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Mein Leben mit A.

Es waren zwei Figuren, die der eher naiven V., die ebenso sicher ihren Platz im Wiener kulturellen Leben zu verteidigen wusste, als auch A., die es eher verkrampft, aufsteigerisch dazu bringen wollte: der Drang über anderen stehen zu wollen, kulturell, intellektuell, moralisch. Nichts auslassen zu wollen: Kultur als eine Möglichkeit, das Leben ändern zu wollen. Ebenso nahbar wie andererseits unnahbar.

Ich hätte mich nicht mehr erinnern können, wann der Regen begonnen, noch, wann er wieder aufgehört hatte. Die Situation, die – historisch betrachtet – auch als Brautlauf betrachtet worden war: Sie zur Rechten, ich zur Linken. Ich den Regenschirm haltend, wortlos.

Das eigentlich Sonderbare war die Abwesenheit von wechselseitiger Aggression, also auf beiden Seiten, und vielleicht hätte ich die Sicht der anderen Person doch kennenlernen müssen.

Denn siehe, der Winter ist vorbei, die Regenzeit ist vorüber, ist vergangen.

Nicht einmal das genaue Aussehen ist ihm geblieben außer den dunklen Haaren, und als er später einmal ihr Gesicht auf einem Foto gesucht hat, ist er erschrocken, dass er nichts mehr finden konnte. Die erste nicht wahrgenommene Gelegenheit.

Was mir noch an ihr aufgefallen war seit unseren ersten Gesprächen: Sonnenbrille, ein neongelbes Kapuzenshirt und ein abgeschnittenes bonbonfarbenes Stück einer Gardine, das sie damals darunter getragen hat, gewissermaßen als Rock: „Ganz so irre dürfen Sie sie sich auch nicht vorstellen“, sagte ihre Mutter einmal, sie habe schon ein gewisses Niveau, und wenn sie in eine Aufführung geht, dann ist alles in bester Ordnung, dann ist sie äußerlich wahnsinnig gepflegt. Dazu kommt noch die Schönheit unbefangener Gespräche: Sie war darin Weltmeisterin.

War diesen Gesprächen aber nicht immer auch zu eigen, dass in ihnen vor allem die Langeweile erstarb, welche den Ich-Erzähler durch das Aufwerfen der Fragen und Gedanken, die sie immer und immer wieder vor sich hergetragen hatte, aber den anderen um sich herum verschwiegen hätte?

Belanglosigkeiten. Mit Belanglosigkeiten provozieren. Die Kunst, dass einem dies auch gelang.
Eigenartig, dass sich ein solches Entsetzen über Beiläufigkeiten manchmal wiederholen konnte. Theoriebildung auch über die am weitesten hergeholten Ereignisse:

Der Tiananmen-Jahrestag war vorgestern, darauf muss man aber auch erst mal kommen, und wenn die Chines/Innen vielleicht etwas mehr Glück gehabt hätten, so sagte es mir gestern wieder A., wer weiß, ob die Europäische Gemeinschaft nicht längst schon den Laden dichtgemacht hätte. China ist halt anders. Bei uns legitimiert sich die Macht der Politiker/Innen daraus, dass wir alle vier Jahre auf einen Zettel ein Kreuz zeichnen können, in China müssen die Politiker/Innen halt Leistung bringen, um ihre Legitimität zu bestätigen: Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, Kindergartenplätze und so weiter. Ich finde diese Situation aber surreal. Denn obwohl sich viele Städte der Millionengrenze genähert haben, werden rasch Zweifel an ihrer Urbanität laut. Denn, wenn der/die geneigte Leser/in ebenfalls schon einmal in den Genuss eines Besuches westlicher Metropolen gekommen wäre, würde er/sie wahrscheinlich sehr schnell bemerken, wenn er/sie dort einmal gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ausschau hielt, dass letztere dann doch überwiegen dürften. Vielleicht hätte es ja etwas damit zu tun gehabt, es kann aber überhaupt nichts damit zu tun gehabt haben. Den Genuss des anderen stehlen, indem der Nichtgenuss des anderen genossen wird.

Sicher, wie Lilien blühen nur Lilien und war es nicht endlich an der Zeit, sich diese botanischen Metaphern ein für alle Mal abzugewöhnen?

Obwohl ich sie seit Längerem kannte, war unsere Nähe stets eine ambivalente – ich kann nicht dichten, das ist es. Und wenn ich diesen Raum noch einmal mit meinem inneren Auge betrachtete, dann ist mir dieser Moment immer noch so starr eingefroren da oben. Es erhob sich plötzlich ihre Stimme […] meine unbeschreiblich große Distanz zu diesem Menschen …

Sicherlich wäre es für seinen Charakter erbaulich gewesen, sich mit dem verschmutzten, seit dem letzten Winter vom Schimmelpilz befallenen hölzernen Klappgartentisch auseinanderzusetzen, aber nicht jetzt. Um 2:45 Uhr ein Taxi gerufen, zu Fuß nach Hause wäre jetzt nicht mehr möglich gewesen. [Auch eine Möglichkeit: der Dachboden; was früher hier passiert ist, interessiert keinen.]

Als wäre es das schon gewesen, sagte ich, bevor ich von ihr ging, dass ich nicht die Absicht gehabt hätte, hier meine Arbeit fortzusetzen, und irgendwann würde mir dies auch mit Sicherheit furchtbar leidtun, aber so weit sei ich gerade gefühlsmäßig noch nicht gekommen. Sie sollte das zu verstehen versuchen und ohne mich eine Lösung finden. Aber vielleicht wollte ich es ja gar nicht, so sehr hätte mich allein der Gedanke, dass meinem Gegenüber durch diese Bestrebungen alles zuwiderlaufen würde und sich der Graben zwischen uns beiden noch mehr auftun würde, aus meinen Tagträumen reißen müssen. Leider war diese Idee in meinem Kopf noch viel zu lebendig, als dass ich mich kurzfristig hätte davon losreißen können. Ich hoffte ja auch, endlich von dem Druck befreit zu sein, der sich jahrelang in meinem Inneren angestaut zu haben schien und den ich jetzt in einen gewaltigen Schlussakkord überführen wollte, gleichgültig, ob dessen Ergebnis gut oder schlecht ausfallen sollte. Wie in einem süßen Traum: Alles schien zu gelingen, du scheinst dich wohlzufühlen, du kannst dein Glück noch nicht fassen, bist aber dennoch ständig getrieben, eine Kleinigkeit erledigen zu müssen, bevor du dein Glück genießen darfst. Und dann ist es meistens auch schon wieder zu spät.

Ausbilden: Einen Menschen aus ihr machen, vielleicht war das mein Plan und sie auch dazu bringen, wo er sich nie sehen konnte: Verwirklichen all die hehren Gedanken, die er mit sich herumgetragen hatte …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24070

Unverhofft kommt der Tod

Ich war nicht darauf vorbereitet, dass du gehst, glaube fast,
dass man niemals wirklich vorbereitet ist.
Und während ich in einer schalldichten Blase schweb
und verzweifelt an deinem Leben kleb,
rechne ich jeden Moment damit, dass du gleich vor mir stehst,
dich zu mir drehst, und mir – wie immer – erzählst, worüber du gerade nachgedacht hast.

Doch es bleibt still. Kein Laut von dir.
Nur trockene Luft, in die ich mich hüll, an der ich erstick
und meterdick Eis unter mir.
Und der Wind singt mit geneigtem Haupt dein ewiges Lied.
Zelebriert ehrfurchtsvoll deinen Abschied.
Erlaubt dann der Welt, sich weiterzudrehen, und flüstert mir Tor
im Fortgehen noch leise ins Ohr,
dass er das laute Toben in mir,
das mehr und mehr anschwillt,
und mich schon bald bis zum Rand füllt,
nach und nach besänftigen will.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24049

Die schöne Unbekannte

Zum ersten Mal traf ich sie in der Bibliothek. Das war gleich nach Neujahr. Ich setzte mich neben sie und bemerkte, als sie ging, dass sie einen schönen gemusterten Schal trug.

Die erste Begegnung blieb folgenlos. Ich ging meinen Tagesgeschäften nach und beschäftigte mich mit anderen Dingen. Es war mir klar, dass ich nicht allein sein wollte und dass diese junge Frau mit dem gemusterten Schal eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verlieben. Leider wusste ich über sie so gut wie nichts. Und dass ich so gut wie nichts über sie wusste, versetzte mich in einen sehr unangenehmen Zustand: Ich hoffte sehr darauf – so unwahrscheinlich es auch war – , dass ich sie wiedersehen und mich mit ihr austauschen könnte.

Eine dieser Gelegenheiten war eine Veranstaltung in einem Jugendzentrum, wo ich hoffte, sie wiedersehen zu können. Ich war schon voller Vorfreude auf dieses Treffen, aber leider war dieses Zentrum, von dem ich nie zuvor etwas gehört hatte, zu weit außerhalb der Stadt und ich kam nur bis zur Endstation der Straßenbahn. Von dort an ging ich am Abend einige Kilometer weit, aber das Jugendzentrum war, wie gesagt, nicht zu finden.

Als ich sie zum zweiten Mal traf, ging sie im Sommer mit einer Sonnenbrille die Stiegen in der Universitätsbibliothek hinauf. Ich hätte sie ansprechen können. Aber es bot sich mir keine Gelegenheit.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie wiederzusehen und war mir im ersten Moment auch noch nicht sicher, ob es sich um die selbe Person handelte, die ich schon zu Beginn des Jahres gesehen hatte.

Dieses zweite Mal des Sehens war für mich schon etwas vager. Ich verspürte nicht mehr das große Bedürfnis, dieser Person näherzukommen, aber dennoch war wieder etwas mit mir geschehen, das mich in seinen Bann zog.

Es vergingen einige Jahre und die Frau geriet in Vergessenheit. Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber eines Tages ergriff mich plötzlich die Erinnerung an diese Person sehr stark. Zwar konnte ich nur erahnen, dass sie Michaela hieß und Pädagogik studierte. Auch an ihre warmen Worte „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag dir noch!“ erinnerte ich mich. Zu dieser Zeit lebte ich schon in einer anderen Stadt und war ihr entfernter. Entfernter noch als an diesem Tag im Jänner, als ich das Jugendzentrum suchte. Wenn es doch irgendwie möglich gewesen wäre, ihr von mir etwas zukommen zu lassen. Einen Liebesbrief oder ein Geschenk. Oder ihr einen Gefallen tun.

Mich ergriff die innere Leere. Und es gab nichts, womit diese Leere auszufüllen gewesen wäre. Ich übte mich im Zen.

Eines Tages streifte ich wieder durch die Stadt und ich hatte die vage Hoffnung auf eine ähnliche, aber neue Begegnung dieser Art. Nach einigen Minuten des Umherflanierens sah ich den Eingang eines indischen Restaurants. Da mich die exotische Speisekarte sehr reizte, trat ich ein und bestellte mir ein Curry. Die Gedanken an Michaela würden stärker, und als ich das Essen serviert bekam, merkte ich anfangs noch nicht, wie stark das Vindaloo gewürzt war. Ich nahm einen Bissen und noch einen Bissen. Dann ergriff mich die Schärfe und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich kämpfte mit mir, da es mir schwindlig wurde, und mir schnürte es die Kehle zu. Mir tränten die Augen und die Außenwelt wurde immer verschwommener.

In diesem Moment sah ich Michaela noch einmal in der Bibliothek, diesmal in einem Sommerkleid und mit einem Strohhut. Sie sah mich lange an, dann begann sie zu lächeln.
Nach einer Weile, die sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, sagte sie:

„Schön, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast.“ Und verschwand.

Natürlich war der letzte Teil meiner Geschichte erfunden und das Erlebnis im indischen Restaurant hat es nie gegeben. Dennoch – soweit es mir noch möglich ist – möchte ich die Erinnerung an Michaela festhalten. Ihr sei diese Erzählung gewidmet.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24034

 

An den Tod

Vor dir, grausamer Geist, war noch niemand gefeit.
Raubst mir mit eisiger Kälte die Lebendigkeit,
ließ’t nicht lang auf dich warten.
In deinem Spiel mit offenen Karten
schlugst du rücksichtslos zu –
mit deiner unerbittlichen Endlichkeit.
„Leben geht nicht ohne mich“, sagst du,
lachst hämisch und räkelst dich selbstverliebt.
Zielst mitten ins Herz, mit tödlicher Absicht,
und jeder, der tief getroffen zurückblieb,
ergibt sich verzweifelt. Wollte dein Kommen nicht.

Jedermann fürchtet dein Gesicht aus Stahl,
deine lederne Haut, glanzlos, aschfahl,
und deinen bleiernen Mantel in Schwarzviolett
aus reißfestem Garn, luftdicht, adrett,
mit dem du grauenvoll alles Leben erstickst.
Doch das feine, seelische Band, das zerstörst du nicht!
Weil du mit Scheuklappen und aus egozentrischer Sicht
auf das, was gewesen ist, nicht zurückblickst.
Auf all meine Erinnerungen, die dich überdauern.
Die will ich als Schatz hinter bruchsich’ren Mauern
in meinem Herzen versilbern,
um dein Grauen zu mildern.

Noch ein Wort zum Schluss, du wirst es gestatten:
Du Seelenloser kannst, mit deiner Hülle aus Staub,
den Trost tief in uns, mit Verlaub,
und die Macht uns’rer Liebe nicht überschatten.

In memoriam Reinhard Lüer,
dem liebsten Onkel und besten Lektor, den man sich wünschen kann.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24029

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Hintertreppen

ist es ein Beginn
das Träumen vom Erwachen
und ist es Wiederholung (es zu äußern)

die Möglichkeiten
auf Vogelfedern
zwischen Buchseiten
unter Baumrinden
zu leben

das Verlangen
nach Zwischentönen und
das Bemüht-Sein

wer weiß schon, woher
die Gedanken an Sicherheiten kommen
und wo sie zerfallen

am Anfang steht
immer (und)
ein blühender Baum

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23165

Der Mann, der sein Butterbrot nicht aufaß. Ein Kurzkrimi

Schon eine Woche zuvor, als noch Licht gebrannt hat, oben, im schwarzgewordenen Betonneubau. Die Nacht rauschte und einige vergrabene Gedanken flackerten klammheimlich zum Mond, dem einen. Über dem lieben langen Tag lag nun ein Schatten und deine Wünsche auf den Lippen, die dich aus dem Innersten durchstiegen, glucksten heraus aus dem Fenster. Eulenschlau dachtest du die halbe Nacht in irgendeiner Logik, die das Ganze aber zu ernst machen würde.

Neun Stunden später krachte regennass der Briefträger in das Haus und der schlaftötende Lärm machte mir deutlich, dass auch aus diesem Morgen ein Tag werden würde. Und zeitweilig hatte es ja so ausgesehen, dass dieser ganze Mummenschanz seine Daseinsberechtigung gehabt hätte mit einer Sprache, die das Ganze noch zusammenhalten sollte: Da lag sie nun, die Papierantwort auf die letzten Briefe von mir. Meine Augen begannen sich über deinen Brief herzumachen. Ich begann, meine Butterstulle anzubeißen, nebenbei öffnete ich das Salzfass und strich eine Prise heraus:

Einen Haufen Unsinn schreiben, den ich dir zum Lesen ausborgen werde: Aus meinen Worten spricht das ichgewordene Erzählen, das Erzweifeln nach dem Sinn, das Herausgraben der Wahrheit, das Abschälen des Schönen. Ach, und was war denn mit dir?

Deine zittrige Handschrift in dem Wutbrief, der deshalb seine Adresse knapp verfehlt hat. Doch ich hatte Glück. Glück, das ein anderer in dieser Situation nicht hatte. Unsere Nachbarin hatte unmittelbar nach dessen Lektüre gestern einen Nervenzusammenbruch und ist an den Rosinen erstickt, die sie dabei geknabbert hat.

Was dich beinahe überführt hätte: Das Durchstreichen deines Namens in der Liste. Die Graphitspur deines HB-Bleistiftes, einem Kardiogramm ähnlich, das auf ebenso eindeutige Weise dir zugeordnet werden könnte wie ein Fingerabdruck der rechten Hand.

Ein Messer ist keine Kneifzange, das sollte man als Erwachsener gelernt haben. Etwas, das da war, ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen, indem man es wegbrüllte. Die Zeilen, die dir nicht in den Sinn gekommen wären, hättest du zu deinem Leben das hinzugenommen, was auch ohne deinen Ehrgeiz zu erreichen gewesen wäre.

Du aber, du über den Bierkrug Gebeugter, dir fehlt es. Du kannst nicht den vertagten Tag heute, der nicht blau zu werden droht, in den ersten Abendstunden mit einer Flucht retten, die genauso schön zu sein verspricht wie die stille Anwesenheit des anderen. Gierte es dich zu mir hin? Du hast es in der Hand: das schönere Leben oder das verbrauchte Irgendetwas. Du armseliger, was dir dein Alter noch versüßt, sind zerstobene Erinnerungen und der Krimskrams, ohne den das Leben nicht geht: Schmerztabletten, Ausweis, Geldbörse, Erdnüsse, Schlüsselanhänger. Was dir dein achtunddreißigjähriges Leben beschert hat. Jeden Tag die gleichen Sonnenaufgänge und -untergänge in deiner Wohnung. Die leeren Worthülsen. Der Aktenstapel und Guten-Tag-Herr-Kollege-Alltag. Genauso wie sich die anderen Gleichaltrigen in der Zwischenzeit in ihrem Leben eingerichtet haben. Ein jedes Kind hat, glaube ich zumindest, einmal in seinem Leben gut malen können. Wie der Alltag jenen Idealen standhält von außen, dass immer noch alles so unzulänglich ist, nachdem ich seit dreiundvierzig Jahre lang das Licht der Welt erblickt habe. Die Zwischenzeit unseres Sehens, unseres Daseins und das alles unter dem blaugrauen Himmel. Gäbe es keine Zeit. Hätte es doch nie eine Zeit gegeben!

Sieh es dir heute noch an, zweiundzwanzig Jahre später. Das Getane einiger weniger Stunden, das über dich noch immer einen so langen Schatten wirft. Hereinbrach in unsere Welt, als ich nur aufgrund deiner Fiktionen Deutsch zu lernen begann und du eventuell meine Ergebnisse brauchtest, um ernst genommen zu werden als Mensch. Du kamst herein damals, schon nach einer Weile und meine Sinne waren mit etwas ganz anderem beschäftigt. Die vergehende, vergangene Zeit. Mir kam die Gewissheit, dass die Welt ihre ganze tausendjährige Existenz nur für diesen einen Moment ausgehalten hat. Das andere, vormals laut Niedergeschriebene: Ich gierte noch nach allem. Wie Perlen die Erfahrungen auf eine Kette reihen, ich gierte nach der Welt, nach dem Leben.

Armut, äußere, die ich als Bereicherung verstand von meinem Für-sich-Sein, und es waren immer die Nächte und das andere Sein der Nacht. Du konntest es, ich meine nicht, wofür man dir Geld in die Hand drücken konnte, du konntest dich noch frei artikulieren: Ein Baum war für dich ein Baum, ein Haus war für dich ein Haus. Manche Ziele waren noch klar und unverrückbar.

Sieh dich doch an! Dir, dem, der so oft keine Worte benötigt und dem, der doch noch einfache Worte findet, wo anderen längst Zweifel gekommen wären, dir würde ich sagen, dass das Leben mehr ist als das in seine scheinbare Ordnung Gebrachte. Wenn alles auf Deutsch gelesen werden müsste, müsste das hier ein Deutschlehrbuch sein! Man gibt seinen Fingern keine Namen, sondern ist jemand, der die in der Postmoderne abgeschnittenen Zungen sammelt. Polyphonie. Bewusstsein, dass sich auch die letzten Gewissheiten in Staub reden ließen.

Warum nicht jeder Mensch dazu verpflichtet wäre, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben? Genauso wie er Ausweis, Steuerkarten und Ähnliches besitzen würde. Nicht nur die, die es schlussendlich taten: die großen Menschen und wer sonst auch immer den ganzen Alltag gemacht hat, den stummen, den gehassten, den gewohnten.

Als der Singsang noch anderen überlassen war: Erzählgöttinnen, Zornesgöttinnen. Sprache, unsere Achillesverse imitierte tatsächlich noch Geräusche: Vögel, Donner, menschliche Stimmen. Geräusche: Schritte. Ausdruck, sprachlicher Ausdruck in irgendwelchen Farben. Du kannst es nicht beschreiben wie damals noch, 1998. Farben, die immer noch dieselben sind. Manche Wörter, die sich nicht mehr als dieselben identifizieren lassen und dazwischen das Ganze.

Wie viel Farbe das Leben heute noch lässt. Du hättest dir selbst gegenüber konsequenter sein müssen und genau das Gegenteil davon ist der Fall geworden. Du in den Erscheinungen Vertiefter. Du unter Sternenzelten Behüteter. Schon die alten Griechen pflegten ja bekanntlich zu behaupten, Rettung und Schutz für das Ganze sei demnach nur zu bekommen, wenn die Sprache auch schön sei. Was mir der heutige, zugegebene sehr warme und sonnige Tag versprochen hat am Morgen. Vergangen ist seitdem dieser Akt meines Lebens: besser für dich, besser für uns. Das innewohnende Produktive dieser Zeilen: Trost für vieles, Trost für alles!

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23125

Für meine Eltern

Ihr seid der Stamm, aus dem meine Äste sprießen
und der Fluss, in dem meine Träume fließen,
habt mich unermüdlich mit Liebe betankt,
mein Herz geformt und mich mit Dornen umrankt,
um meine Blüten zu schützen, die auf knallbunten Blättern sitzen,
und ich sah euch unentwegt durch das Leben flitzen,
weil ihr sie mühevoll angemalt habt, mit satten Strichen und samtweichen Borsten
und in leuchtenden Tönen aus eurem unerschöpflichen Farbvorrat.

Eure Wärme hat sich unter meine Haut gelegt,
und euer Atem hat meine Seele reingefegt.
Ihr wart voller Verständnis, habt meine Schwächen gesehen,
doch mich nie kritisiert und stattdessen meine Stärken gemessen,
mich für alles gelobt, was ich kann, und eure Worte haben mein Herz bewegt.
Ihr habt mich mit Vertrauen gedüngt, immer an mich geglaubt,
für mich Edelsteine geraubt und nie vergessen, mir Halt zu geben,
so konnte ich mich an euch hochziehen, mit aller Kraft aufblühen und mein Leben leben.

Ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Mein ganzes Leben seid ihr wie selbstverständlich für mich da,
hämmert mir Stützpfeiler in den Rücken und baut mir Brücken
über tobende Flüsse, streut Zuversicht in meine Träume und macht mir jeden Tag klar,
wie wichtig es ist, für sich selbst einzustehen, den eigenen Weg zu gehen,
den ihr mit Bleistift vorgespurt habt. Und wenn ich mal abgeschweift bin,
kam es euch nie in den Sinn, mit mir zu hadern, habt mich immer noch gesehen,
wie ich bin, habt an meinem Wegesrand Bäume gepflanzt, die mir Schatten spenden,
in dem ich rasten kann, um mich nach innen zu wenden und nicht so viel Kraft zu verschwenden.

Ihr hieltet mich aus, wenn ich mich selbst nicht mehr ertrug,
seid mir in die Verzweiflung gefolgt, habt um mich gezittert,
die Gefahren gewittert, als ich eine falsche Richtung einschlug,
mir klammheimlich Antikörper in mein Blut injiziert, und ich habe lange nicht kapiert,
dass ihr immer mein Bestes wollt, und weiß, seitdem ich eigene Kinder hab,
was ihr da ausgehalten habt mit mir, danke euch von Herzen dafür
und stehe jeden Tag vor eurer Tür, um euch was zurückzugeben,
euch mit liebenden Worten zu verpflegen und von meinem Segen und dem Glanz in meinem Leben abzugeben.

Denn ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Nun seid ihr alt und mir wird bewusst, dass ich mich bald
von euch verabschieden muss, dass ihr vorausgeht in eine andere Welt,
und ich zurückbleibe, elternlos bin, versuche mit aller Gewalt
den Gedanken zu verjagen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen und will ihn um keinen Preis
zulassen, weil ich weiß, dass er der Anfang ist von dem, was ich fühle,
das als Ahnung schon mein ganzes Leben in mir ruht, wie eine drohende Flut,
die Angst, euch zu verlieren, ohne euch zu existieren, dass ohne euren Schutz
meine ganze Welt zusammenfällt, mein Mut und mein Vertrauen an den Klippen zerschellt.

Denn wenn ihr geht, dann ist das ein Wechsel der Gezeiten, und ich
werde eine Grenze überschreiten, eine Felsspalte überspringen müssen, in eine
andere Zeitzone ziehen. Mein Leben ist dann zweigeschnitten, und ich kann nicht wissen,
wie sie sich anfühlt, die Trauer, die meiner Liebe folgt, ahne Unabwägbarkeiten,
die mir Angst machen. Und ihr sagt, sie wird sich irgendwann geben, die Zeit
wird feine Fäden um sie weben, und ihr seid dann immer noch da, um über mich zu wachen,
meine Welt zu überdachen, mir ganz nah, das könne ich fühlen, jederzeit.
Doch ich habe schon jetzt die Sicherheit, dass der Schmerz in meinem Herz bleibt.

Denn ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Doch ich verspreche euch, nach vorne zu sehen, meinen Weg weiterzugehen,
den ihr im Tiefschnee gespurt habt, die Weichen, die ihr gestellt habt, nicht zu übersehen,
atme euren Lebenshauch und lasse eure Wörter in meinem Bauch fortklingen,
werde ein Lied daraus formen und für euch singen, in das der Wind mit einstimmt,
mit hoch zu den Wolken nimmt, werde eure Gedanken fortspinnen und in die Ewigkeit schicken,
auf eure Spuren im Sand blicken, sie freilegen, ausgießen und für immer haltbar machen,
mir damit Halt geben, mich jeden Tag an das Bild von euch besinnen.
Lass eure Werte in meinem Herzen weiterleben und fühle tiefe Dankbarkeit,
weil ihr meine Eltern seid.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23124

Nur noch einen Augenblick

Nur noch einen Augenblick, bis deine Seele fliegt
und deinen Namen durch den Nachthimmel zieht,
wo er neongelb aufblinkt,
wenn der Mond sich noch schont
und vom Sonnenlicht trinkt,
bevor die Ewigkeit dann irgendwann
in seinem Schein Funken sprüht,
kunterbunt aufblüht
und dich stolz in ihren Armen wiegt,
weil sie das Leben besiegt.

Dann steht die Welt ganz kurz still,
pausiert in ihrem Drehen,
weil sie vor dir den Hut ziehen will
für deinen Mut,
das Leben zu überstehen.
Und jeder Stern am Firmament brennt
lichterloh, nur für dich.
Spricht Bände. Und ich erwärm mich
ein letztes Mal
an dem Lächeln in deinem Gesicht.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23138