Nach mehr als dreißig Jahren
Der Vater ist vom Kirschbaum gefallen, erzählt mir R., der mit mir vor mehr als dreißig Jahren das Gymnasium besucht hat. Drei Tage war der Vater erst in der Rente gewesen. Zum Kirschenpflücken ist er in den Baum gestiegen. Welch wunderbares Bild, das vor meinen Augen auftaucht. Was kann es Schöneres geben als Kirschen zu […]
Ohne Biss
Man hat mir von einer noch jungen Frau erzählt, die vor etlichen Jahren an einem kalten Wintertag mit dem Zug in die Grenzstadt gefahren ist. Vom Bahnhof aus ging sie schnurstracks den kurzen Weg bis zur Zahnarztpraxis auf den erhöht gelegenen Stadtplatz, gab bei dem Fräulein an der Rezeption ihren akkurat ausgefüllten Krankenschein ab, den […]
Synagoge - Beit Ha Midrasch - Haus des Gebets
In deiner Mitte hat das Wort gewohnt Doch lange schon ist es geflohen Von diesem in das andre Leben Wie hätt‘ es sich in acht Jahrzehnten Verstecken können fern und fremd? Von Asyl hat es bis dato nicht gehört Geschunden und geschändet Entfremdet Dem Vergessen anvertraut Gar totgeschwiegen, totgetrampelt In leeren kalten Winkeln Hattest du […]
Die Fahne
Die Farben der Fahne sind Mittelgrau und Hellgrau. Gäbe es Farben, wären sie Hellblau und Gelb. Aber es gibt keine Farben, denn es ist Krieg. Johannes Tosin (Text und Foto) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 24089
Manuela
„Hast du gestern „Tarzan in Gefahr“ gesehen?“, fragt Manuela. Wir spazieren durch den lichten, kleinen Eichenwald am Rande unseres Dorfes. Manuela geht zwei Meter vor mir. Ihr langes Haar fällt in hellen Strähnen über ihren Rücken. Mit ihrer rechten Hand schwingt sie energisch einen Stock und schlägt ihn hin und wieder gegen Sträucher und Baumstämme. […]
Der Treck
Ich kann nicht mehr, sagt er. Er setzt sich hin. Die anderen beratschlagen. Er ist zu schwach. Wenn wir auf ihn warten, sterben wir mit ihm. Er soll alleine sterben, beschließen sie. Sie gehen weiter. Johannes Tosin (Text und Bild) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 24026
Wenn’s einmal aus wird sein. Selbstmord auf Wienerisch
Frühling ist, wenn der Tichy aufsperrt! Egal, wie das Wetter ist, wenn die Türen des (zu Recht) bekanntesten/beliebtesten/größten Eissalons in Wien offen stehen, dann gibt’s trotz Eis keinen Winter mehr. Und die größte Affenhitze lässt sich aushalten, wenn man, genüsslich von einer Tüte Erdbeer-Zitrone (o.Ä.) schleckend, auf einer schattigen Bank vor dem urbaneren Eissalon am […]
365 Sekunden vor dem Untergang
365 Sekunden vor dem Untergang Die Tage sind gezählt. 1, 2, 3. In drei Tagen, am 23. Juni um 19:42 Uhr Ortszeit, wird ein Komet, der sich von der Oortschen Wolke, welche die Erde vor zwei Millionen Jahren passierte, gelöst hat, mit der Erde kollidieren. Dieser Komet wird in den Medien als Hades-13 bezeichnet, sein […]
Meine Freundin Gerti
Nach langer Zeit besuche ich wieder meine alte Freundin Gerti. Sie ist mehrmals umgezogen, seit wir uns das letzte Mal sahen. „Schön, dass du hier bist, Christa“, sagt sie zur Begrüßung. Sie wirkt kaum gealtert. Während wir Kaffee trinken und Cremeschnitte essen, kommen wir auf das Thema Suizid. Ich weiß nicht, wer von uns es […]
Horror-Modus
Ich spiele gerade ein Browser-Game, da erscheint die Meldung auf dem Bildschirm: „Wollen Sie den Horror-Modus aktivieren? Ja / Nein.“ Natürlich klicke ich auf Ja. Plötzlich gehen alle Lichter aus. Ich begebe mich zum Schaltkasten und bringe den Strom wieder zum Laufen. Den Computer lasse ich ausgeschaltet, da es schon spät ist und ich morgen […]
Klärend, heilend
Kurz vor halb sechs Uhr morgens, als ich gerade dabei bin, mir Tee zuzubereiten, klingelt das Handy. Sofort füllen sich meine Augen mit Tränen. Als ob sie nur darauf gewartet hätten, die Tränen, als ob das Handyläuten das Startsignal für sie wäre. Natürlich ist dein Vater der Anrufer. Er weiß genau, dass ich längst auf […]
War
Im Krieg. Tränen rinnen über sein Gesicht, nass ist es wie von Wasser. Und doch, schnell, flüchten oder schießen. Überleben für diese Sekunde. Die nächste vielleicht nicht mehr. Johannes Tosin (Text und Bild) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23077
Die Neue
Als der Chef ankündigte, wir würden eine neue Kollegin bekommen, erwachte ich aus meinem Dämmerschlaf. Er brabbelte von ihrem ausgezeichneten Medien-Studium an der FH und ihrer bisherigen Tätigkeit im Marketing eines Skigebiets und ich wartete ungeduldig darauf, dass er aufhörte zu sprechen, damit ich sie in aller Ruhe googeln konnte. Endlich bekamen wir jemand Neuen. […]
Der schreiende Soldat
Ich bin Soldat. Meine Aufgabe ist es, das Elektrizitätswerk zu bewachen. Es ist fast schon Winter. Die Stromversorgung muss funktionieren. Die Anlage wird gerade von Raketen des Grad- Mehrfachraketenwerfersystems beschossen. Ich darf meinen Posten unter keinen Umständen verlassen. Links, rechts und direkt hinter mir schlagen die Raketen ein. Eine Rakete hundert Meter vor mir. Ich […]
Kleinbürgers Nachtgesang
Es findet doch der Wettlauf dauernd statt! Und jeder schweigt und tut als ob nichts wär Ich habe diesen Wettlauf langsam satt! Drum kauf ich mir jetzt bald ein Schießgewehr! Dann knall ich meine Konkurrenten einfach nieder! Dann kehrt vielleicht der Frieden endlich wieder! Bernd Remsing http://fm4.orf.at/stories/1704846/ www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22094
Der blinde Fleck
Es sterben Leute Morgen und heute Man stirbt immerzu Und einmal stirbst du Wenn du’s nur wüsstest Du wärst entrüstet! Bernd Remsing http://fm4.orf.at/stories/1704846/ www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22071
Tag 101
Der Morgen ist schön, und der Tag wird noch schöner werden. Nichts stört, nichts tut weh, nichts ist schlecht. „Облака“, gesprochen ablaka, wie die Russen sagen, bedeutet Himmel oder Wolken, „мир“, gesprochen mir, Friede. Johannes Tosin (Text und Bild) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22064
Im Fernsehen
Es gibt keine Nähe. Ihr seid nur Figuren in einem Fernsehfilm. „Es wird immer schlimmer!“, sagt jemand. Mich betrifft das nicht. Ich esse Tortilla-Chips und sehe euch beim Sterben zu. Ich bin 2300 Kilometer entfernt. Johannes Tosin (Text und Bild) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22056
Über dem Meer
Und plötzlich finde ich mich wieder. Hier. Im Reich der Mitte. Angebunden. An einen Stuhl. In der Geschlossenen. Nihao, zhi zhi, nicht viel. Aber alles, was ich sagen kann. Ich höre der Stille zu. Ein alter Mann (so genau weiß ich das Alter nicht mehr) gibt mir Suppe, Bonbons, Kirschen „Where do you come from?“ […]
Die Vernichtung der Menschheit
Vielleicht werde ich am 31. März 2022, wenn die Atomraketen fliegen, denken: Ich hätte etwas tun sollen. Dieser Zeitpunkt ist jetzt, am Morgen des 20. März desselben Jahres. Doch was soll ich tun? Ich habe keine Ahnung. Ich finde nichts. Möglicherweise wird mir am 31. März etwas einfallen, die Lösung des Problems, die Rettung der […]
Aus Putins philosophischem Antiquariat
Putins historische Rumpelkammer „Die Russen haben keine schönen Erinnerungen, keinerlei Tradition, keine Geschichte, die unser Volk erzogen hätte. Wir sind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Isoliert von der übrigen Menschheit, fehlt uns jede eigene Entwicklung, jeder wirkliche Fortschritt. Von den Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit oder Ordnung, welche die Atmosphäre des Westens ausmachen, sind wir […]
Jede Sekunde
Die Welt, genauer gesagt die Erde, wird binnen einer Woche untergehen. Hast du Angst? Das wäre verständlich. Vielleicht sollten wir eine Party veranstalten, feiern, bis wir sterben. Nur sollte sich niemand verlieben, denn eine Liebe ohne Zukunft ist grausam. Ich selbst habe keine Ahnung, was ich tun werde. Dabei ist jede Sekunde jetzt kostbar. Eigentlich […]
Besuch bei den anonymen Katzenhassern
Ich: Hallo, ich bin Klaus. Ich bin Katzenhasser. Alle: Hallo Klaus! Ich: Also, ich tu mir jetzt schon ein bisserl hart, hier zu stehen und mit euch zu reden über etwas, das tief in mir drinnen ist, aber ich muss ja. Der Richter hat mich zu den Treffen der „Anonymen Katzenhasser“ verdonnert und, na ja, […]
Das Unglück
Er hat viele Entschuldigungen, aber geschehen ist das Unglück trotzdem. Und es zerstörte viele Leben, auch seins, obwohl er daran keine Schuld trägt, wie er stets sagt. Johannes Tosin (Text und Bild) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22019
Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil I
Jeanne hielt vor dem farbenfrohen Plakat an, das sie schon auswendig kannte. Gedanklich ging sie noch einmal die Künstlernamen durch: Marie, „Das Puppengesicht“ „Goliath“, der stärkste Mann des Jahrtausends Drillings-Akrobaten aus Mumbai Lorette, die schmalste Taille der Welt Esmeralda, die einbeinige Flamenco-Tänzerin aus dem sonnigen Spanien Abdulwahab Hassen Adem Al Khaled, der Schlangenbeschwörer – und […]
Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil II
Halt! Kennen Sie schon Teil 1 dieser Geschichte? Es geschah im Spätwinter. Sie war erst vierzehn. Unausgeschlafen trottete sie durch die grauen Straßen. Das Einzige, was sie wahrgenommen hatte, waren ihre trüben Gedanken und Ängste vor der kommenden Nacht. Und vielen darauf folgenden. Plötzlich war ihre Abwesenheit durch eine schrille Stimme durchdrungen worden. Ihre erwachte Aufmerksamkeit lenkte […]
Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil III
Nicht so schnell! Haben Sie schon Teil 1 und Teil 2 gelesen? Dies ist der finale Teil der Geschichte. Hinweis der Redaktion: Dieser Text kann verstörend wirken, er enthält Gewaltszenen. Sie setzte sich in ein Café auf dem Kapuziner-Boulevard und bestellte ihr Lieblingsgebäck mit Erdbeermarmelade. Dazu trank sie eine Brause. Ein junger Mann warb lauthals für bewegte Bilder, die […]
In tiefster Ergriffenheit
Hinweis der Redaktion: Dieser Text kann verstörend wirken, er thematisiert Krieg, Leid und Tod. Granaten, Martin, Deckung, runter … Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin … Ich kann nichts sehen. Martin, bist du da? Ich höre […]
Sie müssen das verstehen oder: Wie viele Zinken hat ein Kamm
Ich meine, Sie müssen das verstehen. Ich liebe meinen Giorgio. Mein Giorgio. Ein Bild von einem Mann. Ich weiß, wie sehr andere Frauen mich um diesen Mann beneiden. Und er liebt nur mich. Wir sind jetzt seit drei Jahren verheiratet und wahnsinnig glücklich. Er ist voller Glut und Leidenschaft, seine Augen verfolgen mich mit Sehnsucht […]
Brunnen
Du bist weg Amseln wurden vom Dach geschossen es singt keiner mehr Regentropfen unter meiner Haut ich quelle auf Im Brunnen sitzt der Frosch hat sich daran gewöhnt Hoch will ich wieder, raus aus der Dunkelheit nasser Verbitterung Florian Pfeffer www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21017
Das Ende der Welt
Hier geht es nicht mehr weiter. Ich stehe vor einer fugenlosen dunkelgrauen Mauer, die anscheinend unendlich hoch ist. Das ist das Ende der Welt. Ich kann nur zurückgehen oder hierbleiben und verhungern. Die Wahl fällt mir leicht. Johannes Tosin (Text und Bild) www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20130
Schwarzweiß
Er fuhr in der U-Bahn, kurz nach sieben, er hatte einen Sitzplatz. Er spielte auf seinem Handy herum, immer die gleiche Szenerie hinter den Waggonfenstern. Die meisten Leute fuhren zur Arbeit, so wie er, manche hatte das Nachtleben in den Morgen entlassen, kein Augenkontakt, das ist nicht üblich in der Großstadt. Er stand mit seinem […]
Eheliche Pflichten
Hinweis der Redaktion: Dieser Text kann verstörend wirken, er thematisiert Nötigung beziehungsweise Gewalt. Mit halb geschlossenen Augen ließ sich Susanna ins Bett fallen, rollte sich auf die Seite und deckte sich zu. Erleichtert sog sie den Duft des Kissens ein und freute sich auf den Schlaf. Endlich war alles erledigt. Die Kinder waren im Bett, […]
Rosaphob
Hinweis der Redaktion: Dieser Text thematisiert Gewalt und enthält Verstörendes, unabdingbar aus der Sicht des betroffenen Protagonisten. Ich war sieben, als es begann. ‚He, Alois!‘, sagte Mutter zu mir. Ich lag auf dem Boden in der Stube, mitten in den Staubfuseln, die schon an Altersschwäche zu sterben drohten. Ob die älter waren als ich? ‚Komm […]
Das bisschen Mensch
Etwas war in ihm verloren gegangen. Eine Art Antwort auf alles, was ihm das Leben entgegengeworfen hatte. Es war nichts Konkretes gewesen, kein festgelegtes Mantra oder durchdachte Überzeugung, mehr ein Gefühl für die Dinge. Er hatte es immer in sich getragen, manchmal hatte es stärker, manchmal schwächer in ihm gehallt. Nun war es verschwunden. Es […]
Kanonenfutter
Bin auf der Durchreise. Kehre beim Deichwirt ein. Bestelle das „All-you-can-eat“- Angebot: Gulaschsuppe bis zum Abwinken. Löffele meine Suppe. Herzhaft, würzig. Sämig. Fleisch etwas zäh. Das Lokal dämmrig, im Hintergrund dudelt ein Radio. Am Stammtisch in der Ecke ein Rentnertrio: einer dick wie Calmund, einer mit Glatze wie Kemmerich, einer Strickjackenträger. Alle drei mit Suppentellern […]
Blumenmeer
Mindere den Schmerz, er geht durch Knochen, bis zum Blumenmeer meiner Seele Feinfühlig pflückt er sie im Feld, Schmerz von tausend Wörtern Wo bist du meine Liebe, es verwelken zu viele, Weiße, zu einem Strauß, suche ich weiter Florian Pfeffer www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 19019
Tod einer Radfahrerin
1) Manuel stand in der Küche und kochte eine Tomatensuppe. Draußen schien die Wintersonne herein und er hörte an diesem Freitagnachmittag das Ö1-Mittagsjournal und dachte, dass die Welt sich nie ändern würde. Dass alles immer so bleiben würde, die Dramaturgie des Weltgeschehens wiederkehrend wäre, und die Menschen nicht schlauer würden. Er freute sich auf seine […]
Pussy Riot – junge Revolutionärinnen in alter Tradition gegen die Autokratie
Zu viel der Zufälle. Die erste Pressekonferenz zwei Tage nach ihrer Freilassung aus dem GULag gaben die Pussy-Riot-Frauen Marija Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa im kleinen, privaten Sender Doschd (Regen). Doschd ist in der ehemaligen Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ genau gegenüber der Christus-Erlöser-Kathedrale an der Moskwa angesiedelt. Dort nahmen sie am 21. Februar 2012 ein Video auf, […]
Wahnsinn bei Nacht
Lampen zerbrechen, aus Farben wird Schwarz Täglich wandere ich über Mitternächte hinaus Rauschen, oranger Himmel, getaucht in dunkles Blau, Jemand drückt auf das Glas, Schall kommt durch, Selbstgespräche, lautes verzerrtes Gemurmel Mein Kopf spricht zu viel, in den Raum, Gedanken an Herrn Fell, Schlafe ein Florian Pfeffer www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 19014
Lobio und Chatschapuri
Kaukasus in Wien Auf meiner Straße machen in letzter Zeit immer mehr kleine Restaurants auf, die von Ausländern geführt werden, exotische Küche oder sonst eine Spezialität haben. Die Welt zieht ein unter die Lindenallee von Wieden. Eine brasilianische Tapioca, ein Allergikercafé, ein veganes Lokal, eine kroatische Mini-Eisdiele will es aufnehmen mit dem berühmten Il Giardino, […]
Nimmst mir mein Leben
Die durchdringende Aggressivität deiner Natur, lauernd schon im ersten Händedruck. Da hilft weder Gift noch Kur. Manchmal glaube ich nur, sogar dein Atem an meiner Wange, kostet mich mein Leben. Ich fing mir den Virus ein, bin ihm so leicht erlegen. War so anfällig, so schwach. fieberte dir entgegen. Ich habe mir schon viele wie […]
Über ein Verbrechen, das keines war, und die Willkür, die beständig ist
Eines Morgens, eines Tages, eines Jahres wurde Frau A., als sie gerade auf dem Weg in die Bäckerei war, in der man sie beschäftigte, von zwei Herren mit Hut links und rechts an den Armen gepackt und in ein nahestehendes Auto geführt. Ohne Angabe von Gründen wurde Frau A. von zwei Herren mit Hut aus […]
Pauli, Petko
Die Bauarbeiter stiegen vom eingerüsteten Glockenturm und setzten sich auf ein paar Holzkisten. Links über ihnen hing ein riesiges Banner von der Hauswand herab. Is there Beauty after Alleppo? Wastl packte sein Pausenbrot aus und biss hinein. „Woher bist du, aus Serbien, eh?“ Eine halbe Essiggurke fiel zu Boden. Jagoš zog an seiner Zigarette. „Kroatien.“ […]
Die verkrüppelte rechte Hand des Gesetzes
Sitzt sie da, tief über ihre Unterlagen gebeugt, mit feister, dennoch konzentriert wirkender Miene. Tief in den Schminkkasten getaucht. Mit Tinkturen beschmiert, die nach und nach ihre Tiefenwirkung entfalten sollen. Kaum ahnen könnend, was sich hinter dieser noch vor dem Zerbröckeln geschützten Fassade abspielt, sitzen wir da und schauen. Nach oben gehievt gibt es nun […]
Wie im Film
Ich fühle mich auf meinem Balkon gerade wie in einer Theaterloge. Ich habe direkte Sicht auf das Geschehen, das in meiner Straße gleich stattfinden wird. Die beiden Menschenmassen sind nur mehr hundert Meter voneinander entfernt. Zwei rauchende, brüllende Organismen, die sich die Häuserschlucht entlangwälzen, um wohl genau unter meinem Balkon aufeinanderzutreffen. Loyalisten auf Oppositionelle, Rechte […]
Paschkas Aktentasche
Was ging mit mir vor an diesem 24. Dezember 1971, als ich beschloss, den Weihnachtsgottesdienst in der amerikanischen Botschaft zu besuchen. Ich kenne kein Heimweh, bildete ich mir ein. Es war keine Idee, nicht im Bereich eines klar gefassten Gedankens oder Beschlusses, sondern eine vage Sehnsucht, ein Ziehen in der Herzgegend. Nebulöses Erinnern an Nadelduft, […]
Alla Gerber war in Abramcewo
Alla S. Gerber lernte ich in ihrem dritten Leben kennen, wie sie ihre Zeit mit Jelzin nannte. Sie saß als Abgeordnete in der ersten Duma, und Ende der 90-er Jahre machte er sie zur ersten Direktorin des eben gegründeten Moskowskij Zentr Golokost (MZG). An dieser Institution arbeiteten auch die österreichischen Gedenkdiener, die von der Botschaft, […]
Ein Hundeleben in Luhansk
CHANEL Ich liebe den Duft meines Frauchens, ... am stärksten ist er im Schlafzimmer, in der verbotenen Zone. Sie nennen den Geruch CHANEL und halten ihn in kleinen Fläschchen. Herrchen ist ganz meiner Meinung, auch er schnuppert häufig am Nacken von Frauchen. Schade, wenn Frauchen abends nachhause kommt, ist der Duft weg. Dann riecht sie […]
Der Tunnel
Die Wochen, erfüllt von Düsternis, näherten sich ihrem Ende, das Licht, dunkel, aber doch nicht gänzlich, einen leichten Anflug von Grau beinhaltend, sollte die Dunkelheit erhellen. Eine andere Farbe sollte das Licht haben, doch offenbar war Grau die einzig zugestandene. Inwiefern der Begriff Grauen mit dem Farbton Grau zusammenhängt, bleibt ungewiss, doch Grauen ist nicht […]
Die Angst vor dem Erfolg
Am zwölften September im Jahr der Venlafaxinunverträglichkeit kommt Robert nach einem langen Tag, den er alleine, er arbeitet in einem kleinen Büro, in welchem er vor dem Bildschirm eines Computers zu sitzen hat, denn er ist kollegenlos bei seiner Tätigkeit, die das Beantworten und das Abwickeln von Anfragen beinhaltet, präzise gesagt ist die Beantwortung respektive […]
Reise nach Asbest
Wo der Teufel nicht selbst hinwill, schickt er einen Pfaffen oder ein altes Weib. Russische Volksweisheit Es war einer dieser unvergleichlichen Vorfrühlingstage, die nur in Russland so wunderbar sein können, weil Mensch und Natur sich nach acht Monaten des Eises und der Finsternis in das Ende des Winters hineinsehnen. Eine schwarze Regierungslimousine, ein dem Opel […]
Eingegraben
Die Sanduhr längst abgelaufen, im Glas wachsen Sprünge Weiche Hände sind selten geworden, Salzwasser und Minustemperaturen Nachts schwimmen Träume, Momente kurzer Bewusstlosigkeit Jemand hat den Föhn in das warme Wasser, fallen lassen, Schwarze Erde, Faulig und matschig gräbt man, nach Samen, Welche im Frühling blühen Florian Pfeffer www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17108
Provokation
1 Am Anfang war es ein Streit, nicht einmal ein Kampf, geschweige denn ein Krieg. Begonnen hatte die Sache, die sich zwischen Anna und Martin zu einem vernichtenden Krieg auswachsen sollte, als beide dreiundzwanzig Jahre alt waren. Sie hatten einander vier Jahre zuvor kennengelernt, auf einem Fest auf dem Campus der Universität, an der sie […]
Krieg I
Stimmen bringen ihn zur Lähmung, er macht nichts richtig, Verspätungen, Nichts als Verspätungen, Er hasst mich, wirf mir Flüche in die Seele, kann dir nicht vergeben, Bomben platzen, so nahe der Abgrund, ein Bild von Aufschlag, Liegt der Kopf in Trümmern, wird es still, Er wird mir vergeben Florian Pfeffer www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17109
Ein einsames Gespräch
Was starrst du mich so an? - Was ist? Was? - Antworte mir! - Sag etwas. Bitte! - Seit Wochen sprichst du nicht mit mir. - Ich bin deine Frau. Du sollst mit mir reden. Du musst! - Weißt du noch, welch gute Gespräche wir früher geführt haben? - Wir haben nächtelang geredet. - Über […]
Das Feuer oder die Kerze
Eine Kerze kannst du natürlich ausblasen. Ja, das kann ich. Und genau das habe ich auch vor zu tun. Aber du wirst, du kannst es nicht fertigbringen, ein Feuer auszublasen. Ist das nicht dasselbe? Nein, das ist nicht dasselbe. Überhaupt nicht! Ich sehe das anders. Dann erkläre mir bitte, wie du die Sache siehst. Ich […]
Lebendige Waffen
Die Horde hat eine Meinung, Horden haben immer Recht, zerschmettern Sätze, drehen die Lautstärke auf, dort rufen sie Der Betrachter wird verflucht, eine wirre Kette schlingt sich hinauf, der Baum soll fallen, er soll zerschellen, an den dicken Wurzeln Die Betrachtung besteht jetzt aus Stille, ein roter Saft saugt sich in das Moos, Rot wie […]
Verwirklichung
Sonja begann zu schreiben. Sie hatte keine Erfahrung mit Schreiben oder mit Kindern. Dennoch begann sie, eine Erzählung für Kinder zu schreiben. Über Tage hatte sie sich die Handlung ihrer Erzählung zurechtgelegt. Sie sollte von Mark handeln, einem Menschen, der im Wald von einem aus dem Nichts auftauchenden schwarzen Wolf verfolgt wird. Mark kann sich […]
Hundert Jahre Unsterblichkeit
Als Alois Peter 122 Jahre zählte, war die Kraft, die ihn über unmenschlich lange Zeit jugendlich gehalten hatte, am Schwinden und ließ ihn des Morgens kaum aus dem Bett kommen. Von Tag zu Tag wurde er immer schwächer und lag schließlich da, hingerafft von Alter und Krankheit, weder fähig zu sprechen noch zu essen, und […]
In der Nähe das Böse
Zum ersten Kaffee am Morgen lese ich üblicherweise fünf überregionale Tageszeitungen, zwei Wochen-Magazine, Beiträge mehrerer Nachrichten-Agenturen und drei Lokalzeitungen, online kostenlos natürlich. Ich stürze mich in die großen internationalen Ereignisse, ob Politik oder Naturkatastrophen, Kultur oder Wirtschaft, manchmal schaue ich noch in Science und People rein. Das Einzige, was ich wirklich nie lese, sind Börsenkurse […]
Hubert, der Beobachter
Vorgeschichte Hubert Laufschaft, ein Mann von achtunddreißig Jahren, verwitwet und kinderlos, ist begeisterter Beobachter. Er ist Beobachter, wohlgemerkt. Kein Voyeur oder Spanner! Im zarten Alter von sieben Jahren hatte sich sein Talent für das Beobachten gezeigt, als seine Großeltern ihm zu Ostern einen Feldstecher geschenkt hatten. Es war ein einfaches, kostenextensives Exemplar, lackiert in billigem […]
Landmord
Schauplatz: Eine alte Bauernstube, gemütlich, trotzdem modern eingerichtet. Am Tisch sitzen drei Frauen und spielen Karten und trinken Schnaps. Lisa, die junge Ärztin, die auf Urlaub hier ist. Greti, die alte Bäuerin und deren ältere Schwester, Inge. Zeitpunkt: Ende November, es dämmert draußen. „Mein Gott, Greti, das ist ja fast schon zwanzig Jahre her!“, meint […]
Das absolute Nichts
Das ist das absolute Nichts, das allumfassendste Überhauptgarnichts. – Ich bin wach, ich bin ganz sicher wach. Ich bin da. Ich spüre aber nichts. Spüre ich was? – Nö. Sehe ich, höre ich? Kann nicht die Rede davon sein, welche Rede? Ich kann ja auch nicht sprechen, auch wenn ich wirklich will: Hallo, alle miteinander! […]
Proband
Eigentlich kann man ja nicht viel öfter als drei Mal pro Jahr als Proband fungieren. Weil für die meisten klinischen Studien zwischendurch Wartezeiten gefordert werden, damit sich der Körper regenerieren kann, nehme ich an. Ich aber bin in vielen Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen von Pharmafirmen tätig. Es scheint keine zentrale Datenbank für Probanden zu geben, […]
hamlet mein freund
siebzehn jahre habe ich alt werden müssen bis ich ein eigenes zimmer bekomme für andere vielleicht eine kleinigkeit für mich s i e b z e h n jahre mein ganzes leben jetzt wo mein zweiter bruder ausgezogen ist in eine kleine studentenwohnung ums eck bin ich in das kleine kabinett übersiedelt das […]
Buschfleisch
Ich tue dasselbe wie mein Vater und wie schon mein Großvater: Ich lebe im Busch, ich jage, um zu essen, ich ziehe mit den Antilopen. Es gibt Gras, oder es gibt kein Gras, Bäume nicht viele, es gibt Tümpel, von denen die Tiere trinken, und auch wir Menschen. Mein Stamm nennt das Land „Sonnenland“. Groß […]
Das Pack
Kurt konnte nur am Sonntag schreiben. Die anderen sechs Tage der Woche arbeitete er im Herrenmoden-Geschäft seines verstorbenen Onkels. Allzu ernst nahm er sein Schreiben nicht; es war im Grunde nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie, die ihm der Arzt wegen seiner angeschlagenen Nerven empfohlen hatte. Er litt an Schlafstörungen, weigerte sich aber, Medikamente zu nehmen. […]
Fluten
I) Auf den strudelbraunen Massen schaukeln Dächer, schaukeln gräber- füllend Särge und Gesichter werden sichtbar: Längsverzerrte, blindgespiegelt, steh‘n sie da im zielerstrebend, selbstbewegten Räubernass. Doch der Abbilder Besitzer achten nicht der Wasserzeichnung, sondern richten ihre Blicke auf den sie verlassend Fluchtpunkt ihres einst´gen Hab und Guts. Eternitbewehrter Giebel, der einst treu geschützt ihr Haupt, kreiselt […]
Sonntag
Noch zwei Minuten. Dann stehe ich seit zehn Minuten in der Einfahrt meiner Eltern. Also starre ich seit acht Minuten auf das braune, bestimmt vierzig Jahre alte Tor, das mich, meine Person, mein Leben von der seelenlosen Tristesse, die man auch einfach als „die Welt von Herrn und Frau Mitterer“ bezeichnen kann, trennt. Obwohl sich […]
Vertrieben
Vor langer Zeit herrschte in einem von der übrigen Welt bislang völlig unbeachteten Land ein mächtiger und reicher Herrscher. Er war ein Mann, der sehr darauf achtete, dass seine Befehle, die er gab, auch eingehalten wurden und drohte jedem mit der Todesstrafe, der sich seinen Anordnungen widersetzte, aber auch jenen, die über ihn schlecht redeten […]
Axungia Canis
Mein Anzug zwickt und drückt, wo er nur kann, unter dem Hemd läuft mir der Schweiß aus sämtlichen Poren. Es scheint die Zeit des Fegefeuers gekommen, zumindest glaube ich mich nicht weit davon entfernt. Überall klebt Beileid an feuchten Händen, zwischendurch ein Wangenkuss, wenn man sich näher steht. Viele der Gesichter kenne ich von irgendwo […]
... und auch die vielen daheim vor den Fernsehgeräten
Frank Oldrting hat viele dumme Fehler gemacht und war dabei, sein Team zum Gespött der internationalen Presse zu machen – um dann im letzten End diesen unglaublichen Wurf rauszulassen, der gecurvt ist, als gäbe es keine Physik an diesem Tag hier in der olympischen Curlinghalle auf Bahn eins: Aus einer unmöglichen Situation heraus schießt er […]
Malta
Während die letzten euphorischen Momente dieser Nacht von der kühlen Morgenluft weggeweht und schließlich von Melancholie überdeckt werden, schlendern wir die beinahe menschenleere Straße hinunter; gehen unseren Rausch aus. Und für ein paar Minuten schweigen wir, überwältigt von Müdigkeit und Alkohol, und jeder hängt seinen Gedanken nach. Die Stille dröhnt mir nach diesen heftigen Bässen […]
Also bist Du einfach gegangen.
Also bist Du einfach gegangen. Bist dem Horizont entgegengeschritten ohne Dich auch nur einmal umzudrehen. Sehr romantische Vorstellung. Vor allem wenn man bedenkt, dass das alles nur für mich war. Sollte ich mich geehrt fühlen? Ja, ich denke, das wäre angebracht. Wahrscheinlich sollte ich Dir jetzt danken. Ich nehme an, das Protokoll sieht es so […]
Das Fleisch unsrer Kinder zart
Da ward ein Fremder am Tore verlangend nach Einlass, mit ihm sein Eslein, dem auf dem Rücken nach vorne er beugte sich. Ein Weiter, es blieb ihm verwehrt. Des Fremden Faust, sie ward steif und gefror’n dann geschickt gen Himmel, mit der Kraft der, die seine letzte war. Wie könne er, ein Männlein, ein schwaches […]