Schlagwort-Archiv: drah di ned um …

image_print

Lebe wohl, Lakritz - Teil III

Es war ein langweiliger Abend. Ich stand mit geschlossenen Augen am geöffneten Fenster und atmete den frischen Duft des gemähten Rasens ein, der von Gretas Hintergarten kam. Der Duft brachte mir gesichtslose Erinnerungen. Auf einmal bekam ich Angst. Man vergisst so viel, dabei besteht das Leben zum größten Teil aus Erinnerungen. Der Mensch ist seine Erinnerungen, und wenn mich jemand fragen würde, wie alt ich bin, dann würde ich antworten: „So alt, wie viele von mir gelebte Sekunden ich noch in mir trage, denn mein Leben ist so lang, wie die Zeit, an die ich mich erinnere.“

Plötzlich hörte ich Lärm aus dem Hof und machte die Augen auf. Greta ging mit ihren mutmaßlichen Mitschülern zur Laube. Zwischen denen war ein rotznäsiger Junge, den sie offensichtlich mochte, doch der wusste sie gar nicht zu schätzen. Wahrscheinlich würde er ihr erster sein. Es ist immer so, immer! Jedes Mal, wenn ich mir eine hübsche Frau in den Pfoten eines Ungeheuers vorstellte, erwürgte mich jemand mit seinen unsichtbaren Händen.

Ich ging sofort in mein Zimmer und machte die Augen zu, verschränkte meine Hände hinter dem Kopf und bildete mir Folgendes ein: Ich sitze in einem sonnenartigen Ballon, der von meiner Energie wächst und dann explodiert. Die Explosion zerstört alles um mich herum, und ich stampfe durch die Asche meiner Einsamkeit.
„Exupery hat vor seinem letzten Flug gesagt, dass falls er abstürzen würde, er nichts bereuen würde“, sagte Lakritz.
Ich machte mir Sorgen, weil ich neue Emotion in seinen Augen sah. Er war ein unglücklicher Mensch geworden. „Mensch muss rechtzeitig und schön sterben“, fügte er hinzu.

Nach dem Film hielten wir vor dem Kino an. Er lächelte mich zum letzten Mal an und ging weg. Ich lief ihm nicht mehr nach, weil ich seine Entscheidung respektierte. Ich werde seine echte Geschichte nie rausfinden. Er wird für mich immer Lakritz bleiben.

Ich fiel aufs Bett und dachte: „Lakritz ist weg. Seine Rolle ist zu Ende. Er hat sie in seine Hand genommen. Er ist ein Regisseur geworden und hat seinen Film beendet. Was mich angeht, führe ich mein Leben weiter, ohne zu wissen wofür, übrigens wie die meisten Menschen auf dieser Welt.“

Stellen Sie sich vor, wie sehr ich mich wunderte, als ich ihn am nächsten Abend sah. Zuerst dachte ich, dass ich halluziniere, aber als er vor mir anhielt, roch ich seinen Duft, und ich war überzeugt, dass er es wirklich war.
Er las meine Gedanken.
„Es existiert nur das, was du anfassen kannst. Was du siehst, sind nur Bilder in deinem Kopf.“
Ich fasste seine Schulter an und spürte seine Atome.
„Ich war mir sicher, dass du nicht mehr kommst.“ Und ich fing an zu lachen, weil ich mich an meine dramatischen Gedanken erinnert hatte.
„Nein“,sagte er lächelnd, „Du dachtest nur, dass du dir sicher bist. Wärest du es, wäre ich jetzt nicht hier.“

Neben uns ging ein junges Mädchen vorbei, und es schaute mich aus irgendwelchem Grund schräg an.
„Erinnerst du dich an die Szene in „Arizona Dream“ in der Gallo von einem Flugzeug verfolgt wird und er schreit, dass er in einem Film ist?“
Ich nickte und wusste, was er jetzt sagen würde.
„Das Leben ist ein Film, und du entscheidest, wie es ausgeht. Hab keine Angst zu improvisieren! Mach alles, was immer du willst.“

Sein letzter Satz blieb in meinem Kopf zu stecken. Er klang wie ein Mantra: MACH ALLES, WAS IMMER DU WILLST!!!

Gewöhnlich tat ich nie, was ich wirklich wollte. Das heißt, dass ich mein Schicksal nicht im Griff hatte. Deswegen war ich so unglücklich. Um glücklich zu werden, ist es genug, die Ketten der Angst und Rücksicht zu zerreißen. In diesem Augenblick hatte ich eine geniale Idee, so glaubte ich wenigstens. Ich verstand, dass alles erreichbar ist. Ich musste nur den Arm ausstrecken. Bisher war ich stets mit gebeugten Armen gelaufen und jammerte nur, dass alles außer meiner Reichweite war.
Lakritz lächelte mich an. Er wusste bestimmt, was ich vor hatte, und ich wusste, dass er mir dabei unbedingt helfen würde.
Ich wusste bereits, dass Greta zum Fitnessstudio durch den Park ging und erst in der Dämmerung zurückkam, wenn fast niemand mehr in dem Park war.

Eines Tages parkten ich und Lakritz mit dem von ihm besorgten Lieferwagen vor dem Eingang. Greta ging in den Park rein. Wir folgten ihr unauffällig und blieben im Park. Lakritz setzte sich in meiner Nähe auf eine Parkbank. Währenddessen fütterte ich die Enten. Als sie das Brot in meiner Hand sahen, fingen sie an zu schnattern und schwammen gemeinsam zu mir. Ihre Füße waren nicht zu sehen, und man hätte den Eindruck bekommen können, dass sie mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche glitten. Dem „Großen Fressen“ schlossen sich verschiedene Fische an und bissen ab und zu die Enten, die ihrerseits mit einem Klageruf wegschwammen, aber der Hunger war stärker, und sie kehrten immer wieder zurück.

Ich dachte, wir würden lange warten müssen, aber die Zeit verging sehr schnell. Lakritz pfiff nach mir, und als ich Greta in meine Richtung kommen sah, versteckte ich mich im Gebüsch, aber ich erinnerte mich sofort, dass ich derjenige war, der sie aufhalten musste, also kroch ich raus. Sie bemerkte mich bald und wurde ein wenig nervös. Ich lächelte sie an, und sie erwiderte es.
Sie hielt vor mir an und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich kapierte, dass mein Plan alles ruinieren würde, weil sie offenbar ohnehin Interesse an mir hatte, aber es war leider schon zu spät. Lakritz schlich sich von hinten an sie und drückte ein mit Chloroform getränktes Tuch an ihr Gesicht.
Das Letzte, was ich in Gretas Augen sah, war Angst. Mir wurde schwindelig.
Wir brachten sie unbemerkt zum Lieferwagen. Wir hatten Glück, oder auch nicht.

Während wir aus der Stadt fuhren, bekam ich eine Panikattacke, aber sagte Lakritz nichts. Trotzdem bemerkte er es und lenkte mich ab.
„Welcher Film?“
Ich musste nachdenken, dann fiel mir eine Verfilmung ein, aber das Buch, wie es meistens ist, war viel besser.
„Der Sammler“, sagte ich.

Das ohnmächtige Mädchen fesselten wir in der Jägerhütte mit Lederriemen ans Bett. Die Taschenlampe beleuchtete diese Holzkonstruktion teilweise, und sie sah ziemlich mystisch aus. Draußen knisterten die Äste im Wind und raschelten die Blätter. Während ich der Symphonie des Nachtwaldes zuhörte, witterte ich den aufregenden Duft von Greta.
Ich saß auf dem Fußboden in der Ecke und beobachtete Lakritz, der seinerseits ziemlich lange Greta beobachtete und mir danach sein bekanntes Lächeln schickte.
„Und jetzt welcher?“
Ich hatte auf diese Spielchen keine Lust mehr, aber trotzdem antwortete ihm.
„Tanz der Teufel.“
Er war mit mir sehr zufrieden.
„Du hast einen guten Geschmack, sie ist entzückend.“
Es gefiel mir nicht, wie er über sie sprach, als ob er sie vernascht hätte.
„Es ist Zeit, die Praline zu enthüllen“, sagte er und zog Gretas Schuhe aus. Sie hatte kleine Welpen an ihren Söckchen. Sie war wirklich noch ein Kind!
Er zog ihr T-Shirt und auch die Leggings aus. Jetzt lag sie bloß in ihrer schwarzen Unterwäsche.
Mein Herzklopfen beschleunigte sich.

Er holte aus der Tasche eine Schere und beugte sich über sie. Mein Mund wurde ganz trocken. Er schnitt ihren BH in der Mitte durch und legte mit der Scherenspitze kleine, straffe Brüste frei. Greta stöhnte leise, verstört, und bewegte sich.
Er sah mich noch einmal an und setzte dazu an, ihren Slip an der Seite aufzuschneiden.
Ich stand so schnell auf, als ob der Boden mir einen Arschtritt verpasst hätte, rannte zu ihm und schleuderte ihn gegen die Wand.
Lakritz schaute mich enttäuscht an und versuchte etwas zu sagen, aber schaffte es nicht. Plötzlich realisierte ich, dass die Schere tief in seiner Brust steckte. Ich machte einen Schritt rückwärts und er sank zu Boden. Greta fing an, zu sich zu kommen. Ich befreite sie sofort und setzte mich wieder in die Ecke, dabei hielt ich die ganze Zeit mein Auge auf Lakritz, der abwechselnd mich und sie ansah. Sie setzte sich langsam auf und bedeckte ihre Brust.

„Zieh dich an, nimm die Taschenlampe und folge dem Weg nach unten“, sagte ich zu ihr.
Sie stand mit großer Mühe auf, stolperte einmal und rannte, wie sie nur konnte, los. Ihre Schritte wurden vom Lärm des Waldes verschlungen.
Ich blieb in der Dunkelheit und wartete, bis es heller wurde, dann versuchte ich vergeblich, Lakritzes erstarrte Augen zuzumachen. Ich nahm seine letzte Lakritzstange und steckte sie mir in den Mund, dann schaute ich zu dem BH, der auf dem Bett lag, und ging zu meinem bekannten Felsbrocken, aber die Kastanie war weg.

Später musste ich einige Tests machen, und der Staat hat mich in einer Irrenanstalt eingelocht. Die Ärzte behaupten, dass Lakritz nicht existiert, sie sind völlig verrückt!
Wie Lakritz sagte: „Manches ist echt, aber manches auch nicht.“ Demzufolge denke ich, dass diese hochgeehrten Ärzte nicht real sind.
Ich kann meiner Lage viele Filme zuordnen, aber ich werde es nicht tun!
Jetzt weiß ich, dass ich einen großen Fehler begangen habe. Man darf nicht einfach alles tun, was man will. Ich hätte auf Gretas Mutter hören sollen. Ich sollte warten, ich sollte ...

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18150

 

Lebe wohl, Lakritz - Teil II

Bevor ich nach Hause ging, brachte ich Greta anonym eine Rose. Das Bild vom Sonnenuntergang faszinierte mich wieder. Es erinnerte mich an etwas, aber am Anfang konnte ich nicht verstehen, an was genau. Erst als ich schon zu Hause war, erinnerte ich mich an einen konkreten Sommer, als mein Vater noch lebte. Ich war damals ziemlich klein, und wir waren alle zusammen im Urlaub am Meer, wo es sehr frisch war. Danach verließ mein Vater meine Mutter und wanderte in die USA aus, wo er als Säufer an Leberzirrhose starb.
Ich stellte mir oft vor, wie er sich zu Tode soff, wie Nicholas Cage in „Leaving Las Vegas“.
Jetzt stand ich vor dem Spiegel in meinem öden Zimmer, wo ich Lakritz nachzumachen versuchte, aber ich schaffte weder seine Gesichtsausdrücke noch seine Stimme. Er war wirklich unnachahmlich. Genau so, wie wir alle es sein sollten.

Am nächsten Tag gingen ich, meine Mutter, ihr Freund und unsere Nachbarn – eine ukrainische Mutter und ihre Tochter – in den Wald zum Picknick. Das Mädel war ein Jahr älter als ich, aber unsere Beziehung war absolut platonisch, sie war meiner Meinung nach frigide. Ihre Mutter hatte die Marschroute schon festgelegt, und als ich den Waldplan rausholte und einen besseren Pfad zeigte, brachte sie das sehr auf.
Wir liefen circa einen halben Kilometer gemeinsam, und sie jammerte die ganze Zeit über das Wetter, Politik, die steigenden Preise von Lebensmitteln und die Steine auf dem Weg, dem wir folgten.

„Beruhige dich, lass uns doch den Spaziergang genießen“, sagte meine Mutter zu ihr.
Das machte die ukrainische Mutter noch wütender. Sie drehte sich rasch um und ging zurück. Wir hielten an und schauten ihr nach, dann fragte meine Mutter:
„Hab ich was Falsches gesagt? Ich wollte sie bloß beruhigen.“
„Wenn mit einem etwas falsch ist, kannst du dafür nichts tun“, sagte ihre Tochter und lief einfach weiter. „Kommt und denkt nicht daran!“

Ich und der Freund meiner Mutter liefen ein wenig voraus, und die Frauen folgten uns. Das Mädel erzählte meiner Mutter etwas. Ich beschleunigte meine Schritte, aber meine Mutter rief sofort.
„Renn nicht so!“
Ich verlangsamte mein Tempo und hörte die Geschichte zwangsläufig mit. Das Mädel erzählte Folgendes.
„Mein Vater starb furchtbar. Er joggte gern im Morgengrauen. Eines Tages ist er nicht zurück gekommen. Wir haben eine Woche lang nach ihm gesucht, die Polizei hat ihn bewusstlos im Wald gefunden. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als er zu sich kam, hat er erzählt, dass er von einem Auto angefahren worden war, und als der Fahrer gesehen hatte, wie schrecklich seine Beine verletzt waren, hatte er ihn ins Auto gesetzt, an einen abgelegenen Ort gefahren und ihn dort ausgesetzt. Der Vater behauptete, sich weder an den Fahrer noch an den Wagen erinnern zu können. Er starb innerhalb weniger Tage an Sepsis.

Ich stellte mir vor, wie grausam es sein musste, so zu sterben. Bestimmt fühlt sich eine Minute wie eine Stunde an. Niemand darf sagen, dass er sowas verdient hat. Das Leben kann manchmal, was Bestrafung oder Belohnung angeht, sehr ungerecht sein.
Unterwegs fiel mir eine Jägerhütte auf.
Wir picknickten zwischen großen Bäumen, deren Flachwurzeln sich sichtbar ausgebreitet hatten und mich an den „Kopflosen Reiter“ erinnerten. Ein in die feuchte Erde gesteckter Kopf zwinkerte mir zu.

Lakritz würde zu diesem Ort gut passen.

Gesättigt legte ich mich hin, schaute mir die höheren Baumspitzen an. Dann flog ich ganz langsam und dynamisch dahin. Als ich oben angelangt war, drehte ich mich um und fing an, zu mir zu schweben. Es war merkwürdig, sich so zu betrachten. Plötzlich verstand ich, dass ich jemand anderer sein könnte, weil mich nichts Unentbehrliches mit mir, meinem Leben oder den Menschen, die um mich herum saßen und über sinnlose Themen sprachen, verband. Deswegen suchte ich einen Grund, um zurückzukehren. Genauso könnte ich woandershin fliehen, etwas Interessanteres finden und es beobachten, versteckt wie ein Gott. Es würde mir unendliche Freiheit verleihen. Ich würde keinen Schmerz oder kein Verlangen spüren, sondern das Leiden und die Freude anderer Menschen sehen, Freude die ich von ihren Gesichtern ablesen und stehlen könnte.

Meine Mutter weckte mich auf und bat mich ein Foto zu machen. Sie und ihr Freund stellten eine Szene nach, in der er ein Maniac war, der mit offenen Armen meine Mutter verfolgte, die schreiend vergeblich zu entkommen versuchte.

Fast hätte ich es vergessen. Im Wald hatte ich eine Kastanie gefunden, die ich die ganze Zeit mit mir herumtrug. Bevor wir den Wald verließen, hatte ich sie auf einen Felsbrocken gelegt und mir gewünscht, dass wenn sie bei meinem nächsten Besuch immer noch hier liegen würde, alle meine Träume wahr werden würden.

Am Abend hatten ich und Lakritz vor, uns den neuen, verrückten Film von Leos Carax anzusehen.
„Alles was man tut, wird als Information im Weltall gespeichert und wenn es notwendig wird, gefunden.“ Sagte Lakritz unerwartet nach langem Schweigen und ich erinnerte mich an den gestrigen Abend, als ich er zu sein versuchte. Wie peinlich vor dem Schöpfer.
Der Hauptdarsteller schlüpft während des Tages in verschiedene Rollen, deswegen musste ich an die Menschen denken, die ein vielfältiges Leben zu führen versuchen, weil sie wissen, dass sie eines Tages sterben. Sie wollen ihr einziges Leben irgendwie fröhlicher machen. Alles was wir machen, machen wir aus Angst vor dem Tod; nur dann fühlen wir uns lebendig.
„Da steckt eine gewisse Panik drin,“ sagte Lakritz nachdenklich. „Immer mehr haben, wobei man nichts wirklich besitzt, immer überall sein, wobei man nirgendwo richtig ist.“

Als ich nach Hause kam, rief ich Greta an. Bei den ersten zwei Versuchen sagte mir eine künstliche Frauenstimme, dass diese Nummer nicht vergeben sei, aber ich versuchte es nochmal, tatsächlich hörte ich den Ton. Ich war sehr nervös. Ich fühlte mich wie ein verliebter Teenager. Ihre Mutter nahm den Hörer ab und sagte, dass Greta im Badezimmer sei, aber ich könne in fünf Minuten wieder anrufen. Ich tat es so. Mir antwortete wieder die Mutter, aber diesmal rief sie Greta zum Telefon.
„Hallo“, hörte ich eine tiefe Stimme.
Meine Stimme blieb weg, ziemlich verspätet sprach ich, wie ein schlechter Schauspieler, unplausibel und anspruchsvoll.
„Endlich reden wir“, sagte ich, mit mir unzufrieden eine Grimasse schneidend.
„Was?“, fragte sie und fing an hysterisch zu lachen.
Ihre Mutter mischte sich ins Gespräch ein und fragte mich, wer ich sei. Ich erklärte es ihr.
„Bringst du die Rosen?“
„Ja“,antwortete ich eingeschüchtert.
„Es wäre besser gewesen, sich von Anfang an vorzustellen. Sie hatte all diese Tage Angst, dass sie von einem Stalker verfolgt wird.“
„Nein, nein, ich bin auf keinen Fall ein Stalker“,  rechtfertigte ich mich so, als ob ich tatsächlich einer wäre.

„Wie alt bist du?“,  im Hintergrund hörte ich immer noch Gretas Lachen und ihre Mutter tat es eine Sekunde lang auch, aber sie riss sich sofort zusammen.
„Ich bin dreiundzwanzig.“
„Und sie ist erst vierzehn!“
„Ihr Alter wusste ich nicht, ich wusste nicht wie alt sie ist“, stammelte ich.
„Warte, bis sie erwachsen ist, mehr kann ich dir nicht sagen.“ Sie empfand offenbar Mitleid mit mir.
Ich entschuldigte mich bei ihr für die Störung und legte auf.

Ich hatte gedacht, dass ich Greta Freude machen würde, und sie hatte dabei um ihr Leben gefürchtet. Wenn sie nach Hause kam, bedankte sie sich wahrscheinlich jedes Mal bei Gott, dass sie immer noch lebte. So kann ein und dieselbe Handlung bei Menschen verschiedene Gefühle auslösen. Ich vermutete, dass sie zu jung war, aber ich belog mich selbst.
Ich hatte ihr Lachen noch immer im Ohr, als ob das Universum über meine Naivität lachte.

Im Fernseher lief „Verschollen“ und als Tom Hanks Wilson verlor, weinte ich mit ihm.

In der Nacht hatte ich einen Alptraum. Greta stand vor mir, und sagte etwas, aber als ich aufwachte, vergaß ich alle ihre Worte. Das Einzige, was ich aus dem Traum mitbrachte, war ihr Gesicht. Sie hatte in ihrem linken Auge zwei Pupillen. Mit einer schaute sie mich an und mit der zweiten jemanden anderen, den ich nicht sah.

Ich stand ohne jegliche Lust auf und wischte den Staub in der Wohnung. Meine Mutter machte Fitness im Wohnzimmer und bat mich, ihr ein Glas Wasser zu bringen, aber ich machte mein Ding ohne Eile weiter, und war in meinen Gedanken, so tief, dass ich ihre Bitte vergaß.
„Worum muss man dich bitten, damit du es machst? Du Hurensohn!“, schrie meine Mutter. „Damit meine ich deinen Vater“, fügte sie wesentlich leiser hinzu.
Seit dem Vortag frustriert, erwiderte ich grob:
„Ich bin nicht dein Hund!“ Sie drehte durch und schmiss die Hantel mit aller Wucht auf den Boden. Ich ging in mein Zimmer, wo ich mich mehrere Male ins Gesicht schlug.

Auf einmal fiel mir auf, dass das Fenster, das zum Hintergarten von Gretas Haus schaute, offen sein könnte, und sie alles mitgekriegt haben könnte! Aber ich blieb in meiner Hölle, weil es schon zu spät war.
„Was ist mit deinem Auge passiert? “, las ich die Frage im Lakritzes Blick.
„Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten.“
„Wie traurig.“
Wir schwiegen, dann fing er an zu erzählen.
„Ein Fischer hat einen Hai vom Netz befreit, seitdem ist der Hai seinem Boot die ganze Zeit gefolgt, weil er dachte, dass er den Fischer damit beschützte, aber der Fischer konnte keine Fische mehr fangen.“
Ich war ahnungslos, wieso er mir das erzählt hatte.

Da ich nichts über Lakritz wusste, fing ich an zu fantasieren. Die folgenden Geschichten fielen mir ein:

Lakritz ist gerade fünf und verbringt seinen Sommer mit seiner Familie in den Bergen. Abends wird es kühler, und weil in der Nähe ein See liegt, gibt es viele Mücken, die seine Tante überall stechen, weil sie Diabetes und dementsprechend „süßes“ Blut hat. Sie sitzt auf dem Bett mit nackten, zerstochenen Brüsten und ruft den kleinen Lakritz zu sich. Er ist verwirrt, er hat Angst das Zimmer zu betreten, aber sie lockt ihn. Er geht mit kleinen, schwachen Schritten zu ihr. Er ist vor Angst erschöpft. Sie nimmt eine Watte, durchtränkt sie mit dem Spiritus und überreicht sie ihm. Im Zimmer riecht es sehr stark nach Spiritus und er kann an diesem, ohnehin stickigen Abend kaum noch atmen. Irgendwo bellt ein bissiger Hund. Bissig, weil er schon öfter mal an den Zauntüren gelesen hat, dass drinnen ein solcher Hund ist, und er glaubt, dass alle Hunde so sind. Die Motten kreisen um die erhitzte Glühlampe und fallen verbrannt auf den Fußboden. Dort liegen bereits einige. Er denkt, dass es nie enden wird.
„Nimm es“, sagt seine Tante.
Lakritz nimmt die Watte und bekommt ein unangenehmes Gefühl an den Fingerspitzen. Er weiß, wie schrecklich es ist, die Watte im Mund zu haben. Er ist schon beim Zahnarzt gewesen. Seine zarte Haut fängt an, vom Spiritus zu brennen. Anscheinend hat er sich seine Finger beim Spielen im Gras zerschnitten.
Tantes Brüste scheinen ihm riesig zu sein, besonders jetzt, da er so nah steht, und er versteht immer noch nicht, was sie von ihm will.
„Reib es ein“, sagt die Tante von oben herab, und er reibt mit der feuchten Watte eine und dann die andere Brust ein. Diese Prozedur dauert eine Ewigkeit für ihn, und als die Tante sagt, dass die Watte trocken geworden ist, und er sie wieder nassmachen soll, lässt er sie fallen und rennt mit seiner letzten Kraft aus dem Zimmer.
Seitdem hat er Angst vor dem anderen Geschlecht, und immer wenn erotische Momente entstehen, rennt er mit Übelkeit davon.

Lakritz besucht bereits die Schule und sein Großvater ist sehr stolz auf ihn. Er hilft ihm bei den Hausaufgaben und jubelt über all seine kleinen Erfolge, und wenn Lakritz im Hof Fußball spielt, guckt er manchmal nach oben zum Fenster, in dem er die Silhouette seines Großvaters hinter dem Vorhang sieht, eine Silhouette, die ihn beobachtet und liebt. In solchen Augenblicken versucht er, besser zu spielen, um ihn noch stolzer zu machen, und wenn Lakritz mit jemandem Zank hat, dann verleiht der unsichtbare Blick seines Großvaters ihm mehr Mut.
Er geht immer nach dem Spiel angenehm ermüdet nach Hause und spielt mit ihm auch, aber der Mann ist schon ziemlich alt, und er schafft es nicht mehr so lange zu spielen wie früher.
Eines Abends sitzt der Großvater im Sessel und sieht fern. Es geht ihm nicht besonders gut. Lakritz rennt um ihn herum und versucht ihn aufzumuntern, dabei zieht er Flüssigkeit in seine Nase zurück, weil er das Rennen nicht abbrechen möchte.

Plötzlich spürt er im Rachen einen metallischen Geschmack. Er hält an und berührt seine Nase. Seine Finger färben sich rot. Er rennt weinend ins Badezimmer und dreht den Wasserhahn auf. Das fließende Wasser verdünnt das Blut und es bekommt seltsame Formen, bevor es in die Abflusstiefe verschwindet. Er hat keine Angst mehr.
Wenige Tage später stirbt der Großvater an einem Aneurysma. Der traurige Lakritz kann zu Hause zwischen den flüsternden Menschen keinen Platz finden. Seine Mutter lässt ihn in den Hof, damit er sich ein wenig ablenkt. Er geht zum Laden, kauft Saft und Süßigkeiten und geht zu einem verlassenen Gebäude, wo er alleine sitzt und an den Tod denkt. Er kehrt erst nach Hause zurück als es schon dunkel ist.
Die verärgerte Mutter schreit ihn an. Er behauptet, er hätte die ganze Zeit irgendwo gesessen und geweint. Er tut ihr damit leid und sie umarmt ihn. Lakritz versteht, dass es nicht richtig ist zu lügen, aber es macht Leben einfacher.

Lakritz ist ein junger Mann, und er hat schon Vor- und Nachteile der Masturbation herausgefunden. Manchmal tut er es oft nacheinander und kann am nächsten Tag kaum laufen, weil ihm sein Hodensack wehtut. Manchmal holt er sich in der Gemeinschaft mit seinen Freunden einen runter, und sie machen blöde Wettbewerbe. Zum Beispiel, wer kommt schneller oder wer spritzt sein Sperma am weitesten.
Eines Tages ist er mit zwei Freunden hinter der Garage des Nachbarn und die zwei inspizieren sehr sorgfältig ihre Penisse. Das erscheint Lakritz seltsam, aber es interessiert ihn, was noch passieren wird. Plötzlich dreht einer der Jungs den anderen zu der Wand und führt seinen Pimmel in ihn ein. Lakritz ist erstaunt, aber er guckt weiter.
Unerwartet schreit eine Frau, die das Treiben aus ihrem Fenster bemerkt hat und jetzt entsetzt ist.
„Was macht ihr da?“ Im Fenster nebenan taucht ein Mann auf und schreit auch etwas, was er ruft, bleibt undeutlich.
Die zwei Jungs ziehen ihre Hosen schnell hoch und laufen in verschiedene Richtungen, aber Lakritz kann sich nicht bewegen. Er steht wie eingepflanzt am Tatort.
Obwohl er nichts gemacht hat, die Leute verurteilen ihn trotzdem. Selbst seine Familie glaubt ihm nicht ganz. Deswegen verlässt er eines Nachts sein Haus für immer.

Ich könnte unendlich über Lakritz fantasieren, aber ich hörte damit auf.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18149

Lebe wohl, Lakritz - Teil I

Zum ersten Mal sah ich Lakritz in meinem Lieblingskino namens „Der Strahl“. Draußen war es ein stickiger Sommerabend und ich war in den kühlen Kinosaal eingetaucht, wo „Gefühl und Verführung“ von Bertolucci lief, den ich bereits zweimal gesehen hatte und mit großem Vergnügen noch einmal sehen würde.
In diesem Kino wurden immer Filmklassiker oder neue Meisterwerke vorgeführt, deswegen war der ziemlich kleine Saal stets kaum zur Hälfte voll. Manchmal waren außer mir nur ein paar Leute hier, und da verstreut.

Ins Kino zu gehen war eines meiner intimsten Rituale, wofür ich mich emotional schon zu Hause vorbereitete. Der Tag fing immer sinnvoll an, wenn ich wusste, dass ich ins Kino gehen würde.
Manchmal fliehe ich dahin nach dem Stress, oder der Ermüdung, um mich wieder mit Lebensenergie aufzuladen.

Wie ich schon sagte, sah ich Lakritz an jenem Abend zum ersten Mal. Er saß einige Reihen vor mir, und ich sah seine schulterlangen Haare. Zwischen uns waren drei Jungs, die offensichtlich kein Interesse an dem Film hatten, sondern blöde Späße machten. Als Liv Tyler dem Künstler ihre Brüste zeigte, fingen die Jungs an, dreckige Kommentare abzulassen.
Ich ärgerte mich langsam. Ab und zu traf ich hier sinnlose Menschen, die kein Vergnügen am echten Kino fanden, und die anderen Zuschauer einfach störten. Ich tötete sie immer in meinem Kopf. Vermutlich hatte ich bereits über zehn davon in diesem dunklen Saal geschlachtet.

Ich könnte jemanden ermorden, aber nur wegen des Kinos!

Lakritz hatte sich schon einige Male mit unzufriedenem Gesichtsausdruck zu den bellenden Welpen umgedreht, und diesmal bat er sie, leiser zu sein, woraufhin die Jungs sich aufregten. Lakritz sagte ihnen noch etwas, was ich leider nicht verstand. Die Jungs forderten Lakritz auf, ihnen zu folgen. Er stand ganz ruhig auf, er war ziemlich groß. Er folgte dem Trio aus dem Saal. Ich wartete nicht lange und ging in einer Distanz auch hinaus. Draußen war es kühler geworden, und ich sah „Vanilla Sky“. Wenn ich einen solchen Himmel sah, wollte ich immer weinen, aber jetzt hatte ich keine Zeit dazu.

Ich sah deutlich Lakritzes Gesicht. Er war sehr hübsch, ein bisschen androgyn. Die schmale Nase und die sehr kantigen Wangenknochen wurden von warmen, braunen Augen gekrönt, in denen man sehr viel Leid ablesen konnte.
Er hinterließ nicht den Eindruck eines unglücklichen Menschen, aber man konnte merken, dass etwas ihm Sorgen bereitete, und ich erkannte mich in ihm. Ich hatte in mir auch diese süße Traurigkeit von unerfüllten Träumen, in denen die Hoffnung auf zukünftige Erfolge lebte, die half, diese Wehmut zu ertragen.

Plötzlich fiel mir etwas Rotes und Dünnes in seinem Mund auf. Ich schaute genauer hin und sah, dass es eine Lakritzstange war, wie ich sie in der Kindheit probiert und seitdem völlig vergessen hatte, obwohl sie mir sehr gut geschmeckt hatte.
Im chaotischen Alltag vergisst man sehr oft, was einem Freude gibt, dabei sind es genau solche Dinge, die uns von einem Tag zum nächsten helfen.
Während ich dies dachte, schlug einer der Jungs Lakritz mit der Faust an den Kiefer. Lakritz fiel auf den Boden, erhob aber sofort den Kopf und lächelte. Seine Lippe blutete, und er wischte das Blut sehr filmreif mit der Hand weg. Ich war einfach begeistert. Er suchte nach der Süßigkeit, die wie ihr Besitzer auf dem Boden lag, holte aus der Hosentasche eine neue Stange heraus, steckte sie in den Mund, schaute sich das Trio und dann mich zum ersten Mal an. Ich nickte ihm leicht zu und ging auf das Trio mit schwingenden Fäusten los. Lakritz stand sofort auf, und wir schlugen wie zwei tollwütige Löwen um uns. Die Jungs schrien und rannten weg, wie Hyänen.

Lakritz wischte den Dreck von seiner Kleidung schnell ab und bedankte sich bei mir.
„Wie heißt du?“, fragte ich ihn.
„Lakritze“, antwortete er, und wir gingen zurück ins Kino, wo ich mich zu ihm setzte.

Ab und zu sah ich ihn an. Er guckte begeistert zur Leinwand. Ich Unbedarfter hätte nie gedacht, dass es auf dieser Welt noch so einen ratlosen Kinomaniac wie mich gibt. Wie grenzenlos begrenzt sind wir!
„Zum ersten Mal?“, fragte ich ihn leise.
Er drehte sich zu mir und lächelte.
„Zum sechsten“, dann guckte er weiter.
Wäre das Leben ein Kinofilm, er wäre ein perfekter Charakter. Ein absoluter Lieblingsheld.

Als wir das Kino verließen, fragte ich ihn, ob er ab jetzt vorhätte, öfter hierher zu kommen. Er nickte mir zu und verabschiedete sich mit Handschlag, wie in einem Film der aus der Haft entlassene Alain Delon von einem Polizisten, und ich rief aus:
„Vier im roten Kreis.“
Er hielt an, drehte sich um und lächelte wieder „Bis morgen, mein Freund.“

Aus einem unbekannten Grund folgte ich ihm. Er lief ziemlich angespannt, als ob er spürte, dass ihn jemand verfolgte, aber er drehte sich nicht um. Unterwegs stolperte ich mehrere Male. Die Passanten schauten mich komisch an. Ich schätze, dass meine Aufregung mir auffallend wie eine kaukasische Nase im Gesicht stand. Bald bog er um die Ecke, und ich auch. Er stand da mit verschränkten Armen auf mich wartend.
„Du bist genau so ein lächerlicher Detektiv wie Jean-Pierre Léaud“, sagte er, und ich schämte mich wie ein kleines Mädchen, das aus Neugier etwas verbrochen hatte.
„Bis morgen“, wiederholte er und ging.
Ich stand da, bis er verschwand, und machte mich mit langsamen Schritten auf den Rückweg.

Ich folgte den nächtlichen Straßen, wobei ich verschiedene Geräusche und Düfte einfing. Die Nachtbeleuchtung fand ich sehr interessant. All die kleinen, farbigen Lichter gaben mir das Gefühl, in einer anderen Dimension,  jemand anderer zu sein, der keine Vergangeheit oder Zukunft, sondern nur diesen traumähnlichen Augenblick hat, in dem er für immer gefangen ist, und das Schönste oder das Schlimmste ist, dass er gar keinen Ausweg sucht, weil es ihm in dieser mystischen Geborgenheit, wie in den Armen eines schmerzlosen Todes gefällt. Das Wissen, dass man für nichts mehr verantwortlich ist, wirkt so befreiend und gleichzeitig zerstörend, denn es heißt nur, dass es dich nicht mehr richtig gibt, und alles was du tun musst, ist rumschweifen, bis ein Fremder deine Rolle endlich übernimmt.
Diese Atmosphäre wurde am besten in den amerikanischen und französischen Filmen der 70er-, 80er-Jahre dargestellt.
Die leuchtenden Fenster bargen, wie Galaxien, einzigartige Geheimnisse.

Gutes Kino ist wie Magie. Es hilft einem, in eine vergessene Vergangenheit zu gelangen. Meine Gedanken zwangen mich, an meine einzige Freundin zu denken. Jedes Mal wenn auf der Leinwand ein Mann und eine Frau sich streichelten, erinnerte ich mich an ihre Berührung. Während sie neben mir lag, hatte sie mich oft angesehen und mit ihrem Finger zart meine Lippen und meine Nase gestreichelt, als ob sie meine Gesichtslinien genießen würde. Ich konnte bis heute nicht verstehen, was sie an mir so geliebt hatte. Ich war ein ganz unauffälliger Bursche. Also wie es mir schien, sah sie jemanden anderen in mir, den sie selbst erschaffen hatte. Sie liebte ein Phantom.

Ein Mädchen, das mit ihrer Mutter und Schwester im Nebenhaus wohnte, erinnerte mich sehr an sie. Wir begegneten uns ziemlich oft, und ich mochte sie. Ich und Greta begrüßten uns beim Treffen nie, aber wir wollten uns offensichtlich kennenlernen.
Ich dachte ziemlich oft an sie, aber ich versuchte die sexuellen Fantasien loszuwerden, weil ich sie in meiner Vorstellung nicht entwürdigen wollte.
Ich spürte einen unerklärlichen Drang, etwas zu tun, und bevor ich zurück nach Hause ging, spazierte ich in einen Blumenladen, den die Verkäuferin schon zu machen wollte, um eine rote Rose zu kaufen.

Mit der Rose in der Hand schlich ich zu Gretas Briefkasten, wie ein Dieb, und sah mich um, um sicher zu gehen, dass mich keiner sah. Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich entfernte alle Stacheln von der Rose und legte die Blume in den Briefkasten, an dem ich ein angeklebtes Bild eines Sonnenuntergangs bemerkte. Die Sonne berührte fast den Horizont, und ihr Strahl streckte sich über die Wasseroberfläche zum Kameraobjektiv. Ich wollte wissen, wer dieses Bild gemacht hatte. Es blitzte plötzlich am Himmel, und das freute mich sehr, weil ich sommerliches Unwetter liebte.
Bevor ich den Flur betrat, traf mich ein Regentropfen auf dem Kopf. Währenddessen stellte ich mir vor, wie die zur Schule gehende Greta sich morgen freuen würde, nachdem sie die Rose entdeckt hätte. Wen würde sie wohl als Rosen-Kavalier vermuten?

Am nächsten Tag waren ich und Lakritz im Café des Kinos. Am Nebentisch saß ein Junge. Er trug eine Sonnenbrille, der das linke Glas fehlte, genau so wie in der vorletzten Szene von „Bonnie und Clyde“, in der es Clydes Brille fehlte. Ich lächelte. Der Junge verstand wieso und war froh, weil jemand seine Absicht verstanden hatte.

Lakritz sah in die Ferne und erzählte mir.
„Ein junger Mann liebte Kino über alles. Er ging jeden Tag dahin und vergaß die Realität. Nur dort fühlte er sich glücklich. Eines Tages sah er auf der Leinwand die folgende Szene:
Ein junger Mann läuft eine von Laternen beleuchtete Straße entlang. Plötzlich bemerkt er rechts von ihm einen Mann, der an einer Ziegelwand lehnt, und langsam, mit tiefen Zügen raucht.
Der Mann hält vor dem Raucher ihn frech anstarrend an. Dem Raucher gefällt das nicht und er fragt grob:
„Was willst du?“
Der Mann geht zu ihm, ohne zu antworten, und schlägt ihn so stark an den Kiefer, dass er ohnmächtig umfällt. Die einsame Zigarette liegt auf dem Bürgersteig und qualmt weiter in der Hoffnung, aufgeraucht zu werden. Der Mann beobachtet den Ex-Raucher, dann schleppt er ihn wie einen Kartoffelsack in die Dunkelheit und kehrt zur Zigarette zurück, hebt sie auf, lehnt sich an die Wand und raucht.
Das warme Laternenlicht beleuchtet die Wand so gut, dass man seine Struktur, ohne sie anzufassen, spüren kann. Der Film ist zu Ende.

Der Mann dehnt sich, steht auf und verlässt den Raum. Draußen ist es dunkel geworden. Er läuft über die Straße. Plötzlich bemerkt er einen Mann, der sich rauchend an eine Ziegelwand gelehnt hat.
Der Mann hält vor dem Raucher an und starrt ihn an. Dem Raucher gefällt das nicht und er fragt: „Was ist los?“
Der Mann geht zu ihm ohne etwas zu sagen. Der Rest ist schon klar.“ Damit beendete Lakritz seine Geschichte und schwieg, aber nach kurzer Zeit sprach er weiter.
„Kinematographie ist eine große Waffe, um die Menschen zu beeinflussen. Das wusste Lenin auch, vom Dritten Reich ganz zu schweigen.“ Und er schaute wieder in die Ferne.

Ich beobachtete ihn. Ich wollte schon immer so groß, dünn, sinnlich und ein bisschen neurotisch sein, mit langen Fingern, wie ein Klavierspieler. Die Mädels schwärmen für solche Typen.
„Wohnst du hier?“, fragte ich ihn nach einiger Zeit.
„Nein“, antwortete er aus seinen tiefsten Gedanken heraus, ohne mich anzusehen, und ich dachte, dass Freunde nicht die jenigen sind, die von einander alles wissen, sondern die, die einander nicht dazu zwingen, etwas von sich zu erzählen. Ich vermutete, dass Lakritz wegen jemandem in der Stadt war, und dieser jemand ihn quälte.
„Ich hab irgendwo gelesen“, sagte ich, „dass wenn James Dean nicht gestorben wäre, er statt Marlon Brando in „Der Wilde“ den Anführer der Bikerbande gespielt hätte.“ Meine Worte brachten Lakritz zurück. Er sah mich an und zuckte mit den Schultern.

Ein paar Meter von uns entfernt standen zwei Mädels und glotzten Lakritz an. Eine davon war eine ziemlich schöne Brünette. Sie tratschten und lachten ohne Grund, wie es bei den jungen Mädchen üblich ist, wenn sie die Aufmerksamkeit eines Jungen gewinnen wollen, aber Lakritz beachtete sie nicht. Dabei wusste ich ganz sicher, dass er sie bemerkt hatte. Er war einfach nicht interessiert und holte eine neue Lakritzstange aus seiner Hemdtasche heraus.

„Willst du?“, bot er mir an, aber ich nahm sie nicht, weil es sein Requisit war.
Die Brünette kam auf uns zu, ihre weniger attraktive Freundin folgte ihr verlegen.
„Wie heißt du?“, fragte die Brünette Lakritz.
Er sah sie mit schläfrigen Augen an und antwortete, aber es war ihr nicht genug. Sie wollte herausfinden, ob es sein echter Name war.
„Manches ist echt, aber manches auch nicht“, antwortete er und lutschte die Stange.

Sie wurde unsicher und versuchte das Gespräch wieder aufzunehmen. Ihre Freundin bemerkte jetzt mich. Hatte ich Glück... Die Brünette stellte sich dicht zu Lakritz und erhob sich auf die Zehenspitzen.
„Darf ich abbeißen?“
Lakritz schüttelte den Kopf.
Die enttäuschte Brünette machte einen Schritt rückwärts und schwieg, aber die Stille dauerte nicht lange.
„Welches Parfum trägst du?“
„Unisex“, antwortete er ohne jegliches Interesse.

Der Film fing gleich an. Es wurde „Meine Nacht bei Maud“ von Rohmer vorgeführt. Die Mädels hatten sich zwischen uns gesetzt, das nervte. Die Brünette saß natürlich neben Lakritz, und ihre Freundin stellte mir dauernd Fragen über den Film.
„Und gefällt es dir jetzt?“ Sie war richtig empört.
Ich drehte mich kurz zu ihr, um ein kaltes Ja zu sagen.
In diesem Moment nannte Maud den Charakter von Trintignant einen Idioten, weil er nicht zu ihr kam.
„Du bist auch ein Idiot“,  hörte ich sie zu mir sagen. Sie schaute total aufgebracht nach vorne.

Endlich hatte sie aufgehört, mit mir zu reden. Ich freute mich, dass ich den Rest des Films ruhig sehen konnte, aber langsam bekam ich schlechtes Gewissen. Eine Frau erweckt dieses Gefühl in einem Mann sehr leicht.
Ich sah sie an und versuchte mit ihr zu kommunizieren.
„Für einen Mann ist es sehr schwer, auf eine solch schöne Frau zu verzichten. Es ist eine heldenhafte Tat.“
Sie schoss ein „Psst!“ nach mir, ohne mich anzusehen.

Plötzlich bemerkte ich, dass die Brünette ihren Kopf in Lakritzes Schoß rhythmisch rauf und runter bewegte, aber er guckte den Film ganz entspannt, als ob nichts passierte.
Für eine Sekunde sah ich meine „Begleiterin“ an, die aus den Augenwinkeln heraus ihre Freundin beobachtete und den Speichel laut runterschluckte.
Ich schaute wieder zu Lakritz rüber. Er bemerkte meinen Blick und lächelte mich an.
Die Brünette erhob ihren Kopf und fragte ihn.
„Was ist los mit dir?“
„Nichts.“ Ganz locker antwortete er.
„Ich möchte auch etwas Steifes in meinem Mund haben“, sagte sie genervt.
Ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen und sagte.
„Er ist ein Held.“

Die Brünette sah mich mit Ekel an, stand auf und schleppte ihre Freundin weg, die mir mit aller Kraft auf den Fuß trat.
Lakritz machte seinen Hosenladen zu und setzte sich zu mir.
„Fellatio in Filmen, du fängst an.“
Ich massierte meinen verletzten Fuß und überlegte mir, mit welchem Film ich anfangen sollte.
„Dead Man“, sagte ich endlich.
„Ken Park.“
„Intimacy.“
„The Brown Bunny.“
„Submarino.“
„Im Reich der Sinne.“
Den hatte ich auch nennen wollen, aber jetzt kam mir nichts mehr in den Sinn. Ich verlor.
„Porträt in der Dämmerung“, verpasste mir Lakritz den Gnadenschuss.

„Ist ja gut!“
Lakritz streichelte mir über den Kopf und sagte herablassend:
„Es gibt noch viele ...“

Als wir rauskamen, verabredeten wir uns für morgen, und unsere Wege trennten sich.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18148

Der Gefangene von Schloss Weyerburg

Nachdenken über Rache, die Fälle Skripal, Litwinenko, Beresowski u.v.a.

Es ist eine dunkle, stürmische Novembernacht des Jahres 1717. Vier Kutschen rasen aus der Reichshauptstadt hinaus durch die Ebene nach Norden. Die erste, ein Militärtransporter mit schwarzem Doppelgespann von kräftigen Rössern, ist voll besetzt mit Soldaten. Die zweite eine reichverzierte Staatskarosse, die dritte Kutsche ist mit schwarzen Tüchern verhangen, auf dem Kutschbock sitzen Soldaten, und auch auf den Trittbrettern sind ungarische Husaren postiert. Die vierte ist so wie die erste ein Armeetransporter. Eine geheime Staatsaktion. Wer versteckt sich in diesem seltsamen Begleitzug zu nachtschlafener Zeit? Warum diese Eile? Was ist das Ziel der Fahrt?

Dahinter verbirgt sich eines der monströsesten Kapitel der an Schrecknissen wahrlich nicht armen Geschichte Russlands. Die Verfolgung und die Ermordung des Zarewitsch durch seinen eigenen Vater, Peter den Großen. Der Familienkonflikt beginnt schon in der Kindheit. Peter erkennt früh, dass Alexej von Natur aus missraten ist und stellt ihm strenge Erzieher zur Seite, die ihm aber nichts beibringen außer Duckmäuserei, Verstellung, Heuchelei und Intrigenspinnen. Alexej will nichts lernen, interessiert sich nicht für Politik und Militär, was dem Zaren am meisten am Herzen liegt. Ausschließlich die Religion hat es ihm angetan, beeinflusst von seiner frommen Mutter. Er versenkt sich in katholische Mystiker wie Thomas von Kempten und liebäugelt einmal mit den geächteten Altgläubigen, einmal mit dem verhassten Katholizismus.

In seiner Umgebung treiben sich allerhand zwielichtige Popen herum, die ihn gegen die Reformen seines Vaters aufstacheln. Er gefällt sich darin, dass ihn das Volk als wiedergekehrten Demetrius feiert. Bald vermutet der Zar Verschwörungen gegen sich und schickt den Zarewitsch auf Reisen. Gegen seinen Willen wird er mit einer hässlichen, protestantisch-deutschen Prinzessin verheiratet, die er ignoriert, wenn er sie nicht misshandelt. Sie stirbt nach nur fünf Jahren Ehe, nachdem er die Schwangere getreten und eine Treppe hinuntergestoßen hat.
Er nimmt sich eine Mätresse ins Haus, huldigt Völlerei und Sauferei im Palast und in den Vorstädten. Dort sammelt er das Moskauer Volk um sich im Widerstand gegen die neue Hauptstadt und Peters Staatsumbau. Bald droht ihm der Vater an, ihn von der Thronfolge auszuschließen, ihm seine Mätresse zu nehmen und ihn ins Kloster zu schicken. Seine verstoßene Mutter hat Peter schon früh nach Susdal zu den Nonnen verbannt. Als Alexej sie einmal heimlich besucht und Peters Spione das herausfinden, bestraft er den Sohn derart mit Prügeln und Auspeitschen, dass der nur knapp überlebt.

In seiner Not flüchtet der Zarewitsch zu Kaiser Karl VI. nach Wien. Der kann den lästigen Gast nicht einfach abweisen, weil Alexej über seine verstorbene Frau Charlotte von Braunschweig-Wolffenbüttel mit den Habsburgern verwandt ist. Verkleidet als polnischer Offizier Kremenetzky steigt er zusammen mit seiner Mätresse Afronisia, einer leibeigenen Bauernmagd, ihrem liederlichen Bruder und einem idiotischen Diener im Gasthof zum Schwarzen Adler beim Freihaus ab. In Breslau, Frankfurt/Oder, Dresden und Prag hat er sich noch als Oberstleutnant Kochanowski mit Frau und Bediensteten ausgegeben. Es ist zehn Uhr abends, der Vizekanzler Schönborn ist schon im Schlafrock und will sich zu Bett begeben, als „Kremenitzky“ hereinstürmt, sich auf die Knie wirft, zittert und stottert, Speichel fließt aus dem Mund, und ihn anfleht, dass der Kaiser ihn vor dem schrecklichen Vater und Herrscher retten soll. Es ist der 10. November 1717.

Kaiser Karl VI. erteilt seinem Vizekanzler Schönborn den Befehl, den ungebetenen Gast schnellstens verschwinden zu lassen, möglichst ohne Spuren und Wissen anderer. Graf Friedrich Karl Schönborn hat zwei Jahre zuvor eine Burg im Weinviertel erstanden, die Weyerburg in der Nähe von Hollabrunn. Das ist nur eine kurze Strecke von der Hauptstadt entfernt, die Burg ist schwer befestigt, hat dicke Mauern und tiefe Keller, Verliese und Tunnelsysteme. Die Umgebung ist nur dünn besiedelt, und es konnte gut sein, dass niemand etwas von diesem Gast mitkriegen würde. Der Kaiser hat sich noch nicht endgültig entschieden, wie er sich gegenüber der Forderung des Zaren, den Flüchtling auszuliefern, verhalten soll.
Peters Botschaft ist eindeutig: Sollte der Kaiser seinem Wunsch nicht nachkommen, würde er seine Truppen in die österreichischen Länder Böhmen und Schlesien verlegen. Oder sich den ungehorsamen und verräterischen Sohn selbst holen. Also Krieg. Staatskrise. Blamage vor ganz Europa. Für Karl eine ganz besonders unangenehme Lage. Also, der Schönborn soll sie lösen. Ab nach Weyerburg, den Flüchtling dort lebendig begraben und Gras über die Sache wachsen lassen. Habsburgisch.

Der Zarewitsch soll sich in einer schönen, ruhigen Weinviertler Burg ausrasten, nicht zuletzt braucht auch die schwangere Afronisia Erholung. Alexej und seine bunte Entourage werden in die Weyerburg verfrachtet. Wie beschaulich die Ruhepause war, ist nicht bekannt, sie dauerte aber nicht länger als sechs Wochen.
Karl hat nicht mit dem unaufhaltbaren Zorn und Rachegelüsten des Zaren gerechnet. Der lässt nicht locker und schickt seine Agenten nach Wien. Sie sind reichlich mit Geld und Spitzeln ausgestattet und können einen Bediensteten in der Hofburg bestechen. Bald tauchen fremde Gestalten um die Weyerburg auf. Es ist klar, Alexej ist dort nicht mehr sicher. Der Zar bombardiert den Kaiser mit Briefen und mit immer dreisteren Forderungen und Drohungen.

Wieder ein geheimer Transport bei Nacht und Nebel, diesmal in die Festung Ehrenberg in Tirol. Eine uneinnehmbare Burg auf einer einzeln stehenden Felsnadel ohne Zugang in einer unwirtlichen Berglandschaft.
Die Bewohner werden über Körbe an Seilen versorgt. Sogar trainierte Falken und Seeadler werden eingesetzt, um notwendige Güter über Ehrenberg abzuwerfen. Alexej und seine Gesellschaft hausen in Felszellen mit Gittern vor den Fenstern. Es nützt alles nichts. Peters Jäger und Spürhunde nehmen die Fährte auf. Die Geheimdienstoffiziere Wjesselowski, Rjumanzew und Tolstoj sind unermüdlich und fintenreich. Wieder können sie einen Referendar der Hofkanzlei bestechen und erfahren, dass Alexej in Tirol verborgengehalten wird. Karl will keinen Krieg wegen einer Person, die für ihn nicht wichtig ist und die er verachtet, er will jeden Skandal vermeiden und nicht zum Gespött Europas werden.

Im Bezirk Reutte werden die Menschen schon unruhig, weil so viele fremde Gestalten auftauchen. Sie schleichen um die Burg herum und machen die ganze Gegend unsicher. Zwielichtige Personen treiben sich herum, mit falschen Pässen jüngstens Datums, fraglicher Nationalität und verteilen Geld. Russische Spione wollen den Zarewitsch entführen, berichtet der Staatssekretär Kühl, für einen Beamten ungewöhnlich aufgeregt, nach Wien.
Die Feste in Tirol ist nicht mehr sicher.
Große Achtung vor Peters Jagdaktionen hat der Kaiser nicht. Zorn steigt in Karl hoch, und er fühlt sich in seiner Ehre gerührt. So schreibt er an Prinz Eugen von Savoyen auf Französisch:
Keiner dieser barbarischen Moskowiter soll sich des Zarewitschs bemächtigen oder Hand an ihn legen. Diese Schurken – und das sind diese Moskowiter allesamt – sind zu allem fähig.
Bei Prinz Eugen denkt er natürlich an die Armee.

Am liebsten wäre ihm, wenn der Sohn die Verzeihung des Vaters erlangen könnte und schreibt in diesem Sinne an Peter.
Kaiser Karl denkt nach und wendet sich an den Vizekönig von Neapel, den Grafen Daun. Sie beraten sich miteinander.
Du Daun, ich hab da eine russische Wanze im Pelz. Der missratene Sohn vom moskowitischen Peter. Barbaren, Barbaren durch und durch. Hast du dort irgendetwas, wo ich diese Ratte verschwinden lassen kann. Nicht wirklich wichtig, aber sehr lästig. Wanze, Laus, Moskowiter eben.

Ja, Daun hat etwas. Das Schloss Sant'Elmo auf einer Felseninsel im Golf von Neapel.
Von Mantua an sind die Jäger ganz nahe an den Flüchtlingen, von Station zu Station. Bis nach Neapel, bis nach Sant‘Elmo. Daun tut, was er kann, aber die Agenten belagern die Burg und bestechen halb Neapel. Peter droht in endlosen Briefen an Kaiser Karl weiter und immer intensiver. Einmal kündigt er sogar an, von Petersburg aus durchzumarschieren bis nach Neapel, um sich seinen Sohn mit der Armee zurückzuholen. Sein heiliges Recht, als Vater und Alleinherrscher, wie er meint. Der Vater- und Staatsverräter muss gerichtet werden. Was kann mich aufhalten? Karl knickt ein. Für einen Trottel und Unhold wie Alexej, den missratenen Zarensohn, will er nicht mehr riskieren. Schließlich gelingt es Peters Agenten, die schwangere Afrosinia zu kaufen, die Alexej zur freiwilligen Rückkehr bewegen kann. Sie verrät ihren Liebhaber. Was man ihr bei Widerstand alles angedroht hat, kann man sich leicht vorstellen.

Das Ende ist so unendlich schrecklich, dass die russische Geschichtsschreibung darüber hinweggeht, die die Romanows in eine ungebrochene Geschichtstradition stellt. Unter Putin, der sich gern als moderner Peter sieht, ist das wieder besonders modisch geworden.

Peter holt schließlich seinen Sohn aus Sant‘Elmo heraus, mit Hilfe der Spione und von falschen Versprechungen auf Verzeihung und Milde. In Moskau wirft er ihn ins Gefängnis, lässt ihn foltern und unterzieht ihn einem grausamen Prozess. Dann darf ihn die Kirche öffentlich aburteilen. Eines Tages liegt Alexej tot in seiner Zelle. Herzversagen. Manche sagen, Peter, der Vater, hat ihn eigenhändig stranguliert. Auch die Rechtmäßigkeit dieser Art von Bestrafung lässt er von der Kirche absegnen. Er richtet ein pompöses Begräbnis aus und gleich danach ein Volksfest mit Feuerwerk, Zirkus, Flüssen von Freibier und Wodka. Die Moskowiter dürfen auf Alexejs Grab tanzen.

23.3.18

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18144

Musik und Mord

Lange grüble ich schon darüber nach, wende die Sache in meinem Kopf hin und her und kann zu keinem objektiven und endgültigem Urteil kommen. Aber vielleicht braucht es gar keine Objektivität, kein Urteil, und schon gar kein endgültiges. Wie komme ich überhaupt dazu, mir anzumaßen, ein Urteil fällen zu können, das bis zum Ende der Zeiten gültig sein soll?

Höchstwahrscheinlich ist mein Verstand nicht dazu gemacht, dies zu entscheiden, nicht scharf, nicht analytisch und nicht genau genug. Aber kann überhaupt ein Verstand dazu im Stande sein, eine solche Entscheidung mit den Mitteln der Vernunft zu treffen? Es hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass die menschliche Rationalität begrenzt ist. Gleichzeitig ist es gerade die vorläufige rationale Kontrolle, die es uns erlaubt, der Fantasie scheinbar alle Freiheit zu lassen. Daher habe ich entschieden, die beiden Seiten der Sache darzustellen und den Gefühlen und der zeitweiligen Urteilskraft der Leser freien Lauf zu lassen.

Es war einmal ein Russe namens Wladimir Fjodorowitsch Odojewski, der lebte zwischen 1803 und 1869 in St. Petersburg und Moskau. Er stammte aus einer reichen, fürstlichen Familie, war Jurist, Schriftsteller, Komponist, Philosoph, Kinderbuchautor, Musikpädagoge und Naturforscher, hatte lange die Stelle des Direktors der kaiserlichen öffentlichen Bibliotheken inne, später des Rumjanzew-Museums in Moskau. Fürst W. F. Odojewski war sicherlich kein einfältiger Mensch, sondern fast so etwas wie ein Universalgelehrter. In seinen späten Jahren gerierte er sich wie Faust in seiner Studier- und Alchimistenstube. Mit seinen zahlreichen Romanen und Erzählungen beeinflusste er die Großen der Literatur wie Turgenjew, Dostojewski und Tschechow. Er bezieht sich eindeutig auf die deutsche Romantik, dabei vor allem die Phantastik eines E.T.A. Hoffmann, und bringt die epische Sprache des Russischen zu ihrem ersten Höhepunkt. Trotz seiner adeligen Herkunft enthalten viele seiner Erzählungen in Form der Satire scharfe Kritik am russischen Adel und dem zaristischen Absolutismus. Kein Geringerer als Dostojewski bekennt 1861, selbst schon berühmt, wie sehr ihn Odojewskis Schreiben geformt hat und wie sehr er ihn verehrt und liebt.

Als Komponist und Musikpädagoge beschäftigt er sich intensiv mit Bach, Wagner und Piranesi, auch mit dem für ihn größten Gestirn, mit Beethoven. Nur sechs Jahre nach dessen Tod schreibt Odojewski die Erzählung „Das letzte Quartett Beethovens“, lange bevor eine umfassende Lebens- und Werkbeschreibung erschienen ist. Er verrät nicht, wie ihm als sehr jungem Menschen bekannt geworden ist, dass der russische Fürst Nikolai Galitzin 1822 bei Beethoven „ein, zwei oder drei Streichquartette“ bestellt hat. Er schickte einen Brief an „Monsieur Louis van Beethoven a Viennes“. Solche vagen Angaben reichten damals, dass die Post aus dem fernen St. Petersburg den berühmten Komponisten in Wien erreichte, und das bei den Dutzenden von dessen Wohnadressen. Galitzin fühlte eine enge Verbindung mit Wien, war doch einer seiner Vorfahren lange Zeit Gesandter am Hof von Maria Theresia und Joseph II. gewesen. In diesem Schreiben bezeichnet sich Nikolai Galitzin als leidenschaftlichen Cello- Spieler und Bewunderer von Beethoven. An seinem Hof habe er ein von ihm bearbeitetes Streichquartett aufgeführt, berichtet er ihm. Gleichzeitig poltert er gegen den schlechten musikalischen Geschmack in Europa, vor allem gegen „la charlanterie italienne“, die derzeit vorherrsche, aber vergänglich sei im Gegensatz zu den unsterblichen Meisterwerken Beethovens. Als ob er es gewusst hätte, dass sich Beethoven ständig in Geldnöten befand, überließ er es dem Meister, den Preis selbst festzusetzen. Beethoven schlug ein und setzte die exorbitante Summe von 50 Dukaten pro Streichquartett fest, auszahlbar durch eine St. Petersburger Bank nach Lieferung.

Kurz zusammengefasst, Beethoven lieferte, konnte liefern, weil er schon einige Zeit etwas im Kopf hatte: Op. 127, op 131 und op 130 gelten als die „Galitzin-Quartette“. Das erste schrieb er in nur zehn Wochen und schickte es ab. Es traf die prompte Zahlung ein, für die beiden anderen verzögerten sich die Transfers, teils weil die Bank sie verweigerte, teils wegen eines Streits mit Galitzin. Beethoven hatte es sich nicht nehmen lassen, sie alle vorher mit seinen bewährten Musikern in Wien uraufführen zu lassen. Dann gestand Galitzin ein, in finanziellen Schwierigkeiten zu sein, weil er sich an dem zaristischen Feldzug gegen Persien, an dem er selbst teilnahm, überhoben habe. Der Geldstreit um die Streichquartette hielten Beethovens Erben und Testamentsvollstrecker noch bis 25 Jahre nach seinem Tod in Atem. Es ist nicht einmal gesichert, ob der Besteller selbst je eines von den Streichquartetten gehört hat.

Odojewski klärt das in seiner Erzählung ebenso wenig auf wie die Frage, ob er selbst sie kannte. Aufgrund der vagen, dafür umso schwulstigeren Wortkaskaden, die auf viele Musikstücke zutreffen könnten, ist das zu bezweifeln.

Jedenfalls bezieht er sich nicht auf eines der drei „Galitzin-Quartette“, sondern auf das allerletzte, das F-Dur, op 135, an dem Beethoven bis zu seinem Tod gearbeitet hat.
Aber offensichtlich geht es ihm gar nicht um das Streichquartett und die Umstände seiner Entstehung, sondern um die Verteidigung des Meisters gegen die Wiener. Die Erzählung ist eine infame Verteufelung und Verhöhnung der Wiener, die nichts von dem Genie in ihrer Mitte verstanden hätten. Odojewski, der nie in Wien war und nie am musikalischen Leben in dieser Stadt teilgenommen hat, weiß es besser. Die Wiener sind Phäaken und Ignoranten mit schlechtem Geschmack, sie gingen lieber ihren niedrigen und ungezügelten Leidenschaften nach, Wein, Weib und Gesang, Gesang vor allem von billigen Italienerinnen, die er allesamt in den Niederungen von Untalentiertheit, Strich und Puff ansiedelte. Er insinuiert sogar, dass die Wiener das göttliche Genie, dessen sie nie würdig waren, ihn indirekt umgebracht haben, indem sie ihn nicht genügend anerkannt und gefeiert hätten. Und übrigens sei er taub geworden, damit er ihr schales Gerede in einer verhunzten Sprache (komisches Deutsch) nicht mehr anhören musste.

Nur Russen wie der Fürst Galitzin (und natürlich er selbst) hätten ihn retten können vor den von Wald, Walzer und Wein besoffenen Wienern. Das ist schon eine großartige Fernsicht aus St. Petersburg. Mit seiner übergroßen Liebe zu Beethoven schimpft sich der russische Fürst in eine überschäumende, geifernde Verunglimpfung des Wiener Musiklebens und ihrer Liebhaber hinein, die ein klassisches Vorbild hat:
Puschkin hat die Richtung und den Ton vorgegeben mit seiner „Kleinen Tragödie“ über Mozart und Salieri. Eine in marmorne Poesie erstarrte Lüge über den angeblichen Giftmord Salieris an Mozart, die Legende vom Kampf des akkuraten, alternden Handwerkers gegen das überschäumende, junge Genie. Puschkin wusste von dem unhaltbaren Gerücht, es passte ihm aber in den eigenen Kram, es als vom Zaren persönlich verfolgter Künstler aufzufrischen und in eherne Verse zu gießen. Ich selbst traf auf viele Russen, die vom Giftmord völlig überzeugt waren. Ein trauriges Zeugnis für die Erkenntnisschwäche der Russen, aber auch für die Macht der Poesie. Darüber hinaus konnte ich mich davon überzeugen, dass die Russen nichts so sehr lieben wie Verschwörungstheorien, den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, wobei sie sich so gern auf die Seite des vermeintlich Guten stellen und damit selbst gut werden. Tausende Male diskutiert, warum keine andere Kulturnation so viele seiner Dichter, Komponisten, Kritiker, Regisseure, Wissenschaftler, Lehrer und Geistliche über die Jahrhunderte an die Staatsmacht ausgeliefert und in Sibirien ermordet hat. Das waren doch nicht wir, das war damals die zaristische Ochrana, das war die Tscheka, der NchWD, der KGB, der FSB. Und was machen sie jetzt mit Serebrennikow?
Aber zurück zu diesem philanthropischen Fürsten Odojewski.

Also, die Wiener sitzen ununterbrochen auf langen Bänken unter den Kastanien, fiedeln und tanzen und trinken ihren frischen, sauren Wein, für den der Fürst nur Verachtung hat im Vergleich zu seinem französischen Champagner oder dem heimischen Wodka.

Während sie sich so vergnügen, stirbt das Genie. Wie können sie nur. Odojewski leidet mit aus der Ferne. Es kümmert ihn nicht, dass sich Beethovens Todeskampf von Dezember 1826 an abgespielt hat und am 26. März 1827 ausgestanden ist. Als sich die Nachricht von Beethovens Krankheit in Wien verbreitet, hört der Besucherstrom vor dem Schwarzspanierhaus nicht mehr auf. Bis auf die engsten Freunde und Familie wird niemand mehr vorgelassen, aber die Wiener bringen stapel- und kistenweise Wein, Kuchen, Süßigkeiten, Honigmet, Riechflaschen, Wein, Arzneien, Kräutertrank, Mandelmilch, Blütentee, Petersilsuppe und andere Geschenke. Die Wiener wussten sogar, dass er beim Bier das dunkle Horner aus dem Waldviertel bevorzugte. Es waren dem Volk nicht nur die vielen Wohnadressen bekannt – er ist ganze zweiundvierzig Mal umgezogen – sondern auch seine Vorlieben, von denen sie viele mit ihm teilten. Sie wussten, dass Beethoven sein Leben lang dem Wein gerne und meist im Übermaß zugesprochen hat. Rhein- und Moselweine sind seine Favoriten, aber er verschmähte auch keinen alten Gumpoldskirchner oder frischen Grinzinger, wenn einmal der Rüdesheimer ausging. Sein Bruder Johann schwor auf den Wachauer aus Gneixendorf.

Am 5. Jänner traf ein großes Paket aus London ein: die Gesamtausgabe von Händels Werken in vierzig Bänden; sie machte ihm große Freude, weil Händel für ihn der größte Komponist gewesen ist. Er freute sich wie ein Kind und ließ sich immer wieder einen Band reichen, über den er zärtlich mit der Hand strich, berichtet ein Besucher. Er musste vielen davon erzählt haben, denn die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode brachte am 27. Jänner eine Meldung darüber. Nicht nur Freunde und Kollegen eilten herbei, als Beethovens schlechter Gesundheitszustand bekannt wurde. Auch der halbe Hof und viele Adelige stellten sich ein, schickten Botschaften und Geschenke. In den drei Monaten nahmen die Wiener regen Anteil an Beethovens Krankheit.
Am 21. März diktierte er den letzten Brief an Fürst Galitzin, in dem er diesen an seine Zahlschuld für die zwei letzten Streichquartette erinnerte, die Nr 13, op 130 und Nr 14, op 131. Die Erben und Nachlassverwalter werden noch fünfundzwanzig Jahre mit den Russen darüber streiten.

Am 25. März, kurz nach der letzten Ölung durch einen Priester, traf ein Kistchen mit Wein und Kräuterbalsam ein, zwei Flaschen Rüdesheimer 1806, ein hervorragender Jahrgang. Der Diener stellte es auf das Tischchen neben Beethovens Bett, der schaute sie an und sagte: Schade, schade …. zu spät. Man tröpfelte ihm davon löffelweise auf die Lippen, aber er konnte nicht mehr schlucken, er war ins Koma gefallen.

Am Montag, dem 26. März, machten sich gegen Mittag seine engsten Gefährten, Vater und Sohn Breuning von der Schwarzspanierstraße aus auf den Weg hinaus ins Währinger Dörfl, um auf dem Friedhof eine Grabstelle auszusuchen. Der aus Graz herbeigeeilte Freund Anselm Hüttenbrenner – Komponist, Pianist und Musiklehrer – und die Haushälterin Sali sind die einzigen Menschen neben dem Sterbenden.
Zeitgenossen und Biographen stimmen überein, dass sich am Montag, dem 26. März im Laufe des Nachmittags ein schreckliches Gewitter zusammenzuziehen begann, dunkle Wolkenfelder ganz niedrig, ein Ungewitter, mit Schneegestöber und Hagel.

„Da fährt unter einem gewaltigen Donnerschlag ein greller Blitz, von einem gewaltigen Donnerschlag begleitet, herunter und erleuchtet das Zimmer im Schwarzspanierhaus. Beethovens Augen öffnen sich weit, er hebt die rechte Hand, ballt sie zur Faust und starrt ernst und drohend in die Höhe. Dann sinkt die Hand wieder auf das Bett und die Augen schließen sich halb.“ (Der Biograf … ) Der Musiker Anselm Hüttenbrenner ist neben der alten Haushälterin Sali in Beethovens Sterbezimmer. Hüttenbrenner legt dem Sterbenden die Hände auf die Brust. Beethoven atmet nicht mehr und sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Hüttenbrenner drückt ihm die Augen zu und küsst seine Lider. Dann zieht er seine Uhr heraus, es ist dreiviertel sechs. Jetzt lässt Hüttenbrenner den jungen Maler Josef Teltscher ins Sterbezimmer rufen, damit er einige Zeichnungen vom Toten anfertigt. Danach schneidet er ihm eine Locke aus dem Haupthaar und bewahrt sie in seinem Notizbuch auf.

In der Sterbematrik der Minoriten auf der Alser Straße steht eingetragen: Ludwig van Beethoven, gest. 26. März 1827, lediger Tonsetzer, geb. 1770 zu Bonn im Reichsgebiet, gest. an Wassersucht, begraben am Gottesacker des Dorfes Währing.

Beethoven wurde am 29. März in der Alserkirche aufgebahrt. An den Feierlichkeiten und dem Trauerzug nahmen 20 000 Menschen teil, damals die Hälfte der Bewohner der Innenbezirke.
Das Gedränge war so groß und die Stimmung so heftig, dass Militär eingesetzt werden musste, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Schulen und Ämter blieben geschlossen. Es ging heftiger Schneeregen nieder und es wehte ein eisiger Wind. Das Leben in Wien steht praktisch still. Am Eingang zum Friedhof trägt der Schauspieler Heinrich Anschütz die bewegende Grabrede, die Franz Grillparzer verfasst hat, vor. Den Sarg begleiten 36 Fackelträger, von denen Franz Schubert einer ist. Nur ein Jahr später wird er selbst unter großer Anteilnahme der Wiener zu Grabe getragen.
… Drum scheidet trauernd, aber gefaßt von hier, und wenn euch je im Leben, wie der kommende Sturm, die Gewalt seiner Schöpfungen, übermannt, wenn Eure Thränen fließen in der Mitte eines jetzt noch ungeborenen Geschlechts, so erinnert Euch dieser Stunde, und denkt: Wir waren auch dabey, als sie ihn begruben, und als er starb, haben wir geweint.
(Ende der Grillparzer-Rede)

1863 wird Beethoven erstmals – wieder unter großer Anteilnahme der Bevölkerung –exhumiert, die Gebeine und der Schädel vermessen und fotografiert, 1888 ein zweites Mal, diesmal aber umgebettet in die Ehrenhalle des eben eröffneten Zentralfriedhofs.
Nach Odojewskis Ansicht hätten die Wiener, so wenig wie sie das Sterben und den Tod in ihrer Kulturlosigkeit und Oberflächlichkeit gebührend gewürdigt haben, kollektiv Selbstmord begehen müssen, um dem Genie in ihrer Mitte gerecht zu werden, das sie nicht erkannt haben, sozusagen als Buße dafür, dass sie ihn mit ihrer Ignoranz nicht gerade ermordet, aber in den zu frühen Tod getrieben hätten. Es ist der unerträgliche moralische Alleinvertretungsanspruch, der die Odojewski-Erzählung so abstoßend macht. Es ist der ekelhafte Schwindel, zu dem Odojewski unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit, der freien Einbildungskraft, greift.

Und was hätte Odojewski erst daraus gemacht, hätte er gewusst, dass die schwindligen Wiener zugelassen haben, den Mozart-Mörder als Lehrer von Schubert und Hüttenbrenner wirken zu lassen. Sicher auch wieder nur eine typisch wienerische, hinterlistig-dumme Verschwörung gegen Beethoven. Dass Hüttenbrenners Requiem Nr. 1 in c-Moll bei Salieris Einsegnung 1825 gespielt wurde, ebenso wie bei Beethovens 1827 und ein Jahr später bei Schuberts. Hüttenbrenner überlebte seine Freunde so lange, dass er noch mit Liszt befreundet sein konnte.

Nicht nur, dass Odojewski in seiner Erzählung das namensgebende 13. Streichquartett für das letzte hält und es mit dem ihm unbekannten 14., op 135 verwechselt und die äußeren und inneren Umstände von Beethovens Sterben und die Wiener völlig „falsch“ darstellt. Unwesentlich ist auch die Frage nach der historischen Wahrheit, denn um die Authentizität eines historischen Geschehens geht es hier nicht.

Es ist die Haltung, mit der Odojewski die „dichterische Freiheit“ anwendet. Wie heißt die Definition von Wilhelm von Humboldt: Kunst besteht in der Vernichtung der Natur und ihrer Wiederherstellung als Produkt der Einbildungskraft. Danach hat Odojewski die Natur = Geschichte recht ordentlich vernichtet und mit viel Einbildungskraft irgendetwas hergestellt.

Er hat mit diesem Machwerk ein Bild vom Wiener Volk erschaffen, das nach ihm viele russische Dichter und Reisende ( u. a. Gogol und Tschechow, aber die waren im Gegensatz zu Odojewski zumindest für einige Tage in der Stadt ) wiederholt haben und das so unausrottbar ist wie der von Puschkin geschaffene Giftmörder Salieri. Nicht nur, weil seit Generationen die Kleine Tragödie Mozart und Salieri zur Schullektüre in Russland gehört und auswendig gelernt wird. Immer wieder werden neue Varianten auf den Bühnen aufgeführt, Vertonungen ohne Zahl. 1898 singt der tiefste Bass aller Zeiten, Schaljapin, den schrecklichen Salieri.

Sowohl die Wiener wie auch Salieri werden es aushalten, dass sie bei den Russen so schlecht wegkommen. Aber wie weit darf künstlerische Phantasie gehen, und wo beginnt die Denunziation? Ist Odojewskis Beethoven-Erzählung eine frühe Form von fake news? Ganz abgesehen davon, dass es bei den Russen Volkssport ist, immer und überall an Verschwörungstheorien zu basteln. Das scheint ihre zweite Natur zu sein. Wenn es nicht so verschrien wäre, könnte man von einem Nationalcharakter sprechen. Sondern vor allem – das ist meine Interpretation – das messianische Bewusstsein der Russen. Sie, die großen Kunstversteher, die großen Künstler-Retter, das ist es, was einem den Magen umdreht. Sie hätten eigentlich genug zu tun, bis zum heutigen Tag, ihre eigenen Künstler vor Verbannung, Ausweisung, Gefängnis, Gulag und Tod zu retten – aktuell den Kirill Serebrennikow.

Puschkin hat Mozart und Salieri 1830 geschrieben, es wurde 1932 in St. Petersburg uraufgeführt. Sehr wahrscheinlich hat Odojewski es gesehen, denn kurz danach erschien seine Beethoven-Erzählung. Zwingend ist der Zusammenhang nicht, er ist nur ein zeitlicher, aber möglich, die Parallelen sind unleugbar. Der böse Salieri ist Wien – Beethoven ist Mozart, und umgekehrt.

Genie gegen Mittelmäßigkeit, gottgegebenes Talent gegen Handwerk, schöpferische Uneigennützigkeit gegen eifersüchtigen Ehrgeiz. Die Fronten sind klar, aber nur von Salieri her, der vermeintliche Komponistenkrieg ist einseitig, was den Puschkin-Salieri so besonders wurzt.

Wenn ich Puschkin je recht verstanden habe, kämpft er immer für sich selbst und seine künstlerische Freiheit.

Klar, Puschkin glaubt nicht wirklich an den Giftmord von Salieri an Mozart aus „schwarzem Neid und Eifersucht“. Diese Legende war schon zu Puschkins Lebzeiten genügend widerlegt. Als Dramatiker brauchte er aber zwei gegensätzliche Künstlertypen, die er gegenüberstellen und deren Argumente er ausbreiten konnte. Er brauchte seinen Mozart und seinen Salieri, weil er sich selbst eher zu so einem Mozart zählt, der von einem Typus à la Salieri drangsaliert wird. Zeit seines Lebens, angefangen vom absolutistischen Zaren bis zu den niedrigen Neidern und Speichelleckern. Das ist sein Konstrukt und hat mit dem historischen Salieri nichts zu tun.

Puschkin brauchte den bösen Salieri als Selbstverteidigung und den Mozart als Appell für die Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst. In diesem Kontext interpretiert, kann seine kleine Tragödie von mir aus bestehen bleiben.

Ich nehme Puschkin in diesem Bestreben in Schutz, obwohl ich sehe, was er durch die Anfälligkeit für Fehlinterpretationen angerichtet hat.

Ich persönlich vermeine das Augenzwinkern bei Puschkin zu bemerken, mit dem er seinen Salieri bei seiner Selbstrechtfertigung für den Giftmord auf die absurde Legende über Michelangelo Buonarotti anspielt, der zufolge er ein Model ermordet habe, um das Pathos des Todes bei seiner Kreuzigungsdarstellung wahrheitsgetreuer einfangen zu können.
Bei Odojewski dagegen sehe ich die reine Lust an der Denunziation, um die Überlegenheit der „russischen Seele“ gegenüber dem oberflächlichen, genusssüchtigen, verspielten und tumben Westen herauszustellen. Nur die russische Seele mit ihrer Tiefe, mit ihrer Fülle an Gefühlen und Einfühlung kann die Größe eines Giganten wie Beethoven verstehen. Die phäakischen Wiener haben so einen gar nicht verdient, sie mit ihrem Wein, Weib und Gesang, ihrem Heurigen, Walzer und ihrem Himmel voller Geigenseligkeit. Nur die Russen können einen Beethoven vor ihnen retten. Die Anmaßung, dass Beethoven es nötig hat, von einem Russen gerettet zu werden. Und nur ein Russe mit seiner Glaubenstiefe und seiner gottgegebenen Natur kann die Göttlichkeit eines Mozart oder Beethoven erkennen und gebührend würdigen.

Der Witz an diesem überbordenden Nationalstolz ist, dass er ideengeschichtlich aus Deutschland kommt, vom Schelling-Kult. Schelling wurde in Russland wie ein Gott verehrt, und Odojewski war der Erzpriester der neu entdeckten Nationalseele. Er behauptete, dass der Westen in seinem Streben nach materiellem Fortschritt dem Teufel seine Seele verkauft hatte. Nur Russland mit seinem jugendlichen, unschuldigen Geist und den angeborenen Eigenschaften der russischen Seele könnten Europa retten. Er spricht der russischen Seele eine besondere Art von Liebe zu. Die christliche Bruderschaft Russlands habe eine ganz eigene Botschaft an die Welt (Odojewski, Russische Nächte). Der Fürst, Großgrundbesitzer und Inhaber von tausenden von Leibeigenen predigt vom „unverdorbenen Land und der kreativen bäuerlichen Seele, die ein viel größeres Potenzial hat als die westliche Naturwissenschaft“. Das ist nicht mehr weit entfernt von Iwan Aksakow, dem Begründer des Slawophilentums: „Das russische Volk ist nicht bloß ein Volk, es ist eine Menschheit.“

Die russische Sprache kann aus vielen Gründen geliebt werden, von ihren eingeborenen Trägern so natürlich wie ihre eigene Haut, was für die anderen schwer zu verstehen ist. Mit Hilfe eines einzigen mitleidlosen Wortes kann es die Quintessenz eines weitverbreiteten Defekts bezeichnen, für den die anderen drei europäischen Sprachen zwanzig brauchen und doch zum wahren Wesen vorstoßen. Poschlost heißt dieses fette, weiche Untier, mit der Betonung auf dem ersten O und einem feuchten T am Ende. Niedertracht, Falschheit, Verlogenheit, Schamlosigkeit, Verkommenheit, Schändlichkeit stehen an der Spitze; es folgen: unecht, billig, gemein, geschmacklos, schrottig, minderwertig, schäbig, fies, schleimig, hochgestochen, nachgeäfft, aufgedonnert, lächerlich, flittrig, schundig – alles, was gewisse falsche Werte bezeichnet. Wenn es eine derartige Zeitmaschine gäbe, würden daraus solche Figuren herauspurzeln wie später Gogol sie in den Toten Seelen und im Revisor erschaffen hat. So hat Odojewski die Wiener seiner Phantasie gezeichnet, viele anonyme Tschitschikows, Ljapkin-Tjapkins, Dobtschinskis und Bobtschinskis. Trotzdem bleibt diese Charakterisierung am Autor hängen, ein Schwindler, ein Taschenspieler ist der wahre Poschlotschkin, Schmutz und Schund sind sein Spielkapital.

Dass seine Beethoven-Geschichte kein einmaliger Ausrutscher ist, davon zeugen auch seine Erzählungen über Bach und Wagner, die im Herzen echte Russen sind und nur den einzigen Fehler haben, keine Russen zu sein. Für diesen Größenwahn hat das Russische ein schönes Sprichwort: Die Heimat der Elefanten ist Russland. Oder: Unser Iwanow hat die Glühbirne erfunden. Das Unappetitliche an Odojewski ist, dass er ohne jedes Augenzwinkern schreibt, ohne Anstalten zu machen, sich der Groteske als Kunstform zu bedienen, sondern mit dem Anspruch: Seht her, so sind sie, ich weiß es, es ist die Wahrheit.

Odojewskis Beethoven-Darstellung ist meines Wissens nach die erste Spur der später als Slawophilie in Mode gekommenen Geistesströmung in Russland. In der Konstruktion des „Dritten Rom“ führt der Weg später im Jahrhundert ganz leicht zum Panslawismus und russischen Nationalismus. Und das bis ins heutige Putistan.

1.- 4. September 17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18001

Bikinimadl

Das Bikinimadl ist beinamputiert, aber das fällt nur denen auf, die noch nie hier waren. Es hängt da über der Tür zum Südbahnkeller und lockt mit ihren Neonkurven. Sie klatscht ihr frostiges Licht auf den verdreckten Gehsteig. Dabei ist verdreckt ja noch schön gesagt. Wegen dem Sauwetter spiegelt es sich kalt und wacklig in einer Regenlache wider. Stören tut das fehlende Bein niemanden. Die, die dort drinnen sitzen, kommen ohnehin, egal ob amputiert oder nicht.

Sperrstund ist schon lang vorüber. Manchmal wär gescheiter, die Rosi würd die paar B’soffenen gleich um zehn rausschmeißen, so wie heut. Der Schnaps schlägt Wellen im Stamperl, das in der Pratzn vom bladen Gustl beinah verschwindet. Die Wellen kommen von seinem Zittern. Sein „Geh Rosi, einen Doppelten noch“ unterstreicht er mit einem unterdrückten Rülpser, der seinem massigen Körper entweicht.

„Ganz schön durstig heut?“, meint die Rosi und wirft ihre wasserstoffblonde Mähne, die ihr in die Jahre gekommenes Gesicht viel zu wenig verdeckt, nach hinten. Weil die Falten in ihrem Gesicht kommen nicht vom vielen Lachen, wenn du mich fragst. Die Schnapsflasche ist nun schon halbleer, und das hat sie ganz allein dem Gustl seinem Durst zu verdanken. Dabei sitzt er noch gar nicht so lang hier, in seinem Stammbeisl. Der Durst und der Verdruss sind mein bestes G‘schäft, sagt die Rosi immer.

Hinten im Eck am Wurlitzer steht noch so ein Übriggebliebener. Einer, den keiner kennt. Einer, den gar keiner kennen will, wenn du weißt, was ich meine. Er schmeißt eine Münze in die Maschine, drückt und wartet, bis seine Musik durch die Boxen dröhnt. Der Kurt Ostbahn spielt seinen Tequila Sunrise. Sein Wienerisch arbeitet sich von der Musikbox durch die Rauchschwaden bis zum bladen Gustl und kriecht in seine Gehörgänge. Das ist dem Gustl sein Lieblingslied. Irgendeiner spielt das immer, wenn er da ist.

Aber irgendwie scheint er sein Lied gar nicht richtig zu hören. Der ist woanders. Mit den Gedanken, mein ich. Weil wenn du grad jemand‘ abg‘stochen hast, dann nützt dir der schönste Tequila Sunrise nichts. Nicht einmal der vom Kurt Ostbahn. Da brauchst erst mal ein ordentliches Schnapserl, oder zwei. Schließlich passiert einem das ja nicht jeden Tag. Dem Gustl schon gar nicht. So eine wilde Sau ist er nämlich nicht. Zugegeben, ein bisserl Robin Hood spielen tut er schon gerne. Aber jemanden abstechen ist dann schon was anderes. Das ist eine andere Liga, eher was für den Schurli, seinen älteren Bruder.

„Hab das Zeug jetzt eing’sperrt, in die Garage“, murmelt der, als er sich grade neben den Gustl an die Ausschank setzt und dessen Schnaps auf ex runterkippt. „Wenigstens hat sich das Theater aus’zahlt“, erklärt er ihm. „Hat verdammt viel sauteuren Krempel ang’sammelt, die Alte“, sagt er und strahlt fast dabei. Aber so richtig freuen wie der Schurli tut sich der Gustl nicht, das spürt man schon.

Dass dem bladen Gustl seine Hose noch voller Blut ist, merkt irgendwie auch keiner. Aber was fällt hier drin schon noch auf? Man sieht ja kaum bis ins Eck rüber, wo sich der Ferry grad über ein frisches Madl hermacht. Wo der immer das Geld für sowas herkriegt, weiß keiner. Auch seine zweite Frau nicht und seine drei Kinder schon gleich gar nicht. Die klobigen Finger seiner rechten Hand krallen sich in ihren Busen. Für einen ersten Zwanziger zeigt sie ihm dafür ihre weißen Zähne, die aus ihrem farbigen Gesicht durch den ganzen Südbahnkeller strahlen, hell und kalt wie das Bikinimadl draußen über der Tür. Der Ferry glaubt, sie mag das, wie er sie abschleckt und ausgreift. Ob sie das Geld zu ihren Eltern runter nach Afrika schickt oder sich nur ein wenig Stoff dafür kauft, ist ihm heut egal. Und vermutlich morgen auch.

Ganz schön aufdreht ist der Schurli und schwitzen tut er auch. Ob das von der Hitz hier drin kommt oder von der Arbeit, die er grad erledigt hat? Oder ist vielleicht sogar bei ihm, dem eiskalten Hund, ein bisserl ein ungutes Gefühl da, das ihn nicht mehr loslässt? Dieses Gefühl, als ob du gleich kotzen musst, obwohl dir gar nicht richtig schlecht ist. Der Gustl merkt schon, dass der Schurli auch ein bisserl unlocker ist wegen der ganzen G’schicht.

„Die Alte hat noch kein Bankerl g’rissen. Die hat noch g’röchelt, als ich den Fernseher mitg’nommen hab“, stammelt der Gustl halblaut vor sich hin.

„Halt die Goschn, Trottel!“, fährt der Schurli gleich dazwischen.

„Aber glaubst nicht, dass da ein Doktor noch was machen könnt?“

„Sei ned so deppert, die Alte hat die Patschen längst auf’dreht. Die spürt scho nix mehr und die hätt so auch nimmer lang g’lebt“, resümiert er trocken.

So kann das gehen, wenn einer nicht genau aufpasst. Da ist dann plötzlich die Alte im Zimmer gestanden und das Geschrei ist losgegangen. Dass die Furie glatt eine Sportpistole in der Kommode liegen hat, damit haben die beiden nicht gerechnet. Nur gut, dass sie das Ding nicht richtig unter Kontrolle gekriegt hat. So hat die Kugel dem bladen Gustl seinen Fuß nur gestreift. Da ist dann sogar der Gustl schlagartig richtig sauer geworden. Gleich darauf war sie dann still. Ist am Boden gelegen, mit dem Brotmesser im Bauch, das da auf dem Tisch herumgelegen ist. „Scheißdreck verreckter!“, hat der Schurli gemeint, und der Gustl hat schon fast geweint. Hat sich die Hand vor den Mund gehalten, die Augen weit aufg‘rissen, wie wenn er den Leibhaftigen vor sich hätt‘. War halt immer schon ein bisserl zu nah am Wasser gebaut, der Gustl.

„Es lebe der Zentralfriedhof, und alle seine Toten“, schreit der Woiferl Ambros aus der Musikbox, an der jetzt grad der Ferry steht, weil sein eingekauftes Madl am Klo ist und sich was einwirft. Damit sie ihr Hirn ein bisserl abschalten kann. Damit sie noch alles machen kann, was der Ferry heut noch von ihr so verlangt. „Leiwand, der Ambros“, denkt sich der Gustl. Und der Ferry denkt sich das auch, nur das farbige Madl versteht nichts von dem, was der Ambros da von sich gibt.

„Ich will nimmer in den Häfen, Schurli. Da geh ich bestimmt nimmer hin“, jammert der Gustl wieder. Dabei kann man das schon verstehen, weil Karlau kennt er besser, als ihm lieb ist. Das ist kein Ort für einen wie den Gustl.

„Wir müssen nur die Goschn halt‘n, so wie immer.“

Brüderlich drückt der Schurli den Gustl an sich. Wie früher, wenn die beiden was ang‘stellt haben und den Gustl das schlechte Gewissen geplagt hat. Meistens war es ja der Schurli, der was ausg‘fressen hat. Aber auf seinen Bruder hat er sich immer verlassen können. Der hat’s Maul nicht aufgemacht, nicht ein einziges Mal. Und so hat der Gustl den Scheiß ganz allein ausgebadet, in Karlau.

Da schau, jetzt kriegt der Südbahnkeller noch frischen Besuch. Die beiden gehören alles andere als hierher. Jeans, lässige Leiberl, schwarze Lederjacken, moderne Schuh‘, zweimal Dreitagesbart, der eine keine dreißig, der andere Mitte vierzig, beide mit gut trainiertem Oberkörper. „Fesche Buben“, denkt sich die Rosi und stellt sich vor, was sie mit ihnen anstellen würd, wenn sie dreißig Jahr jünger wär. Aber klar ist, dass die beiden gleich ihre Uniform anlassen hätten können. Oder sie hätten sich „Kieberer“ auf die Stirn tätowieren können. Zivile Kieberer um diese Uhrzeit? Rosis „Wollt ihr was trinken oder eh nur herumschnüffeln?“, kommt bei den beiden genauso ungastlich an, wie sie es meint.

Der Schurli ist fest davon überzeugt, dass die beiden wen suchen. Er spürt nur zu gut, dass es jetzt eng wird. Da gibt er dem Gustl einen Rempler und befiehlt: „Oida, geh scheiß‘n!“ Dass er sich jetzt über die Häuser hauen soll, hat der Gustl sogar in seinem Verdruss-Rausch auf Anhieb verstanden. Man möcht gar nicht meinen, wie der seinen übergewichtigen Kadaver geschmeidig entfernen kann.

Dass in dem Kastl, das da hinten an der Wand hängt, eine Puff‘n versteckt ist, hat ihm die Rosi einmal erzählt. Hätt sie besser nicht g’macht, weil die greift sich der Gustl noch schnell beim Rausschleichen. Hat keiner gesehen. Draußen im Gang stolpert er fast über das farbige Madl, das vor dem grunzenden Ferry kniet und sich einen weiteren Fuffziger verdient. Die scheint das wirklich gut zu machen. „Gut investiert, dieser Fuffziger“, denkt sich der Ferry.

Als die Rosi den beiden Gfrastern die Safterln auf die Ausschank stellt, fangen sie endlich an zu fragen. Ob denn hier Leut‘ arbeiten, die gar nicht arbeiten dürften. Ob die Rosi denn ihr Beisl wirklich sauber hält von dem ganzen G‘sindel, das sich in diesem Grätzl immer rumtreibt. Ob denn hier Huren rumhängen, die gar nicht rumhängen dürften. Konkret nach dem Madl, das immer noch am Gang dem Ferry einen lutscht, und das sie - aus welchem Grund auch immer - suchen, fragen sie erst zum Schluss.

Der Schurli kriegt das Ganze natürlich mit und beruhigt mit einem weiteren Schnapserl auf ex seinen in Wallung geratenen Adrenalinspiegel. Aufatmen, aber nicht zu laut, ist angesagt. Grad als die Rosi mit: „Leckt’s mich doch, ihr …“, beginnt, kann sie plötzlich nicht mehr weiterreden, weil es knallt. Wirklich laut knallt. Aber nur einmal. Die zwei Kieberer greifen reflexartig nach ihren Waffen. Schreien gleich rum, dass jeder seinen Arsch da behalten soll, wo er ihn gerade hat. Die scheinen sich glatt zu freuen, dass da bei der Rosi was los ist. Passiert denen schließlich nicht jeden Tag, dass wo geschossen wird.

Der Übriggebliebene sitzt an seinem klebrigen Holztisch. Der Wurlitzer hat aufgehört zu spielen. Kein Ambros mehr, kein Ostbahn. Die Rosi schenkt sich selbst einen Doppelten ein. „Ich hätt ihn heut nicht mitnehmen sollen“, denkt sich der Schurli und seine Augen sind auf einmal ganz glasig. Die beiden Kieberer bewegen sich langsam in Richtung Gang. Das farbige Madl wischt sich den Mund ab. Der Ferry packt sich ein und zieht sich sein Hosentürl zu. Die Neonröhre im Gang zuckt. Unter der Klotür kommt das Blut daher.

Erstveröffentlichung: Schreiblust, Jänner 2014

Helmut Loinger

www.verdichtet.at |Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 17182

Ende geplant

Ullrich von Halen war ein großer, schwerer Mann. Sein mächtiger Körper war mit dichten, kleinen Inseln schwarzen Haares überzogen. Ein bärenhafter Mann. Doch war an ihm nichts Schwerfälliges. Er bewegte sich leicht, fast tänzerisch schob er seine 130 Kilo durch den Raum.

Eben traf er Vorbereitungen, mit Ernst und größter Sorgfalt, denn er wusste: Es musste beim ersten Mal funktionieren – es gab kein zweites Mal.

Er fand es spannend, mit einem einzigen Versuch alles entscheiden zu müssen. Er plante schon eine Weile, experimentierte. Ein halbes Jahr war er nun trocken. Keinen Tropfen, damit nicht gesagt wurde, was nicht gesagt werden durfte. Alles auf eine Karte, mit dem geringstmöglichen Einsatz der größtmögliche Gewinn, das war es – wie immer.

Ein Risiko, ein prachtvolles Risiko.

Es war ungeklärt, was Ellen allen Freunden, Bekannten und weniger Bekannten erzählt hatte. So fragte er sich wieder einmal, ob Ellen eine gescheite Frau war. Unter anderen Umständen hätte er sich diese Frage nie gestellt, aber jetzt hing viel von der Antwort ab. Ellen, mit ihren großen, gelbgrünen Augen, ihren dünnen, blonden Federn von Haaren. Ellen, die immer Makellose, immer nach der letzten Mode Gekleidete. Nie ein Gramm zu viel und nicht einmal in der Lage, eine Eierspeise zu kochen. Ellen, klein und zierlich, hatte Hilflosigkeit zur Kunst erhoben. Hilflosigkeit und Perfektion, das war sie. Sie hasste es, wenn ein Haar nicht an seinem Platz lag. Wenn das Kleid nicht millimetergenau die richtige Rocklänge hatte, der Brillant vom Finger rutschte, und wenn andere ihre schwer erschlichenen Reichtümer, Häuser, Autos herumzeigten. Aber selbst tat sie nichts lieber.
Die Beschaffenheit von Intelligenz ist etwas sehr Wundersames, dachte er. Ganz objektiv betrachtet, hielt er seine Frau für geistlos und hohlköpfig. Sie hatte keine Spur von Fantasie und keine Spur von Logik oder Konstruktivität, das war gewiss – er musste es wissen, er war seit sechzehn Jahren mit ihr verheiratet. Dennoch wusste sie sehr genau, was zu einem Leben in Wohlstand führt, wo es zu finden war. Dort hing sie dann fest, wie ein Pilotenfisch. Jedes Mittel war ihr recht, um zu behalten, was sie einmal besaß. Sie war nicht wählerisch, und sie wusste immer, welche Mittel einzusetzen waren – Hilflosigkeit und Perfektion. Gott, wie fade!
Sie wählte damals das richtige Mittel, als wieder einmal eine andere Frau ein bisschen Heiterkeit, ein wenig Lebenslust in seine Tage brachte. Die nette, runde Sylvia – so ganz anders. Ellen hatte sich gequält, Angst und Hass verteilt. Sie, die Makellose, hatte Sylvia aufs Ordinärste mitten in der Nacht übers Telefon beschimpft. Sylvia sie natürlich auch – aber das war zu erwarten. Üppig, ordinär und voller Leben, so wollte er es, und so war Sylvia.
Aber niemals seine Gattin. Doch in der Not war sie zu allem bereit. Und dann war seine liebe Gattin plötzlich schwanger, nachdem jahrelang davon die Rede gewesen war, dass sie zu schwach zum Kinderkriegen sei. Eine zarte Wölbung unter dem Designerkleid war seine Tochter, und sie saß in Ellens Bauch, gerade, als er wieder einmal das Weite suchen wollte. Seine reizende, kleine, hilflose Tochter mit den großen, grünen Augen und den blonden Federn, genau wie seine geliebte Schwester.

Vom Moment der Schwangerschaft an hatte sie sein Kind als Hebel benutzt, und alle Bekannten und Verwandten dazu. Wie gesagt, Ellen war sorgfältig, kultivierte Hilflosigkeit und verstand es, sich Hilfe zu holen, auch gegen ihn. Aber sie hing an ihm, weil sie Autos, Häuser, Brillanten als lebensnotwendig ansah. Ihre Art von Liebe? Sie war ihm ergeben, unbedingt verlässlich ergeben, weil sie keinen anderen Gedanken im Kopf hatte, außer diesen seltsamen Pilotenfischinstinkten. Er war ihr Hai.

Genauso wie sie alle Leute veranlasste, sich für sie zu bemühen, wenn er wieder einmal fremd unterwegs war, hatte sie auch jetzt mobil gemacht, seit sie den Verdacht hatte, dass er sie umbringen wollte. Aber verlassen würde sie ihn nie. Nein! Bis zum bitteren Ende festgesaugt. Wie sollte sie auch ihrer Schwester gegenübertreten, wie sollte sie ihr sagen, dass sie ihren Mann los war? Ellen ohne Standard, ohne Position? Kein Leben für Ellen. Eigentlich hatte alles an ihm seine Bedeutung, nur er selbst nicht. Und das verlässlich, weil sie absolut zu nichts anderem fähig war.

Alles wäre nett und einfach, könnte er seine Frau zu einer Bergtour überreden – ein kleiner Unfall und alles wäre okay. Die Idee, dass seine gepflegte, stöckelbeschuhte Ellen eine Bergtour machte, hätte die gesammelte Verwandtschaft augenblicklich zur Polizei laufen lassen, nach derzeitigem Stand der Dinge. Die Berge fielen also aus.

War das herrlich, vergangene Weihnachten! Zu Hause sehr trocken, das Designerchristkind für Anette, grausliches Essen von irgendeinem Superluxusladen. Fürs Album mit dem Bärchen spielen. Aber am Tag danach gab’s „wichtige Geschäfte“, und er und Sylvia waren auf einer Hütte. Bis zwei Uhr Früh Glühwein, ein fetter Hintern im Schnee, soviel er sich dunkel entsinnen konnte, war’s heiß und kalt gleichzeitig. Leben floss gemischt mit Glühwein durch seine Adern.

Also Ellen und Berge konnte er streichen. Dennoch war ein „Unfall“ das Richtige. Risiko war immer dabei. Man kann nicht gewinnen, ohne zu riskieren. Er war immer schon ein Spieler und blieb ein Spieler, aber mit vernünftigem Risiko. Unfälle gab es immer einmal – auch unter verdächtigen Umständen.

Es bot sich da noch etwas an. Beide konnten durch einen seltsamen Zufall nicht schwimmen. Eine Bootsfahrt war auch mit Stöckelschuhen zu machen. Auf einem möglichst großen See ließ sich alles arrangieren. Nur mit ins Tiefe fuhr sie nie freiwillig, da konnte er sicher sein. Sie würde mitfahren, aber nur am Rand, und das konnte er nicht brauchen. Vielleicht konnte er sie mit einem Schwimmreifen überreden?

Ullrich versuchte gerade, eine heiße Zange in das Mundstück eines Schwimmreifens zu bohren. In dem Augenblick, wo er sie zu etwas überreden musste, war ihm ihr Misstrauen sicher, und sie würde ablehnen. Also hatte er ein leichtes Betäubungsmittel besorgt. Das war gar nicht einfach. Er verbrachte geraume Zeit damit, eine Quelle für Betäubungsmittel aufzustöbern ohne Arzt und Apotheke. Er war inzwischen ein begabter Giftmischer mit einer Reihe von Selbstversuchen. Sogar mit Fliegenpilz hatte er es probiert. Aber wie bitte sollte er Ellen einen Fliegenpilz verfüttern? Es wäre sicher weniger verdächtig, sie besoffen zu machen. Das Dumme war nur: Sie trank nie. Und dann hatte ihm ein Zufall geholfen. Ein mageres, sechzehnjähriges Bürschchen mit blauen Ringen unter den Augen. Gott, welche Erbärmlichkeit … Wenn er an sein kleines Mädchen dachte, wurde ihm übel. Wenn die ganze Sache einige Zeit vorüber war, würde er etwas unternehmen – eine Anzeige, oder vielleicht selbst Ordnung schaffen? In seinem Besitz war nun ein Päckchen mit weißem Pulver. Er hatte es ausprobiert. So hatte er etwas für Ellens Sonntagssuppe.

 

Beide saßen im Boot. Ellen hatte den roten Schwimmreifen um, und einen sehr seltsamen Blick, sonst hätte sie den Schwimmreifen nie angezogen – kein Designerstück, aber glaubhaft. Sie würde nicht ohne Sicherheit mit ihm aufs Wasser fahren. Er war mit dem Pulver sehr sparsam gewesen. Hoffentlich ließ die Wirkung bald nach. Er hatte zwar vier Stunden eingerechnet, aber seine angelesenen Informationen waren zu oberflächlich, seine Selbstversuche auch wegen der Kilos nicht verlässlich – er hatte 130, sie 46. Wie unzureichend Buchwissen war, merkte er erst jetzt, bei ansteigendem Stress.

Das Boot bewegte sich langsam über die Wasserfläche.

Ein stiller Wochentag.

Das Wasser gekräuselt und eher grau.

Ihm wurde übel bei dem Gedanken, was jetzt geschehen würde. Dann bereitete ihm das Abenteuer vor allem in Hinblick auf Ellen aber auch prickelnde Vorfreude.

Sie lag mehr, als sie saß, ihm gegenüber mit stierem Blick. Das allein schon war Genuss pur. Für den Zustand hätte er mindestens einen halben Liter in sie hineinbringen müssen, was war das doch praktisch mit den kleinen Päckchen!

Eigentlich, wenn er so zurückdachte, war das Schwierigste die Bearbeitung des Schwimmreifens. Er war bereits so verärgert gewesen, dass er ohne Schwimmreifen beginnen wollte. Aber mit Schwimmreifen war es sorgfältiger. Er hatte den Stöpsel im Backrohr erhitzt, das Mundstück in Salzlösung gelegt. Die wussten gar nicht, was für haltbare Sachen sie erzeugten! Er konnte nur Mittel verwenden, die keinen Sichtbaren ungewöhnlichen Schaden entstehen ließen. Dann fand er in einem der vielen Geschäfte einen kleineren Stöpsel. Wenn Druck auf den Reifen kam, ging die Luft aus. Genau das war’s!

Langsam, langsam zog Ellens Rausch ab.

„Fahren wir zurück“, murmelte sie schläfrig.

Dann plötzlich setzte sie sich auf. Sie versuchte, ihren Blick zu ordnen, der Atem ging schnell. „Ich will zurück, wir müssen das Kind holen“, sagte sie mit etwas höherer, hektischer Stimme. Natürlich, schon wieder das Kind vorschieben. Nicht Ellen hatte Angst. Nein, man musste das Kind holen.

„Wir sind mitten auf dem Wasser“, sagte sie ruhig aber panisch mit leichtem Zungenschlag. Er wusste genau, sie würde nicht schreien. Er stieß sie nicht. Er zog ihr die Stöckelschuhe aus und ließ sie langsam zu Wasser, obwohl sie sich anklammern wollte. „Du hast ja einen Schwimmreifen“, murmelte er, und sorgte dafür, dass sie sich nicht anklammern konnte. Das Boot trieb ein wenig ab, und sie hing erschöpft im Wasser. Er schaute über die Wasserfläche – er konnte jetzt keine Helfer brauchen. Ein Segelboot, ein Motorboot, aber alle weit weg. Er hörte fast das leise Zischen des Reifens. Er sah interessiert ihr Erschrecken. Sie hatte wohl noch Hoffnung gehabt, jetzt war die vorbei.

„Die Luft geht aus“, sagte sie schwach.

„Das hat mich auch genug Mühe gekostet. Du hast ja keine Ahnung, wie schwer das Material zu bearbeiten ist. Salzwasser, heiße Zangen und was weiß ich. Aber die Leute werden sagen, du hattest extra einen Schwimmreifen – zum Üben.“

„Ich hab’s gewusst, ich hab’s die ganze Zeit gewusst“, sagte sie verbissen und mit Tränen in den Augen, „wegen dieser albernen, fetten Nutte willst du mich los sein – die Mutter deines Kindes!“

„Lass endlich meine Tochter raus. DU kriegst keine Luft.“

Er musste sie widerwillig bewundern. Er hatte immer gewusst, dass seine Ellen ein „Steher“ war – so viel Verbissenheit und kein hysterischer Ausbruch.

„Und was wird mit Anette?“, versuchte sie’s ein letztes Mal.

„Oh, der wird’s gut gehen, wenn sie nicht mehr dauernd als Druckmittel eingesetzt wird. Ein nettes Kindermädchen und Mama werden kommen, und meine Schwester sowieso.“

Er musste leider warten, bis sie ganz untergegangen war. Sie stand senkrecht im Wasser. Er konnte ihre geballten Fäuste sehen. Ihre Tränen tropften ins Wasser, aber sie sagte kein Wort mehr.

Ein Motor brummte näher. Er manövrierte das Boot an sie heran. Sie hielt praktisch nur mehr die Nase an die Luft. Das Geräusch kam schnell näher. Hoffentlich hatte sie schon mit dem Schicksal abgeschlossen. Er überlegte, ob sie unter Wasser hören konnte. zwanzig oder dreißig Sekunden. Das Boot zog vorüber. Ein Pärchen merkte gar nichts. Seine Gänsehaut glättete sich, die Haare legten sich wieder an. Das Boot war nun schon weit entfernt.

Dann zog er sie an den Haaren aus dem Wasser. Das Pärchen war im Dunst verschwunden.

Er drehte das Boot zum Ufer, und sie fuhren.

Gott, sie schaut aus wie eine nasse Ratte, dachte er. Der Spieler hat gewonnen. Aber wenn das Boot näher gekommen wäre, wenn die beiden sich eingemischt hätten, hätte er seinen letzten Sou verspielt. Er fragte sich, ob ein Motorboot für die Aktion nicht gescheiter gewesen wäre. Er wog das Für und Wider ab. Ellen rang noch immer nach Luft. Sie war erschöpft, aber nicht von der Rolle.

„Aber…“, sagte sie mit schwacher Stimme.

Er sah sie voll an: „Du siehst nun ein: Ich werde dich nicht umbringen. Auch wenn ich öfter das Bedürfnis danach habe.“

Er drehte sich weg und wusste es genau – Ellen suchte den Spiegel, um sich wieder perfekt herzurichten.

Sanne Prag

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 17129

 

Die Morgen danach

Am Morgen des vierzehnten November 2014 erwachte Peter in seinem Einzelbett und wusste gleich, dass etwas anders war als sonst.
Die Sonne schien durch das Fenster. Ihre Strahlen waren ganz anders als in den Tagen davor. Diese Tage waren nebelig und trostlos, schon morgens war klar, dass sie das werden würden. Durch die wabernden grauen Nebelschwaden vermochte die Sonne lediglich in Form von vereinzelten hellgrauen Strahlen zu dringen.

Dieser Morgen jedoch war freundlich. Peter, der es gewohnt war, beim Aufwachen in Ruhe gelassen zu werden, spürte, dass ihm in seinem Bett weniger Platz als gewöhnlich zur Verfügung stand. Schlaftrunken murmelte er einen Morgengruß, erhielt aber keine Antwort.
Dass er bestimmt nicht alleine im Bett lag, merkte er an der Hand, die auf seiner linken Schulter lag. Er drehte seinen Kopf aber nicht zur Seite um zu sehen, wem die Hand gehörte, es war ihm egal. Er genoss den Moment der Wärme, die die Hand abgab. Er machte sich nicht allzu viel aus körperlicher Nähe, suchte selten nach ihr. Wenn es sich jedoch ergab, dass er am Morgen in Gesellschaft war, so nahm er diesen Umstand als die Bestätigung hin, dass seine Verführungskünste wieder einmal eine dankbare Empfängerin gefunden hatten.

Peter war dreiundvierzig Jahre alt. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft hatte er in einer großen, international tätigen Bank angefangen und war schnell aufgestiegen, allerdings nur bis in eine bestimmte Ebene der Hierarchie. Eines Tages, nach einer Besprechung, legte ihm der Vorstand für Internationale Geschäfte die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr. Wenn Peter seine Aufgaben als Controller bei zwei gewissen heiklen Auslandsgeschäften weniger genau ausführte, ließe sich durchaus etwas machen, erfuhr er. Eine andere Abteilung, die Verdreifachung seiner Bezüge und ein Dienstwagen wurden ihm diskret offeriert. Daraufhin drückte er beide Augen zu, die Geschäfte wurden abgeschlossen, und Peter war ein gemachter Mann.

Er lebte in einer luxuriös eingerichteten Wohnung, trug die teuersten Anzüge, und konnte dennoch keine Frau dazu überreden, bei ihm zu bleiben. Dies lag an der Art seiner Brautwerbung. Als ein Mann, der sich alles kaufen konnte, ging er davon aus, dass dies auch auf den Bereich des weiblichen Geschlechts zutreffen müsste. Wenn er also eine seiner berühmten, und bald auch berüchtigten, Austernpartys gab, und ihm eine Frau ins Auge gestochen war, zögerte er nicht lange, sie darüber in Kenntnis zu setzen, was sie sich als seine Frau alles würde leisten können.

Zwei Frauen hatten sich darauf eingelassen. Die erste, Christina, verließ ihn nach nur drei Monaten, und auch die zweite, Ludmila, suchte bald fluchtartig das Weite, ohne mit Peter vor den Traualtar getreten zu sein. Er war kein Mann fürs Leben, das hatten die beiden schnell herausgefunden. Er arbeitete bis siebzehn Uhr und wollte dann bloß noch seine Ruhe. Dabei ging er sogar so weit, ein zweites Schlafzimmer in seiner Wohnung einzurichten, für die Frau an seiner Seite. An lediglich einem Abend in der Woche standen ihm die Sinne nach Intimität, und nach diesen fünfzehn Minuten verließ er das Schlafgemach, um sich in sein Einzelbett zu legen.

Da keine Frau bei ihm bleiben wollte, obgleich sein Vermögen stetig anwuchs, verlegte sich Peter auf das Bestellen per Telefon. Ein Vorstandskollege hatte ihm eine Telefonnummer gegeben, unter welcher man Frauen ordern konnte.
Diese Hinwendung zur käuflichen Liebe war der Wendepunkt, was Peters Verhältnis zur körperlichen Nähe anlangte. Fürchtend um die teuren Gegenstände, die überall in seiner Wohnung standen und herumlagen, sah er sich gezwungen, die bestellten Damen, die nur für die ganze Nacht gebucht werden konnten, zu beaufsichtigen. Diesbezüglich wählte er die einfachste Methode, nämlich das Schlafen an der Dame Seite. Da sich viele dieser Damen nach ein wenig Wärme sehnten, lagen sie eng an Peter geschmiegt, und so kam es, dass er sich allmählich daran gewöhnte, eine Hand oder gleich einen ganzen Körper beim Aufwachen zu spüren.

Als Bankmanager begriff er diese amourösen Episoden als simples Geschäft. Die Frau kam, er bezahlte sie, und nachdem auch der Morgen gekommen war, ging sie wieder. So lebte Peter als reicher und in erotischen Angelegenheiten zufriedener Mann. Im Vorstandssessel seiner Bank saß er bequem und fest, so fest, dass selbst die ambitioniertesten Versuche übelwollender Konkurrenten, ihn aus diesem zu hebeln, ohne Erfolg blieben.
Diese herkulische Anstrengung konnte nur ein einziger Mensch bewältigen, nämlich Peter selbst.

Am siebzehnten Juli 2011 hatte er schließlich damit begonnen, diese Aufgabe zu erledigen. Ein bankinternes Dokument hatte ihm aufgezeigt, dass ein Konto des größten Stahlproduzenten des Landes mit einer wahren Unsumme an Schwarzgeld gefüllt war. In den folgenden Monaten bediente sich Peter mit beiden Händen reichlich aus diesem ebenso unerschöpflichen wie fremden Topf. Eine hübsche Segelyacht, einen Porsche und einen Kokoschka später war der Spuk vorbei, und Peter stand vor Gericht, vertreten von den besten Anwälten des Landes.

Am Morgen des vierzehnten November 2014 konnte sich der noch schlaftrunkene Peter trotz aller Anstrengungen nicht an den Namen der Person erinnern, deren Hand auf seiner linken Schulter lag. Er wusste, dass er diesen Namen am Abend zuvor etliche Male ausgesprochen hatte, doch wollte er ihm nicht einfallen.
So drehte er seinen Kopf zur Seite, um die Hand zu betrachten. Er erschrak. Hatte er perfekt manikürte Damenfinger erwartet, so bot sich ihm nun ein Bild der Armseligkeit. Die Finger waren wulstig und an den Seiten mit Schwielen übersät, die Nägel viel zu lang, schmutzig, und einer war sogar eingerissen.
Peter wandte sich um, um zu sehen, wer neben ihm lag.
Er sah eine breite, behaarte Brust und einen Bauch, der Unmengen von Bier und Steaks in sich aufgenommen haben musste. Nun wusste Peter, dass er neben Walter lag. Walter war sein Arbeitskollege in der Spenglerei, und auch nach Dienstschluss teilten sie sich eine Zelle.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 17009