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Das erste Mal

Das erste Mal.
Es gibt immer ein erstes Mal.
Das erste Mal Luftholen.
Der erste Tag in der Schule.
Das erste Mal Sterben ist es auch das letzte Mal.
Was hat dir dein Leben gebracht?

Die vom Schwert getroffene Jungfrau Maria und Jesus in ihren Armen im Stift Viktring

Die vom Schwert getroffene Jungfrau Maria und Jesus in ihren Armen im Stift Viktring

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 24017

Sterbender Moment

Ich renne durch die Zeit,
will was hinterlassen,
für die Ewigkeit.
Will nichts verpassen
und jeden einzelnen Moment
feiern mit dir!
Ausgelassen, ungehemmt,
im Jetzt und Hier.
Ihn aufkochen, so lange,
bis er Seifenblasen schlägt,
die ich für uns fange.
Die uns so lange, wie der Moment noch trägt,
bunt schillernd umhüllen
und mit Dopamin befüllen,
das unser Herz beflügelt,
Schmerz ausbügelt,
sodass wir fröhlich singend schweben
einkehren und mit berauschten Sinnen
durch Glückshemisphären schwingen …
bis zum Firmament,
wo sich der Moment
dann festsaugt und eingräbt.
Uns prägt.
Für unser ganzes Leben.

Und wenn die bunten Blasen schrumpfen
will ich der dumpfen Leere entkommen,
gieße ganz unvoreingenommen
Sauerstoff ins Feuer,
bis es wieder brennt
und erneuer den Moment,
wenn ich in einer spannenden Geschichte
brühwarm von ihm berichte.
Geb meinen letzten Atem,
will genießen und warten,
bis er dem Jetzt entflieht
und mich nicht mehr sieht.
Will alles ausschöpfen, was geht,
solange mein Herz schlägt.

Stell mich der Zeit in den Weg, die noch schneller rennt,
halte sie auf und plane schon einen neuen Moment
wider der Vergänglichkeit List und Tücke,
ahne, erkenne, stopfe die Zeitlücke
und fühle mit jedem Herzschlag,
wie ich ihr immer näher rücke.
Verzweifle, wenn du mir, weil du mich schätzt,
Grenzen setzt, mich schützt,
bevor es mich zerreißt,
weil mir das Leben beweist,
dass es nur bedingt planbar ist.

Doch eines Tages steh ich da
und sehe ganz genau, was war.
Hab genügend Zeit
zum Reflektieren der Vergangenheit,
mich mit großer Freude in alten Bildern,
die meinen langen Weg beschildern,
zu verlieren.
Dann wäre es fatal,
wenn mir mit einem Mal
klar würde, dass mir ein lichter Moment
entkam. In einem Sturm, der einst vehement
über mein Leben fegte. Vor vielen Jahrn.
Dann bin ich vielleicht froh,
wenn ich ihn doch irgendwo in mir trage,
weil ich ja immer alles gegeben habe,
und erzähle dir davon.
Und wenn nicht,
so bin ich frei,
weil ich mir verzeih.
Denn heute ist mir klar, ich kann nicht alles wissen,
planen und erahnen,
deshalb werd ich ihn in dem Moment,
der mich dann beschenkt,
auch nicht vermissen.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer:  23159

Das Jucken

Ich konnte nicht sagen, wann es begonnen hatte. Irgendwann bemerkte ich, dass es schon seit einer Weile da war. Ich konnte einzelne Momente benennen, in denen es mir besonders aufgefallen war, aber eine Angabe in Monaten machen konnte ich nicht. Um mich ungefähr zu orientieren, setzte ich den vergangenen Spätherbst als Zeitpunkt seines ersten Auftretens fest – zu Weihnachten war es schon da gewesen, an Halloween noch nicht. Es auf einer Zeitleiste zu verankern, gab mir fadenscheinige Sicherheit.

Auf einer etwa handbreiten Stelle an meinem linken Unterarm verspürte ich ein Jucken. An Tagen, an denen es besonders schlimm war, rötete sich die Haut nach vermehrtem Kratzen, aber für gewöhnlich sah man nichts. So sehr ich suchte, ich entdeckte keinen Ausschlag, keine Schuppenflechte und keine Insektenstiche.

Ich befragte Google. Von Allergien über Umweltfaktoren bis zu einer HIV-Infektion kam als Ursache alles infrage. Ich schenkte meinen neuen Weichspüler her, kaufte wieder den alten und wartete ab. Das Jucken blieb.

„Fieber, Müdigkeit, weitere Hautveränderungen?“ Der Arzt drehte meinen Arm hin und her.
Ich schüttelte den Kopf.

„Vielleicht eine Allergie.“

Ich erzählte ein bisschen defensiv von meinem Weichspüler, damit er nicht dachte, auf die Idee wäre ich selbst noch nicht gekommen.

Er verschrieb mir eine Salbe.

Zweimal am Tag cremte ich mir den Unterarm ein, überzeugt, dass es damit ein Ende hatte. Manchmal kratzte ich noch über die alte Stelle und freute mich, dass ich nichts spürte. Dann juckte es wieder. Ich redete mir ein, dass ich es mir einredete. Es juckte dennoch.

Ich begann, das Jucken zu beobachten. Wann es auftrat, wo es auftrat, wie stark es war. Ich stellte Theorien auf: Wenn es bis mittags noch nicht da gewesen war, kam es nicht mehr; es war besonders stark an Regentagen; wenn ich meine Periode hatte, blieb es aus. Eine Weile lang war ich überzeugt, es hätte mit dem Verzehr von Hafermilch zu tun. Auch psychosomatische Ursachen wollte ich erkennen: Bei schlechter Laune war die Wahrscheinlichkeit des Auftretens höher.

„Das sind deine uneingestandenen Probleme, die jetzt an die Oberfläche kommen“, sagte meine Schwester. Ich zuckte mit den Achseln. Probleme hatte ich genug, aber keine uneingestandenen.

„Hast du mal Teebaumöl probiert?“ Meine Freundin schob mir eine Flasche zu. Nach drei Tagen schob ich sie ihr wieder zurück, sie warf mir mangelnde Ausdauer vor und sprach von Akupunktur, Reiki und Bachblüten. Eine Weile lang besuchte ich sie nicht mehr.

Die Haut an meinem Unterarm war inzwischen dauerhaft gereizt. Mitten im Sommer trug ich langärmelige Oberteile, die ich zurückschob und überprüfte, ob die Rötung verschwunden war. Meine Gedanken kreisten um die Stelle wie Wasser um ein Abflusssieb und langweilten mich zu Tode. Ich konnte nicht aufhören zu grübeln und ich konnte nicht aufhören, darüber zu reden. Mitgefühl und gute Tipps verwandelten sich in Seufzen und abgewandte Blicke, aber ich tat, als würde ich es nicht bemerken.

Manchmal blieb das Jucken eine Woche oder länger aus. Am ersten Tag wartete ich noch ständig darauf, schielte auf meinen Arm und spürte in ihn hinein, bis ich nicht mehr sagen konnte, ob er juckte oder nicht. Dann gewöhnte ich mich daran und dachte fast mitleidig an das Jucken zurück, als wäre es Pubertätsakne, die abheilte, wenn man erwachsen wurde. Aber immer, wenn es erneut auftauchte, kamen mir die juckfreien Phasen seltsam vor; ich tauchte ein in bekanntes Gewässer, wo mir jedes Leid vertraut war und ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ich kannte die Intensität und die Kneiftechnik, mit der ich den Juckreiz linderte, ohne dass er nachher unerträglich war, ich hatte eine Salbe, die kurzfristig half, und ich amüsierte mich dabei, Theorien aufzustellen; in Gedanken redete ich mit dem Jucken wie mit einem Vertrauten, den ich nicht mochte und der dennoch alles über mich wusste. Als ich an einer Lebensmittelvergiftung erkrankte, vermisste ich die Zeiten, in denen ich mich nur mit dem Jucken beschäftigt hatte; ich wünschte es mir zurück, wie sich andere Leute ihre Jugend zurückwünschten. Mit der Wiederherstellung meiner Gesundheit war auch das Jucken wieder da, zur Begrüßung gönnte ich uns eine neue Körpercreme und schloss Wetten mit mir selbst ab, ob sie es wohl schlimmer machen würde. Meine Schwester schüttelte den Kopf, als sie meinen Arm sah. Wann ich den nächsten Arzttermin hätte, fragte sie. Ich sagte, nächste Woche. Sie sagte, es wäre höchste Zeit, dass ich das in den Griff bekäme. Ich nickte. Ich hatte den Termin abgesagt.

Ich saß an meinem Schreibtisch im Büro, die Kollegen stressten, die Kunden hatten unmögliche Wünsche und ich kratzte mich am Arm. Er juckte. Ich lächelte.

Christina König

FM4 Wortlaut 2022
Mosaik Literaturzeitschrift

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23157

Die Armee

In der demokratischen Volksarmee wird ständig abgestimmt. Das muss so sein, es herrscht ja Volkes Wille. „Wer ist dafür, dass wir angreifen?“, fragt der Hauptmann in die Runde. Drei von hundertfünfzig zeigen auf. „Also nicht“, fährt er fort, „was wollt ihr dann?“ „Hierbleiben und die Ausrüstung pflegen“, sagt einer. „Warten, was passiert“, ein anderer. „Wie wär‘s mit Schützengräben ausheben?“, fragt der Hauptmann. „Nein, nein, zu anstrengend“, kommt es aus vielen Kehlen. „Essen, freihaben, ins Puff gehen“, ist ein weiterer Vorschlag. „Aber Männer“, sagt jetzt der Hauptmann, „wir sind doch eine Armee, und ich bin euer Kommandant.“ „Ja“, sagt nun ein junger Leutnant, „aber wir sind eine demokratische Armee.“ „Volksarmee“, ergänzt ein anderer.

Der Militärwagen am Faschingsdienstag 2019 in Waidmannsdorf

Der Militärwagen am Faschingsdienstag 2019 in Waidmannsdorf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 24009

Leben

Die Gänge des Lebens
verschachteln sich
sorgen für Verwirrung
im Herzen
schmerzen
je mehr Jahre es frisst
Straßenverläufe
können kompliziert
unübersichtlich
und verworren werden
verwirren
lassen verirren
weil die Richtung
nicht klar erkennbar ist
manche Wegweiser täuschen sogar
falsche Fährten vor
erweisen sich nicht
als hilfreich und
mit den Jahren
häufen sich Sackgassen
die eine ungebremste Fahrt
erschweren
oder gar
ganz blockieren
zurück geht es nimmer

Wege verschmälern sich
von Zeit zu Zeit
und am Straßenrand
lauert Gesagtes
das sich nicht mehr
verrücken lässt
sorgt für überraschende Fortläufe
die so
nicht geplant waren
sowieso
ist die Reise
nicht planbar
unvorhersehbar
mal bunte Blumen
dann karges
felsiges
Ungesagtes
das den Weg versperrt
unerhört
den Fluss stört
und Verdruss
ist unausweichlich

Wahre Lebenskunst beweist
wer sich im Schildergewirr
nicht verirrt
sich im richtigen Tempo
fortbewegt
nicht zu schnell
und nicht zu langsam
sich nicht verrennt
mögliche Beifahrer
die zur Entwirrung beitragen
erkennt
und den falschen
die Tür verschließt
einen Stau
schon von Weitem wittert
großräumig umfährt
und dabei
über eine fast vergessene
duftende Blumenwiese fliegt
die dich in eine andere
Richtung denkt
verloren geglaubte Träume
wiederbelebt
die Sinne anregt
deine Bahnen leerfegt
und dich in freier Fahrt
durch dein Herz lenkt

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer:  23115

Von Zeit zu Zeit vermiss ich dich

Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt
und aus der Tiefe unserer Augen blitzt
verschmitzt die verwandte Seele. In unsren Adern
fließt das gleiche Blut, vielleicht hadern
wir mit der gleichen Wut und mit ähnlichen Sorgen.
Und in unsrem Innern verborgen
liegt der gleiche Kern, der einst mit der vertrauten Wärme umhüllt
und sich bis heute aus dem gleichen Liebesfluss füllt.

Deshalb will mir so oft
nicht in den Kopf,
wie es sein kann,
dass ich den Mond einfang
und du die Sonne …
Und mein Herz wird ganz schwer,
weil ich mir so sehr wünsch,
dass es anders wär.

Ich frag mich, wann es geschehen ist,
dass ich nicht mehr sah, wo du grad bist,
schwimm kraul durch mein Gedankenmeer,
dreh mich im Wasser hin und her,
tauch bis zum Grund, schwimm dann rund-
herum im Kreis, denk mir meine Synapsen wund
und kann ihn nicht sehn,
den wahren Grund als kostbaren Fund am Meeresgrund, um zu verstehn.

Dann rätsele ich, wie es sein kann,
dass ich den Mond einfang
und du die Sonne …
Warum wir wie Feuer und Wasser sind
und ich partout keine Antwort find.
Vielleicht ist es einfach zu lang her.
Doch von Zeit zu Zeit
da vermiss ich dich sehr.

Heute Nacht hab ich mit dir getanzt,
wir haben gelacht, und ich fühlte du kannst
mir endlich verzeihn, hast mich so liebevoll angesehn,
ich wollte mich immer weiterdrehn,
vom Glück beschwingt, das in mir ums Überleben ringt,
weil du im Licht zur Wirklichkeit mutierst,
und wenn der Tag ausbricht dein Lachen verlierst,
dann löst sich für mich dein Gesicht auf im Sonnenlicht.

Doch solang
ich ab und an
von dir träumen kann,
ist es nicht mehr so schwer,
dann hol ich dich her
und tanze mit dir.
Niemand kann mir
meine Träume nehmen.

Ich will sie dicht ins Leben weben,
um dem Tag mehr Farbe zu geben.
Denn in meiner Fantasie
sind Mond und Sonne in Harmonie.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23081

 

Laute Stille!

Es ist fünf Uhr früh, leise öffnet sich die angelehnte Tür, du schlüpfst hindurch und wir hören deine Pfotentritte auf dem Parkettboden des Schlafzimmers. Ich muss schmunzeln, denn es ist immer sehr spannend, welche Bettseite du wählen wirst, wo du dann die Nase auflegen wirst und in die scheinbar schlafenden Gesichter schaust. Heute bin ich an der Reihe, du hast mich ausgewählt, dir die Verandatür zu öffnen, damit du in den Garten kannst.

Ich betrachte den Sonnenaufgang am Horizont und warte, bis du mit deinem Frühmorgengeschäft fertig bist. Du läufst an mir vorbei zur Wasserschüssel, ich streichle dein weiches Fell und lege mich nochmals hin. Wir hören dich immer zufrieden seufzen, wenn du es dir dann im Hundebett in der Garderobe gemütlich machst. Ein heimeliges, freundliches, glückliches Durchatmen eines frohen Hundes.

Geschäftiges Treiben dann später in der Küche, wenn alle Hausbewohner zum Tagwerk übergehen. Die Kaffeemaschine rattert, der Wasserhahn läuft, die Kühlschranktür wird geöffnet. Das ist immer dein Code – Kühlschranktür! Nun bist du mittendrin, wuselst zwischen unseren Beinen hin und her und kannst es kaum erwarten, bis ich deine Futterschüssel mit Frühstück befülle. Mit Eifer und Appetit verschlingst du deine Ration, die Emailschüssel klappert und klirrt auf dem Fliesenboden, ein Geräusch, das unseren Tag einläutet. Ich streichle über dein weiches, wohlriechendes Fell.

Wenn ich im Sommer anschließend das Gemüsebeet gieße, kommst du immer mit in den Garten, bellst und wedelst mit dem Schweif an meiner Seite und hüpfst durch die Pferdekoppel, ganz wichtig bist du und unheimlich geschäftig. Ein paar Jahre später wirst du nur mehr still an meiner Seite stehen und warten, bis ich fertig bin.

In deinen jungen Jahren rast du anschließend über die Holztreppe in den Keller und läufst mit in den Pferdestall, kontrollierst unsere Arbeit, wie ein Vorarbeiter nimmst du alles unter die Lupe, damit wir ja nichts vergessen. Ich streichle über dein sonnenwarmes Fell.

Womöglich landet bei der Fütterung der Pferde auch etwas Kraftfutter am Boden, das verleibst du dir natürlich sofort ein. Einige Jahre später willst du lieber im Haus bleiben und dich wieder hinlegen.

Nach getaner Stallarbeit gehen wir ins Obergeschoß ins Büro, du folgst uns über die Holztreppe, rollst dich unter dem Schreibtisch zu einem Fellknäuel zusammen und schläfst ein. Wir müssen immer gut aufpassen, damit wir dich mit den lauten Bürosesseln und unseren Füßen nicht wecken. Einmal ziehst du den Stromstecker des PC’s, als du dich reckst und streckst unter meinem Tisch. Ansonsten bist du ein ruhiger, angenehmer Bürokollege und man spürt dich kaum.

Erst zur Mittagszeit, wenn ich in der Küche Essen zubereite, bist du wieder ganz wichtig bei der Sache. Codewort Kühlschranktür! Jeden Arbeitsgang beobachtest du ganz genau, es besteht ja die Möglichkeit, dass mir etwas Essbares von der Anrichte fällt, auf dem Boden vor deinen Pfoten landet. Ich brauche selten einen Staubsauger nach dem Kochen. Wie eine alte Primaballerina hüpfe ich an dir vorbei zwischen Herd, Vorratsladen, Geschirrschränken und Spüle. Nie ist es in all den Jahren passiert, dass ich aus Versehen über dich gestolpert bin. Und manchmal streichle ich zwischendurch über dein Fell.

Einige Jahre später wirst du nur mehr mitten in der Küche am Boden liegen, ein wenig dösen und abwarten, bis ich fertig bin mit dem Kochen.

An den Wochenenden oder Feiertagen nehmen wir dich am Nachmittag mit zu einem langen Spaziergang. Manchmal bist du auch der Reitbegleithund für meinen Mann, du darfst dann an seiner Seite neben dem Pferd laufen. Das sind immer deine absoluten Highlights, das übersteigt sogar noch die Kühlschranktür. Schnauze Richtung Boden, Rute in die Höhe und so ziehen wir durch Wälder, Güterwege und Landschaften. Es ist immer unglaublich spannend für dich, egal, wie oft du einen Weg schon gelaufen bist, es gibt immer etwas zu entdecken. In ganz jungen Jahren sind wir am Hundeplatz und auf Agilityturnieren mit dir. Deine Aufregung ist dann besonders groß und so ein Turniertag mit der zwölfjährigen Tochter an deiner Seite eine Riesenfreude. Du lernst ihr sehr viel in diesen Jahren: Geduld, liebevolle Konsequenz, korrekte Körpersprache, Verlässlichkeit und Fürsorge. Du wirst ihre Jugendzeit prägen und wir sind unheimlich dankbar dafür. Und sehr oft an solchen Tagen streicheln wir dein windzerzaustes Fell. Später wirst du keine Turniere mehr laufen, aber du begleitest uns auf Almhütten in die Nockberge, wanderst ruhig und unaufgeregt über sanfte Hügel mit uns, genießt den Ausblick beim Lagerfeuer an der Hütte über die Berge und vielleicht fällt manchmal auch etwas für dich ab vom leckeren Essen, ich denke da an einen vorbereiteten Eierschwammerlstrudel, der auf deiner Schulterhöhe zum Abkühlen in der Speisekammer gelagert ist. Wir lachen heute noch darüber. Überhaupt eroberst du mit Leichtigkeit und deiner eigenen Art von Humor alle Herzen unserer Freunde, Bekannten und Verwandten im Sturm.

Dein Leben auf dem Pferdehof ist ausgeglichen und routiniert, wir können die Uhr danach ablesen. Wenn wir mit der abendlichen Stallarbeit beschäftigt sind, liegst du in der Wiese vor dem Stall und wartest geduldig, du siehst den Spaziergängern und Reitern auf der Straße zu, beobachtest Schmetterlinge und im Winter spielst du mit den Schneeflocken. Nie, niemals läufst du in den angrenzenden Wald und gehst alleine auf die Pirsch. Du kennst deinen erlaubten Bewegungsradius sehr gut. Manchmal haben wir Besuch im Reiterstüberl und hier hast du einen Sonderplatz, du darfst auf einer Decke auf der Eckbank liegen. Wir streicheln dann ausgiebig dein weiches Fell. Aber nur hier im Stüberl darfst du auf der Bank schlafen, im Haus ist es nicht erlaubt und du weißt das von Anfang an. Niemals liegst du auf dem Sofa, du denkst gar nicht darüber nach – okay, ganz selten doch, wenn ein Gewitter tobt oder es stürmisch ist, dann würdest du dich doch gern zu uns auf dem Sofa an uns schmiegen. Einige Jahre später wirst du nichts mehr hören und dann plagt dich auch das Grollen eines Donners nicht mehr.

Gerne läufst du an solchen Gewittertagen auch über die Treppe in den Keller und verkriechst dich, dort ist es nicht gar so laut und bedrohlich. Überhaupt liegst du oft vor Türen und Treppen, wenn niemand daheim ist. Das Schweifwedeln fällt dann besonders üppig aus, wenn jemand heimkommt und du nicht mehr alleine bist. Wir streicheln dann extra lobend und liebevoll dein schokobraunes Fell. So herzlich begrüßt zu werden macht allen Familienmitgliedern Freude. Später werden wir Absturzgitter an den Stiegen anbringen, du kannst nicht mehr gut Treppen laufen und wir haben Angst, dass du hinunterstürzt.

Und heute sitze ich da und die Stille im Haus und am Hof ist so laut, dass es in den Ohren schmerzt. Kein zufriedenes Seufzen mehr vom Hundebett, kein klapperndes Emailgeschirr beim Fressen, keine tapsigen Pfotentritte mehr auf Holzböden und kein Bellen mehr aus dem Garten. Unglaublich laute Stille!

Vierzehn Jahre hast du uns und unseren Tagesablauf geprägt, unser Leben unheimlich bereichert. Dein weiches Fell fehlt unserer Haut, deine bernsteinfarbenen Augen bleiben unvergessen, deine Herzlichkeit und Fröhlichkeit, dein wirbelndes Wesen in jungen Jahren, dein sanftes Gemüt als Senior. Du fehlst so sehr, dass es körperlich weh tut. Du warst unser aller Schatten, Tag für Tag!

Und täglich beim Öffnen der Kühlschranktür muss ich lächeln und wenn noch manchmal Hundehaare auf unseren Socken zum Vorschein kommen, freuen wir uns ein bisschen. Und sei gewiss, wir werden dich alle nie vergessen, mein Freund!

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23069

Herr Twaroch kauft ein Auto

Der NEUE war fällig: Die Reparaturtermine des bewährten Familien-Opels verdichteten sich, und bei der vorgestrigen Überprüfung waren Roststellen aufgetaucht. Der Twaroch’sche Familienrat tagte nach dem Abendessen:

Für Herrn Amtsdirektor Twaroch war alles klar – man würde wie gewohnt das aktuelle Modell von der nahegelegenen Opel-Vertretung beziehen. Offen war nur, ob man den alten Wagen zurückgeben oder günstiger privat verkaufen sollte. Frau Twaroch, weil bar jeden technischen Interesses, war immer „federführend“ bei Farbe und Ausstattung, und der studierenden Tochter war die Familienkutsche sowieso immer zu spießig. Einzig der Zeitpunkt war heikel, denn der Urlaub stand vor der Tür. Sollte man nun trachten, unverzüglich das neue Modell zu erhalten (wozu Frau Twaroch neigte), oder wäre nicht besser – so ihr Gemahl – noch mit dem alten Wagen zu fahren, um in Ruhe auswählen zu können?

„Einmal möcht ich erleben, dass du was gleich zuweg bringst“, ließ Frau Twaroch alten Groll von der Seele – „und nicht ewig herumzögerst wie in dein’ Amt – wenigstens z’Haus könntest die Ärmelschoner auszieh’n!“ Das traf ins Herz! Die Tochter gluckste amüsiert – und Frau Twaroch legte ein Schäuferl nach: „Und bring bitte morgen Nachmittag die Prospekte mit, dass was weitergeht!“ „In Gottes Namen“, gab Herr Twaroch nach und trank grantig sein Bier aus. Den „Ärmelschoner“ würde er bei Gelegenheit zurückzahlen, das war zu viel!

Bei Opel saß zu der Zeit Verkaufsdirektor Neunteufel mit den Verkäufern im Büro und machte Druck: „Jetzt bekommen wir nächsten Monat die neuen Modelle herein und dieser überständige zuckerlrosa Corsa ist noch immer nicht verkauft! Ja, ja, ich kenne seine Geschichte – aber jetzt ist Feuer am Dach! Wir können 15% Rabatt geben – und wer ihn die nächsten acht Tage verkauft, bekommt zusätzlich einen Urlaubstag – also schauen Sie dazu!“ Die Herren nickten schweigend.

Herr Twaroch betrat am nächsten Tag mit gemischten Gefühlen das Autohaus. „Sein“ langjähriger Verkäufer war auf Probefahrt – und so nützte der junge Herr Pfusterschmidt die Gunst der Stunde. Beflissen kramte er die Prospekte heran, erklärte geduldig die Neuheiten und technischen Finessen, bis die Rede auf die Lackierung kam: „Wir bekommen unsere drei Vorführautos in ca. fünf Wochen herein – in Oxydblau, Weinrot und Neusilber, dann ist je nach Farbe mit acht bis zwölf Wochen Lieferzeit zu rechnen.“ „Ich würde den Wagen in vier Wochen brauchen, wir haben den Urlaub schon gebucht“, erklärte Herr Twaroch ungeduldig, „Geht das nicht schneller?“

„Ich fürchte nein, alle Händler bekommen die neuen Modelle gleichzeitig, und dann hat Opel Werksferien – es sei denn ...“. Hier fiel Herrn Pfusterschmidt der rosa Corsa ein. Das könnte die Chance sein! Aber gleich verwarf er den Gedanken. Sein Kunde war Anfang 50 und hatte immer würdige unauffällige Mittelklasse-Diesel gefahren. Schade!

„Es sei denn was – gibt es noch eine Möglichkeit?“, drängte Herr Twaroch. „Nun, wenn Sie sich rasch entschließen könnten, ein unkonventionelles spritziges Modell zu fahren – wir haben noch einen Corsa auf Lager, den eine junge Anwältin bestellt, aber noch nicht abgeholt hat“, erklärte der Verkäufer, „Das Modell spricht alle Sprachen, hat 90 PS und sieht fantastisch aus! Den könnten Sie sofort und mit 15 % Preisabschlag bekommen!“

Herrn Twarochs Hirn arbeitete fieberhaft. Die Worte unkonventionell und spritzig waren ihm unangenehm – er liebte sein ruhiges, geordnetes Leben – aber andererseits: Er könnte erfolgreich mit „Beute“ nach Hause kommen, und 15 Prozent Nachlass wäre eine hübsche Summe, und die Kollegen würden schauen, wenn er mit einem flotteren Wagen ankäme, und unbewusst juckte es ihn doch, seine beamteten Fesseln zu lockern, und und und. Nur, was würde seine Frau dazu sagen? Ohne sie war doch bisher nie eine Entscheidung gefallen. Aber hatte sie gestern nicht den Bogen überspannt mit den „Ärmelschonern“? Und einen Zauderer hatte sie ihn genannt – das schrie nach Vergeltung! „Zeigen Sie mir halt das Auto“, sagte er gespielt reserviert und unverbindlich, „anschau’n kann ich mir’s ja, das kost’ nichts.“

Der Verkäufer roch Lunte und geleitete sein Opfer auf den Parkplatz: „Na, was sagen Sie? Ist das nicht ein Prachtstück – da dreht sich jeder um auf der Straße!“ Herr Twaroch fiel vor der himbeer-rosa glänzenden Versuchung aus allen Wolken: „Das? Mmmit so was soll ich fahren? Da glaubt ja jeder ich hab die Midlife-Crisis oder so – das fährt doch höchstens eine ganz junge Frau – also was sollen denn die Leute von mir denken?“

„Die werden höchstens denken, dass sie Ihnen das nie zugetraut hätten“, goss der mit allen Salben geschmierte Herr Pfusterschmidt Öl ins Feuer, „Und wissen Sie, was dieser junge Corsa alles kann? Das erzähl ich Ihnen auf der Probefahrt, also der Wagen hat eine Zusatzausstattung, die Sie bei weit größeren Autos teuer zukaufen müssten.“. Er öffnete einladend die Beifahrertür, Herr Twaroch stieg (vom Schock gelähmt) automatisch ein – und die Falle schnappte zu.

Der Verkäufer fuhr dosiert spritzig ein paar Kilometer stadtauswärts und plauderte dabei ununterbrochen, sodass sein Opfer nicht zum Denken kam: „Na, was sagen Sie, wie der anzieht und wie wendig er ist. Jaja, viele Leute glauben nur an die passive Sicherheit eines großen Wagens, aber erstens gibt es immer einen noch dickeren, und hier ist die aktive Sicherheit viel größer – wo Sie mit einem gleichstarken Vectra oder Astra wegen der größeren Trägheit nicht mehr überholen oder ausweichen können, flutscht dieser schnellere Corsa noch weg wie nichts, der hat ja den österreichischen Motor. Und wenn ich Ihnen die Servobremsen vorführe. haben wir beide eine gebrochene Nase. Front- und Heckscheibe sind geheizt, Airbags auch im Fond und – sehr praktisch im Sommer – Aircondition!! Die allein kostet sonst ein Schweinegeld – und hier ist sie gratis dabei! Ich sage Ihnen, wenn ich nicht vor vier Monaten einen neuen Dienstwagen bekommen hätte, ich würde ihn selbst kaufen. Ich habe vorige Woche meine Freundin bei einer Probefahrt mitgenommen – die wollte gar nicht mehr aussteigen! Und sehen Sie diese tolle Stereoanlage mit CD-Wechsler – das haben sonst nur Super-Luxus-Modelle!“

Herr Twaroch war sprachlos – und immer neue Befürchtungen und Visionen schossen durch sein kochendes Gehirn. Ein günstiger Kauf, oh ja. Aber was würde sein Chef und Vorbild, der wirkliche Hofrat DDr. Erbsendrescher, zu diesem Hippie-Auto sagen? Und seine Bekannten würden über ihn tuscheln! Seine bequem gewordene Gattin träumte sowieso von einem weißen Mercedes. Aber irgendwie fühlte er sich immer jünger in diesem bunten Flitzer, wie abgehoben.

„Lassen Sie mich zurückfahren“, sagte er endlich zum Verkäufer. In den nächsten zehn Minuten alterte Herr Pfusterschmidt um Jahre, denn nach ein paar Anpassungsfehlern fühlte Herr Twaroch, dass ihm dieses flotte Auto in die Hand wuchs wie maßgeschneidert – er fuhr wie eine gesengte Sau, aber mit einem staunenden Lächeln im Gesicht.

„Ja, lauft wirklich gut“, lobte er gekonnt gelangweilt nach unfallfreier Rückkehr, „aber ob das für mich der Richtige ist – also ich weiß nicht!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. Da kam Herr Neunteufel über den Platz, begrüßte den Stammkunden herzlich und spürte dessen Unsicherheit. Prompt verwies er den Verkäufer an eine wartende Dame und bat Herrn Twaroch in sein Büro. Die offenherzige Frau Mitzi servierte den Türkischen, und der Verkaufsleiter eröffnete routiniert: „Herr Twaroch, wie kann ich helfen – sind Sie über das Modell unsicher oder überdenken Sie bereits Ihren Entschluss?“ Der Amtsdirektor nippte am Mokka: „Sie sind ein guter Menschenkenner, es trifft beides zu“, und erzählte sein Dilemma. Herr Neunteufel hörte aufmerksam zu und lehnte sich dann zurück:

„Es stimmt, das neueste Modell in vier Wochen ist unmöglich. Also bleibt nur abwarten oder den Corsa nehmen. Darf ich Sie bitten, ein paar Fragen spontan mit Ja oder Nein zu beantworten? Gut. Brauchen Sie den Wagen oft dienstlich? Nein? Brauchen Sie ein großes Auto, weil Sie viel und schweres Material transportieren? Nur den Wocheneinkauf? Fahren auch Gattin und Tochter öfters mit dem Auto? Ja? Wollen Sie heute mit einem Auto nach Hause kommen – Ja? Das war’s, Herr Twaroch, ich glaube Sie haben bereits entschieden. Wie Sie da hereingefahren sind, so schwungvoll und gut aufgelegt, habe ich Sie noch nie gesehen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie sich für den Corsa entscheiden, können Sie Ihren alten Vectra zu uns stellen, bis er verkauft ist. Und damit Sie und die Gattin sich so kurz vor dem Urlaub noch an das Auto gewöhnen können, stelle ich Ihnen für das nächste Wochenende meine kleine Ferienwohnung am Faakersee zur Verfügung, na, was sagen Sie? Das nächste Auto kann ja dann wieder ein größeres sein. Natürlich muss der Wagen auch der Frau gefallen, aber dem nachzuhelfen gibt es ein sicheres Mittel!“

Herrn Twarochs sportlicher Ehrgeiz erwachte: „Wie wollen Sie das anstellen, also da bin ich gespannt.“ Herr Neunteufel lächelte nachsichtig: „Ich bin das dritte Mal verheiratet, ich kenne mich aus. Kaufen Sie der Gattin einen himbeer-rosa Blazer und eine weiße Hose dazu, damit sie zum Auto passt. Gleich jetzt, ohne dass sie davon weiß. Wenn Sie heute unterschreiben, erledige ich die Ummeldung morgen vormittags, und am Abend steht der NEUE vor Ihrer Haustür, ist das ein Wort?“ Er hielt dem verdutzten Kunden einladend die Hand hin. Herr Twaroch holte rief Luft, dann schlug er blitzenden Auges ein! Und mit Frau Mitzis Hilfe (sie hatte dieselbe Größe wie Frau Twaroch) schaffte er Blazer und Hose noch knapp vor Geschäftsschluss. „Heute ist es sich nimmer ausgegangen – morgen bring ich dir was mit“, sagte er abends kryptisch zur Gattin und diese nickte resigniert: „Eh klar, wie immer!“

Herr Neunteufel hielt Wort („Der Teufel schlaft nicht und der Neunteufel nur drei Stund“ war ein geflügeltes Wort bei Opel). Um 17 Uhr stieg Herr Twaroch klopfenden Herzens vor seinem Reihenhaus aus dem Corsa. Was würde seine Frau sagen? Er schwitzte zu Recht: „Ja, bist du ganz von Gott verlassen – was hast du dir da gedacht? In so ein Hippie-Auto kannst bei der Love-Parade mitfahr’n, aber ich steig da nicht ein! Den gibst sofort zurück!“ Herr Twaroch trat einen Schritt vor: „Jetzt hörst du einmal zu: Erstens wäre sich der neue Wagen bis zum Urlaub nicht mehr ausgegangen, die haben zwei bis drei Monate Wartezeit – und zwar überall! Aber bitte, du wolltest ihn gleich haben. Zweitens hat dieser endlich eine Super-Klimaanlage, und du jammerst eh immer so, wenn’s heiß ist. Drittens war er sehr günstig, den ganzen Urlaub habe ich runtergehandelt – 15% vom Preis, was sagst! Und viertens hab ich dir was mitgebracht – mach einmal die hintere Tür auf und schau nach!“ Frau Twaroch bockte: „Nicht einmal mit Asbesthandschuh’ greif ich das Auto an! Wenn du dich lächerlich machen willst, bitte, aber ich nicht!“ Der Amtsdirektor atmete tief und straffte sich: „Mach auf und schau nach!“, sagte er dermaßen ruhig und bestimmt, dass sie gehorsam öffnete und staunend den Blazer ausbreitete: „Ja, wie ist dir denn das eingefallen? Und die Hose dazu? Schaut gut aus! Also ich kenn dich ja gar nimmer?“ Ihre geweiteten Augen flogen zwischen der Kleidung und dem Corsa hin und her.

Und wie bestellt kam gerade die Tochter nach Hause. Mit vor Staunen offenem Mund blieb sie vor dem bunten Auto stehen: „Sag Papa, ist das wahr – den hast du gekauft? G’hört der am End mir?“ Herr Twaroch schüttelte lächelnd den Kopf: „G’hör’n tut er jetzt uns allen, weil die letzten zwei, drei Jahr’, wo du noch bei uns wohnst, kannst natürlich auch damit fahren, und die Mama hat sich mit dem größeren beim Einparken eh immer schwer getan. G’fallt er dir, Spatzi?“ Die Tochter umarmte ihn jubelnd: „Na klar, super, darf ich gleich eine Runde machen?“ Sie küsste ihn stürmisch ab, und der Papa bemerkte nur liebevoll: „Nimm die Mama gleich mit, und ein paar CDs, weil eine Soundmaschine hat er auch!“

Die Runde dauerte fast eine Stunde, weil Mutter und Tochter sich so viel zu erzählen hatten, während der Papa mit kreisenden Gedanken in der Küche bei einem G’spritzten saß.

„Ein raffiniertes kleines G’fraßterl bist trotzdem“, sagte Frau Twaroch spätabends im Ehebett und gab ihm sein Gutenacht-Bussi, „aber ein liebenswertes.“ Herr Twaroch schlief ein in der berechtigten Ahnung, dass sein Leben nun etwas bewegter sein würde als in den letzten Jahren.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 23038

Herzensmenschen

Falls ich mal wieder nachts um vier
aufwach und an den Füßen frier,
mich nur noch hin- und herwälze,
besser aufsteh und bei einer Tasse Tee
ineinander verkeilte Gedankenkristalle schmelze
und dabei über schlecht verheilte Narbenböden geh,
mich in die Stille der Nacht hülle und ihren Worten ehrfürchtig lausche,
weil sie sich damit auskennt, einsam zu sein …

Und falls ich, nach einem zweiten Schluck Tee, ihrem Sog widersteh,
nicht in ihr Klagelied einstimme, dann kann ich, wenn ich in den Spiegel ihrer Augen seh,
großes Glück fühlen, springe ins Endorphinbad meiner Sinne,
um dunkle Gedanken mit Dopamin zu umspülen,
weil ich mich darauf besinn, dass ich in dieser Welt
unter dem großen, funkelnden Sternenzelt ja gar nicht alleine bin.
Denn ich hab Herzensmenschen, die in mir wohnen,
bereit, mich von Zeit zu Zeit mit einem bunten Konfettiregen zu belohnen.

Herzensmenschen können in schweren Zeiten meinen Schmerz begrenzen.
Auch wenn die Welt da draußen sich verändert, kredenzen
sie mir tellerweise Glückskekse mit aufbauenden Botschaften,
falls mir die Kraft ausgeht, schalten die Flutlichtanlage an, damit ich sie lesen kann
und nicht aufgeb. Bilden bei meinen Gipfelstürmen Seilschaften
und fangen mich auf, wenn ich mich beim Aufstieg verschätz.
Sind da, um mitanzupacken, wenn ich Berge versetz.
Tragen Bunt, wenn ich schwarzseh, und helfen mit, meine Tiefflüge zu verkraften.

Herzensmenschen falten mit mir Traumboote
und halten meine Hand, wenn ich damit durch ein Labyrinth schipp‘re,
spielen Wind, der mich über hohe Wellen fliegt,
und hauchen mir Zuversicht zu, die meine Ängste besiegt.
Spitzen meine Farben und malen nach einem krachenden Gewitter
leuchtend bunte Regenbögen in den Himmel, bestreuen sie mit Glitter
und wollen mich tragen, wenn mein Herz aufhört zu fragen
und seine Flaggen auf halbmast hisst.

Und ich find es ganz wunderbar, dass du so ein Herzensmensch für mich bist!

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23037

Die Schaufensterpuppe  

„Meine liebe Schaufensterpuppe, es hat sich viel ereignet, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. In der Fabrik wollte man uns gleich lange arbeiten lassen für weniger Lohn oder uns zur Kurzarbeit zwingen. Wir beschlossen, uns das nicht gefallen zu lassen. Wir streikten. Es sollte ein unbefristeter Streik werden, bis wir wieder zu gleichen Bedingungen weiterarbeiten könnten. Doch unter uns waren Streikbrecher. Sie arrangierten sich mit dem Vorstand, schlugen für sich selbst günstige Bedingungen heraus und nahmen die Arbeit wieder auf. Dabei kam heraus, dass man die Maschinen auch mit weniger Belegschaft bedienen konnte, und viele von uns wurden entlassen, darunter auch ich.
Es ist heutzutage schwierig, Arbeit zu finden, also musste ich in ein anderes Bundesland gehen. Ich lebte in einem schäbigen Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel, mit Klo am Gang. Dir würde das ja nichts machen, denn du musst ja nicht aufs Klo gehen, aber ich bin doch etwas mehr Komfort gewohnt. Doch auch an diesem Arbeitsplatz ging es schief, sie kündigten mich, ich kam zurück in diese Stadt und stehe nun auf der Straße, schlafen kann ich zum Glück im Obdachlosenasyl.“

Der Mann stand in dem schicken Sisley-Geschäft und unterhielt sich mit der Schaufensterpuppe, die ein sommerliches Minikleid mit Blumenmuster trug. Die Verkäuferinnen beachteten ihn nicht. In einer Plastiktüte transportierte er eine angebrochene Rumflasche. Die Schaufensterpuppe roch seinen schlechten Atem nicht. Sie sah vornehm drein, betont desinteressiert. Seit der Mann sie einmal nicht mit Kleidung behängt gesehen hatte, hatte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Wie perfekt sie aussah! Mit großen, natürlich geformten Brüsten, langen Beinen, etwas Bauch und einem apfelförmigen Gesäß. Und dieses Gesicht! Braune Haare, große Augen und einen knallroten Kussmund. Schöner als jede Filmschauspielerin. Immer wenn er in seiner Heimatstadt war, besuchte er die Schaufensterpuppe und erzählte ihr seine Geschichten.

„Meine liebe Schaufensterpuppe, die Situation ist brenzlig geworden. Ich hatte schon lange nichts mehr gegessen und keine Zigaretten mehr, da sah ich ein offen stehendes Haus, das am Waldrand lag und nur einen direkten Nachbarn hatte. Ich ging in dieses Haus und suchte nach Bargeld, Schmuck, allem, was sich verwerten ließe, da ging die Alarmanlage los. Ich flüchtete, ging Wanderwege im Wald entlang. Doch Polizisten griffen mich auf und buchteten mich ein. Ich wurde sechs Monate weggesperrt und mir ging es nicht gut im Knast, kann ich dir sagen.“

Dem Mann kam es vor, als blinzelte ihn die Schaufensterpuppe an, obwohl sie natürlich in Wirklichkeit keine Miene verzog, das konnte sie nicht, sie war ja eine Schaufensterpuppe. Der Herbst ging gerade zur Neige und die Schaufensterpuppe trug einen Strickpullover und Designer-Jeans, darüber einen pelzbesetzten Wintermantel. „Mach dir nichts draus, es werden schon wieder bessere Zeiten kommen“, schien sie zu sagen, was sie natürlich in Wirklichkeit nicht tat, sie war schließlich eine Schaufensterpuppe.

Das nächste Mal, als der Mann das Geschäft betrat, war er gut gekleidet und roch nach Aftershave. „Meine liebe Schaufensterpuppe, es ist etwas unerwartet Erfreuliches passiert: Eine Tante von mir ist verstorben und hat mir ein Sparbuch hinterlassen.“ Der Mann sah die Schaufensterpuppe an, die die Frühjahrskollektion trug, ein tailliertes Jäckchen über einer violetten Bluse und einen Rock, der knapp über ihre schmalen Knie fiel. Eine andere nicht bekleidete Schaufensterpuppe war neben ihr aufgestellt. In dem Geschäft gab es nicht so viel Kleidung. Die Verkäuferinnen schienen nicht zu wissen, was sie der anderen Schaufensterpuppe anziehen sollten. So wandte sich der Mann an eine der Verkäuferinnen und fragte, ob sie ihm seine Schaufensterpuppe zu einem guten Preis überlassen würde. Die Verkäuferin fragte die Filialleiterin, diese sagte zu und verkaufte ihm die Schaufensterpuppe zu einem sogar günstigen Preis, da sie doch schon ein älteres Modell war.

Glücklich trug der Mann die Schaufensterpuppe in sein neues Zuhause. Er platzierte sie auf der Wohnzimmercouch, zog ihr Tagesgewand an und ein Nachthemd, wenn er schlafen ging, stets etwas anderes. Er erzählte ihr seine Geschichten und sie hörte immer aufmerksam zu.

Die Schaufensterpuppe im Kleid mit großen silbernen Pailletten im blauen Bogenschaufenster

Die Schaufensterpuppe im Kleid mit großen silbernen Pailletten im blauen Bogenschaufenster

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23027