermannt, wenn Eure Thränen fließen in der Mitte eines jetzt noch ungeborenen Geschlechts, so erinnert Euch dieser Stunde, und denkt: Wir waren auch dabey, als sie ihn begruben, und als er starb, haben wir geweint.
(Ende der Grillparzer-Rede)
1863 wird Beethoven erstmals – wieder unter großer Anteilnahme der Bevölkerung –exhumiert, die Gebeine und der Schädel vermessen und fotografiert, 1888 ein zweites Mal, diesmal aber umgebettet in die Ehrenhalle des eben eröffneten Zentralfriedhofs.
Nach Odojewskis Ansicht hätten die Wiener, so wenig wie sie das Sterben und den Tod in ihrer Kulturlosigkeit und Oberflächlichkeit gebührend gewürdigt haben, kollektiv Selbstmord begehen müssen, um dem Genie in ihrer Mitte gerecht zu werden, das sie nicht erkannt haben, sozusagen als Buße dafür, dass sie ihn mit ihrer Ignoranz nicht gerade ermordet, aber in den zu frühen Tod getrieben hätten. Es ist der unerträgliche moralische Alleinvertretungsanspruch, der die Odojewski-Erzählung so abstoßend macht. Es ist der ekelhafte Schwindel, zu dem Odojewski unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit, der freien Einbildungskraft, greift.
Und was hätte Odojewski erst daraus gemacht, hätte er gewusst, dass die schwindligen Wiener zugelassen haben, den Mozart-Mörder als Lehrer von Schubert und Hüttenbrenner wirken zu lassen. Sicher auch wieder nur eine typisch wienerische, hinterlistig-dumme Verschwörung gegen Beethoven. Dass Hüttenbrenners Requiem Nr. 1 in c-Moll bei Salieris Einsegnung 1825 gespielt wurde, ebenso wie bei Beethovens 1827 und ein Jahr später bei Schuberts. Hüttenbrenner überlebte seine Freunde so lange, dass er noch mit Liszt befreundet sein konnte.
Nicht nur, dass Odojewski in seiner Erzählung das namensgebende 13. Streichquartett für das letzte hält und es mit dem ihm unbekannten 14., op 135 verwechselt und die äußeren und inneren Umstände von Beethovens Sterben und die Wiener völlig „falsch“ darstellt. Unwesentlich ist auch die Frage nach der historischen Wahrheit, denn um die Authentizität eines historischen Geschehens geht es hier nicht.
Es ist die Haltung, mit der Odojewski die „dichterische Freiheit“ anwendet. Wie heißt die Definition von Wilhelm von Humboldt: Kunst besteht in der Vernichtung der Natur und ihrer Wiederherstellung als Produkt der Einbildungskraft. Danach hat Odojewski die Natur = Geschichte recht ordentlich vernichtet und mit viel Einbildungskraft irgendetwas hergestellt.
Er hat mit diesem Machwerk ein Bild vom Wiener Volk erschaffen, das nach ihm viele russische Dichter und Reisende ( u. a. Gogol und Tschechow, aber die waren im Gegensatz zu Odojewski zumindest für einige Tage in der Stadt ) wiederholt haben und das so unausrottbar ist wie der von Puschkin geschaffene Giftmörder Salieri. Nicht nur, weil seit Generationen die Kleine Tragödie Mozart und Salieri zur Schullektüre in Russland gehört und auswendig gelernt wird. Immer wieder werden neue Varianten auf den Bühnen aufgeführt, Vertonungen ohne Zahl. 1898 singt der tiefste Bass aller Zeiten, Schaljapin, den schrecklichen Salieri.
Sowohl die Wiener wie auch Salieri werden es aushalten, dass sie bei den Russen so schlecht wegkommen. Aber wie weit darf künstlerische Phantasie gehen, und wo beginnt die Denunziation? Ist Odojewskis Beethoven-Erzählung eine frühe Form von fake news? Ganz abgesehen davon, dass es bei den Russen Volkssport ist, immer und überall an Verschwörungstheorien zu basteln. Das scheint ihre zweite Natur zu sein. Wenn es nicht so verschrien wäre, könnte man von einem Nationalcharakter sprechen. Sondern vor allem – das ist meine Interpretation – das messianische Bewusstsein der Russen. Sie, die großen Kunstversteher, die großen Künstler-Retter, das ist es, was einem den Magen umdreht. Sie hätten eigentlich genug zu tun, bis zum heutigen Tag, ihre eigenen Künstler vor Verbannung, Ausweisung, Gefängnis, Gulag und Tod zu retten – aktuell den Kirill Serebrennikow.
Puschkin hat Mozart und Salieri 1830 geschrieben, es wurde 1932 in St. Petersburg uraufgeführt. Sehr wahrscheinlich hat Odojewski es gesehen, denn kurz danach erschien seine Beethoven-Erzählung. Zwingend ist der Zusammenhang nicht, er ist nur ein zeitlicher, aber möglich, die Parallelen sind unleugbar. Der böse Salieri ist Wien – Beethoven ist Mozart, und umgekehrt.
Genie gegen Mittelmäßigkeit, gottgegebenes Talent gegen Handwerk, schöpferische Uneigennützigkeit gegen eifersüchtigen Ehrgeiz. Die Fronten sind klar, aber nur von Salieri her, der vermeintliche Komponistenkrieg ist einseitig, was den Puschkin-Salieri so besonders wurzt.
Wenn ich Puschkin je recht verstanden habe, kämpft er immer für sich selbst und seine künstlerische Freiheit.
Klar, Puschkin glaubt nicht wirklich an den Giftmord von Salieri an Mozart aus „schwarzem Neid und Eifersucht“. Diese Legende war schon zu Puschkins Lebzeiten genügend widerlegt. Als Dramatiker brauchte er aber zwei gegensätzliche Künstlertypen, die er gegenüberstellen und deren Argumente er ausbreiten konnte. Er brauchte seinen Mozart und seinen Salieri, weil er sich selbst eher zu so einem Mozart zählt, der von einem Typus à la Salieri drangsaliert wird. Zeit seines Lebens, angefangen vom absolutistischen Zaren bis zu den niedrigen Neidern und Speichelleckern. Das ist sein Konstrukt und hat mit dem historischen Salieri nichts zu tun.
Puschkin brauchte den bösen Salieri als Selbstverteidigung und den Mozart als Appell für die Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst. In diesem Kontext interpretiert, kann seine kleine Tragödie von mir aus bestehen bleiben.
Ich nehme Puschkin in diesem Bestreben in Schutz, obwohl ich sehe, was er durch die Anfälligkeit für Fehlinterpretationen angerichtet hat.
Ich persönlich vermeine das Augenzwinkern bei Puschkin zu bemerken, mit dem er seinen Salieri bei seiner Selbstrechtfertigung für den Giftmord auf die absurde Legende über Michelangelo Buonarotti anspielt, der zufolge er ein Model ermordet habe, um das Pathos des Todes bei seiner Kreuzigungsdarstellung wahrheitsgetreuer einfangen zu können.
Bei Odojewski dagegen sehe ich die reine Lust an der Denunziation, um die Überlegenheit der „russischen Seele“ gegenüber dem oberflächlichen, genusssüchtigen, verspielten und tumben Westen herauszustellen. Nur die russische Seele mit ihrer Tiefe, mit ihrer Fülle an Gefühlen und Einfühlung kann die Größe eines Giganten wie Beethoven verstehen. Die phäakischen Wiener haben so einen gar nicht verdient, sie mit ihrem Wein, Weib und Gesang, ihrem Heurigen, Walzer und ihrem Himmel voller Geigenseligkeit. Nur die Russen können einen Beethoven vor ihnen retten. Die Anmaßung, dass Beethoven es nötig hat, von einem Russen gerettet zu werden. Und nur ein Russe mit seiner Glaubenstiefe und seiner gottgegebenen Natur kann die Göttlichkeit eines Mozart oder Beethoven erkennen und gebührend würdigen.
Der Witz an diesem überbordenden Nationalstolz ist, dass er ideengeschichtlich aus Deutschland kommt, vom Schelling-Kult. Schelling wurde in Russland wie ein Gott verehrt, und Odojewski war der Erzpriester der neu entdeckten Nationalseele. Er behauptete, dass der Westen in seinem Streben nach materiellem Fortschritt dem Teufel seine Seele verkauft hatte. Nur Russland mit seinem jugendlichen, unschuldigen Geist und den angeborenen Eigenschaften der russischen Seele könnten Europa retten. Er spricht der russischen Seele eine besondere Art von Liebe zu. Die christliche Bruderschaft Russlands habe eine ganz eigene Botschaft an die Welt (Odojewski, Russische Nächte). Der Fürst, Großgrundbesitzer und Inhaber von tausenden von Leibeigenen predigt vom „unverdorbenen Land und der kreativen bäuerlichen Seele, die ein viel größeres Potenzial hat als die westliche Naturwissenschaft“. Das ist nicht mehr weit entfernt von Iwan Aksakow, dem Begründer des Slawophilentums: „Das russische Volk ist nicht bloß ein Volk, es ist eine Menschheit.“
Die russische Sprache kann aus vielen Gründen geliebt werden, von ihren eingeborenen Trägern so natürlich wie ihre eigene Haut, was für die anderen schwer zu verstehen ist. Mit Hilfe eines einzigen mitleidlosen Wortes kann es die Quintessenz eines weitverbreiteten Defekts bezeichnen, für den die anderen drei europäischen Sprachen zwanzig brauchen und doch zum wahren Wesen vorstoßen. Poschlost heißt dieses fette, weiche Untier, mit der Betonung auf dem ersten O und einem feuchten T am Ende. Niedertracht, Falschheit, Verlogenheit, Schamlosigkeit, Verkommenheit, Schändlichkeit stehen an der Spitze; es folgen: unecht, billig, gemein, geschmacklos, schrottig, minderwertig, schäbig, fies, schleimig, hochgestochen, nachgeäfft, aufgedonnert, lächerlich, flittrig, schundig – alles, was gewisse falsche Werte bezeichnet. Wenn es eine derartige Zeitmaschine gäbe, würden daraus solche Figuren herauspurzeln wie später Gogol sie in den Toten Seelen und im Revisor erschaffen hat. So hat Odojewski die Wiener seiner Phantasie gezeichnet, viele anonyme Tschitschikows, Ljapkin-Tjapkins, Dobtschinskis und Bobtschinskis. Trotzdem bleibt diese Charakterisierung am Autor hängen, ein Schwindler, ein Taschenspieler ist der wahre Poschlotschkin, Schmutz und Schund sind sein Spielkapital.
Dass seine Beethoven-Geschichte kein einmaliger Ausrutscher ist, davon zeugen auch seine Erzählungen über Bach und Wagner, die im Herzen echte Russen sind und nur den einzigen Fehler haben, keine Russen zu sein. Für diesen Größenwahn hat das Russische ein schönes Sprichwort: Die Heimat der Elefanten ist Russland. Oder: Unser Iwanow hat die Glühbirne erfunden. Das Unappetitliche an Odojewski ist, dass er ohne jedes Augenzwinkern schreibt, ohne Anstalten zu machen, sich der Groteske als Kunstform zu bedienen, sondern mit dem Anspruch: Seht her, so sind sie, ich weiß es, es ist die Wahrheit.
Odojewskis Beethoven-Darstellung ist meines Wissens nach die erste Spur der später als Slawophilie in Mode gekommenen Geistesströmung in Russland. In der Konstruktion des „Dritten Rom“ führt der Weg später im Jahrhundert ganz leicht zum Panslawismus und russischen Nationalismus. Und das bis ins heutige Putistan.
1.- 4. September 17
Veronika Seyr
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