Guten Appetit, ihr Ratten - Teil I

Heute stritten sich meine Eltern wieder. Mein Vater stand, wie immer, mit dem Sabber im Mund, und beschimpfte meine Mutter, die sich, wie immer, nervend beweinte. Dabei war das ein Theaterstück, das ich mir leider öfter ansehen durfte. Sie stritten sich nie, wenn ich nicht zu Hause war. Sie brauchten einen Zuschauer, und diese ätzende Rolle hatte ich bekommen, ohne dass mich jemand gefragt hätte. Ich musste bloß schweigend dasitzen, oder -stehen, oder -liegen, kurz gesagt, einfach da sein, um alles mitzukriegen. Die beiden wollten mir eine Botschaft übermitteln, dass sie nämlich unglücklich waren, und ich wusste nach wie vor nicht, was ich damit anfangen sollte. Es war nicht meine Schuld, ich hatte in meinem Leben genug Fehler gemacht, aber dass ich in diese Familie geboren wurde, war keiner davon. Ich meine doch, aber nicht meiner. Darüber wurde ich vorher auch nicht informiert, zack in den dunklen Sack, und da war ich.

Es gab immer das selbe Muster, wie ihr Streit anfing. Zuerst provozierte meine Mutter meinen Vater – komisch, wenn ich sie so nenne, weil ich überhaupt keine seelische Verbindung zu ihnen verspüre. Die sind nur zwei Menschen, die mich mit ihren Problemen ständig belästigen, und ich kann nicht weglaufen. Ich brauche mein Bett, um zu schlafen, so sentimental bin ich nun mal.
Also meine Mutter wollte das Mittagessen kochen, und nahm zwei Packungen Putenfleisch aus dem Kühlschrank. Und als sie die aufmachte, wurde die Luft im Raum verpestet. Es roch schrecklich, ich dachte schon, dass ich mich übergeben müsste, so intensiv roch es nach dem Gammel. Selbst mein Vater, der sein hässlisches Gesicht im Badezimmer rasierte, witterte es sofort und kam mit dem Rasierschaum im Gesicht zu uns.
„Wer ist da gestorben?“
Eure Träume, wollte ich ihm antworten, schwieg aber lieber.
„Ist das unser Mittagessen?“, fragte er.
Meine Mutter nickte ganz blöd, nach ihrer persönlichen Art. Anders konnte sie nicht, das war die Form ihrer Existenz.
„Schmeiß es sofort weg!“
„Warum?“, fragte meine Mutter.
„Warum?!“, wiederholte mein Vater erstaunt.

Ich wollte lachen, aber blieb ruhig, ich konnte mich kontrollieren, und zwar sehr gut – ich blieb zumindest äußerlich kühl.
„Weil es wie ein Kadaver riecht, darum!“
Das ist es auch, hätte ich am liebsten gesagt.
„Ich denke, dass es noch essbar ist.“ Sagte meine „Mami“ und probierte ein Stück rohes, gammeliges Fleisch.
Mein Vater war schockiert. Jedenfalls spielte er den Schockierten, obwohl es mir unglaubwürdig schien, dass man sein ganzes Leben von ein und demselben Ding schockiert werden kann, aber er war schon in seiner Rolle, also es ging bereits los.
„Du Idiotin, schaust mich wie eine Ziege an, hörst du nicht, was ich sage? Schmeiß das weg, habe ich gesagt. Verstehst du denn nach so vielen Jahren immer noch kein Deutsch?“ Sie war eine Ausländerin.
„Doch.“
„Warum hast du das dann getan?“
„Weil es schade wäre.“
„Es ist kein Essen mehr du Idiotin, du Kaukasische Ziege, dein Platz ist an einer Klippe, nicht hier in meiner europäischen Küche, du, duuu, ich weiß nicht, was du bist, aber ich wünsche dir, dass du dich vergiftest und verreckst.“

Da fing meine Mutter an zu weinen, und ich ging zum Fenster, um rauszuschauen, aber da war nichts, nur eine leere, kalte Straße. Von diesen negativen Schwingungen wurde mir übel. Ich hatte einen ziemlich empfindlichen Magen. Das war schon immer so, aber ich wollte nicht, dass jemand es mir anmerkte. Ich schwörte, dass ich mich rächen würde.
Mein Vater beschimpfte sie noch gute zehn Minuten, und ich spürte schwarze Galle, die von der Decke und den Wänden runtertropfte. Alles war so verschmutzt und eklig. Wie konnte das Glück in einer Wohnung wie dieser überleben?
Ich wollte woanders sein, mit anderen Menschen, egal mit wem, aber nicht mit denen da, die mein Leben zerstörten. Das dürften sie eigentlich nicht, keiner darf das, besonders die Eltern nicht. Ich wollte von ihren Sado-Maso-Spielchen nichts mehr wissen, sie sollten mich einfach in Ruhe lassen.

Wenn ich eine Freundin hätte, würde ich zu ihr ziehen, aber ich hatte keine. Nach der Zankerei meiner Eltern war ich so gestresst, dass ich oft masturbierte, um mich ein wenig zu entspannen, aber es half mir nur kurz, danach fühlte ich mich noch schlimmer. Diesmal tat ich es nicht, ich blieb Gewinner des Tages, und so fing mein zweiwöchiger Urlaub an.
Ich hatte vor Kurzem eine Beschäftigung in einem Restaurant angenommen, die mich ziemlich kaputt machte. Einmal schälte ich die Äpfel und wurde gehetzt, infolgedessen ich meinen halben Nagel abschälte und mein Finger blutete. Ich musste dann den ganzen Arbeitstag Latexhandschuhe tragen, ansonsten tat es beim Geschirrabwasch höllisch weh, aber es half nicht ganz. Beim Blechabwasch gelangte das fettige, heiße Wasser trotzdem in die Wunde, deswegen musste ich immer wieder neues Pflaster draufkleben.
Als ich endlich nach Hause fahren durfte und mich im Umkleideraum befand, roch meine Hand wie Plastik. Außerdem hatte ich ständige Muskel- und Rückenschmerzen. Meine Füße taten vom vielen Stehen weh, und mein großer Zeh wurde dauernd taub.

Einer meiner Kollegen sah schon wie ein Untoter aus. Er arbeitete da seit einem Jahr, hatte einen vielversprechenden Buckel, ein grünes Gesicht und er war ganz schmächtig. Ich machte mir wirklich Sorgen um ihn. Selbst wenn wir den ganzen Tag zusammen arbeiteten, tat er in den Pausen nichts außer zu rauchen oder Kaffee zu trinken, er aß überhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich wie ein unersättliches Schwein, weil ich mich richtig und möglichst regelmäßig ernährte.
Der Chef war davon nicht ganz begeistert, aber wir hatten eine Abmachung. Er war eine Nummer für sich. Ein meistens ruhiger Psychopath. Einmal warf er sogar mit Pfannen um sich. Danach wurde mir klar, dass vom Herd kommende Hitze so etwas bewirken kann.
Sehr oft beendete er seinen Auftritt mit folgenden Worten:
„Mach es richtig, sonst muss ich dich aufhängen!“
„Keine Folie im Essen, sonst bist du tot!“
„Kein Haar in der Suppe, sonst stirbst du!“
„Und zwar schnell, sonst war es das mit dir!“
„Mach nichts kaputt, sonst mach ich dich!“
Ich lächelte ihn an und dachte gleichzeitig an was völlig anderes, aber das wusste er nicht. Seine irren Augen schimmerten glücklich wegen etwas mir Unbekanntem, was mir egal war.

Er konnte zum Beispiel von etwas Uninteressantem ziemlich lange und wortreich erzählen und einen dann aufmerksam anschauen, als ob er Beifall oder totale Zustimmung erwartete. Seine Frau, meine Chefin, kam oft in die Küche, und sie flüsterten irgendwelche versauten Sachen, ich konnte nichts hören, spürte es aber in der Luft. Manchmal umarmte er sie und presste ihre Hinterbacke mit seiner dicken und kräftigen Hand ganz fest. Sie war eine Sadistin, die mich immer wieder alle Teller polieren ließ, dabei sagte sie,
„Du musst meine Teller wie ‚Ladies‘ behandeln, und sie ohne Gummi betasten, dann wirst du spüren, was ich meine.“

Meine freien Tage verbrachte ich im Schlaf und hatte Albträume, in denen ich unendliche Mengen Teller abwusch. Ab und zu zuckte ich in der Nacht, was ich vorher nie getan hatte. Noch eine Sache bedrückte mich schwer. Vor dem Urlaub hätte ich Rattengift verteilen müssen, was ich aber aufgrund meiner buddhistischen Weltanschauung nicht gemacht hatte, und jetzt hatte ich Angst, dass er es erfuhr. Deswegen entschied ich, das nach dem Urlaub als Erstes zu tun. Zwischen mir und den Ratten wählte ich mich aus.
Mein Chef hatte noch ein großes Haus in der Nähe der Stadt, wo ich der Gärtner war. Er brachte mich mit seinem Wagen dahin und verließ mich dort, ohne das Haus aufzuschließen. Im Falle der Notwendigkeit erleichterte ich mich im Gebüsch. Das Haus war riesig, wie das Feld, auf dem ich mit einem alten, roten Trecker den Rasen mähen musste, und zwar stundenlang, alleine, vielleicht beobachtet von Geistern, die sich im leeren Haus zu Tode langweilten. Ich hoffte es zumindest.
Eigentlich hatte er zwei Felder. Eines war frei, und es war viel leichter, auf dem zu arbeiten, aber das andere war voll von Apfel-, und Birnenbäumen, und ich musste da ziemlich vorsichtig sein, wenn ich keinen Schlag von einem Ast ins Gesicht abkriegen wollte.

Während ich mit dem Trecker die Muttererde im Kreis rasierte, dachte ich viel über den Sinn des Lebens, über Gott, meinen Platz in dieser Welt und den Tod nach, also alles, an was man so denkt, wenn man ganz alleine ist oder sich so fühlt, aber meine Gedanken drehten sich auch im Kreis, und es schien mir keinen Ausweg und keine Antwort zu geben.
Das letzte Mal, als ich dort war, regnete es stark, aber der Chef hielt es für lebenswichtig, dass ich den Rasen an dem grauen und nassen Tag mähte und brachte mich trotzdem dahin. Als Schutz gab er mir seine alten Jacken, die mir zu groß waren und die ich ständig umziehen musste, so schnell wurden sie durchgenässt.
Außerdem gab er mir blaue Müllsäcke, die ich wie ein Kondom überziehen sollte, und das tat ich auch, aber ich wurde trotzdem immer wieder nass. Dabei verlangte er noch, dass ich jede Ecke mit dem Rasentrimmer vom Unkraut befreie und das gereifte Obst vom Boden sammle. Am Ende pflückte ich etwa zwanzig Kisten Äpfel, aus denen er später Saft machte, wovon aber ich keinen Schluck probieren durfte.

Als er mich abholte, fragte er mich, wie es war.
„Nass“, antwortete ich ihm ganz kurz und deutlich.
„Ich hätte nie gedacht, dass du es so gut schaffst“, sagte er und schaute zufrieden um uns herum, während ich da ganz nass stand und nicht zu zittern versuchte. Danach brachte er mich ins Restaurant, wo ich trotz meiner nassen Klamotten noch eine Weile arbeiten durfte. Meine Kollegen waren empört, sie schüttelten den Kopf, aber es half mir überhaupt nicht – ganz im Gegenteil, ich mochte es nicht, wenn ich jemandem leid tat.
Nach drei Tagen fingen mein Urlaub und die Halzschmerzen an. In der ersten Woche war ich sehr krank und hatte keine Kräfte mehr. Ich dachte schon, dass er sein Versprechen so erfüllt hätte und es mit mir schon gelaufen wäre.
Meine Mutter schnitt eine Zwiebel, verstreute darauf Zucker und übergoss sie mit Honig. Die entstandene Flüssigkeit sollte ich vor dem Schlafen mit dem Esslöffel einnehmen, aber sie war so klebrig, dass ich kaum noch schlucken konnte, und es ließ mich einfach nicht einschlafen. Außerdem versuchte ich durch die Nase zu atmen, was in meinem Zustand unmöglich war. Ich stellte mir vor, dass mich jemand erwürgte, und musste mich im Bett aufsetzen. Ich hatte Panikattacken.

Bei der Arbeit durften wir den Namen Bretzing nicht erwähnen, weil diese Familie uns immer Schwierigkeiten machte. Zum Beispiel reservierten sie den Tisch nie früher als für 20 Uhr und hatten immer Verspätung, außerdem kamen ein paar mehr Bretzings als angemeldet, ich weiß nicht, wo sie die unterwegs aufgabelten, dann bevor sie ihre Drei-Gänge-Menüs bestellten, tranken sie zuerst unbedingt ihren Kaffee, und wenn es endlich mit dem Essen so weit war, verlangten sie längere Pausen zwischen den Gängen. Beim Hauptgang wollten sie stets den Nachservice haben, und zwar den kompletten, und es war noch nie vorgekommen, dass sie einen Cent Trinkgeld gegeben hatten.
Alle meine Kollegen hassten sie unbegrenzt, und ich auch, ohne sie je gesehen zu haben.
Ich musste mehrere Male am Mittagsbuffet als „Buffettante“, so nannte es mein Chef, stehen. Diese Aufgabe mochte ich sehr, weil ich dafür eine weiße Kochjacke und eine lange Schürze kriegte. In dem Outfit sah ich wie ein Karatemeister aus.
„Siehst wie ein Mensch aus“, sagte der Chef.
„Ja“, stimmte ich ihm zu, „endlich.“
Er nickte ganz befriedigt.

Beim Ausgeben des Essens musste ich immer lächeln und bekam Krämpfe im Gesicht. Die Menschen, die zum Buffet kamen, waren sehr verschieden. Manche waren mit allem zufrieden, manche wollten reden, manche wussten selber nicht, was sie essen mochten, manche wollten hören, dass ich sie bei uns gerne wiedersehen würde, wobei das überhaupt nicht stimmte, und manche waren einfach so pingelig, dass ich Verlangen spürte, sie mit der Kelle auf den Kopf zu schlagen.
Eine Frau, die von mir ein paar mehr Kroketten bekam, sagte mir sogar, dass ich wüsste, wie man eine Frau glücklich macht, und dieser Satz war mir besonders wichtig, weil ihn Linda auch hören konnte.

Linda war eine sehr große, schlanke und schöne Kellnerin, die ab und zu auch modelte. Sie hatte lange Beine, und ihre runden Hüften waren auf meiner Brusthöhe. Ich wollte unter ihren schwarzen Rock kriechen und mich da für immer verstecken. Ich wollte ihre Kniescheiben küssen, und an ihren Waden knabbern. Ich wollte ihre glatte Haut lecken und ihre Schenkel streicheln.
An dem Tag stand sie auch am Buffet neben mir, und ich konnte ihren Duft riechen. Sie roch immer sooo gut. Einmal fragte ich sie sogar, welches Parfum sie benutzte.
„Keins, es ist mein Natural“, sagte sie auf Englisch.
Später verstand ich, dass es ihre Haare waren.
Manchmal pfiff sie wie ein Kerl, zeigte gerne den Stinkerfinger und leckte Sahne von ihm.
Einst, als wir das Brot für die Gäste zusammen schnitten, fragte ich sie.
„Wollen wir etwas zusammen unternehmen?“
Sie sah mich einige Sekunden schweigend von oben an, und mir wurde irgendwie ungemütlich in meiner Haut.
„Was schwebt dir denn da vor?“, fragte sie mich.
„Wir könnten zum Beispiel beim Italiener Eis essen, ich lade dich ein.“
„Das hört sich zwar gut an, aber ich weiß nicht, wie ich das zeitlich schaffe.“
„Dann sag mir Bescheid, wenn du es kannst.“

Sie nickte und ging. Und ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Oh, wenn sie bloß gewusst hätte, dass ich ein weltberühmter Schriftsteller sein würde, der als Sklave der Gastronomie seine Erfahrungen sammelte.
Sie sah mich nicht, sie hatte einfach keine Ahnung, was für eine reiche Welt ich in mir trug, und es tat wirklich weh. Ich dachte, dass ich solche Empfindungen schon seit Jahren überwunden hätte, aber sie waren schon wieder da, und es gefiel mir ganz und gar nicht.
Ich musste ständig an Linda denken, selbst in einem Traum waren wir zusammen, und als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, dass es wirklich geschehen war. Dann erinnerte ich mich an meine echten Beziehungen und konnte sie von meinem Traum nicht unterscheiden.
Mein Verlangen nach ihr wurde unerträglich, und als ich sie beim Besteckpolieren sah, ging ich schnell auf sie zu und umarmte sie von hinten. Sie beschwerte sich beim Chef, und er rief mich zu sich ins Büro.
„Was machst du hier?“
„Arbeiten, nehme ich an.“
Ich sah mir die Wanduhr hinter ihm an. Ich könnte jetzt eigentlich mein Abendbrot vernaschen.
„Und was sollte deine heutige Aktion?“
„Ein Aussetzer, nehme ich an.“
„Ganz genau, und wenn sowas nochmal passiert, dann …“
Ich ließ ihn nicht ausreden.
„Dann bin ich geliefert“, er erstarrte, “nehme ich an“, beendete ich meinen Satz.
Eine Weile sah er mich so an, dann lächelte er zufrieden. Anscheinend, weil ich seine Denkweise gut verstand.

Wir alle wünschen bloß, von unseren Mitmenschen verstanden zu werden.
Einmal sagte er zu mir, dass er sein Leben wegen der Hektik, in der er war, nicht genießen könne, und er tat mir leid, aber wenn er beim Tellereinrichten seine Finger gründlich leckte, hasste ich ihn und hörte auf, das Personalessen zu mir zu nehmen. Es war ein nobles Lokal, aber ich schätze, dass man da trotzdem was Falsches verzehren konnte.
Er erzählte mir noch, dass er und seine Frau früher ziemlich viel Alkohol getrunken hatten, und es gab die Zeit, als sie dachten, dass sie es nicht mehr schaffen würden. Seitdem waren sie trocken, aber mir war es egal, ich hatte einen sehr schwierigen Arbeitstag und wollte nur nach Hause.
Während der zweiten Urlaubswoche schrieb ich eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Wo ist die Liebe?“, die ich Linda widmete, aber davon durfte keiner erfahren. Ich las sie meinem Arbeitskollegen in der Mittagspause vor.

Giorgi Ghambashidze

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