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Wie uns ein Schatz verloren ging, den wir nie hatten

Es mag etwa Anfang 1998 gewesen sein – auf jeden Fall war ich noch jung im Amt –, da meldete mir meine Sekretärin, ein gewisser Iwanov möchte die Kulturrätin sprechen. Einen Moment lang dachte ich an einen Scherz der guten Frau Schwaner, weil jeder zweite Russe Iwanov heißt und das etwa so vielsagend ist, wie wenn sich ein Herr Maier oder Huber anmeldet.

Aber es war zu dieser Zeit noch so ungewöhnlich, dass sich ein gewöhnlicher Bürger in eine westliche Botschaft wagte, dass ich ihn herauf in mein Büro bat. Es war ein älteres Männlein von unbedeutendem Aussehen, ein gequälter Sowjetbürger mit schlechten Zähnen und schlechter Kleidung in abgetretenen Schuhen, wie man sie immer und überall sieht. Das einzig Ungewöhnliche an ihm war eine große, lederne Aktentasche von ansehnlichem Alter. Er stellte sich vor als Dmitri Alexandrowitsch Iwanow, pensionierter Postbeamter aus Mogiljow. Das ist doch Weißrussland. Ja, Belarus. Er gab vor, in Moskau bisnis zu tun zu haben und wollte dabei der österreichischen Republik einen Schatz anbieten, der für sie von Interesse sein könnte. Umständlich holte er aus seiner Aktentasche mehrere papki, Papiermappen, hervor und zeigte mir seinen Schatz. Ich blätterte sie durch und sah eine große Anzahl von Schwarz-weiß-Bildern von einer Front, der russischen Westfront von 1917.

Die Fotografien waren feinsäuberlich auf Pappkartons aufgeklebt, untertitelt mit Ortsnamen und Datum: 18. Juli 1917, Soborow, 19. Juli, Kalusch, 22. Juli, Krewo und Smorgon. Einige Postkarten mit Landschaften waren dabei und Konterfeis von damaligen Politikern und Militärs. Die Generäle Brjussilow, Denikin, Koltschak, Samsonow und von Kerenski, das waren die mir bekannten Namen. Sogar Bilder von Großfürst Lwow und anderen Regierungsmitgliedern  waren dabei. Die meisten Fotos zeigten aber Stellungen von der Front, Soldaten in Gruppen unter Bäumen, Soldaten in Reih und Glied, die irgendjemandem salutierten. Immer wieder Kerenski umgeben von Militärs, auf Rednertribünen und unter einfachen Soldaten. Einklebte Ordensbändchen und Medaillen. Eindeutig: die russische Armee bei ihrer Sommeroffensive 17 gegen die Mittelmächte, die österreichischen und deutschen Truppen. Der letzte, entscheidende Schlag.

Iwanow erklärte, er habe diese Sammlung von seinem Großvater geerbt, der sei Soldat in der Elften Armee der Südwestfront gewesen. Das bezweifelte ich sofort, denn kein einfacher Frontsoldat hätte solche Fotos machen und ein solches Konvolut anlegen können. Der allergrößte Teil des Fußvolkes waren einfache Bauern, Analphabeten, nach drei Jahren Krieg und vielen Verlusten waren es nur noch schlecht ausgerüstete und unterernährte Rekruten, die man zusammenfing zum letzten Aufgebot.
Kein Frontsoldat könnte eine Kamera gehabt haben und Gelegenheit, solche Fotos zu machen. Einige Bilder zeigten Frontabschnitte und Schützengräben in gebirgigen Gegenden, wahrscheinlich die Südostfront in Rumänien oder flachen Meeresgegenden wie bei Riga. Sie hatten alle eine Art von offiziellem Charakter, waren keine Schnappschüsse, sondern zu Propagandazwecken aufgenommen worden: eine Gruppe von Soldaten, entspannt unter einem Baum lagernd wie nach einem fröhlichen Picknick, in die Kamera lächelnd, Soldaten, die mit lachenden Gesichtern Schützengräben ausheben oder Pferde pflegen wie auf einem Reiterhof. Liebe Grüße von der Front! Keine Bilder von Dreck, Schlamm, Kälte, Hunger, zerfetzten Körpern, vergasten Menschen, verendeten Pferden und verbrannten Dörfern.

Ein Album anlegen, beschriften mit Koordinaten, Ort, Datum, weißer Schrift auf schwarzem Papier.

Unmöglich. Wer war der Fotograf, wer der Sammler? Ich war Feuer und Flamme und furchtbar aufgeregt. Wo waren sie gelagert? Wie hatten sie die letzten 80 Jahre überstanden? Hat dieser Iwanov sie gefunden oder gestohlen? Waren sie schon einmal in einer größeren Sammlung, in einem Museum? Ich hatte damals schon Solschenizyns Kriegsroman „Das Jahr 1918“, Kerenskis selbsterhöhende Memoiren und andere Literatur über den Ersten Weltkrieg gelesen, historische und belletristische, und daher einiges über den erbärmlichen Zustand der russischen Armee.

Joseph Roth, Gregor von Rezzori, wer hat noch geschrieben? Entweder war sein Großvater im Stab des Oberkommandos von Mogiljow gewesen oder mit Kriegsberichterstattung beschäftigt. Unwahrscheinlich. Eher war Herr Iwanow anderweitig an diese historischen Dokumente gekommen. Allein die mögliche Provenienzgeschichte ließ mein Herz höher schlagen und trieb das Blut in die Wangen. Ich hoffte, Iwanov hatte nichts bemerkt und ich habe nicht ausgesehen wie der Pawlow’sche Hund bei der Klingel mit der Wurst, mit saftelnden Speichelfäden an den Lefzen.
Zum Glück war Iwanov viel zu sehr damit beschäftigt, seine Schüchternheit und die Scham über das Verlangen nach dollari zu bekämpfen. Dabei musste ich mich bemühen, mir nichts von meinen Zweifeln an seinem Großvater anmerken zu lassen, fragte nur, warum er meine, dass seine papki – Papiermappen, er sagte immer bumaschki-Papierchen für Österreich interessant sein könnten. Sie zeigen doch auch die avstrizi i nemzi, überall im Hintergrund oder am Horizont sind die feindlichen Stellungen zu sehen. Da ist der Rauch von den feindlichen Kanonen, da über den Bäumen. Ich sehe sie nicht, nur Wolken, Wälder, Hügel, Wiesen, Hütten, Heuschober. Das ist Galizien und Ostpolen, das war damals österreichisch, die Ostfront. Ich war keine Spezialistin für Kriegsfotografie.

Aber aha, in so eine Gegend könnte die Journalistin Alice Schalek in Karl Kraus’ bösartigem Verriss hineingeschaut haben, als er sie das Bumsti! ausrufen ließ und der k. und k. akkreditierten Kriegsberichterstatterin der Neuen Freien Presse damit ein Negativdenkmal setzte. Aber Karl Kraus hätte seine Freude gehabt an Iwanovs Foto-Sammlung. Er bezog die Quellen für sein Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“, nicht nur Originalzitate aus Zeitungen und Armeeberichten ein, sondern war besonders angetan von Fotografien, Postkarten, k. und k. Plakaten und Reportagen. Ich glaube, dass er beim Durchblättern der Iwanow’schen Mappen Spontanfieber bekommen hätte, wenn es so etwas gibt.

Herr Iwanov wollte die Sammlung verkaufen, das war der Zweck seines Besuches in der österreichischen Botschaft. Ich hielt ihn für sehr mutig, er musste in großen Nöten sein. Aber Russland hat doch ein viel größeres Interesse an seinem Schatz? Er soll ihn doch den vaterländischen Archiven, Bibliotheken oder Ministerium anbieten. Oder zumindest einem auf Historie spezialisierten Antiquitätenhändler. Er schnaubte durch die Nase und machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei er in Russland damit schon von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ich konnte das gut nachempfinden, wusste ich doch, in welchem Chaos Russland damals lag. Wirtschaft, Bürokratie, Gesellschaft und Wissenschaft hatten sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion noch nicht erholt. Die zahlen nichts oder nur ein paar zerquetschte Rubel, aber er braucht dollari, valjuti. Aha, ich verstehe. Nichts verstehe ich. Seine Tochter hat in Mogiljow Anglistik studiert, jetzt will sie nach Großbritannien auswandern, wie so viele Junge. Brain drain. Dafür braucht sie Geld, bis sie eine Arbeit findet, gleich welche, nur weg aus Belarus! Er wünscht ihr Erfolg, ist aber unglücklich, dass sie so weit weg von ihm leben wird.

War er schon bei der deutschen Botschaft? Neinnein, dort will er auch nicht hin. Eigenartigerweise empfindet er sie mehr als Feinde als die Österreicher. Der Zweite Weltkrieg wirkt da auch noch nach, wo die Russen die Österreicher kaum als Mittäter wahrnehmen.

Ich nehme mich sehr zusammen, um die Anzeichen meines Interesses zu unterdrücken und vorsichtig auszuloten, ob er mir seine Sammlung überlassen könne. Die Botschaft und ich selbst können nichts kaufen, ich müsste erst an das Außenministerium einberichten, und dieses beim Verteidigungsministerium, Staatsarchiv und Heeresgeschichtlichen Museum das Interesse erkunden, Begründungen schreiben, Herkunftsnachweise einholen, Kopien einsenden, viel Arbeit. Die würden dann über einen Ankauf entscheiden und einen Preis festsetzen. Das kann dauern, wenn überhaupt. Herr Iwanov ist sichtlich enttäuscht, dass er heute nicht mit einem Bündel dollari nach Hause fahren würde, lässt sich aber nach Aushändigung einer Empfangsbestätigung dazu bewegen, seinen Schatz in meiner Obhut zu belassen. Ich nehme seine Daten auf und ersetze ihm die Reisekosten zurück nach Mogiljow. So viel ist mir erlaubt, aus der Handkasse freihändig auszulegen.

198 Rubel, 2. Klasse. Ich war Feuer und Flamme, das waren Fotos zur Hälfte der etwa 220 Szenen der letzten Tage der Menschheit!
Zuletzt fragte ich Herrn Iwanov noch, was er sich als Kaufpreis vorstelle. Vielleicht 500? Mit Fragezeichen und wagte diese ungeheure Summe nur zwischen seine Knie zu seinen Schuhen auf den Boden zu hauchen. Ich fiel fast in Ohnmacht angesichts vor so viel Unwissenheit und Bescheidenheit, murmelte aber nur: Das ist möglich.

Dann begann mein Ritt durch die österreichische Bürokratie. Ich war noch so frisch auf meinem Posten, dass ich nichts ausrichten konnte, ohne die Hilfe meiner Sekretärin, Frau Schwaner, die fast ihr ganzes 35-jähriges Berufsleben in allen Weltteilen für das Außenministerium gedient hatte. Sie lachte sich noch immer krumm und bucklig, dass ich den Unterschied zwischen Akt und Akten nicht kannte, das Amtsdeutsch nicht beherrschte und meine Berichte ans Amt wie literarische Kleinode ausstattete. „Fürn Akt gehn S’ ins Schlafzimmer oder ins Theater, für die Akten bin ich zuständig.“ Die talmudischen Geheimnisse der Aktenzahlen habe ich bis zuletzt nicht begriffen.
Dafür hatte ich einen Riecher für historische Schätze, eine feine Nase wie eine südamerikanische Schnüffelmaus. Mit ihrem Erfahrungsreichtum warnte sie mich von Anfang an: „Do kummt nix aussi, Frau Seyr. Lossn S’  des, nix wie leere Kilometer. I kenn des Amt, des können S’  ma glauben.“ Ich glaubte ihr wie immer, war aber in meiner Schatzjägerei nicht zu bremsen. Und natürlich unternahm sie alles, um aus der Akte (nicht dem Akt!) „Mogiljow“ einen Erfolg zu machen. Der Herkunftsnachweis würde das Schwierigste sein, das Unmögliche. Auch davor warnte mich Frau Schwaner. Ihnen schwant immer etwas. „Ja, ich kenn’ meine Pappenheimer im Amt.“

Bericht ans das Amt mit Fotokopien mit Bitte um Behandlung und Weiterleitung an alle möglichen interessierten Stellen. Schweigen im Walde, lange Zeit, nur die Bestätigung des Posteingangs. Währenddessen saß ich mit der Lupe über den Fotos im Büro, stundenlang abends und nachts nach den Dienststunden. Sie nach Hause zu nehmen, habe ich nie gewagt, immer im Tresor verschlossen. Daneben nahm ich mir die gesamte mir zugängliche Literatur zum Ersten Weltkrieg wieder vor, besonders das Schicksalsjahr 1917. Ich ging sogar in die Lenin-Bibliothek und hob sowjetische Werke aus, ins Kriegsarchiv, das damals für eine kurze Zeitperiode allgemein zugänglich war. Ich schrieb außertourlich das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsforschung an und einen Studienkollegen vom Institut für Osteuropäische Geschichte, damals längst Professor. Die beiden letzteren waren ebenso begeistert wie ich, mussten aber ebenfalls den Dienstweg einhalten.

Zar Nikolaus II. verlegte 1915 das Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der Armee nach Mogiljow. Ab da gab er sich als großer Feldherr, der Zar, der schon in Friedenszeiten seine kaiserlichen Pflichten kaum gemeistert, die Amtsgeschäfte gehasst, die Zeit am liebsten mit seiner Familie verbracht, und wenn er getrennt war, ununterbrochen Briefe an seine Frau geschrieben hat.
Er konnte kaum eine Seite zusammenhängend lesen und tat sich schwer beim Schreiben. Nikolaus hörte mehr auf den selbsternannten Popen und Wunderheiler Rasputin als auf seine Generäle und führte seine Armee auf dem geradesten Weg in den Untergang. Ich kam zu dem Schluss, dass die Fotosammlung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 zusammengestellt wurde, weil der Zar nirgendwo auftaucht, dafür aber viele Fotokarten vom eitlen Kerenski, der als Kriegsminister der Provisorischen Regierung und später als ihr Ministerpräsident wie in einer Raserei die Fronten abfuhr und sich immer wieder im Hauptquartier von Mogiljow aufhielt und geschönte Fotografien als Andenken für die analphabetischen Frontsoldaten herstellen ließ.

Er war ein guter Agitator, vor allem in den kritischen Monaten März, April und Mai 17, als sich die Armee nach vielen Meutereien und deutscher Feindpropaganda, Verbrüderungen, massenhaften Desertionen und kommunistischer Agitation im Prozess des Zerfalls befand. Das war weder dem Feind noch den Verbündeten der Entente entgangen. Die Deutschen verstärkten ihre Bemühungen um einen Separatfrieden, Frankreich und England drängten die Russen zu einer Frühjahrsoffensive, die die entscheidende Wende bringen sollte. 1917, das letzte Kriegsjahr. Es musste unter allen Umständen verhindert werden, dass durch die Einstellung der Kampfhandlungen an der Ostfront das Deutsche Reich in der Lage wäre, seine Truppen nach Westen zu werfen. Die oberste Armeeführung selbst war gespalten zwischen Bündnistreue gegenüber der Entente und den Friedensverlockungen der Deutschen.

Genau zu dieser Zeit gelang den Deutschen ihr Supercoup: Lenin aus dem Schweizer Exil im plombierten Zug nach Russland zu schleusen. So haben sie im Oktober die bolschewistische Revolution möglich gemacht. Den Separatfrieden gab es doch, im Dezember, als Lenin in Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich Frieden schloss. Drei weitere Jahre sollte es dauern und einen Bürgerkrieg lang, bis alle ausländischen Truppen aus dem Land vertrieben waren.

Ich dachte bei mir, wenn sich die neureichen Russen weniger um den weltweiten Erwerb von Fabergé-Eiern, Gemälden oder der Kronjuwelen gekümmert hätten, als diesen Schatz zu heben …
Aber dies was none of my business. Herr Iwanov hatte ihn nun einmal der Republik Österreich angeboten. Er vertraute den ehemaligen Feinden mehr als seinem Land. Ein Sittenbild. Oder weil wir für den Verkäufer die Kleinsten und Harmlosesten waren.
Letztendlich verlief sich der Verkauf innerhalb der österreichischen Bürokratie. Ich konnte nie herausfinden, woran es hakte, ich bekam von der Zentrale nie eine klare Antwort – außer einem definitiven Nein zum Ankauf. Meine Vermutung ging in die Richtung, dass sich Staatsarchiv und Heeresgeschichtliches Museum nicht einigen konnten. Am Kaufpreis von 500$, wie von Iwanov gewünscht, kann es nicht gelegen sein.

Das dicke Ende für mich kam erst noch. Wie dem Herrn Iwanov sein Eigentum zurückstellen? Wie ihm die negative Antwort beibringen? Seine Tochter brauchte doch das Geld! England, GB, die neue Zukunft!
Post kam nicht in Frage, Moskau – Mogiljow, in Belarus zu dieser Zeit? Es gab noch nie eine Zeit, in der das sicher gewesen wäre. Nicht einmal die deutsche Wehrmacht hat das im 41er Jahr zustande gebracht, ganz zu schweigen von Napoleon, hin und zurück. Mich juckte es, ihm seinen Schatz selbst zurückzubringen, konnte aber nicht einfach losfahren. Also wartete ich die Lesereise einer etwas ängstlichen und kapriziösen österreichischen Schriftstellerin nach Weißrussland ab, auf der ich sie begleiten sollte.

Ich verpacke seine Fotosammlung und rufe ihn von Minsk aus an. Die Telefonnummer, die er mir aufgeschrieben hat, ist aber nicht seine eigene, sondern die einer Nachbarin. Iwanov ist nicht zu Hause, sie wird ihn rufen. Leitung tot. Noch einmal versuchen. Nachbarin hebt ab und ruft Iwanov zum Apparat. Kann er morgen nach Minsk kommen? Kann er nicht. Er hat eine alte, kranke Mutter. Ich gebe die Schriftstellerin in die Obhut einer Mitarbeiterin der Österreich-Bibliothek, suche mir einen Fahrer und düse in seinem alten Moskwitsch nach Mogiljow. 200 Kilometer durch die weißrussischen Pampas, in einer Dezembernacht, eine meiner schwersten Reisen. Nicht wegen der Straßen oder des Schneegestöbers, sondern wegen meines Gewissenskonflikts. Die Baumwände links und rechts der „Minsker Schossee“ fliegen so schnell vorbei wie meine Gedanken durchs Hirn. Mission impossible.

Soll ich oder soll ich nicht? Nur eines ist gewiss – ich darf nicht, ich darf nicht, etwas selbst ankaufen, was der Botschaft, der Republik, angeboten wurde. Beamtin gegen Historikerin gegen Jägerin des verlorenen Schatzes. Dollari für die Tochter, gar eine Wohltäterin? Blödsinn, hin oder her, immer nur gerade bleiben. Krumme Sachen gehen sich nie aus, dafür bin ich nicht gemacht. Mein privates Interesse, für Österreich retten – Abwägung. Blödsinn. Und wenn das für immer verloren geht? Geht mich nichts an. Kann nichts dafür. Andererseits, 500$ sind kein Problem für mich, ich kann ihm auch 1000 geben, für seine Katja, für den Neustart in GB, weit weg von ihm.

Es ist bitter kalt und zugig im Moskwitsch, und Dima raucht eine grässliche Machorka nach der anderen bei hämmerndem Folk-Pop. Kaum möglich, einen klaren Kopf zu bewahren. Meine Gedanken schwanken hin und her im Rhythmus von schlechten Straßen mit Moskwitsch. Dabei ist mir immer im Bewusstsein, dass Dima mich durch die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) chauffiert, die Landschaften zwischen Belarus und Ukraine, die in den Weltkriegen am meisten gelitten haben. In Weißrussland kann niemand einen Schritt gehen, ohne über aus dem Boden ragende Knochen zu stolpern. Ein Viertel der belarussischen Bevölkerung liegt da drunten. Dima findet die Vorstadtstraße und das Haus von Iwanov. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass in London seit 1918 die „Weißrussische Exilregierung“ ihren Sitz hat, die älteste überhaupt, die die Interessen des ersten unabhängigen Belarus vertritt. Katja hätte vielleicht …? Aber vielleicht hat sie ja …?

Es war schrecklich. Ich mach es kurz. Ich gebe Iwanov seine papki mit Bedauern zurück, entschuldige mich nicht für mein Land und drücke ihm ein Kuvert mit 300 dollari aus meiner Privatkasse in die Hand. Das ist damals in Belarus sehr viel Geld, zehnmal so viel wie seine Pension, habe ich schnell überschlagen. Vielleicht geht sich ein Ticket nach London aus. Das Gewissen freigekauft. Er nimmt sie und bedankt sich überschwänglich. Wir drücken einander die vier Hände, immer und immer wieder, und umarmen uns zum Schluss mit drei Küssen auf die Wangen. Der Schnee knirscht unter unseren Stiefeln vor seinem kleinen Holzhaus, genau so schief, wie die fliegenden Häuschen von Marc Chagall. In so einem Stedtl ist er aufgewachsen, in Vitebsk, nicht weit von Mogiljow.

Ich bedanke mich ebenso überschwänglich bei ihm, ehrlich, echt, herzlich, immerhin hat er mir etwas gezeigt, was vielleicht nie wieder jemand zu sehen bekommt. Er stellt keine Fragen und erspart mir die Schande, das Versagen des Amtes eingestehen zu müssen.
Für die österreichische Schriftstellerin auf Lesereise in Minsk stand ich am nächsten Tag wieder bereit, wenn auch unausgeschlafen und etwas derangiert. Na, Veronika, zu viel gefeiert?, bemerkt sie mit spöttischem Blick auf meine schwarzen Augenringe. Jaja, gefeiert. Was ich gefeiert habe, davon hat diese Frau keine Ahnung, und ich führe sie mit leichtem Gewissen durch die Stadt.

22.1. - 25.1. 2022

Veronika Seyr
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Mit achtzehn

Eigentlich hatten wir abgemacht, gemeinsam Medizin zu studieren, die Helga Mann, die Schober Christl und ich. Vielleicht waren es nur Träumereien von mir, ein unausgesprochener Wunsch? Wer kann das schon sagen, nach 55 Jahren. Der „Plan“ stand seit der 7. Klasse fest: Helga würde eine Wohnung bekommen, im Haus ihrer Tante Grete in der Alserbachstraße, nahe dem Franz-Josefs-Bahnhof. Christl würde bei ihr wohnen, und ich, die keine Aussicht auf ein Wien-Wohnen hatte, könnte bei ihnen übernachten, wenn es einmal zu spät für den letzten Bummelzug nach Tulln war, um 23 Uhr. Helga und Christl hatten noch dazu den Vorteil, aus Arztfamilien zu stammen, Christl sogar mit zwei älteren Brüdern, die schon in Wien Medizin studierten. Da ich als die Nummer fünf in der bis sieben reichenden Riege an Geschwistern stand, war es sicher, dass das Familienbudget für eine Wohnung in Wien nicht reichen würde. Aber ich hatte fest vor, mich mit Jobs durchzuschlagen, dazu gab es noch Stipendien und lange Sommerferien, in denen man arbeiten und Geld verdienen konnte.

Der Plan ging nicht auf. Mein ältester Bruder mischte sich in die Debatte ein und sprach sich kategorisch dagegen aus, dass ich überhaupt studieren sollte. Er hielt mich wegen meiner angeblichen Schusseligkeit und lachhaften Wortverwechslungen für überhaupt kein akademisches Studium befähigt. Er hatte schon erfolgreich intrigiert, Lisl vom gewünschten Medizin-Studium abzubringen. Stattdessen begann sie nach der Matura an der Krankenschwesternschule eine zweijährige Ausbildung. Mama, die fast wie hörig den Meinungen ihres Ältesten folgte, war plötzlich auch gegen ein Studium, obwohl sie sich immer noch beklagte, dass wir – die Kinder – sie an ihrem Studium gehindert hätten. Eine ihrer abstrusesten Klagen in Momenten, wenn ihr Gemüt auf Sturm stand, wir seien aus lauter Bosheit auf die Welt gekommen, um sie von den akademischen Ehren abzuhalten. Also musste ich umplanen, denn neben der teuren, langwierigen und anspruchsvollen Medizin würde ich kaum einer Brotarbeit nachgehen können. Mein Vater hielt dagegen und unterstützte mich: Die Vroni kann alles, die wird’s euch allen noch zeigen!

Welcher Zweig würde alles verbinden können: kurzes Studium, nebenbei jobben, Auslandsperspektiven und guter Verdienst danach? So fiel meine Wahl auf das Dolmetsch-Studium, Russisch-Englisch. Vier Semester bis zum Übersetzer, sechs zum Dolmetsch. Schließlich herrschte Kalter Krieg, und da konnte man diese Kombination sicher gut gebrauchen. Die große Vision – zur UNO am East River.

In Englisch war ich sehr gut, schon acht Jahre lang, und in Russisch immerhin schon vier Jahre. Mit einem ausgezeichneten Maturazeugnis bräuchte ich nicht einmal eine Aufnahmeprüfung ins Dolmetsch-Institut. Gesagt – getan. Ich inskribierte, studierte fleißig, um Konferenz-Dolmetsch im diplomatischen Dienst zu werden. Nebenbei jobbte ich als Touristenführerin und Übersetzerin und gab Nachhilfestunden. Einzig Helga wurde Ärztin. Sie studierte erfolgreich Medizin und arbeitete das ganze Berufsleben als Virologin und Hygienikerin. Christl sattelte nach zwei Semestern auf Psychologie um und zog zu ihren Brüdern.

Ich kann mich an mich selbst mit achtzehn nicht erinnern, habe kein Gefühl für mich als Achtzehnjährige. Nur Bilder von Ereignissen sind haften geblieben, die ein Schlaglicht darauf werfen, wie ich mit achtzehn gewesen sein könnte. Entsetzlich unsympathisch, stur, rechthaberisch und herrisch. Aber ehrgeizig und zielstrebig. Aber was ist so ein Urteil heute wert? Ich habe aus der Not ein Bild kreiert: ein Fenster mit Jalousien, durch die Sonnenstrahlen fallen. In diesen Lichtstreifen wird allerhand grell sichtbar, etwa tanzende Staubteilchen, eine Mücke, ein Astloch im Fußboden oder eine beleuchtete Stelle auf dem Teppich. Darum herum ist alles dunkel, kein Detail zu erkennen, schon gar nicht das Gesamtbild des Zimmers.

So ein ausgeleuchteter Streifen ist die Erinnerung an Ludwig Stuchlik. Er studierte Russisch-Tschechisch-Polnisch, weil seine Familie ursprünglich aus Böhmen stammte, die Mutter aus Polen. Russisch war neu für ihn. Ärmlich aufgewachsen, wollte er Geschäftsmann werden und reich. Handel zwischen Österreich und den Ostblockländern. Er hatte nichts übrig für literarische Übersetzungen oder das Konferenzdolmetschen, so wie ich es für mich vorgesehen hatte. Ich weiß nicht mehr, wie wir uns nähergekommen sind, vielleicht habe ich ihm beim Russischen helfen können, vielleicht war es eine andere Attraktion. Wahrscheinlich war ich ihm aufgefallen in den Übungen bei Sergej Krywenko, einem Ukrainer, der es geschafft hat, von der Roten Armee in Österreich gelassen worden zu sein. Ich glaube nicht, dass ich in meinem 18-jährigen Leben jemanden so sehr gehasst habe wie ihn. Ich war sein Lieblingsopfer. Auch wenn ich nach meinen vier Gymnasialjahren besser Russisch konnte als die meisten anderen, hackte er ständig auf mir herum. Mein Russisch sei zu literarisch, ich sei zu langsam. Vor allem aber kritisierte er mein R, das nicht russisch klinge. Es muss rollen, rrollen, rrrollen. Wirrr sprrrechen hierrr Rrrussisch, nicht Frchanzösisch. Gehen Sie in die Nebenabteilung, Mademoiselle.

Ich musste vor allen anderen Studenten Übungen mit einem Handspiegel machen, um die richtige Stellung der Zunge, des Gaumens und des Zäpfchens zu beobachten. Er genoss es, mich zu demütigen und lächerlich zu machen. Heute würde man sagen „mobben“ und ihn anzeigen. Allerdings studierten damals in unserem Jahrgang genau fünf Leute Russisch, neben mir noch zwei Jungstudentinnen, Ludwig und ein pensionierter Medizinalrat mit hölzernem Hörrohr. Er wollte sein Russisch aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft aufpolieren. So trieb mich Krywenko einmal aus dem Hörsaal, und ich flüchtete heulend auf eine Bank im Hof. Der ist doch nur neidig auf unsere Jugend und auf uns als Österreicher, tröstete mich Ludwig. Wenn ich etwas bei diesem gospodin gelernt habe, war das nicht in erster Linie das perfekt rollende russische R, sondern Resilienz: Geduld, Ausdauer, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Er zwang mich, mir täglich, ja stündlich selbst die Karotte vor die Nase zu halten und mich an den East River zu versetzen. Der andere Rettungsanker war die UTA, die direkt hinter dem Dolmetschinstitut gelegen war. Hier ließ ich meine Wut ab, indem ich die Basketbälle in die Körbe drosch. Im nächsten Jahr gelang es mir tatsächlich, nach New York zu kommen, wenn auch nur als Au-pair-Mädchen und als Touristin in die UNO.

Für Ludwig war ich ein Exotikum so wie er für mich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich fand ihn sympathisch, aber nicht mehr. Mich interessierte seine Herkunft aus Simmering, dem äußersten Stadtrand im Osten, wo die Straßen in ein Dorf mit niedrigen Häusern und Gärten auslaufen. Seine Eltern habe ich nie kennengelernt, sie hackelten bei Simmering-Graz-Pauker in Schicht. An seine Großmutter Kveta kann ich mich aber gut erinnern. Sie sprach ein klassisches Bemakln, fütterte mich mit Knedlicki und Kolatschi und bewohnte ein kleines Haus mit Hühnern und Hasen; Kraut und Erdäpfel wuchsen im Garten, dazu Kirschen, Marillen und Zwetschken. Von der niedrigen Decke des Wohnzimmers hing einsam ein rot leuchtender Luster aus böhmischem Bleikristall. Der letzte Rest von Familiengeschichte. Ihre Vorfahren waren Kristallschleifer und Glasbläser gewesen. Jetzt Simmeringer Hauptstraße 397, dahinter gleich die Hoad und dann nur noch der Eiserne Vorhang. Da war die Welt zu Ende.

Sie mochte mich gern und erzählte mir bei Blümchenkaffee und Powidltaschkerln viel von ihrem alten Dorf. Schen, schen waas durtn, mei Got, Gotogot. Im Frieling, die vielen Bliten von denen Obstbeimen, so schen, die Nochboan, ollas freindlich, friedlich und polako. Wie Fritz Muliar im braven Soldaten Schwejk, nur ein wenig weicher, weil er das Bemakln nicht von Kveta gelernt hat. Mit ihren hoch aufgesteckten weißen Löckchen und der Kittelschürze aus schwarzem Kloth erinnerte sie mich ein bisschen an die Omama in St. Nikola. Von der Vertreibung der Sudetendeutschen nach den Benesch-Dekreten hatte ich noch nie gehört, noch weniger vom Todesmarsch von Brünn. Ihr kleiner Bruder ist damals gestorben. Krank, unterernährt oder vom Leiterwagen gefallen? Das wusste sie selbst nicht mehr. Wir hatten in Tulln Banatler aus Jugoslawien und Rumänien in der Nachbarschaft, Volksdeutsche wurden sie genannt. Manche sagten auch Walachen.

Aber dass Tschechen in Österreich lebten, wusste ich nicht. Der Rupert aus Weißkirchen im Banat war mein Freund in der ersten Klasse Volksschule. Er nannte mich mia prinsesa. Eine Frau Trofeit aus der Banatlersiedlung kam als Hausschneiderin zu meiner Mutter. Tischtücher und Vorhänge nähen, Bettzeug ausbessern, Geschirrtücher einsäumen, Putzlappen flicken, Wintermäntel wenden, meine Mutter ließ nichts verkommen.

Da ich zwischen Tulln und Wien pendelte, hatte ich immer eine Jause mit, Essen und Getränke für den ganzen Tag, da ich kein Geld hatte fürs Kaffeehaus und anfangs auch die Mensa sparte. Ludwig schloss sich für die Mittagspause mir an, wenn ich bei der Kaiserin Elisabeth im Volksgarten meine Jause einnahm. Ich breitete meine Aluminium-Proviantdose mit den Butterbroten aus, Wasser oder Ribislsaft hatte ich in einer Feldflasche, Gegenstände aus meiner Wanderausrüstung. Damals immer dabei: das „Stundenbuch“ von R.M. Rilke, den ich in jener Zeit über alles verehrte. Ich wollte so gut Englisch und Russisch lernen, bis ich eine dreisprachige Ausgabe herstellen könnte, in der alle Gedichte gleich gut waren. Dazu schwärmte ich damals noch von den Habsburgern, hatte alle Bücher von Egon Caesar Conte Corti gelesen, kannte alle Jahreszahlen und Verwandtschaftsverhältnisse. Später interessierte ich mich mehr für Joseph II. Aber das war schon gar kein Thema für den Ludwig Stuchlik. Er war Sozialdemokrat und hasste alles Habsburgische. Wir hatten viele lebhafte Diskussionen. Aber wenn er mich fragte, woher ich dies und das so sicher wüsste, sagte ich immer wie das Amen im Gebet: von meinem Vater. Dem Ludwig ging das auf die Nerven, immer belehrt zu werden, und es rutschte ihm heraus: Dein Vater ist wohl der liebe Gott! Nein, aber mein Evangelium!

Ich glaube, ich habe ihn tyrannisiert mit meinem vererbten Bildungsbürgertum. Aber er mich auch, mit seinem Sozialismus, der Arbeiterklasse und dem permanenten Klassenkampf. Er war Trotzkist ohne jede Zugehörigkeit und wollte mich von der Schönheit seiner Revolutionssprache überzeugen. Das ist schon alles okay, aber ich werde jetzt noch rot, wenn ich an das Evangelium denke. Man schrieb 1966, lange vor der studentischen, antiautoritären oder sonst einer Revolution.

Das ist zum Beispiel so ein schmaler Lichtstrahl ins Dunkel der Vergangenheit. Ich auf den weißen Marmorstufen zu Füßen der Elisabeth im östlichsten Winkel des Volksgartens, gegenüber die Burg, auf der anderen Ringseite die Uni, durch die Bäume blinzelt das Rathaus herüber, im Volksgarten blühen noch die Rosen. Ludwig hört mir zu, wie ich ihm Rilke vorlese. Immer und immer wieder. Ob es Rilke auf Tschechisch gibt? Weiß er nicht. Ob er ihn nicht übersetzen will? Rilke stammt ja aus Prag. Ludwigs Neigungen gelten aber der Handelskorrespondenz, die ich hasse, aber als Pflichtfach auch belegen muss. Er hat keine poetische Ader, ihn interessieren ganz andere Dinge an mir.
Ich wehre ihn ab, weil ich damals sicher noch nicht einmal ganz aufgeklärt war, dafür grenzenlos naiv und die Sexualität noch nicht am Radar hatte. Dazu war ich viel zu katholisch aufgezogen worden. Ich habe ihn nie erhört und nie etwas anderes mit ihm unternommen als seine Großmutter und ihre Hühner zu besuchen. Ludwig war sehr fesch, James-Dean-artig, aber etwas klein gewachsen. Vielleicht war ich von ihm als Mann so wenig angezogen, weil er meinem großen Bruder Bernhard ähnlich sah.

Es war sicher nicht Absicht oder Taktik, dazu wäre ich in meiner Naivität gar nicht imstande gewesen. Aber ich habe Ludwig erfolgreich von mir ferngehalten und gründlich vertrieben. Mit der Waffe namens Rilke. Oder war’s der Vater? Irgendwann ist er nicht mehr in den Park gekommen, zu mir und Sisi. Einmal stieß er hervor: Lass mich in Ruh mit deinem depperten Rilke! Stieg die Stufen des Denkmals hinunter und ward nie mehr gesehen. Ich muss ihn entsetzlich angeödet haben mit meiner Schwärmerei für den Poeten und die Kaiserin. Nach dem Jahr in New York bin ich auf die Slawistik und Germanistik umgestiegen, und wir haben uns aus den Augen verloren. Sogar seinen Namen glaubte ich vergessen zu haben. Es ist ja auch nichts passiert, was mir großartig im Gedächtnis hätte bleiben können. Und meine jugendlichen Schwärmereien werfen auch nicht gerade ein gutes Licht auf mein achtzehntes Lebensjahr.

Einmal, nach der Jahrtausendwende, vielleicht 35 Jahre später, sitze ich in meinem Büro in der Moskauer Botschaft, als mir meine Sekretärin am Telefon einen Herrn Stuchlik, Ludwig, von der Handelsvertretung, ankündigt. Der Name ist mir seit dem ersten Semester nicht mehr untergekommen, aber trotzdem wusste ich es sofort: Sisi aus weißem Marmor, Mittagspause, Butterbrote, Wasser und – Rilke.

Ich sah alles vor mir wie in einem grellen Schlaglicht, kleine Funken in einem Scheinwerferkegel. Ich zu Füßen der Kaiserin auf der weißen Marmorbank, er zu meinen Füßen, dazwischen Rilke. Herr Mag. Stuchlik war tatsächlich Kaufmann geworden und gerade auf Besuch in der Moskauer Vertretung der Wirtschaftskammer. Er hat mit seinen Ostsprachen Karriere gemacht und ist bei seinem Leisten geblieben. So hat er mich gefunden und im Kulturforum aufgesucht. Auf der Visitenkarte eine Liste von großen Firmen, für die er in Russland Geschäfte macht: MAN, Voestalpine, Lenzing. Hat ein Büro an feinster Adresse im Hotel Ukraina. Wir sind Nachbarn geworden, ich wohne am Ukrainski bulvar gegenüber. Wir haben uns nie verabredet. Aber ich saß oft dort, im Park, auf dem Sockel des ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko, mit Blick auf die Moskwa und das Weiße Haus.
Ludwig ist alt geworden, dick und glatzköpfig, aber gut auf Top-Manager getrimmt. Und ich trieb mich immer noch mit Übersetzungen herum, wenn ich auch Rilke schon längst etwas kritischer sah. Aber immerhin hielt ich unter vielem anderen noch Vorträge über „Rilke und sein mystisches Russlanderlebnis“, „Rilkes Russland-Reise mit Lou Andreas-Salomé“, „Mein weiblicher Bruder – Marina Zwetajewa und Rilke.“

Ich weiß nicht, worüber wir gesprochen haben, wahrscheinlich nur Lebensdaten ausgetauscht, Kinder, Frau, Job, Haus im Wienerwald. Über Rilke, Sisi oder das Evangelium haben wir sicher nicht geredet. Ich bedauere, dass ich ihn nicht danach gefragt habe, woran er sich erinnert aus dem Herbst 1966.
Und seither ist er wieder in der Versenkung verschwunden, bis zum heutigen Tag, seit ich das hier aufschreibe.

13.1.22

Veronika Seyr
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Kaiser Joseph II. und der besoffene russische Kutscher

Fürst Grigorij Anatoljewitsch Potjomkin, der Liebhaber und Feldherr Zarin Katharinas der Großen, ging in die Weltgeschichte mit seinen Fake-Dörfern ein und bis heute ist mit den potjomkinschen Dörfern ein allseits verwendetes Sprichwort geblieben, auch wenn meist falsch ausgesprochen und betont.
Er hat für die Zarin den Kaukasus erobert und die Grenzpflöcke des russischen Imperiums bis an den Ural herangerückt. Dass er aber die zwei größten Reiche, Russland und Österreich, vor einer Katastrophe bewahrt hat, ist in der Erinnerung der Völker und ihrer Historiker vergessen, ausgeblendet oder absichtlich verschwiegen worden.

Bei dieser Inspektionsfahrt durch die südukrainischen Dörfer, deren Elend und Armut Potojomkin mit bemalten Kulissen zu beschönigen versuchte, war die Herrscherin nicht allein, sondern sie hatte einen hohen Gast bei sich, den Grafen von Falkenstein, der in Wirklichkeit niemand Geringerer war als die höchste apostolische Majestät des Heiligen Römischen Reiches, Kaiser Joseph II. von Österreich. Joseph interessierte sich für seine nord-östlichen Randgebiete Galizien und Bukowina, die erst kürzlich nach einem Sieg über die Türken an Österreich gefallen waren. Und diese Gebiete stießen an die südwestliche Ecke Russlands. Darüber hinaus suchte er nach Kooperationen mit Russland gegen die Türken und Regulierungen zur ersten Teilung Polens.

Der reiselustige Kaiser wollte sich immer selbst ein Bild machen von den Zuständen in seinem Reich, angefangen von den verheerenden Hungersnöten in Böhmen und Mähren 1771 bis zum Besuch bei seiner Schwester Marie Antoinette in Paris. In Böhmen fand er die Ursache des Elends der Bauern in der Leibeigenschaft, am Pariser Hof die andauernde Kinderlosigkeit in der Phimose Ludwigs XIV., die er umgehend von seinen Wiener Ärzten beheben ließ. Und voilà, ein Thronfolger erblickte zehn Monate später das Licht der Welt.

Joseph hatte gerade die mühsame 15-jährige Mitregentschaft mit seiner Mutter Maria Theresia hinter sich gelassen und war Alleinherrscher. Da machte er sich auf ins Zarenreich. Ihm bereiteten die türkischen Besitzungen in der Südwestgrenze des russischen Reiches Sorgen. Er wollte die Zarin und ihren Feldherrn davon überzeugen, dass sie die Osmanen aus den Khanaten von Moldawien, Bessarabien, der Walachei und der Krim hinter das Schwarze Meer zurückdrängen sollten, damit sie keine unmittelbare Gefahr mehr für ihre Reiche sein würden.

Beim allzeit kampfbereiten Potjomkin war sich Joseph sicher, offene Türen einzurennen, aber von Katharina wusste er, dass sie Reformen in den zentralen und westlichen Regionen einführen wollte und die Bauernbefreiung nicht eine Sekunde ernsthaft bedacht hatte. Er beabsichtigte, sich mit ihr über seinen eigenen Kampf um die ganze Palette an Reformen zu unterhalten, ohne dabei den militärischen Aspekt zum Schutz der Außengrenzen zu vernachlässigen.
Was nützten die besten inneren Reformen, wenn die Grenzen des Reiches nicht sicher waren und die Türkengefahr jederzeit zurückkehren könnte. Österreich kannte diese ständige Bedrohung aus dem Südosten seit Jahrhunderten, seit der Schlacht von Mohacs und der ersten Türkenbelagerung Wiens vor mehr als 250 Jahren.

Der kaiserliche Tross hatte in der Kleinstadt Berdjajewo südwestlich von Kiev haltgemacht und die Rösser gewechselt. Diesen Ort hatte Potjomkin besonders hübsch herausputzen lassen, mit sauberen, bunten Holzhäuschen, einer stattlichen Schenke und einer kleinen Kirche.
Nur die Poststation mit der Schenke war ein echtes Haus, alles andere waren Kulissen oder frisch angefärbelte, mit Girlanden und Fähnchen geschmückte ukrainische Bauernhütten. Sogar die ansonsten immer schlammige und von tiefen Furchen durchzogene Straße hatte er mit Holzplanken versiegeln lassen. Vor den Kulissen stand ein Spalier von schmuck gekleideten Bauern in ukrainischen Trachten, sie winkten dem Tross zu und warfen Blumen auf die Kutschen.

Potjomkin war ein genialer Feldherr und Organisator. Katharina und Joseph hoben die Vorhänge ihrer Kutsche und winkten dem Landvolk huldvoll zurück. Potjomkin war zufrieden, dass sein Kulissenschwindel geglückt war. Fürs Erste. Denn sobald sie aus Berdjajewo rausgefahren waren, zeigte die Staatsstraße Nr. 1 wieder ihr altes Bild: holprig, tiefe Furchen, Dreck.
Potjomkin hatte angeordnet, dass hunderte von Bauern fünf Werst vor dem Zug Sand und Erde streuen sollten, um die Löcher auszufüllen. Die tiefsten sollten sie mit Holzpflöcken entschärfen, die Brücken sollten sie ausbessern und verstärken und das Vieh vom Weg vertreiben.
Die Zarin und der österreichische Kaiser sollten möglichst wenig merken vom erbarmungswürdigen Zustand des Landes.

Seine Sorge war unbegründet, sie waren ins Gespräch vertieft und verstanden sich prächtig. Katharina die Große, die ehemalige Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, war glücklich, sich wieder einmal ihrer Muttersprache bedienen zu können – wenn auch mit lokalen Sprachunterschieden –, wobei sie ansonsten mit ausländischen Staatsmännern und Philosophen auf Französisch korrespondierte und parlierte.
Der Kaiser, Aufklärer durch und durch, bevorzugte es, in seinem eigenen Reich anonym zu reisen, um direkt an die Bevölkerung heranzukommen und sich ein realistisches Bild von den Zuständen in den Provinzen machen zu können. Insgesamt hat er 48 Reisen kreuz und quer durch Europa unternommen und schon 15.000 Meilen zurückgelegt.

Als Gast der Zarin musste er sich den umfangreichen Vorkehrungen des Fürsten Potjomkin beugen, beim Zug der 200 Kutschen, 300 Begleitwagen, Ochsengespanne und einer Herde von Rindern und Schafen, mit jedem Pomp und Gloria und Schwindel. Der asketische Joseph mochte so etwas nicht. Aber schließlich ging es jetzt nicht um seine eigenen Länder, die er anonym als Graf von Falkenstein bereiste, um zu erfahren, wie man die Lage der Landbevölkerung verbessern könnte, mit großen Plänen zur Bauernbefreiung, für Staats-, Wirtschafts- und Sozialreformen, das Toleranzpatent zur weitreichenden Religionsfreiheit bis zu kleinlichen Hygienemaßnahmen.
Er hoffte, bei Katharina ein offenes Ohr für seine Visionen von einem gerechten Staat zu finden, unterhielt sie sich doch mit den großen Aufklärern Voltaire und Diderot über ähnliche Fragen. Sie hatten also viel Gesprächsstoff und haben dabei weder auf Wetter noch Wege geachtet.

Alles, praktisch alles hatte der getreue Fürst Potjomkin vorausgeplant. Trotz des Heeres von Sand streuenden und Pflöcke einschlagenden Leibeigenen als Vorhut hatte Potjomkin eines nicht bedacht – die Launen des Wetters in diesen Weiten und Gegenden. Im Sommer brannte entweder die Sonne unbarmherzig vom Himmel herab, oder es gingen schreckliche Regenwetter hernieder.
Und so kam es zwischen den Dörfern Berdjajewo und Iwanovo zur Fast-Katastrophe. Die ukrainischen Himmel öffneten ihre Schleusen, Regenbäche ergossen sich auf Menschen, Rösser, Wagen und Wege. Rinnsale verwandelten sich in reißende Bäche. Bald wurde die Staatsstraße Nr. 1 zu einem Band aus tiefem Schlamm. Unentrinnbar. Das mussten Jahre und Jahrhunderte später auch die späteren Gröfazs Napoleon und Hitler erfahren, allerdings in Herbst und Winter.

Die Kutschenräder versanken lautlos bis zur Nabe in der weichen, ukrainischen Schwarzerde. Die Kutscher schlugen wie verrückt auf die Rösser ein, ohne sie einen Zentimeter herausbewegen zu können. Besonders wild trieb es der Kutscher der ersten Staatskarosse. Nicht nur trug er die größte Verantwortung, er hatte auch als Einziger in der Schenke beim Rösserwechsel die Gelegenheit gehabt, einige Gläschen Wodka zu viel in sich hineinzugießen. Diese gaben ihm solche Kräfte, dass er besonders stark und zornig auf die Tiere einschlug. Die Pferde im Sechser-Gespann kämpften tapfer, das Gefährt aus dem Schlamm herauszukriegen, aber einmal stiegen sie unter den unaufhaltsamen und erbarmungslosen Schlägen hoch, scheuten, zogen wie verrückt nach links und rechts, die Geschirre verwirrten sich ineinander, bis die Deichseln brachen und sie die schwere Karosse zum Überschlag brachten.
Sie neigte sich zur Seite und rutschte im Schlamm sachte, aber unaufhaltsam, in den aufgeweichten Straßengraben. Potjomkin in der dahinter fahrenden Karosse sah nicht lange dem Unglück zu, sprang heraus und stürzte zur kaiserlichen Kutsche. Sie lag mit einer Seite vollständig im Schlamm, und der Wagenschlag ließ sich nicht öffnen. Tollkühn kletterte Potjomkin auf das noch aus dem Sumpf ragende Dach und versuchte, die andere Seite zu öffnen.

Welch ein Bild bot sich da im Inneren! Die betagte und extrem übergewichtige Zarin hatte mit ihrer Körperfülle, den Brokatkleidern, Unterröcken und Miedern den zarten, kleinwüchsigen Kaiser fast vollständig zugedeckt. Politischen Beobachtern, wenn es sie damals schon gegeben hätte, wäre das als Sinnbild der Kräfteverhältnisse einen Kommentar wert gewesen. Der Kaiser lag am Boden im untersten Winkel der Kutsche, nur die dünnen, weiß-seidenen Beinchen ruderten vergeblich unter den Massen aus Stoff und Fett in der Luft herum wie bei einem umgedrehten Käfer.
Mit Hilfe des plötzlich wieder nüchternen Kutschers konnte Potjomkin den Kaiser gerade noch vor dem Erdrückt- und Ersticktwerden retten. Wie muss sich Joseph unter diesem stinkenden, dampfenden Fettberg gefühlt haben?

Niemand weiß es, weil alle Beteiligten geschwiegen haben oder aus dem Leben geräumt wurden. Wenn schon diese Begebenheit von der Geschichte vollständig verschluckt worden ist, umso weniger ist davon bekannt, wie die Reise danach weiter verlief, ebenso wenig, wie die gekrönten Häupter aus dem Kuddelmuddel von verrutschten Perücken, verschobenen Miedern, zerdrückten Spitzenjabots, zerknitterten Unterröcken und verschmutzten Schnallenschuhen wieder zu ernsten Staatsgeschäften übergingen.

Haben sie Karten gespielt, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren und ihre Kleidung in Ordnung gebracht hatten? Haben sie Champagner getrunken und Zuckerwerk genascht? Haben sie über Landkarten gebrütet, Grenzen verschoben, Länder eingenommen und Feinde besiegt?

Irgendwie muss es gelungen sein, denn sie haben Geopolitik gemacht. Historisch gesichert ist das Verteidigungsbündnis, das Katharina und Joseph 1781 gegen die Türken schlossen, und dass sie den Vertrag unterzeichneten, der die Teilung Polens besiegelte.
Joseph sollte später geheimnisvoll notieren, dass der schwerste Kampf seines Lebens in der Ukraine stattgefunden habe, vielleicht so besonders bedrohlich, weil Katharina damals seiner eben verstorbenen Mutter Maria Theresia zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte. (Wenn Freud das gewusst hätte, wäre seine Analyse des Ödipus-Komplexes vielleicht anders ausgefallen …)

Bei aller Unterschiedlichkeit von Katharina und Maria Theresia, hatten sie eine verhängnisvolle Leidenschaft gemeinsam: Sie waren entsetzliche Naschkatzen (Ersatzhandlungen?), dementsprechend zur Fülle neigend und am Ende des Lebens schwer zuckerkrank. So ist in den Unterlagen des Hofarchivs verbrieft, dass Maria Theresia zum 40. Thronjubiläum von Fürst Esterhazy die Festung Esztergom aus Zucker im Maßstab von 1:50 geschenkt bekommen und aus Trauer um ihren geliebten Franz Stephan zur Gänze aufgegessen hat, samt Klosteranlagen, Parks und Besuchern.
Potjomkin eilte von Sieg zu Sieg gegen Türken, Georgier, Armenier und sibirische Steppenvölker. Er schenkte Katharina nach jedem militärischen Erfolg ganze Soldatenformationen aus Marzipan, die sie nachts heimlich verputzte, weil sie wegen ihrer krankhaften Körperfülle keine Liebhaber mehr empfangen konnte.

Als er von den schwierigen Umständen in der Ukraine schrieb, ahnte er nicht, was ihm sechs Jahre später blühen würde. Katharina und ihr Feldherr Potjomkin bereiteten gerade den 3. türkischen Krieg vor, als sie ihn wieder in die Ukraine einlud, diesmal zu einer Flussfahrt auf dem Dnjepr. Joseph war schon etwas müde und nicht mehr so reiselustig, außerdem fühlte er sich alt und krank.
Der Feldherr hatte eine riesige Flussflotte bauen lassen, allerdings mehr zur Demonstration der Stärke und zur Einschüchterung des Sultans … Es wurden Manöver und Gelage abgehalten, Feste gefeiert, Feuerwerke entlang der Ufer ausgerichtet, während sie dem Schwarzen Meer entgegensegelten.
Fürst Potjomkin wurde nach der glücklichen Reise von Katharina mit so großen Gütern in Kleinrussland und Vorder-Kaukasien und mit so vielen leibeigenen Seelen belohnt, dass er zum zweitgrößten Grundbesitzer nach den Romanows aufstieg. Der Kutscher wird nach damaligem heiligen russischen Brauch eher mit ebenso vielen Stockschlägen bedacht worden sein.

Katharina hatte am Türken-Bashing Geschmack gefunden und konnte Joseph noch 1787 bis 88 in einen für Österreich wenig erfolgreichen Krieg gegen die Türken hineinzwingen, der erst nach seinem Tod mit dem Frieden von Schestow zugunsten Russlands zu Ende ging. Potjomkin hatte die Osmanen aus den europäischen Khanaten vertreiben und die Grenzen des Zarenreiches weit nach Asien hinein ausdehnen können. Der Eroberung Sibiriens bis zum Pazifik waren Tür und Tor geöffnet.

Aber wer vermag sich auszumalen, wie Europa und die Entwicklung Russlands ausgesehen hätten, wenn Joseph und Katharina zwischen den potjomkinschen Dörfern Berdjajewo und Iwanovo im Wortsinn auf der Strecke geblieben wären.

20./21.12.21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22013

 

Bürotechnik im Jahr 1980

Den Fernschreiber bedienen.
Den Lochstreifen beschreiben,
wobei Löcher aus ihm gestanzt werden.
Und danach einlegen.
Rattata-rattata-rattata.
Die Nachricht wird gesendet.
Bürotechnik im Jahr 1980.

Die Bedienung des Automatic Document Handlers im Jahr 1980

Die Bedienung des Automatic Document Handlers im Jahr 1980

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 21107

Terrestrische Navigation 4

Stop!
Um in den vollen Genuss dieser Geschichte zu kommen,

lesen Sie zuvor Teil 1Teil 2 und Teil 3.

Die Antwort darauf, warum sie mich nicht mehr in ihre Wohnung ließ, ergab sich vor etwa drei Wochen. Ich stieg mit der Milch für Frau Apfel in den viel zu kleinen Lift und vor mir stand Alex. Ich erkannte ihn, trotz seiner Maske. Immer noch hatte er die kleine Narbe auf der Stirn. Mit seiner linken Hand umklammerte er einen Strauß Margeriten. Mit der anderen eine Packung Katzenstreu. Als wir in meinem Stockwerk ankamen, sah ich, dass er schwitzte. Wir gingen in meine Wohnung. Er hatte beträchtlich zugenommen und ließ sich schwer in mein Sofa fallen. Ich öffnete zwei Flaschen Bier, trotzdem schwiegen wir weiter. Schließlich seufzte er, ich erkannte dieses Seufzen sofort.

Er begann: Nach unserem letzten Gespräch, so drückte er sich tatsächlich aus, (nach unserem letzten Gespräch!) habe er sich erinnern können, wer die Frau Apfel sei. Dann sei ihm klar geworden, wie sehr sie ihm damals geholfen habe, mit seinen Schulaufgaben. Nein, er habe kein schlechtes Gewissen gehabt, wegen der Sache mit ihrer Wohnung. Er sei sogar froh, dass seine Tochter nun diese Wohnung nutzen könne, während ihres Studiums. Er habe aber nicht lange gebraucht, um zu begreifen, dass er ihr noch was schulde, der Frau Apfel. Er habe auch nicht lange gebraucht, sie zu finden, es gebe ja nicht viel Äpfels in Wien. „Viele Apfels!“, korrigierte ich ihn.

Er machte dazu, wie immer, wenn ich ihn korrigierte, seine wegwerfende Handbewegung. Sie habe bei ihrer Schwester am Stadtrand gewohnt, meinte er, dort habe er sie gefunden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Frau Apfel eine Schwester haben sollte. Er behauptete, sofort gesehen zu haben, dass diese Wohnsituation Frau Apfel nicht zuträglich gewesen sei, außerdem vertrage sie sich nicht mit ihrer Schwester. Überhaupt, ergänzte er, sei Frau Apfel ein Charakter, der es vorzöge alleine zu wohnen. Da musste ich ihm Recht geben. Also habe er ihr, fuhr er fort, über die Partei diese Gemeindewohnung besorgt und sehe seitdem öfter vorbei. Gerade jetzt in der Pandemie sei es sinnvoll, dass er bei ihr regelmäßig vorbeischaue, wegen der Einkäufe und so. Dann haben plötzlich die Milchtürme und das Katzenzeugs bei ihr begonnen, von selbst zu wachsen und sie habe ihm gestanden, dass der Jonas, also ich, hier im Haus wohne. Da habe er sie gebeten, mich nicht mehr einzulassen.

Ich solle übrigens damit aufhören, so viel Milch und Katzenzeugs zu bringen, sie habe doch gar keine Katze. Es genüge völlig, wenn er ihr ab und zu ein wenig Streu bringe. In mir stieg die Wut hoch. Ich bringe gar keine Streu und auch kein Futter, bändigte ich mich und fragte wie nebenbei, ob sie ihn denn immer in ihre Wohnung einlasse. „Ja, wieso nicht, ich habe sie ihr immerhin besorgt?“, antwortete er trocken. Da explodierte ich: „Du bist doch dafür verantwortlich, dass Frau Apfel hier in diesem Sozialloch haust, und wagst es auch noch, groß den Samariter zu spielen?“, schrie ich ihn an. Er darauf: Ob ich Trottel denn nichts bei ihm gelernt habe, sie wäre doch sowieso rausgeflogen! Und er habe noch das Schlimmste verhindert!

Das Schlimmste verhindert! Wie soll das gehen? Da standen wir schon beide. Die Bierflaschen drohend in der Hand. Ich wies ihm die Tür. Er ging.

Ich wollte wissen, ob er das Haus verlassen hatte oder zu Frau Apfel gegangen war. Ich wartete, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Dann stieg ich leise die Treppen hinauf und lauschte an ihrer Tür. Ein schäbiges Verhalten, ich weiß, aber blieb mir eine andere Wahl? Ich hörte eine Männerstimme, die aber nicht die Stimme von Alex war. Das verwirrte mich. Dennoch, irgendetwas kam mir an dieser anderen Stimme bekannt vor. Es war weniger die Stimme selbst, eher war es diese stockende Art zu reden.

Am nächsten Tag fand ich am Boden des Liftes den Blütenkopf einer Aster. Ich konnte nicht widerstehen und ging wieder an Frau Apfels Tür. Diesmal hörte ich eine andere Männerstimme, und auch diese kam mir bekannt vor. Mir kamen die verrücktesten Ideen, einige davon sogar recht schmutzig. Ich bildete mir grauenhafte Dinge ein, solche, die ich hier gar nicht niederschreiben möchte. Ich sage nur: Sie hatten alle mit Alex und seiner Gemeindebau-Wohnungsvermittlung an Frau Apfel zu tun. Dafür schäme ich mich sehr.

Meine Besuche bei Frau Apfel wurden seltener, die anderen, die mysteriösen Besuche meine ich, wurden hingegen immer häufiger. Ich konnte mir immer noch nicht erklären, wer das war, und hörte immer wieder einen der beiden Männer oder Alex hinter ihrer Tür. Einmal sogar eine Frauenstimme, die mir auch bekannt vorkam. Lauter Stimmen, die mir auf irritierende Weise vertraut erschienen. Ich bekam Einschlafschwierigkeiten. Auch mein altes Alkoholproblem kehrte wieder. Dabei hätte es so vieles gegeben, worüber ich mit Frau Apfel reden wollte. Nicht über meine Geldsorgen natürlich, sondern darüber, wie ich jetzt weitermachen sollte. Dass es mir einfach an Kraft fehlte, einen neuen Job zu finden, dass ich vor lauter Panik, einem möglichen Arbeitgeber die Lücke in meinem Lebenslauf erklären zu müssen, immer mehr trank.

Die Lücke in meinem Lebenslauf wurde dadurch immer noch größer und infolgedessen sah ich mich immer weniger in der Lage, mich umzusehen und so weiter. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren meine Albträume. Immer wieder träumte ich: Ich stehe vor dem Schalter von Frau Apfel und schiebe die Terrestrische Navigation über die Pflanzenschneise. Plötzlich blitzt es und die Menschen gehen stöhnend zu Boden.
„Komm!“, sagt Frau Apfel und nimmt mich an der Hand. „Wenn ein Atomkrieg ausbricht, musst du in die Donau, sagt sie und zieht mich nach kurzem Lauf über die Wiesen in die Donau. Wir stehen in der Donau bis zum Hals und blicken auf den Kahlenberg, auf dem die Menschen wie Fackeln brennen. „Warte noch“, sagt sie, „bald wird alles vorüber sein.“ Dann sehe ich die Raumschiffe am Himmel. Über diese Träume hätte ich zum Beispiel auch sehr gerne mit ihr geredet.

Der Zweite, den ich aus unserer ehemaligen Bücherei-Bande im Lift antraf, war Philipp. Philipp war unser Hund Timmy. Er sprach mich tatsächlich mit „George?“ an. Er war derjenige, erkannte ich in diesem Moment, dessen stockende Stimme ich durch die Tür von Frau Apfel gehört hatte, ohne seine Stimme ganz wiederzuerkennen. Auch ihn lud ich in meine Wohnung ein. Philipp war deswegen unser Hund Timmy, weil wir uns die Fünf Freunde nannten. Ich muss das etwas näher erklären: Nach Enid Blyton bestehen die Fünf Freunde aus vier Kindern: Aus zwei Buben und zwei Mädchen und dem Hund Timmy, also musste einer von uns der Hund Timmy sein. Genauso, wie ich Georgina sein musste, aber wie Georgina darauf bestand, George gerufen zu werden. Alex und Christian waren natürlich Dick und Julian. Bei Anna mussten wir nur das „a“ zu einem unausgesprochenen „e“ ändern: Anne. Wir betrachteten das als gutes Zeichen. Alle Namen natürlich Englisch ausgesprochen. Erst später erfuhr ich, dass Philipp eigentlich „Freund der Pferde“ heißt und dachte viel darüber nach, ohne zu einem richtigen Schluss zu kommen. Waren wir die Pferde und er der Mensch?

Mit Philipp saß ich lange zusammen. Er hatte mit Anna kein Glück gehabt, genau wie ich es vermutet hatte. Die Adresse von Frau Apfel fand er ganz einfach in seinem Telefonbuch. Vor einem Monat habe er sich an sie erinnert, sagte er, weil er beim Aufräumen in seiner Wohnung ein Porzellanpferd gefunden habe, mit einer unterschriebenen lateinischen Widmung am Hals. Wer hat, frage ich mich, heute noch ein Telefonbuch? Wenn ich unser Gespräch memoriere, hat der Philipp überhaupt kein Glück gehabt. Dabei war er der einzige von unseren Fünf Freunden, dem ich immer Glück wünschte, auch später. Das ganze Glück meine ich. Schlecht sah er aus, aber er sagte, die Besuche bei Frau Apfel täten ihm gut. Es täte ihm leid, dass nur ich nicht in ihre Wohnung dürfe, ihm und den anderen von den Fünf Freunden hätte der Alex das nicht verboten.

Da begriff ich, und ich ging wieder öfter zu Frau Apfel. Anna kam mit hochwertigem Kaffee und sehr speziellem Katzenfutter und außerdem exquisitem Wein. Ich fragte sie gar nicht, wie sie zu Frau Apfel gefunden habe. Sie hatte es, wie man so sagt, zu etwas gebracht und war Leiterin des Jugendamts geworden. Ihre Haut wirkte ausgetrocknet und sie hatte viele Falten bekommen und ein Kind. Jede dieser Falten steht ihr, finde ich. Man sieht sie nur, wenn die Sonne darauf fällt, wie feine Bleistiftstriche, die das Gesicht konturieren. Christian kam vorgeblich als Nachzügler, jeder wusste, dass das nicht stimmte, aber wir gönnten ihm diese kleine Lüge, die er da völlig sinnlos aufstellte, warum auch immer.
Er war Lehrer geworden und hatte keine Ahnung warum und litt furchtbar unter dem vorgeblichen Online-Unterricht. Wir waren uns damals immer sicher, dass er Tischler oder Zimmerer werden würde, weil er uns immer die besten Baumhäuser baute. Er war es, der Unmengen an Katzenstreu brachte, obwohl wir ihm sagten, es sei zu viel. Ich selbst beschränkte mich auf die Milch und Philipp konnte sich nichts leisten.

Keiner von uns brachte Schnittblumen. Wir sprachen uns ab und standen seither alle am Gang. Die Gang-Gang waren wir jetzt. Für Frau Apfel haben wir einen Korbsessel organisiert, den wir ständig ersetzen mussten, weil er alle paar Wochen von Alex entfernt wurde. Gar nicht so einfach in der Pandemie. Vielleicht haben wir ihr deshalb erzählt, wer damals für ihren Wohnungsverlust gesorgt hat. Ansonsten hatten wir lange Gespräche über Literatur und das Leben. Nach der Katze fragten wir nicht. Wenn Alex kam, ging ich. Wenn Alex kam, gingen wir alle. Und dann öffnete sie ihm die Tür.

Ich habe, wie gesagt, den Zettel an mich genommen, den Frau Apfel an ihre Brust gedrückt hielt, als sie starb. Es handelt sich um eine Schenkungsurkunde. Eine Schenkungsurkunde über ihre ehemalige Wohnung im Alsergrund. Ausgestellt von Alex, der immer das Schlimmste verhindern wollte.

Frau Apfel ist tot. Ich sitze jetzt da, die Terrestrische Navigation auf meinen Knien. Ich würde jetzt gerne Philipp anrufen oder Anne, ich meine Anna. Oder Christian. Am liebsten Philipp. Nicht Alex. Aber es ist zu spät in der Nacht dazu.

Ich schlage die Terrestrische Navigation auf:

„Schon in der Bibel“, lese ich, „werden Grundlage und Ausgangspunkt der terrestrischen Navigation präzise dargelegt: ‚Er spannt über dem Leeren den Norden, hängt die Erde auf am Nichts.‘ Hiob 26:7.“

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Terrestrische Navigation 3

Moment! Kennen Sie schon Teil 1 und Teil 2?
Hier folgt der nächste Teil dieser Geschichte.

Am nächsten Tag läutete ich an. An ihrem Türöffner unten auf der Straße meine ich, ich weiß nicht warum, aber es erschien mir unstatthaft, an ihrer Wohnungstür zu läuten. Die Terrestrische Navigation hatte ich bei mir. Trotz der unvermeidlichen Verzerrung durch die Sprechanlage, es gibt da anscheinend keinerlei technischen Fortschritt, erkannte ich sofort ihr langgezogenes „Jaaaa?“ und das verschlug mir kurz die Rede. Ich brachte nur ein ungeschicktes „Ja, Frau Apfel, hier ist der Jonas!“ hervor. Dann kam lange nichts. „Der Jonas?“, quäkte es blechern, Pause, dann schepperte Frau Apfel: „Ja, der Jonas? Der kleine Raumfahrer?“ „Habe Schiffbruch!“ kämpfte ich mit meiner Stimme. „Komm doch herauf!“, sagte Frau Apfel.

Es fällt mir schwer zu schildern, wie das für mich war, der Besuch bei Frau Apfel. Wieder roch es nach Kaffee und Zigaretten und wieder war alles vollgestellt mit Büchern und mit dicken, breitblättrigen Topfpflanzen, als ob sie die ganze alte Stadtbücherei einfach mitgenommen hätte. Nur dass sie selbst noch viel dünner war, fast durchsichtig wirkte und ein wenig gebeugt. Sie sei nicht direkt entlassen worden damals, sagte sie. Es sei die Rede gewesen von Zentralisierung und Kostensenkung und so, aber sie hätte kein Interesse gehabt, für Altersteilzeit quer durch die ganze Stadt und noch dazu zu unmöglichen Zeiten in die Arbeit zu fahren. Und überhaupt, sie habe sich das angesehen, das sei ja keine richtige Bücherei gewesen, mehr eine Bahnhofshalle voller Rechner! Dann wäre plötzlich die Miete gestiegen und die habe sie sich nicht mehr leisten können mit ihrer Frühpension. Jemand habe ihr dann diese Gemeindebauwohnung vermittelt, wofür sie sehr dankbar sei. Trotzdem habe ihr das alles schon sehr zu schaffen gemacht. Besonders als sie die Katzen abgeben musste, weil hier ja keine erlaubt seien, das täte ihr besonders leid.

Ich merkte, dass sie nicht wusste, welche Rolle Alex bei ihrer Delogierung gespielt hatte. Ich legte die Terrestrische Navigation auf den Tisch. Dass ich dieses Buch die ganzen Jahre zurückgeben wollte, aber nie dazu kam, sagte ich. Sie nahm die Terrestrische Navigation in die Hand und sagte: „Aber das gehört doch dir, das war doch längst makuliert, ich dachte, das ist das richtige Geschenk für dich! Vielleicht hätte ich die Signatur runternehmen sollen?“ Dann kicherte sie: „Wie schön, dass du das noch hast!“ Darauf beugte sie sich über den Küchentisch und flüsterte, eine der Katzen habe sie heimlich mitgenommen, die Feli, die kleine Stinkerin, das müsse aber unter uns bleiben. „Strikter Geheimhaltungscode, verstehst du, Captain Jonas?“ Ich sah mich um, konnte aber keine Katze sehen. Nur Säcke mit Streu und eine Menge Schachteln Katzenfutter sah ich im Flur stehen und darauf lag ein Haufen Schnittblumen. Sonst käme sie sehr gut zurecht, sagte Frau Apfel auf dem Weg zur Tür, sie könne nicht klagen.

Ob sie irgendetwas brauche, fragte ich, ich könne ja gerne für sie einkaufen gehen in der Pandemie. Dann hat sie mich wieder angesehen mit ihren klugen Augen und gesagt: Milch, Milch für die Katze könne sie brauchen, ob ich denn morgen einkaufen gehe? Dann sagte sie etwas Seltsames. Sie sah mir noch genauer in die Augen und es fühlte sich an, als streichelte sie mich mit ihrer Stimme über den Kopf: „Du bist ein Guter!“, sagte sie. Aber bis heute bin ich mir nicht sicher, ob da nicht ein Fragezeichen dabei war. Beim Hinuntergehen in meine Wohnung fiel mir auf: Sie sprach mich immer noch mit „du“ an. Ich war froh darüber. Ich habe ihr dann die Milch vor die Tür gestellt, weil sie auf mein Klingeln nicht öffnete. Dabei hatte ich mir vorgenommen, sie diesmal zu fragen, wie sie das gemacht hatte mit dem Tippex.

Ab und zu öffnete sie dann doch. Wegen des Virus bat sie mich aber, es bei Gesprächen am Gang zu belassen, wo sie einen Aschenbecher am Fensterbrett stehen hatte, den niemand anderes benutzte, obwohl fast alle Parteien rauchen in unserem Gemeindebau. Durch meinen Ex-Beruf merke ich das sofort, ob jemand raucht im Haus. Mittlerweile hatte ich aber auch wieder begonnen mit dem Rauchen.
Neben den Aschenbecher stellte ich ihr eine breitblättrige Topfpflanze aus der Blumenhandlung gegenüber, das freute sie sehr. Es wurden zahlreiche Topfpflanzen und immer stand bei dieser Gelegenheit ihre italienische Kaffeekanne auf dem Fensterbrett und klemmte eine Blaise-Pascal-Ausgabe aus den 80ern zwischen den Fensterflügeln, um den Rauch rauszulassen. Diese Gespräche taten mir gut und ich merkte, wie es mir von Tag zu Tag besser ging. Sogar mit dem Trinken hörte ich fast auf.

Nach der Katze erkundigte ich mich nie und auch nicht nach dem Tippex. Bei einem dieser Gespräche hörte ich ein Geräusch in ihrer Wohnung: Jemand seufzte schwer. Ich fragte sie aber nicht danach, wer das sei, da ich nicht den Eindruck hatte, dass sie das wollte. Ich fragte mich dann aber, ob Frau Apfel mich wirklich wegen des Virus nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Ich hätte mir das schon sehr stark gewünscht.

Auf ins Finale zu Teil 4!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Terrestrische Navigation 2

Halt! Haben Sie Teil 1 schon gelesen? Dies ist die Fortsetzung.

Wenn die Erwachsenen Beratung suchten, gingen sie zu Frau Apfel. Wenn nur ihre Kolleginnen da waren, fragten sie erst gar nicht. Auch wenn die Erwachsenen Beratung suchten, die nichts mit Büchern zu tun hatte, gingen sie zu Frau Apfel und redeten anfangs von Büchern, dann erst von ihren Problemen. Wir waren dann die Einzigen, die ihren Namen kannten. Wir gingen nämlich, wenn wir nicht weiterwussten, auch zu ihr, meistens handelte es sich um Schulaufgaben, bei mir waren es die in Latein. Es schimmerte grün, es roch nach Kaffee und Zigaretten, und eigentlich gab es keine Probleme. Wenn doch, dann delegierte Frau Apfel diese Probleme entweder an ihre Kolleginnen, oder, und das war ganz selten, wir durften sie in ihrer Wohnung besuchen, gegenüber der Stadtbücherei. Neben ihrer Tür hatte sie ein hellgrünes Schild in Apfelform. Darauf stand in feinen Linien Frau Apfel. Jeder von uns, der es sah, merkte sich ihren Namen.

Dort war es auch grün und roch nach Kaffee und Zigaretten. Und dort lösten sich dann selbst die schlimmsten Probleme in Rauch auf.

Von einem Tag zum anderen beschloss ich, Bücher aus der Erwachsenenabteilung auszuborgen. Da ging Frau Apfel mit mir und beriet mich, und es gab einen schrecklichen Streit mit ihren Kolleginnen über Forests Barbarella, von der ich die Herausgabe sämtlicher Bände forderte. Frau Apfel war dafür, ihre Kolleginnen dagegen. Diese Sumpfhühner! Trotzdem habe ich dann in Barbarella nur geblättert und nicht wirklich gelesen. Es waren keine Tippex-Stellen darin. Genau wie bei der Terrestrischen Navigation zum Beispiel, die jetzt vor mir liegt. Aber das ist ein schlechtes Beispiel, weil bei der Terrestrischen Navigation trennten sich meine Eltern. Wie sehr hätte ich Frau Apfel da gebraucht.

Weil ich zu meiner Mutter zog, konnte ich das Buch nicht zurückgeben und verlor außerdem meine Fünf Freunde. Meine Mutter und ich wohnten viel zu weit weg, als dass ich mich alleine zu Frau Apfel zu fahren getraut hätte. Und als ich so weit war, die Strecke zu bewältigen, schränkten sie die Öffnungszeiten ein, wegen des Sparpakets, wie mir meine Mutter erklärte. Und sie fand das auch ganz in Ordnung so, weil es denen ohnehin immer zu gut gegangen wäre. Ich solle doch das verdammte Buch behalten, erklärte sie mir, das geschehe denen nur ganz recht. So hätte sie früher nie geredet.

Ich wurde Speditionslogistiker. Erst viel später habe ich an der Abendschule maturiert. Mein Vater schickte mir aus diesem Anlass ein Stück Berliner Mauer. Er wäre damals dabei gewesen, las ich auf dem Stück Papier, in das er das Mauerstück eingewickelt hatte. In seinem Scheidungsjahr wäre er dort hingefahren, las ich, und es hätte sich historisch angefühlt, dieses Stück aus der Mauer zu schlagen. Mit diesen Schlägen hätte er auch sich selbst renoviert. Seitdem habe er beruflich Glück gehabt und könne mich in meinem Studium unterstützen, vorausgesetzt es sei BWL.

Statt Geographie studierte ich also BWL, ohne viel Freude, aber auch mir war klar: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Ich wollte aber ein Haus und ich baute auch eins. Doch das hat auch keine Freude gemacht. Als unser erstes Kind auszog, kam es kurz darauf zu diesem Prozess und ließ sich meine Frau von mir scheiden. Als ich auszog, stieß ich beim Füllen der Schachteln wieder auf dieses Buch: Terrestrische Navigation. Übungen und Aufgaben. Von Axel Bark. Aber aufgeschlagen habe ich es nicht. Damals hätte ich auch ihre Widmung gar nicht verstanden: „… denn auch die Erde ist ein ferner Planet.“ Aber erst Monate später kam ich auf die Idee, die Terrestrische Navigation zurückzugeben.

Ich erinnere mich an meine damalige Begründung dafür: „Dieses Buch passt nicht zu meinen sonstigen Büchern.“ Ich muss außerdem daran gedacht haben, dass die Leihgebühren mittlerweile astronomisch seien, aber das hat mich nach den ganzen Prozesskosten wahrscheinlich auch nicht mehr gestört, das heißt, das kann für mich keinerlei Wirklichkeitswert mehr gehabt haben. Ich versäumte auch, wenigstens nach den Öffnungszeiten meiner etwas abseitigen Kindheitsfiliale der Wiener Stadtbüchereien zu sehen. Ich ging einfach mit der Terrestrischen Navigation hin. Dann stand ich vor dem Leerstand. Ich begriff, dass es meine Firma gewesen war, die im Auftrag einer Fitness-Studio-Kette diesen Leerstand bewirkt hatte. Der Plan war gewesen, dieses Studio über alle Etagen des Hauses zu ziehen. Ein fünfstöckiges Fitness-Studio-Haus.
Die Leihbücherei im Erdgeschoß störte diesen Plan natürlich erheblich. Ich war damals derjenige, der wusste, mit wem er zu reden hatte, um dieses Haus aus dem städtischen Besitz zu lösen, um damit nicht nur das Haus, sondern gleichzeitig auch das Erdgeschoß freizubekommen.

Gerade das freigewordene Erdgeschoß brachte mir damals die dringend benötigte Aufstockung und einen ansehnlichen Bonus ein. Nur dass mir das alles erst wieder einfiel, als ich vor diesem Leerstand stand. Das muss 2008 gewesen sein, ein wildes Jahr, wo wir die Aufputscher wie Soletti fraßen und auch ein Jahr, das erklärt, warum mit dem Fitness-Studio dann doch nichts weiterging. So etwas in der Art dachte ich mir auch damals, als ich vor dem Leerstand stand, und dann ging ich etwas trinken. Ab da wurde das immer häufiger, das mit dem Trinkengehen.

Beruflich machte ich keine besonderen Fortschritte mehr. Bei den obligaten Lokalbesuchen nach einem Geschäftsabschluss nahm mich Alex immer häufiger zur Seite und meinte, ich solle wenigstens bei den Geschäftsgesprächen nicht so oft soziale Bedenken äußern wie in letzter Zeit; das schade nicht nur dem generellen Ablauf, sondern auch mir. Alex kenne ich seit meiner Zeit in der Stadtbücherei. Er war sozusagen der Chef unserer Fünf Freunde, unserer Bücher-Bande, und hat mir nach meinem Studium den Weg in seine Firma geebnet. In den ersten Jahren waren wir oft Skifahren und auf Festivals. Einmal sogar auf Roskilde. Auf dem Roskilde-Festival hat er bei unserem gemeinsamen LSD-Trip auf mich aufgepasst wie ein großer Bruder. Schon immer fühlte er sich für mich verantwortlich, ganz wie bei unserer Bücher-Bande, wo er sich auch immer für alle zuständig fühlte. Weil er merkte, dass mit mir nichts mehr so recht ging, versuchte er mir den Kopf zurechtzurücken. Das machte er immer vor dem Pissoir. Einmal sagte er sogar, meine Einwürfe wirkten verschroben und unpassend.

Dann bekam ich mit, dass er Frau Apfel delogieren ließ und sich ihre Wohnung unter den Nagel riss. Ihre Friedenszins-Wohnung im Alsergrund bildete nun seine stattliche Altersvorsorge. Bei einem unserer Pissoirgespräche machte ich ihm deshalb Vorwürfe. Er lachte mich aus, fragte, wer denn diese Frau Apfel sei, und bezeichnete mich als Sozialromantiker. Laut Protokoll habe ich ihn daraufhin offenbar am Hinterkopf gefasst und mit der Stirn so heftig gegen die Pissoirwand geschlagen, dass er bewusstlos zu Boden sank. Es kam zu diesem Prozess, der mich Haus und Ehe und schließlich den Job kostete, und wir gingen uns seitdem aus dem Weg.

Ich muss an dieser Stelle ein gutes Wort für Alex einlegen. Es war mir vor, während und nach unserem Prozess immer klar, dass er es gut mit mir meinte. Es ging mir dabei immer nur um Frau Apfel und das hat er damals eben nicht verstanden. Das hat mich wahnsinnig aufgeregt. Ich weiß auch, dass er recht hatte damit, dass ich immer unpassender wurde. Im Immobiliengewerbe bist du ein T-Rex. Aber ich wollte ein T-Rex sein, der zum Vegetarismus aufruft. Verschroben und unpassend, da hat sich der Alex sogar noch schonend ausgedrückt. Er wollte mir helfen. Aber er konnte schließlich auch nicht verhindern, dass ich gekündigt wurde. Meine Kündigung hatte nichts mit Alex und auch nichts mit der Pandemie zu tun, wie das meine Mutter je nachdem behauptet. Das hatte nur mit mir zu tun. Da mache ich mir nichts vor.

Im Zuge der Pandemie machte die Stadt den Zugang zu ihren Klein- und Kleinstwohnungen in ihren Sozialbauten frei und so viel Kraft und Geld hatte ich noch, eine davon zu beziehen, auch wenn ich sie bis jetzt nicht eingerichtet habe. Als ich Monate später mein Namensschild bei der Haustür einschob, fiel es mir auf: Frau Apfel. Mit der höchsten Türnummer. Zwei Stockwerke über meiner Wohnung. Wäre auf der Türöffnerleiste nichts weiter gestanden als Apfel, hätte ich mir nichts dabei gedacht, aber Frau Apfel – noch dazu in dieser Schrift, mit der immer ein wenig zu blassen Tinte? Unmöglich, dass das jemand anders sein konnte.

Weitere Entdeckungen warten in Teil 3.

Bernd Remsing
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Terrestrische Navigation 1

Ich hatte es schließlich in der Hand. Sämtliche 43 Umzugskartons, die geöffneten und die immer noch nicht geöffneten, hatte ich durchwühlt, um es zu finden. Schließlich entdeckte ich es unter dem Bett. Dort, wo ich als Kind immer die Bücher versteckt hatte, die an mich gerichtet waren, wie Briefe von geheimnisvollen Absendern direkt an mich. Da hatte ich es wieder in der Hand, das nie gelesene, nie zurückgegebene Buch, das mir Frau Apfel schließlich geschenkt hat. Das sie mir immer schon geschenkt hat, wie ich jetzt erst weiß. Ich öffnete es und fand zum ersten Mal ihre Widmung: „Für Jonas, denn auch die Erde ist ein ferner Planet. Navigare necesse est!“ Und darunter säuberlich: „Frau Apfel“. Viel später merkte ich, dass ich wie besinnungslos weinte. Minuten? Stunden? Über Frau Apfel, über mich, über das Leben auf dieser Erde und schließlich darüber, dass ich schon so lange nicht mehr geweint hatte.

Ich habe Frau Apfel gefunden, seitlich lag sie, als ob sie vom Küchensessel gefallen wäre, und hielt einen Zettel an die Brust gepresst. Den nahm ich an mich. Ich war dabei, als sie ihre Wohnungstür aufbrechen und wie gewohnt zurückweichen wollten vor dem Gestank. Aber da war nichts aufzubrechen, das hatte ich ihnen doch gesagt. Die Tür stand im Gegenteil offen, sie war leicht angelehnt, so, dass der zarteste Wind sie hätte zurück ins Schloss drücken können. Und da war auch kein Gestank, nicht der nach Verwesung, wie man es immer in der Zeitung liest. Es roch vielmehr nach vertrockneten Blumen, durchsetzt von saurer Milch und Katzenfutter.
Also nichts Ungewöhnliches für einen Gemeindebau. Dieser Geruch rührte von unzähligen Blumenbouquets in allen Größen, alle ohne Grußkarten. Vertrocknete Narzissen- und Chrysanthemenbündel, zu floristischen Skulpturen gewundenes Allerlei, selbst frische Orchideen- und riesenhafte Rosensträuße waren darunter, alles notdürftig gegen die Wand gestapelt und immer wieder unterbrochen und gestützt von Säulen aus Milchpackungen und solchen aus Katzenstreu und Katzenfutter. Dabei hatte sie mit Sicherheit gar keine Katze! Einer der Exekutivbeamten fragte mich, ob Frau Apfel das denn alles selbst gekauft habe, weil so viele Blumen und in ihrem Alter? Ich verneinte, ich sagte aber auch nicht, wer das alles gekauft hatte. Er drang diesbezüglich  weiter auf mich ein, glücklicherweise wurde er in diesem Moment von seinem Einsatzleiter gerufen. Schnittblumen waren außerdem nicht ihr Stil. Die Todesursache lautete auf Herzinfarkt.

Was sie mochte, waren Topfpflanzen. Vor allem Grünlilien, Drachenbaum und die Yuccapalme. Sie standen auf den Regalen hinter ihr, die bis zur Decke reichten. Kein Gegenstand dazwischen. Ihre Pflanzen standen auch neben der Kaffeemaschine auf dem Wackeltisch, und selbstverständlich auf der vorgelagerten und hochgestellten Holzfläche, auf der man die Bücher abzuholen hatte, aber immer so, dass eine Schneise blieb für die Bücher. Manchmal, wenn auch selten, bildete sich vor ihrem Schalter eine Schlange und dann beobachtete ich Frau Apfel durch die dicken, breiten Blätter ihrer Pflanzen.
Diese Urwaldpflanzen mit ihren dicken, breiten Blättern, die höchstens einmal im Jahr, dann dafür rein weiß blühen, waren ihr am liebsten. Sie hatte auch diese exotischen Hängepflanzen auf dem Fensterbrett hinter ihr, aber die mussten dann dem Kopierer weichen, sie hätte ja immer über dieses Ungetüm von Kopierer klettern müssen, um ihre Hängepflanzen zu gießen. Und sie war nicht sehr sportlich. Ich habe nie geseh’n, ob der Kopierer auch benutzt wurde.

Sie war nicht sportlich, sie war vielmehr ungeheuer zart, ich hatte schon als Kind den Eindruck, sie müsse nicht schwerer wiegen als ein Vogel, ich könne sie mit einer Hand über den Kopierer heben, damit sie ihre Hängepflanzen gießen kann. Aber gewagt hätte ich das nie, sie war nämlich auch gleichzeitig voll unerklärlicher Kraft.
Wenn ein Erwachsener ungeduldig und laut wurde, weil zum Beispiel sein bestelltes Buch immer noch nicht da war, hob sie nur kurz ihre hellen, klugen Augen vom Buch, das sie gerade las, und ruhig wurde der Erwachsene. Wir Kleinen wussten, dass man so nicht sprach mit der Frau Apfel. Es hieß, dass sie studiert habe. Trotzdem habe ich sie immer vergessen, sobald ich nach Hause ging. Das kann an den Büchern gelegen haben, auf die ich mich schon so sehr freute, dass ich oft schon im Gehen anfing, eines zu lesen, es kann auch an etwas anderem gelegen haben. Ich glaube, ich habe Frau Apfel schon vergessen, sobald sich die Tür der Stadtbücherei hinter mir schloss.

Aber das ging nicht nur mir so. Auch meine Eltern konnten sie nie recht einordnen, wenn sie anrief, um mitzuteilen, dass mein Buch eingetroffen oder eine Verlängerung fällig war. Als sie mir dann das ausgestempelte Leseheft zuschickte, dem ein Gratulationsschreiben mit einem Zitat beigelegt war („Was die Jugend braucht, ist Disziplin und ein voller Bücherschrank!“), stritten zwar meine fortschrittlichen Eltern tagelang über dieses Zitat, dachten aber dabei keine Sekunde an Frau Apfel. Ich habe später das Leseheft samt dem Zitat hinter Glas eingerahmt und an meine Zimmerwand gehängt. Aber selbst ihre Kolleginnen wussten oft nicht, wen ich meinte, wenn ich sie beschrieb.
Ich musste sie immer beschreiben, weil auch mir ihr Name nie einfiel. Wenn ich mich mit meinen Fünf Freunden in der Au traf und darüber beklagte, dass ich schon wieder vergessen hatte, meine Bücher zu verlängern, sagten sie, das sei doch kein Problem bei der, bei der … dann fiel ihnen ihr Name nicht ein, obwohl wir alle uns unsere Bücher ausschließlich von Frau Apfel verlängern ließen. Erstens weil da mehr als dreimal Verlängern drinnen war, und zweitens, weil sie sich bei den Gebühren immer wieder zu unseren Gunsten verrechnete. Anfangs korrigierten wir sie ja bei ihren Berechnungen, aber das hatte sie nicht gern.

Ich hatte übrigens kein Problem damit, dass alle Fünf Freunde nur bei ihr ausliehen, weil die anderen ja immer noch Enid Blyton und die Drei Fragezeichen lasen, ich hingegen schon echte Fantasy und vor allem über Raumfahrt. Also kamen wir uns nicht in die Quere mit dem Ausleihen und ich hatte immer direkten Zugriff auf meine Bücher. Dabei ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: An manchen Stellen, besonders an solchen, wo es um Frauen oder weibliche Aliens ging, waren die entscheidenden Stellen mit Tippex abgedeckt und überschrieben worden.

An einen dieser Sätze aus Raumschiff Orion kann ich mich noch erinnern. Er fing an mit: „Sie lehnte sich über die Theke und grinste mich an, ich konnte alles sehen, zwei wunderbare, prall gefüllte Körbchen …“, dann weiter mit Schreibmaschine auf Tippex, „… mit Frischobst aus den Perseiden standen direkt vor ihr.“ Ich hatte das damals schon durchschaut und ärgerlich gefunden. Später lachte ich darüber, dann wunderte ich mich: Warum gerade Frischobst? Und was hatte Frau Apfel, denn nur sie konnte es gewesen sein, dabei gedacht? Und hatte sie tatsächlich alle Bände von Raumschiff Orion zensuriert? Und welche der vielen einschlägigen Reihen der Jugendabteilung noch? Hatte sie sich dazu tatsächlich die Mühe gemacht, jeden Band zu zerlegen und neu zu binden? Nur so hätte sie in die Buchseiten tippen können. Oder hatte sie eine besondere Schreibmaschine? Wie war das möglich?

Das erfahren Sie (vielleicht) in Teil 2?

Bernd Remsing
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Man steht am Fenster 1

von und mit Vinzenz Ludwig Ostry

Radio Rot-Weiß-Rot
Erinnerungen von V.S.

Es gab für mich viele Gründe, den Samstag im Bräuhaus zu lieben.
Auch alle Sonntage, Feiertage, Namens- und Geburtstage, sowie alle gewöhnlichen Tage. Als Kind liebte ich einfach das Leben, und alles, was dazugehörte, Menschen, Tiere und Blumen gleicherweise. Vor manchen Menschen musste man sich in Acht nehmen, hatte ich gelernt, einige Tiere lösten größten Respekt aus, und daher waren mir die Blumen am liebsten. Sie konnten einem nichts Böses antun. Warum das so war, darüber habe ich erst später nachgedacht und meine Privattheorie dazu aufgestellt.

Gegen 6 Uhr abends, am Samstag, kamen alle Tätigkeiten bei uns und im Bräuhaus zum Erliegen und mündeten in ein sanftes Nichtstun. In den Stunden davor hatte große Geschäftigkeit geherrscht. An Samstagen wurde im Badhaus der große Ofen angeheizt, um Warmwasser zu machen. Denn der Samstag war Boddog (= Oberösterreichisch für Badetag). Wir in unserem Haus, der Villa Seyr, hatten damals noch kein Fließwasser, geschweige denn ein Badezimmer. Daher wurden die kleineren Kinder zu dritt in die große Badewanne im Badhaus des benachbarten Bräuhauses gesteckt und so lang abgeschrubbt, dass es für eine Woche reichen musste.
Es war kalt in diesem Raum mit Steinplatten und dunkel wie in einer Höhle. Im Ofen loderte das Holzfeuer, und im ganzen Raum waberte der Nebel vom heißen Wasserdampf. Daneben plätscherte immerwährend das Wasser aus einem Hahn in den großen Grand, ein Steinbecken. Danach wurden wir einzeln in Laken gepackt und übers Bergerl nach Hause getragen. Das konnten die Tante Sefi sein, oder die Ida-Tant oder die Omama selbst. Daheim warteten die frischen Pyjamas auf die frischen, nach Hirschseife duftenden rosigen Körper, frische Socken und die Bademäntel aus Flanell. Meiner war einer aus einem alten Bettüberwurf, von Mama selbst zusammengenäht, dunkelblau mit gelben Girlanden drauf, dazwischen Sterne und Monde in allen Phasen. Ein richtiger Zaubermantel war das, dementsprechend liebte ich ihn und fühlte mich wichtig.

Warum ich dabei war, als sich die Erwachsenen um das Radio der Großmutter scharten, weiß ich nicht mehr. Vielleicht weil ich einfach immer überall dabei sein wollte, weshalb ich von Omama den nur halbwegs schmückenden Beinamen „Flederwisch“ verliehen bekam. Manchmal kam es mit einem Lachen heraus, manchmal mit einem Staunen oder auch drohend mit gefletschten Zähnen. Aber an den Samstagen herrschte Friede. Ich saß der Omama auf dem Fleckerlteppich zu Füßen und beschäftigte mich mit den Wollresten in ihrem Korb. Ich durfte damit spielen, sie ordnen, aufwickeln, abwickeln und ihr reichen.

Wenn sich die Omama in ihrem riesigen Lehnsessel zurechtsetzte, verstand man, wer die eigentliche Herrin des Hauses war. Nicht Tante Sofie, die Frau des Alleinerben, meines vielgeliebten Onkels Klaus. Auch nicht der Älteste, Onkel Karl. Er machte sich am guten Philips zu schaffen, bis er zum Strich 15 1265 UKW bei Linz-Freinberg kam.

In der großen Stube stand in der fensterseitigen rechten Ecke über der Singer-Nähmschine auf einem an der Wand befestigten Brett ein großer Philips-Radioapparat, umrahmt von einer großen Zimmerlinde und anderen verschlungenen Pflanzen. Omama nahm in ihrem Lehnsessel Platz, in dem sie ansonsten nienie, die ganze Woche über, nicht saß. Sie hatte aus einem Korb ihr Stopfzeug herausgenommen und begann mit dem ersten Socken. Der ganze Korb war voll davon, ein buntes Völkchen. Die härenen vom Knecht Sepp, die eleganteren meines Vaters oder von Onkel Klaus. Kindersocken- oder -strümpfe waren meiner Erinnerung nach nicht dabei, die stopften die Mütter oder Tanten. Die der im Haushalt lebenden Köchin Nannerl und der Haushaltshilfe Berta machten diese sich selbst. Der Ukrainer Ivan trug keine Socken, sondern Stiefeltücher, die am Montag, dem Waschtag, mit den Betttüchern der ganzen Großfamilie auf der Leine flatterten.

Man hatte sich versammelt, um der Radiosendung „Man steht am Fenster“ von Radio Rot- Weiß-Rot aus Linz zu lauschen. Die beschwerliche Arbeitswoche ging zu Ende. Es herrschte fast so eine feierliche Stimmung wie am Sonntag in der Kirche. Die Signation in den schicksalsträchtigen Bumm-bummbumm – bumm, den dumpfen Glockenschlägen der Fünften. Eine unerträgliche lange Pause, dann kam es aus dem Apparat: „Man steht am Fenster. Es spricht Vinzenz Ludwig Ostry.“
Omama setzte sich im Lehnstuhl zurecht, straffte ihren krummen Rücken, steckte ihre Haarnadeln um den Dutt herum fest und widmete sich ab nun nur noch ihrem Stopfzeug. Im weit ausladenden Ohrensessel, grau-rot-grün, ein kleiner, vogelartiger Kopf mit feinen Linien und Löckchen um die Stirn. Ihr Rücken hatte schon damals begonnen, sich zu krümmen.

Die anderen Erwachsenen saßen um den großen Esstisch, der Knecht Sepp hockte schief am Bankerl vor dem Kachelofen, die Ida-Tant, Omamas Schwester, hatte ihren eigenen Lehnstuhl unter der Treppe.
Papa war am Samstagnachmittag aus Tulln gekommen und saß am dritten Fenster, der Hausherr Onkel Klaus nahm das Kopfende ein. Seine Frau, Tante Sofie, machte sich zusammen mit Nannerl und der Berta in der Küche zu schaffen. Durch die offene Tür ließ sich leises Klingeln und Scheppern vernehmen. Sie bemühten sich, die feierliche Stille nicht zu stören. Es war so still wie bei der Wandlung in der Kirche.

Allein schon der Name Vinzenz Ludwig Ostry war eine Botschaft wie aus einer anderen Galaxie. Niemand hieß bei uns Vinzenz oder Ludwig noch Ostry. Es gab nur die Kaisernamen. Ich war überzeugt, dass er in Wirklichkeit Österreich hieß und aus unerklärlichen Gründen verkürzt ausgesprochen wurde. Die männliche Stimme war tief und knarrig wie eine alte Eichentür mit einem Geheimnis dahinter. Sie klang so wie die Balken und Sparren auf den weitläufigen Dachböden über dem riesigen Bräuhaus.
Für mein Kinderhirn klang „Vinzenz Ludwig Ostry“ überhaupt nicht wie ein Name, sondern eher wie ein Ort – das einzige Wort, das ich verstand, war Fenster. Das Bräuhaus hatte viele Fenster, die großen auf die Straße und die Donau hinaus. Nach hinten hin, zum Hang, in dem das Haus stand, waren es nur noch Luken. „Man steht am Fenster“ – eine Zauberformel, mit der alles in Erstarrung verfiel: Die Zeit, die Luft, die Menschen, nicht einmal die immer zitternden Blattenden der Zimmerlinde wagten eine Bewegung.

An den Inhalt dieser Radiosendungen habe ich natürlich keine Erinnerung und sicher nichts davon verstanden. Radio Rot-Weiß-Rot Salzburg-Linz-Freinberg wurde kurz nach dem Staatsvertrag eingestellt. Der Sender war kurz nach Kriegsende von der amerikanischen Besatzungsmacht in ihrem Bereich eingerichtet worden und diente der „Erziehung der Österreicher zu einem mündigen, gut informierten Volk“. Kant lässt grüßen in der Eröffnungsansprache des amerikanischen Generalmajors Walter M.

Wir lebten in St. Nikola, nach Mauthausen waren es 25 Kilometer, nach Braunau weniger als 100.
Später, als wir schon in Tulln wohnten, hatten wir wieder einen Philips, etwas kleiner als der im Bräuhaus, aber wieder auf einem Brett an der Stirnwand des Esszimmers thronend, rechts darüber das Kruzifix, darunter der Sitzplatz meines Vaters. Rechts davon billige Kopien der betenden Hände von Dürer und des Mädchens mit dem Vogel von Rubens (?), welchem wir auf allen Kinderfotos ähnlich sahen.

Wenn die Signation zur „Lieben Familie“ ertönte, strömten alle Bewohner unter dem Philips zusammen, ließen alles liegen und stehen, um den Florianis zu folgen – ein Hausfeger sozusagen. Da war ich schon alt genug, um der Sendung inhaltlich zu folgen. Das Tröstliche daran war, dass es auch in einer hochoffiziellen Radiofamilie viel Streit und Turbulenzen gab, nicht nur in unserer.

Vinzenz Ludwig Ostry war von den Amis engagiert worden als außenpolitischer Kommentator und analysierte in der Sendung „Man steht am Fenster“ jeden Samstagabend die internationale Situation. Es herrschte der Kalte Krieg, und Österreich war von den vier alliierten Mächten besetzt. Wir lebten in der Russen-Zone. Im Vordergrund des Kommentars stand natürlich immer Österreich in seinem Kampf um die Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Verhandlungen in Moskau, Chruschtschow, Figl, Raab, Kreisky, die Amerikaner, die Sowjets, die Amis und der Ivan. Diese Namen fielen immer wieder. Als 1953 Stalin starb, klang die Spannung ab und Hoffnung kam auf. Ostry wird wieder Österreich.

Warum meine Familie einer Lösung so besonders entgegenfieberte? Oder tat das ohnedies jeder Österreicher und jede Österreicherin in diesen Jahren? Meine Familie lebte im Unteren Mühlviertel, im Grenzgebiet zwischen der sowjetischen und amerikanischen Zone. Onkel Klaus und seine Fuhrleute mussten jeden Montag auf der Enns-Brücke die gefährliche Zonengrenze überqueren – der Nabel des Kalten Krieges –, um aus der Linzer Brauerei Bier heranzuschaffen, das sie dann zu den Wirten im Mühlviertel ausführten.
Diese Menschen lebten in der sowjetischen Zone nahe der Grenze, als sich in der Tschechoslowakei am 23. Februar 1948 der kommunistische Putsch ereignete. Sie lebten in ständiger Angst vor den Kommunisten, so viele Jahre lang schon, warteten auf jeden Hoffnungsschimmer und lechzten nach jedem Wort der Erleichterung. In dieser meiner Erinnerungszeit von 1953 und 1954 konnte Vinzenz Ludwig Ostry wahrscheinlich schon mit einigen positiven Perspektiven aufwarten.

Tante Sofie und ihre Helferinnen haben nach dem Abspann das Abendessen auf den Tisch gestellt, dampfende Schüsseln mit Stosuppe und Erdäpfeln, Kümmel drin und Schnittlauch drauf. Das Zerknacken der Kümmelkörnchen zwischen den Zähnen, die Omama schneidet einen neuen Brotlaib an, davor ein mit dem Messer gezeichnetes Kreuz am unteren Boden, sich selbst bekreuzigen und das allgemeine Dankgebet. Die Männer bekommen ihr Bier, die Spannung flaut ab. Es folgt aus der fernen Ecke das Radio mit der Musiksendung „Schöne Stimmen, feine Weisen“. Schubert. Schöne Müllerin oder Wintereise. Fremd bin ich ausgezogen, fremd komm ich wieder heim. Onkel Klaus war gerade erst aus der russischen Gefangenschaft nach Hause gekommen, er wog 48 Kilogramm. Die Wangen so dünn, dass die Kiefer durchschienen.

War’s der innige Schubert? Irgendwann lodert ein Flämmchen auf. Ein Wort, eine Bemerkung. Onkel Karl gegen Onkel Klaus. Beide Brüder meines Vaters waren an der Ostfront und haben unterschiedlich alle Kriegsjahre durchgemacht. Karl war Nazi geworden, illegaler, schon vor 1938, als Lehrling in der Kaufmannschaft war er eine leichte Beute. Er konnte nach 38 ein arisiertes Kolonialwarengeschäft in Sarmingstein erwerben und zog lustig in den Krieg gegen Kommunisten und Juden. Klaus wurde als 18-Jähriger einberufen, war immer mit der Wehrmacht irgendwo im Osten bis nach Stalingrad, danach fünf Jahre Kriegsgefangener in sowjetischen Lagern. Er hat nie darüber gesprochen, ist aber jedes Jahr zu einem „Kameradentreffen“ nach Deutschland gefahren. Wahrscheinlich eine Art von Therapie, sich untereinander auszusprechen, das Unaussprechliche, das sonst nirgendwo Platz fand. Onkel Klaus war der Lustigste von allen Verwandten, immer zu Späßen und Scherzen bereit, den Kindern hat er alles erlaubt und verziehen. Ich glaube, ich habe ihn mehr geliebt als meinen Vater. Der war ja fast nie zu Hause, und wenn er da war, hatten wir größere Angst vor ihm als vor dem lieben Gott.

„Wo warst du?“
„Wir lagen im Kursker Bogen.“
Stosuppe, Erdäpfel, Kümmel, Schnittlauchbrot und Bier.
„Und warum seid ihr nicht abgerückt nach Süden? Uns entlasten im Kursker Bogen? In den Kaukasus, in den Kuban, auf die Krim?“
„Ich weiß es nicht, wir hatten keine Ahnung von der Gesamtlage. Nur Befehle. Ich war überall.“
„Du Feigling. Du hast nicht an die Sache geglaubt.“

Sie liefen in der langgestreckten Stube auf und ab, in gegensätzlichen Richtungen, und warfen sich russische Ortsnamen an den Kopf: Minsk, Pinsk, Smolensk, Rschewsk, Moskau, Kursk, Sewastopol und immer wieder Stalingrad.
Karl, der Überzeugte, wurde verletzt und kam aus dem Kursker Kessel heraus, Klaus, der jung Verheizte ohne Überzeugung, geriet in die Falle von Stalingrad und erlitt eine lange sowjetische Gefangenschaft. Es gibt ein Foto von Onkel Klaus aus der Zeit der Rückkehr, als er angeblich nur 48 Kilo gewogen haben soll und Monate zur Erholung brauchte. Immer wieder schauderten wir bei den Erzählungen über die halb verhungerten Heimkehrer, die gestorben waren, weil sie gleich Schweinsbraten und Knödel in sich reingestopft haben, anstatt sich mit Grießkoch oder Hafersuppe langsam aufpäppeln zu lassen.

Mein Vater saß auf der Fensterbank, verschanzte sich hinter Stößen von Schularbeitsheften, der Wiener Kirchenzeitung und der Presse. Und schwieg.
„Und du, Franzl, sog a wos.“
Er hatte nichts zu sagen, mein Vater. Er war eine Art von christlichem Wehrdienstverweigerer. Er wurde zwar auch 1940 in die Wehrmacht einberufen, hat sich aber bis 1943 innerhalb der Wehrmacht verstecken können – so das Familien-Narrativ.

Später die Botschaft: Er hat nie einen Schuss abgegeben und nie jemanden getötet. Das war sein größter Stolz, der sich auf uns übertrug. Wir waren reingewaschen und fragten nicht weiter. Damit begnügte ich mich und setzte nie tiefer.
Das heißt, ich fragte nach, aber mit den 68ern mit der Nazi-Keule, wogegen die Eltern wehrlos waren und immer schweigsamer wurden. Wir waren ungerecht und haben uns damit viel verpatzt.
Was hat der Ostry gesagt? Er meint, dass Figl und Kreisky gut verhandeln in Moskau. Helfst God, meine Großmutter, ließ die Stricknadeln fallen und bekreuzigte sich dreimal. Karl und Klaus, die Streithähne von der Ostfront, blieben bei ihren gegenseitigen Vorwürfen.

Omama, aus ihrem Lehnsessel heraus, ermahnte die Brüder:
„Jessamarantana, still bist, Karl!
Die Großmutter schlug ein Kreuz über sich.
„Tuats ned streiten, Buam. Es is vorbei, laung scho, Godseidaunk. Und mia san olle am Lebm bliem.“
Sie legte das Strickzeug mit den Socken in den Schoß, reckte sich auf zum Weihwasserkessel und besprühte alle Anwesenden mit einem Palmzweig.
Ich sehe mich noch immer zu ihren Füßen lagern, bekam einen sanften Nieselregen ab und fühlte mich geborgen: Mir kann im Leben nie etwas passieren.
Ob andere Geschwister und Cousinen so etwas miterlebt haben, wie so einen Samstagabend mit Vinzenz Ludwig Ostry, kann ich auf diesem Tableau nicht erkennen.

Die Kampfhähne Karl und Klaus wollten sich nicht beruhigen.
„Mia san am Lebm bliem, aber die Burner, die ham zwoa Söhne im Feld lossn. Füa die Heimat. Die ham füa die Heimat gekämpft und sind ehrenhaft gefallen.“
Karl ließ nicht locker.
Die Bauernfamilie Schmutz mit dem Hofnamen Burner hat 16 Kinder durchgebracht auf den kargen Böden des Mühlviertels, bis ihnen der Krieg die zwei älteren Söhne raubte. „Jo, die die ham oba 16 ghabt“, wirft Karl ein.
„Du Bua, tua di ned versündigen, wir warn a amol siebm. Deine Zwillingsschwestern Rosina und Fritzi san vor dir gstorbn, und dann no der Josef von der Spanischen Gripp im 18er-Joa. Der Zusammenbruch der Monarchie, die Spanische Grippe, die Inflation, die Brauerei und die Seilerei sind den Bach runtergegangen. Wir ham grad noch das Bräuhaus halten können, den Wald und die Landwirtschaft.“

In der linken Ecke des Schlafzimmers meiner Großmutter stand hinter der Tür ein großer Schranktresor. Dreimal so hoch wie ich damals. Ein schwarzes Monstrum, hässlich, dick, schwarz-grün mit großen, goldenen Lettern. Manchmal sperrte sie ihn auf, und ich sah Bündel von riesigen Geldscheinen liegen, dick wie Hühnerbrüste. Kriegsanleihen von 1914 und 1915. Ich durfte damit spielen, aber sie sagte immer: „Das war einmal ein Vermögen, später hat man einen Teller mit dünner Hühnersuppe und eine Schachtel Zündhölzer dafür bekommen. Vergiss das nie, wie schnell das gehen kann.“

Es brauchte noch mein ganzes halbes Leben, damit ich verstand, wie die Großmutter zu diesem unvermittelten Gedankensprung kam, vom Zweiten Weltkrieg zurück zum Ende der Monarchie, dem Zerfall des Landes, dem Verschwinden des Kaiserhauses und der Hyperinflation. Für sie brachte all das mehr Schrecken als das Verschwinden Österreichs im Deutschen Reich und der Zweite Weltkrieg. Für sie waren der Erste Weltkrieg und seine Folgen das viel größere Trauma, über das nichts hinausgehen konnte. Auch nicht, dass drei ihrer Söhne, ein Schwiegersohn und ein Schwiegerenkel im Krieg waren, einer verschollen, einer drei Jahre in Kriegsgefangenschaft. Ihr Mann war Anfang des Krieges plötzlich verstorben, und sie musste die Familiengeschäfte übernehmen ohne eine männliche Unterstützung.

Ich kann nicht wissen, warum das so war, nur Vermutungen anstellen:
Weil sie nach 1914 noch relativ jung war mit vielen Perspektiven, das Leben vor ihr lag mit allen seinen Möglichkeiten. Sie war eine Schönheit, die Familie war wohlhabend, wuchs und entwickelte sich, der Mann an ihrer Seite, ein erfolgreicher Geschäftsmann und angesehener Lokalpolitiker. Sie waren absolute Kaisertreue, das Haus Habsburg und das Reich gaben dem Leben einen festen Rahmen. Die Weltverhältnisse schienen unverrückbar. Als diese in Trümmern auseinanderfiel, das musste das Trauma gewesen sein, von dem sich meine Großmutter nie wieder erholte und wogegen alle späteren Schrecken verblassten. So wie meiner Großmutter muss es vielen ihrer Generation gegangen sein. Vielleicht erklärt das unter anderem die geringe Widerstandskraft gegen die Hitler-Barbarei. Mein Vater zumindest hat immer behauptet, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, der Nazi-Ideologie zu entgehen: Entweder man war überzeugter Kommunist oder gläubiger Christ.

Teil 1: 28. - 30.5.20

Veronika Seyr
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Apokalypse reloaded III: Angewandte Geographie

Noch einmal der selbe Ort und fast die selbe Personage. Wir spielten einmal wie so oft im Hof Weltreisen, Hedi, Franzi und ich. Dazu gruben wir mit Stöckchen Kanäle, Gänge und Gruben in die Erde, durch die wir dann unsere Murmeln laufen ließen. Sie waren gewunden und die Löcher so tief, wie wir nur graben konnten.
Was war der Wettbewerb? So viele Ziele wie möglich aufzusagen, wohin die Murmeln rollen sollten.

Als Älteste von uns Dreien war ich im Vorteil. Ich denke, ich werde etwa neun gewesen sein, Hedi zwei Jahre jünger, Franzi noch vor der Einschulung.
Es war wahrscheinlich der neunte Geburtstag, als ich ein Buch geschenkt bekommen habe, damals sehr aktuell, Thor Heyerdahls „Aku-Aku“. Später kam „Kontiki“ dazu. Als frühe Vielleserin waren das meine Lieblinge. Später folgten die Reisebeschreibungen von Sven Hedin und Amundsen.
Aber da meine Eltern eine Art von verallgemeinernd-verwirtschaftender Kulturerziehung betrieben, bekamen alle Geschwister einmal ihren Moment: Es wurde von meinem Vater in dramatisierter Art das jeweilige Lieblingsbuch vorgelesen, am großen Familientisch nach dem Abendessen und dem Rosenkranz. Bei den älteren Geschwistern werden es damals die diversen Karl Mays gewesen sein, für die ich mich nicht interessierte. Endlich kam mein Lieblingsbuch Aku-Aku an die Reihe. Mein Vater hatte ein dramatisches Talent, beim Lesen alles zu rhythmisieren und musikalisieren. Er vertonte Kinderbücher genauso wie klassische Balladen. Er versetzte mit Aku-Aku alle in Begeisterung, und von nun an sprachen wir über nichts mehr anderes als über Ozeanien und die Osterinseln. Das hatte gravierende Folgen.

Wie die älteren Geschwister das verarbeitet haben, weiß ich natürlich nicht mehr. Aber unter uns Jüngeren war das lange ein Thema. Wie kommen wir von Tulln, Königstetterstraße 13, nach Ozeanien, Tahiti, Fidschi, auf die Osterinsel, nach Australien, in die Karibik, nach Tasmanien und Japan? Wir berauschten uns an komplizierten Namen wie Kilimandscharo und Fudschijama, Popokatepetl und Taklamakan, Atakama, Kysyl-Kum und Amur-Darja, Samarkand und Buchara, Ratanui,Tschuktschen, Sulawesi und Sambesi. Wir gruben Gänge in den Gartenhof, bauten Gruben, so tief wir konnten und träumten vom Durchstich auf die andere Seite der Erdkugel.

Wir hatten unser Vergnügen daran, Buchstaben oder Wortteile umzustellen und konnten davon nicht genug kriegen: Fudschi-Kili, Kumm-Kiesel-kumm, Lula-Wasi, Bem-Sasi. Bei den Tschuktschen – Tschek-tschucktschuck … wäre Franzi einmal fast erstickt, weil er seine Zunge verschluckte. Mein Lieblingswort war der Popokatepetl, bei Hedi war es Dshallalabad. Uns konnte man nicht Schuld geben für unsere ungewöhnlichen Spiele.
Wie alle Kinder waren wir nur die Papageien der Eltern. Papa mit seinem dramatischen Vortrag von „Walle walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe ...“
Er selbst schien Spaß an Wortverdrehungen zu haben und hat uns zur Nachahmung angeregt. Bei uns ging damals eine Hausschneiderin aus und ein, die kleine Ausbesserungs- und Strickarbeiten übernahm, eine Frau Muck aus Muckendorf-Wipfing, das Dorf nach Langenlebebarn und vor Zeiselmauer. Er konnte sich köstlich darüber amüsieren, wie wir uns ärgerten, wenn er die Anfangsbuchstaben verdrehte zu Frau Wick aus Mickendorf-Wupfing. Nein, Papa, protestierten wir, so heißt sie nicht, sie heißt Frau Muck aus Muckendorf-Wipfing, und immer wieder andersrum. Aha, die Frau Mick aus Wupfendorf-Mipfing. Ein frühzeitiges, kindliches Rappen.

Den Hauptmurmeln, also jenen, die den Anfang machten, gaben wir die Namen unserer Lieblingshelden. Sie waren etwas größer als die „Arbeiter“ und bunter. Die Anführer wurden in die Gänge geschossen, die Mannschaften folgten ihnen nach, so drangen wir immer weiter zum Erdmittelpunkt vor.
Bei mir war es eindeutig Darwin, beim kleinen Franzi einfachheitshalber Thor, Hedi hat sich nie entscheiden können und sich in Amundsen, Colombo und Cook gleichzeitig verliebt. Bevor wir die Murmeln in die Gänge setzten, spuckten wir auf den großen Darwin, Thor und Cook und ließen sie los auf ihre Erkundungsfahrten. Wir besaßen damals als nicht wohlhabende, kinderreiche Familie noch nicht den Luxus eines Globus und daher nur ungefähre Vorstellungen von der Weltkugel. Ich war mit Darwin eher auf den Süden gerichtet, Thor nach Ozeanien, und Cook schiffte dazwischen herum.

In unser Spiel vertieft, bemerkten wir nicht, dass sich unser Vater einmal über uns beugte.
Was spielt ihr denn da?
Wir spielen nicht. Wir entdecken die Welt und erobern sie.
Wo wollt ihr denn hin?
Zum Kilimandscharo und zum Fudschijama. Ich als die Älteste.
Wie kommt ihr denn da hin?
Durch die Erdkugel einfach durch und durch.
Und was ist, wenn ihr dort am anderen Ende rauskommt?
Das wissen wir nicht, wir sind noch nicht so weit. Weißt du es?
Vater war für uns ein Gott und wusste alles.
Also, wenn ihr in Afrika beim Kilimandscharo herauskommt, hängt ihr in den Höhlen und Bäumen kopfüber wie die Fledermäuse. Das sind die Antipoden, die Kopffüßler. Sie gehen am Kopf und das nur rückwärts. Aber passt auf, gejagt und gefuttert wird nur nachts.
Wenn ihr beim Fudschijama herauskommt, müsst ihr abwechselnd auf den Händen und dem Popo gehen. Es gibt dort nur Reis zu essen, manchmal auch Nudeln und Algen.
Wir kannten damals weder Reis noch Nudeln noch Algen, nur Erdäpfel, Grießschmarrn und Sterz. Trotzdem wurden wir groß und stark.

Das Murmelspiel stellten wir bald ein. Dafür übten wir unermüdlich, ohne unsere Kapitäne Darwin, Thor und Cook, in unserem heimischen Garten, vom dicksten Ast des Kirschbaumes kopfüber herunterzuhängen, herunterzufallen, auf den Händen zu gehen und auf dem Hintern im Gras herumzurutschen. Eine kleine Affenhorde. Mir war am wichtigsten, nachts möglichst nicht zu schlafen, um die Jagd nicht zu verpassen.
Als Franzi im nächsten September eingeschult wurde und ihn die Lehrerin fragte, was denn sein Vater so arbeite, antwortete er: Mein Vater ist ein Prophet.
(Er war Mittelschullehrer und wurde als solcher mit Professor angeredet.)
Gut. Und was arbeitet deine Mutter?
Die macht gar nichts, die ist immer nur zu Hause.

12.6. 20

Veronika Seyr
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