Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen
Ich habe viele Stühle in meinem Haus, viel mehr, als meine Familie braucht. Immer schon habe ich herrenlose Stühle aufgelesen, die auf Dachböden, in Kellern oder Garagen ihr vorläufiges Ende gefunden hatten. In mir regt sich bis heute das Mitleid, wenn ich einen ausrangierten Stuhl sehe. Er tut mir unendlich leid und ich nehme ihn mit, repariere ihn oder lasse ihn reparieren und gebe ihm ein neues Zuhause. Auch ein Stuhl braucht ein Zuhause! Einen liebevoll geschreinerten Stuhl setzt man nicht aus, wenn seine Bauart aus der Mode gekommen ist, wenn die geflochtene Sitzfläche zerrissen ist, wenn die Lehne abfällt. – Nein, das tut man nicht. Ich habe also eine kleine Sammlung von verschiedenen Stühlen. Zu jedem einzelnen kann ich eine Geschichte erzählen und die Geschichte betrifft nur die kurze Zeit, die ich mit dem jeweiligen Stuhl verbringe. Jeder Stuhl könnte also selber auch noch eine viel längere Geschichte erzählen, wenn die Stummheit nicht zum Wesen der Stühle gehörte.
Ein guter Stuhl muss leicht sein, sodass er jederzeit hochgehoben und an einen anderen Platz gestellt werden kann. Die Qualität eines Stuhles erkennt man an seiner Leichtigkeit.
Wenn ein Gast kommt, gehört es zur guten Sitte, ihm einen Stuhl, einen Sitzplatz anzubieten, sodass er verweilen und sich erholen kann. Bei den Juden ist es am Sederabend Brauch, ein Gedeck zu viel aufzulegen und einen zusätzlichen Stuhl an den Tisch zu stellen, damit der Prophet Elija, sollte er vorbeikommen, einkehren kann. Jederzeit kann der Messias kommen, wir kennen weder Zeit noch Stunde, aber wir wollen doch gerüstet sein.
Auch ich will gerüstet sein, wenn ein Fremder kommt und um Einlass bittet. So ist die Geschichte mit den Stühlen für mich auf ganz besondere Weise lebendig geworden. – Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen, so lautet ein Sprichwort. – Ich habe viele Stühle, auf denen sich das Glück niederlassen kann. Aber das ist wahrscheinlich zu aufdringlich für das Glück, und es geht lieber vorbei. Auch das Glück mag es, wenn es sich nicht entscheiden muss, wenn gleich der richtige Platz gefunden ist. Zu viele Stühle sind ein Gottversuchen.
Beim Sperrmüll habe ich einmal einen ausgesetzten Stuhl gefunden. Die Sitzfläche – aus Bast geflochten – war zerrissen. Offensichtlich ist ein Rüpel oder gar ein Brackel mit dem Fuß daraufgestiegen. Als die filigrane Sitzfläche unter der Last stöhnte und ächzte, nachgab und riss, zeigte sich eine klaffende Wunde. Der Stuhl wurde ausrangiert, auf die Straße gestellt. –Herzlos! Gott sei Dank hat mich mein Weg daran vorbeigeführt, mein mitleidiges Herz hat sich sofort geregt und ich habe dem siechen Stuhl Obdach gegeben. – Monate später fand ich einen Korbmacher, der sich noch auf die Kunst des Flechtens versteht. Er hat meinen maladen Stuhl repariert. – Wohlgemerkt für teures Geld!
Ein andermal bin ich an einem Tag, an dem Sperrmüll gesammelt wurde, auf einen kleinen Sessel aufmerksam geworden, der mich gedauert hat, und ich habe ihn vor der Müllpresse bewahrt. Jetzt hat er in meinem Haushalt eine neue Heimat gefunden und jeder Gast nimmt gern auf ihm Platz.
Nun hat es sich ereignet, dass seit geraumer Zeit ein junger Mann, der im Jahr 2015 seine Heimat Afghanistan verlassen hat, in mein Haus kommt. Er möchte Deutsch besser lernen und wir sprechen und lesen miteinander. Ich mühe mich, Wörter wie Rückbank, Ersatzreifen, Aufgabe oder noch viel schwieriger Schicksal und Paradies zu erklären. Wir kommen auch auf Himmel und Hölle zu sprechen, auf Gott und Teufel. – Mir wird wieder einmal klar, wie schwer es ist, eine fremde Sprache zu lernen. Es geht ja nicht nur um die Worte. Hinter jedem Begriff verbirgt sich eine Geschichte und jedes Volk erzählt sich andere Geschichten, weil es in anderen historischen Gegebenheiten lebt. Will oder muss man also in einem fremden Land heimisch werden, so muss man sich mit den Worten vertraut machen, deren Herkunft auch sehr kompliziert ist. Wer denkt zum Beispiel daran, dass der Ausdruck: „Ich halte mich bedeckt“ mit „der Decke“ und „zudecken“ zusammenhängt. Während ich mich mühe, derartige Zusammenhänge zu erklären und auch zu zeigen, was sich hinter manchen Worten verbirgt, lerne ich selber die Tiefe und Schönheit meiner Muttersprache erneut kennen. Gleichzeitig fange ich an zu erahnen, wie in einer mir völlig fremden Sprache wie Paschtu manches ausgedrückt wird und welch anderer Erfahrungshintergrund dem zugrunde liegt.
Der junge Mann, von dem ich hier erzähle, hat den auch für unsere Ohren schön klingenden Namen Khushal. Schon bei einem unserer ersten Treffen erzählte er mir, dass seine Mutter diesen Namen von einer anderen Frau, deren Sohn so hieß, gestohlen hat. Es ist ein besonderer Name.
„Meine Mutter hat wirklich Probleme mit dieser Frau bekommen, weil sie einfach den Namen von ihrem Sohn geklaut hat.“ – Manchmal kann man einfach keine Kompromisse eingehen!
Wenn man einen Namen bekommen hat, kann man ihn nicht mehr wegnehmen. Wenn er einmal gegeben ist, bleibt er. Die andere Frau mochte schimpfen und zetern, der schöne Name Khushal hat einen zweiter Träger bekommen. Ich weiß nicht, was aus dem ersten Khushal geworden ist, den zweiten habe ich kennengelernt. Er erzählt mir von seiner Heimat und ich bin von meiner Unwissenheit erschüttert.
Khushal sagt: Ich habe keine Angst, ich bin im Krieg gewachsen.
Als ich ihm erzähle, dass meine Söhne als Kinder Auseinandersetzungen gescheut haben, sich nicht mit anderen geprügelt haben, lieber nachgegeben haben, da entgegnet mir Khushal, dass ein afghanischer Mann nie sagt, dass er schwach ist. Ein Mann ist stark und muss kämpfen. – Als aber am Bahnsteig einmal ein großer Hund neben uns Platz nimmt, beobachtet Khushal ganz genau die Augen und Bewegungen dieses Tieres und geht auf die andere Seite, hinter mich.
Auf verschlungenen und abenteuerlichen Wegen ist Khushal tausende Kilometer im Alter von fünfzehn Jahren nach Europa gewandert und in einem Land angekommen, von dem er nur den französischen Namen Almani kannte. Er ist ohne Eltern, Geschwister und Verwandte hier und dieses unbekannte Land hält erneut viele Probleme für ihn bereit. Hätte er zu Hause davon gewusst, wie schwierig es ist, als Asylbewerber anerkannt zu werden und einen Pass zu bekommen, so hätte er vermutlich die Strapazen der Reise nicht auf sich genommen. Oft zweifelt er, ob die Entscheidung zu gehen, richtig war. – Ich sage: Jetzt bist du hier! Das ist dein Schicksal.
Khushal stimmt mir zu: Allah hat meinen Weg auf meine Stirn geschrieben. – Was auf meine Stirn geschrieben ist, das kommt. – Emah patandi jelikuli harasi, so habe ich die Worte verstanden.
Ja genau, so ist es. Wer kann sich seinen Lebensweg schon aussuchen?
Jetzt sitzen wir hier zusammen und ich lasse mir erzählen, was Khushal auf der Flucht alles erlebt hat.
Im Kofferraum eines Autos war er versteckt, so eng eingezwängt, dass er jegliches Gefühl für Raum und Zeit verlor. Im Bus ist er durch Intuition einer Verhaftung entgangen, indem er sich einfach wieder hingesetzt hat und nicht der Weisung des Polizisten gefolgt und ausgestiegen ist. – Glück gehabt! Hundertmal!
Ohne Pass hat er eine „boarder“ nach der anderen überschritten, im Dschungel, wie Khushal den Wald nennt, hat er tagsüber an Bäume gelehnt versucht zu schlafen oder zu dösen.
Angespannt hat er auf einen verabredeten Pfiff gehorcht und ist unter Tränen, wie er mir gesteht, aufs Geratewohl losgeschlichen, in der Hoffnung, den Treffpunkt zu finden. Er hat ihn gefunden. Sein Schutzengel, Malaike, wie er sagt, hat die schützenden Flügel über ihn gehalten. – Tausendmal!
Im Sommer 2015 ist Khushal in Passau gelandet oder gestrandet. Als unbegleiteter Jugendlicher ist er zuerst nach Geiselhöring, dann nach Mallersdorf ins Wohnheim gekommen. Er geht in die Schule, lernt Deutsch und Mathematik und Staatsbürgerkunde. Was ist eine Demokratie, welche Versicherungen gibt es, wie viele Bundesländer hat die Bundesrepublik, von wie vielen Ländern ist Deutschland umgeben oder eingeschlossen? Fragen über Fragen, auf die ich auch nicht immer gleich eine Antwort habe. Nichts ist einfach, auch nicht in Deutschland. Besonders die Bürokratie.
Khushal hat seine Freude am Kickboxen entdeckt. Er trainiert eifrig und möchte darin richtig gut werden. – Disziplin, Kraft und Geschicklichkeit sind wichtig, damit man im Wirrwarr nicht so leicht die Nerven verliert. Es bieten sich viele Gelegenheiten, zu straucheln, schwach zu werden, aufzugeben, davonlaufen zu wollen, aber wohin?
Wir sind uns in der Schule begegnet und einmal hat mich Khushal vorsichtig gefragt: „Haben Sie bisschen Zeit? Ich möchte Deutsch lernen mit Sie.“ Wer hätte gedacht, wie schwer das ist. Bin ich froh, dass ich mich in meiner Muttersprache verständigen kann.
Khushal kommt nun regelmäßig in mein Haus und setzt sich auf einen freien Stuhl. Inzwischen weiß ich auch, dass man in seiner Heimat auf Kissen am Boden sitzt, auf einem schönen weichen Teppich, aus dem Iran. Dort ist immer Platz für einen Gast.
Wir trinken Tee oder Cola, backen zusammen Bulani, wie in Paschtu das Brot genannt wird, lesen zusammen ein Buch und sprechen über dieses und jenes.
Ich erzähle ihm von meinen Kindern, von Sebastian, der ein Haus baut und dessen Freundin ein Reitpferd hat, von Jonas, der wieder aus Berlin zurückgekehrt ist, und davon, dass Jakob eine türkische Freundin hat, die – im Spaß, hoffe ich – von ihm 83 Kamele als Brautpreis fordert.
Khushal setzt sich auf einen freien Stuhl, isst mit meiner Familie am Tisch. Oh, vieles wird nicht nach seinem Geschmack sein, vieles wird ihm seltsam vorkommen. So ist das in der Fremde!
Er erzählt mir von der großen Enttäuschung, der Abschiebung. Ich möchte ihn trösten und erfahre die Schwäche und Machtlosigkeit meiner Worte. Was soll ich sagen? Ich bin hilflos. Es wird weitergehen, es wird gut werden. Ich helfe dir. Aber wie?
Khushal bedeutet in unserer Sprache Glück. Wie weise deine Mutter deinen Namen gewählt hat. Khushal bedeutet Glück!
November 2017
Claudia Kellnhofer
www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 18033