Es mag etwa Anfang 1998 gewesen sein – auf jeden Fall war ich noch jung im Amt –, da meldete mir meine Sekretärin, ein gewisser Iwanov möchte die Kulturrätin sprechen. Einen Moment lang dachte ich an einen Scherz der guten Frau Schwaner, weil jeder zweite Russe Iwanov heißt und das etwa so vielsagend ist, wie wenn sich ein Herr Maier oder Huber anmeldet.
Aber es war zu dieser Zeit noch so ungewöhnlich, dass sich ein gewöhnlicher Bürger in eine westliche Botschaft wagte, dass ich ihn herauf in mein Büro bat. Es war ein älteres Männlein von unbedeutendem Aussehen, ein gequälter Sowjetbürger mit schlechten Zähnen und schlechter Kleidung in abgetretenen Schuhen, wie man sie immer und überall sieht. Das einzig Ungewöhnliche an ihm war eine große, lederne Aktentasche von ansehnlichem Alter. Er stellte sich vor als Dmitri Alexandrowitsch Iwanow, pensionierter Postbeamter aus Mogiljow. Das ist doch Weißrussland. Ja, Belarus. Er gab vor, in Moskau bisnis zu tun zu haben und wollte dabei der österreichischen Republik einen Schatz anbieten, der für sie von Interesse sein könnte. Umständlich holte er aus seiner Aktentasche mehrere papki, Papiermappen, hervor und zeigte mir seinen Schatz. Ich blätterte sie durch und sah eine große Anzahl von Schwarz-weiß-Bildern von einer Front, der russischen Westfront von 1917.
Die Fotografien waren feinsäuberlich auf Pappkartons aufgeklebt, untertitelt mit Ortsnamen und Datum: 18. Juli 1917, Soborow, 19. Juli, Kalusch, 22. Juli, Krewo und Smorgon. Einige Postkarten mit Landschaften waren dabei und Konterfeis von damaligen Politikern und Militärs. Die Generäle Brjussilow, Denikin, Koltschak, Samsonow und von Kerenski, das waren die mir bekannten Namen. Sogar Bilder von Großfürst Lwow und anderen Regierungsmitgliedern waren dabei. Die meisten Fotos zeigten aber Stellungen von der Front, Soldaten in Gruppen unter Bäumen, Soldaten in Reih und Glied, die irgendjemandem salutierten. Immer wieder Kerenski umgeben von Militärs, auf Rednertribünen und unter einfachen Soldaten. Einklebte Ordensbändchen und Medaillen. Eindeutig: die russische Armee bei ihrer Sommeroffensive 17 gegen die Mittelmächte, die österreichischen und deutschen Truppen. Der letzte, entscheidende Schlag.
Iwanow erklärte, er habe diese Sammlung von seinem Großvater geerbt, der sei Soldat in der Elften Armee der Südwestfront gewesen. Das bezweifelte ich sofort, denn kein einfacher Frontsoldat hätte solche Fotos machen und ein solches Konvolut anlegen können. Der allergrößte Teil des Fußvolkes waren einfache Bauern, Analphabeten, nach drei Jahren Krieg und vielen Verlusten waren es nur noch schlecht ausgerüstete und unterernährte Rekruten, die man zusammenfing zum letzten Aufgebot.
Kein Frontsoldat könnte eine Kamera gehabt haben und Gelegenheit, solche Fotos zu machen. Einige Bilder zeigten Frontabschnitte und Schützengräben in gebirgigen Gegenden, wahrscheinlich die Südostfront in Rumänien oder flachen Meeresgegenden wie bei Riga. Sie hatten alle eine Art von offiziellem Charakter, waren keine Schnappschüsse, sondern zu Propagandazwecken aufgenommen worden: eine Gruppe von Soldaten, entspannt unter einem Baum lagernd wie nach einem fröhlichen Picknick, in die Kamera lächelnd, Soldaten, die mit lachenden Gesichtern Schützengräben ausheben oder Pferde pflegen wie auf einem Reiterhof. Liebe Grüße von der Front! Keine Bilder von Dreck, Schlamm, Kälte, Hunger, zerfetzten Körpern, vergasten Menschen, verendeten Pferden und verbrannten Dörfern.
Ein Album anlegen, beschriften mit Koordinaten, Ort, Datum, weißer Schrift auf schwarzem Papier.
Unmöglich. Wer war der Fotograf, wer der Sammler? Ich war Feuer und Flamme und furchtbar aufgeregt. Wo waren sie gelagert? Wie hatten sie die letzten 80 Jahre überstanden? Hat dieser Iwanov sie gefunden oder gestohlen? Waren sie schon einmal in einer größeren Sammlung, in einem Museum? Ich hatte damals schon Solschenizyns Kriegsroman „Das Jahr 1918“, Kerenskis selbsterhöhende Memoiren und andere Literatur über den Ersten Weltkrieg gelesen, historische und belletristische, und daher einiges über den erbärmlichen Zustand der russischen Armee.
Joseph Roth, Gregor von Rezzori, wer hat noch geschrieben? Entweder war sein Großvater im Stab des Oberkommandos von Mogiljow gewesen oder mit Kriegsberichterstattung beschäftigt. Unwahrscheinlich. Eher war Herr Iwanow anderweitig an diese historischen Dokumente gekommen. Allein die mögliche Provenienzgeschichte ließ mein Herz höher schlagen und trieb das Blut in die Wangen. Ich hoffte, Iwanov hatte nichts bemerkt und ich habe nicht ausgesehen wie der Pawlow’sche Hund bei der Klingel mit der Wurst, mit saftelnden Speichelfäden an den Lefzen.
Zum Glück war Iwanov viel zu sehr damit beschäftigt, seine Schüchternheit und die Scham über das Verlangen nach dollari zu bekämpfen. Dabei musste ich mich bemühen, mir nichts von meinen Zweifeln an seinem Großvater anmerken zu lassen, fragte nur, warum er meine, dass seine papki – Papiermappen, er sagte immer bumaschki-Papierchen für Österreich interessant sein könnten. Sie zeigen doch auch die avstrizi i nemzi, überall im Hintergrund oder am Horizont sind die feindlichen Stellungen zu sehen. Da ist der Rauch von den feindlichen Kanonen, da über den Bäumen. Ich sehe sie nicht, nur Wolken, Wälder, Hügel, Wiesen, Hütten, Heuschober. Das ist Galizien und Ostpolen, das war damals österreichisch, die Ostfront. Ich war keine Spezialistin für Kriegsfotografie.
Aber aha, in so eine Gegend könnte die Journalistin Alice Schalek in Karl Kraus’ bösartigem Verriss hineingeschaut haben, als er sie das Bumsti! ausrufen ließ und der k. und k. akkreditierten Kriegsberichterstatterin der Neuen Freien Presse damit ein Negativdenkmal setzte. Aber Karl Kraus hätte seine Freude gehabt an Iwanovs Foto-Sammlung. Er bezog die Quellen für sein Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“, nicht nur Originalzitate aus Zeitungen und Armeeberichten ein, sondern war besonders angetan von Fotografien, Postkarten, k. und k. Plakaten und Reportagen. Ich glaube, dass er beim Durchblättern der Iwanow’schen Mappen Spontanfieber bekommen hätte, wenn es so etwas gibt.
Herr Iwanov wollte die Sammlung verkaufen, das war der Zweck seines Besuches in der österreichischen Botschaft. Ich hielt ihn für sehr mutig, er musste in großen Nöten sein. Aber Russland hat doch ein viel größeres Interesse an seinem Schatz? Er soll ihn doch den vaterländischen Archiven, Bibliotheken oder Ministerium anbieten. Oder zumindest einem auf Historie spezialisierten Antiquitätenhändler. Er schnaubte durch die Nase und machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei er in Russland damit schon von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ich konnte das gut nachempfinden, wusste ich doch, in welchem Chaos Russland damals lag. Wirtschaft, Bürokratie, Gesellschaft und Wissenschaft hatten sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion noch nicht erholt. Die zahlen nichts oder nur ein paar zerquetschte Rubel, aber er braucht dollari, valjuti. Aha, ich verstehe. Nichts verstehe ich. Seine Tochter hat in Mogiljow Anglistik studiert, jetzt will sie nach Großbritannien auswandern, wie so viele Junge. Brain drain. Dafür braucht sie Geld, bis sie eine Arbeit findet, gleich welche, nur weg aus Belarus! Er wünscht ihr Erfolg, ist aber unglücklich, dass sie so weit weg von ihm leben wird.
War er schon bei der deutschen Botschaft? Neinnein, dort will er auch nicht hin. Eigenartigerweise empfindet er sie mehr als Feinde als die Österreicher. Der Zweite Weltkrieg wirkt da auch noch nach, wo die Russen die Österreicher kaum als Mittäter wahrnehmen.
Ich nehme mich sehr zusammen, um die Anzeichen meines Interesses zu unterdrücken und vorsichtig auszuloten, ob er mir seine Sammlung überlassen könne. Die Botschaft und ich selbst können nichts kaufen, ich müsste erst an das Außenministerium einberichten, und dieses beim Verteidigungsministerium, Staatsarchiv und Heeresgeschichtlichen Museum das Interesse erkunden, Begründungen schreiben, Herkunftsnachweise einholen, Kopien einsenden, viel Arbeit. Die würden dann über einen Ankauf entscheiden und einen Preis festsetzen. Das kann dauern, wenn überhaupt. Herr Iwanov ist sichtlich enttäuscht, dass er heute nicht mit einem Bündel dollari nach Hause fahren würde, lässt sich aber nach Aushändigung einer Empfangsbestätigung dazu bewegen, seinen Schatz in meiner Obhut zu belassen. Ich nehme seine Daten auf und ersetze ihm die Reisekosten zurück nach Mogiljow. So viel ist mir erlaubt, aus der Handkasse freihändig auszulegen.
198 Rubel, 2. Klasse. Ich war Feuer und Flamme, das waren Fotos zur Hälfte der etwa 220 Szenen der letzten Tage der Menschheit!
Zuletzt fragte ich Herrn Iwanov noch, was er sich als Kaufpreis vorstelle. Vielleicht 500? Mit Fragezeichen und wagte diese ungeheure Summe nur zwischen seine Knie zu seinen Schuhen auf den Boden zu hauchen. Ich fiel fast in Ohnmacht angesichts vor so viel Unwissenheit und Bescheidenheit, murmelte aber nur: Das ist möglich.
Dann begann mein Ritt durch die österreichische Bürokratie. Ich war noch so frisch auf meinem Posten, dass ich nichts ausrichten konnte, ohne die Hilfe meiner Sekretärin, Frau Schwaner, die fast ihr ganzes 35-jähriges Berufsleben in allen Weltteilen für das Außenministerium gedient hatte. Sie lachte sich noch immer krumm und bucklig, dass ich den Unterschied zwischen Akt und Akten nicht kannte, das Amtsdeutsch nicht beherrschte und meine Berichte ans Amt wie literarische Kleinode ausstattete. „Fürn Akt gehn S’ ins Schlafzimmer oder ins Theater, für die Akten bin ich zuständig.“ Die talmudischen Geheimnisse der Aktenzahlen habe ich bis zuletzt nicht begriffen.
Dafür hatte ich einen Riecher für historische Schätze, eine feine Nase wie eine südamerikanische Schnüffelmaus. Mit ihrem Erfahrungsreichtum warnte sie mich von Anfang an: „Do kummt nix aussi, Frau Seyr. Lossn S’ des, nix wie leere Kilometer. I kenn des Amt, des können S’ ma glauben.“ Ich glaubte ihr wie immer, war aber in meiner Schatzjägerei nicht zu bremsen. Und natürlich unternahm sie alles, um aus der Akte (nicht dem Akt!) „Mogiljow“ einen Erfolg zu machen. Der Herkunftsnachweis würde das Schwierigste sein, das Unmögliche. Auch davor warnte mich Frau Schwaner. Ihnen schwant immer etwas. „Ja, ich kenn’ meine Pappenheimer im Amt.“
Bericht ans das Amt mit Fotokopien mit Bitte um Behandlung und Weiterleitung an alle möglichen interessierten Stellen. Schweigen im Walde, lange Zeit, nur die Bestätigung des Posteingangs. Währenddessen saß ich mit der Lupe über den Fotos im Büro, stundenlang abends und nachts nach den Dienststunden. Sie nach Hause zu nehmen, habe ich nie gewagt, immer im Tresor verschlossen. Daneben nahm ich mir die gesamte mir zugängliche Literatur zum Ersten Weltkrieg wieder vor, besonders das Schicksalsjahr 1917. Ich ging sogar in die Lenin-Bibliothek und hob sowjetische Werke aus, ins Kriegsarchiv, das damals für eine kurze Zeitperiode allgemein zugänglich war. Ich schrieb außertourlich das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsforschung an und einen Studienkollegen vom Institut für Osteuropäische Geschichte, damals längst Professor. Die beiden letzteren waren ebenso begeistert wie ich, mussten aber ebenfalls den Dienstweg einhalten.
Zar Nikolaus II. verlegte 1915 das Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der Armee nach Mogiljow. Ab da gab er sich als großer Feldherr, der Zar, der schon in Friedenszeiten seine kaiserlichen Pflichten kaum gemeistert, die Amtsgeschäfte gehasst, die Zeit am liebsten mit seiner Familie verbracht, und wenn er getrennt war, ununterbrochen Briefe an seine Frau geschrieben hat.
Er konnte kaum eine Seite zusammenhängend lesen und tat sich schwer beim Schreiben. Nikolaus hörte mehr auf den selbsternannten Popen und Wunderheiler Rasputin als auf seine Generäle und führte seine Armee auf dem geradesten Weg in den Untergang. Ich kam zu dem Schluss, dass die Fotosammlung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 zusammengestellt wurde, weil der Zar nirgendwo auftaucht, dafür aber viele Fotokarten vom eitlen Kerenski, der als Kriegsminister der Provisorischen Regierung und später als ihr Ministerpräsident wie in einer Raserei die Fronten abfuhr und sich immer wieder im Hauptquartier von Mogiljow aufhielt und geschönte Fotografien als Andenken für die analphabetischen Frontsoldaten herstellen ließ.
Er war ein guter Agitator, vor allem in den kritischen Monaten März, April und Mai 17, als sich die Armee nach vielen Meutereien und deutscher Feindpropaganda, Verbrüderungen, massenhaften Desertionen und kommunistischer Agitation im Prozess des Zerfalls befand. Das war weder dem Feind noch den Verbündeten der Entente entgangen. Die Deutschen verstärkten ihre Bemühungen um einen Separatfrieden, Frankreich und England drängten die Russen zu einer Frühjahrsoffensive, die die entscheidende Wende bringen sollte. 1917, das letzte Kriegsjahr. Es musste unter allen Umständen verhindert werden, dass durch die Einstellung der Kampfhandlungen an der Ostfront das Deutsche Reich in der Lage wäre, seine Truppen nach Westen zu werfen. Die oberste Armeeführung selbst war gespalten zwischen Bündnistreue gegenüber der Entente und den Friedensverlockungen der Deutschen.
Genau zu dieser Zeit gelang den Deutschen ihr Supercoup: Lenin aus dem Schweizer Exil im plombierten Zug nach Russland zu schleusen. So haben sie im Oktober die bolschewistische Revolution möglich gemacht. Den Separatfrieden gab es doch, im Dezember, als Lenin in Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich Frieden schloss. Drei weitere Jahre sollte es dauern und einen Bürgerkrieg lang, bis alle ausländischen Truppen aus dem Land vertrieben waren.
Ich dachte bei mir, wenn sich die neureichen Russen weniger um den weltweiten Erwerb von Fabergé-Eiern, Gemälden oder der Kronjuwelen gekümmert hätten, als diesen Schatz zu heben …
Aber dies was none of my business. Herr Iwanov hatte ihn nun einmal der Republik Österreich angeboten. Er vertraute den ehemaligen Feinden mehr als seinem Land. Ein Sittenbild. Oder weil wir für den Verkäufer die Kleinsten und Harmlosesten waren.
Letztendlich verlief sich der Verkauf innerhalb der österreichischen Bürokratie. Ich konnte nie herausfinden, woran es hakte, ich bekam von der Zentrale nie eine klare Antwort – außer einem definitiven Nein zum Ankauf. Meine Vermutung ging in die Richtung, dass sich Staatsarchiv und Heeresgeschichtliches Museum nicht einigen konnten. Am Kaufpreis von 500$, wie von Iwanov gewünscht, kann es nicht gelegen sein.
Das dicke Ende für mich kam erst noch. Wie dem Herrn Iwanov sein Eigentum zurückstellen? Wie ihm die negative Antwort beibringen? Seine Tochter brauchte doch das Geld! England, GB, die neue Zukunft!
Post kam nicht in Frage, Moskau – Mogiljow, in Belarus zu dieser Zeit? Es gab noch nie eine Zeit, in der das sicher gewesen wäre. Nicht einmal die deutsche Wehrmacht hat das im 41er Jahr zustande gebracht, ganz zu schweigen von Napoleon, hin und zurück. Mich juckte es, ihm seinen Schatz selbst zurückzubringen, konnte aber nicht einfach losfahren. Also wartete ich die Lesereise einer etwas ängstlichen und kapriziösen österreichischen Schriftstellerin nach Weißrussland ab, auf der ich sie begleiten sollte.
Ich verpacke seine Fotosammlung und rufe ihn von Minsk aus an. Die Telefonnummer, die er mir aufgeschrieben hat, ist aber nicht seine eigene, sondern die einer Nachbarin. Iwanov ist nicht zu Hause, sie wird ihn rufen. Leitung tot. Noch einmal versuchen. Nachbarin hebt ab und ruft Iwanov zum Apparat. Kann er morgen nach Minsk kommen? Kann er nicht. Er hat eine alte, kranke Mutter. Ich gebe die Schriftstellerin in die Obhut einer Mitarbeiterin der Österreich-Bibliothek, suche mir einen Fahrer und düse in seinem alten Moskwitsch nach Mogiljow. 200 Kilometer durch die weißrussischen Pampas, in einer Dezembernacht, eine meiner schwersten Reisen. Nicht wegen der Straßen oder des Schneegestöbers, sondern wegen meines Gewissenskonflikts. Die Baumwände links und rechts der „Minsker Schossee“ fliegen so schnell vorbei wie meine Gedanken durchs Hirn. Mission impossible.
Soll ich oder soll ich nicht? Nur eines ist gewiss – ich darf nicht, ich darf nicht, etwas selbst ankaufen, was der Botschaft, der Republik, angeboten wurde. Beamtin gegen Historikerin gegen Jägerin des verlorenen Schatzes. Dollari für die Tochter, gar eine Wohltäterin? Blödsinn, hin oder her, immer nur gerade bleiben. Krumme Sachen gehen sich nie aus, dafür bin ich nicht gemacht. Mein privates Interesse, für Österreich retten – Abwägung. Blödsinn. Und wenn das für immer verloren geht? Geht mich nichts an. Kann nichts dafür. Andererseits, 500$ sind kein Problem für mich, ich kann ihm auch 1000 geben, für seine Katja, für den Neustart in GB, weit weg von ihm.
Es ist bitter kalt und zugig im Moskwitsch, und Dima raucht eine grässliche Machorka nach der anderen bei hämmerndem Folk-Pop. Kaum möglich, einen klaren Kopf zu bewahren. Meine Gedanken schwanken hin und her im Rhythmus von schlechten Straßen mit Moskwitsch. Dabei ist mir immer im Bewusstsein, dass Dima mich durch die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) chauffiert, die Landschaften zwischen Belarus und Ukraine, die in den Weltkriegen am meisten gelitten haben. In Weißrussland kann niemand einen Schritt gehen, ohne über aus dem Boden ragende Knochen zu stolpern. Ein Viertel der belarussischen Bevölkerung liegt da drunten. Dima findet die Vorstadtstraße und das Haus von Iwanov. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass in London seit 1918 die „Weißrussische Exilregierung“ ihren Sitz hat, die älteste überhaupt, die die Interessen des ersten unabhängigen Belarus vertritt. Katja hätte vielleicht …? Aber vielleicht hat sie ja …?
Es war schrecklich. Ich mach es kurz. Ich gebe Iwanov seine papki mit Bedauern zurück, entschuldige mich nicht für mein Land und drücke ihm ein Kuvert mit 300 dollari aus meiner Privatkasse in die Hand. Das ist damals in Belarus sehr viel Geld, zehnmal so viel wie seine Pension, habe ich schnell überschlagen. Vielleicht geht sich ein Ticket nach London aus. Das Gewissen freigekauft. Er nimmt sie und bedankt sich überschwänglich. Wir drücken einander die vier Hände, immer und immer wieder, und umarmen uns zum Schluss mit drei Küssen auf die Wangen. Der Schnee knirscht unter unseren Stiefeln vor seinem kleinen Holzhaus, genau so schief, wie die fliegenden Häuschen von Marc Chagall. In so einem Stedtl ist er aufgewachsen, in Vitebsk, nicht weit von Mogiljow.
Ich bedanke mich ebenso überschwänglich bei ihm, ehrlich, echt, herzlich, immerhin hat er mir etwas gezeigt, was vielleicht nie wieder jemand zu sehen bekommt. Er stellt keine Fragen und erspart mir die Schande, das Versagen des Amtes eingestehen zu müssen.
Für die österreichische Schriftstellerin auf Lesereise in Minsk stand ich am nächsten Tag wieder bereit, wenn auch unausgeschlafen und etwas derangiert. Na, Veronika, zu viel gefeiert?, bemerkt sie mit spöttischem Blick auf meine schwarzen Augenringe. Jaja, gefeiert. Was ich gefeiert habe, davon hat diese Frau keine Ahnung, und ich führe sie mit leichtem Gewissen durch die Stadt.
22.1. - 25.1. 2022
Veronika Seyr
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