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Apokalypse reloaded II

Ich wuchs in einer patriarchalischen Familie auf, in jedem Fall war das das Modell meiner Kindheits- und Jugendjahre. So gab es das ungeschriebene Gesetz, dass ohne den Vater nicht mit dem Abendessen begonnen werden durfte. Das war die einzige gemeinsame Zusammenkunft, bei der alle wichtigen Dinge erzählt, diskutiert, beurteilt und sanktioniert wurden. Frühstücks- und Mittagessens-Zeiten waren wegen der unterschiedlichen Schultermine Variable. Abendessen um 19 Uhr unter Vorsitz des Vaters – das war eine eiserne Regel.

Aber einmal passierte es, dass der Stadtpfarrer am späten Nachmittag zum Vater zu Besuch kam, mit dem er einen Gedankenaustausch pflegte. Es war die Zeit der Stürme, die das II. Vatikanische Konzil mit sich brachte. Mein Vater war ein unermüdlicher Trommler für das größte Reformwerk in der römisch-katholischen Kirche seit der Reformation. Es wurde zwischen den Eltern vor uns Kindern sogar am Esstisch heftig diskutiert, sodass ihn meine Mutter einmal einen „lutherischen Ketzer“ nannte. Schnaubend meinte sie: „Da kannst du ja gleich zu den Protestanten gehen!“
Eine besonders pikante Aussage, war sie doch nach dem Zusammentreffen mit meinem Vater von den Evangelischen zu den Katholischen konvertiert.

Der Dechant von St. Stephan war eine kreuzfromme, aber leicht einfältige und ängstliche Person, die sich gern von meinem Vater beraten und im Glauben bestärken ließ. Das II. Vatikanum wirbelte alle Glaubensgrundsätze und die fast 2000 Jahre alten Regeln so durcheinander, dass der Gute manchmal ganz verzagt in der Seele war, ob das noch seine vielgeliebte, heilige römisch-katholische Kirche und Papst Johannes Paul II nicht ein verkleideter Luther oder, noch schlimmer, eine Ausgeburt der Hölle auf Petri Stuhl sei.
Das vertraute er aber nicht einmal meinem Vater an, sondern nur seinem geistlichen Beichtvater als „Sünde wider den Heiligen Geist“, und das ist die allerschlimmste unter den Todsünden.

Eine Messe in der Volkssprache, der zum Volk gewendete Tisch, demokratische Strukturen wie Pfarrgemeinderäte, Ministrantinnen, Diakoninnen – alles nicht auszudenken. Das kann nur das Ende der Kirche sein, alles Ideen des Antichrist.
Ich meine mich erinnern zu können, dass der Pfarrer meinem Vater seine Entwürfe für die Sonntagspredigten vorlegte und sie mit ihm nach didaktischen und rhetorischen Gesichtspunkten durchnahm. War der Vater doch ein Professor und Pädagoge.

Es wird schon etwas Wichtiges gewesen sein, das den Stadtpfarrer so spät am Nachmittag hereinschneien ließ. Was wusste ein Kleriker mit Pfarrerköchin schon von den ehernen Gesetzen eines zehnköpfigen Haushalts. Der Abendtisch war gedeckt, wir saßen reihum mit knurrenden Mägen, auf dem Herd köchelte das Essen vor sich hin, aber aus dem Arbeitszimmer drang noch immer das Gemurmel der zwei Männerstimmen. Es wurde spät und später. Meine Mutter, bei der alle Unregelmäßigkeiten, vor allem Verstöße gegen die Zeitregeln, einen heiligen Zorn hervorriefen, war schon am Explodieren und stieß allerlei unchristliche Verwünschungen gegen den Stadtpfarrer aus. Aber sie konnte ihn ja nicht selbst vertreiben. In diesem Dilemma scharrte sie mit den Vorderhufen wie ein ungezähmter Mustang und schnaubte:
„Dem sag ich einmal richtig meine Meinung, dem alten Depp!“

Da kam irgendjemand auf die Idee, den jüngsten Bruder Franzi vorzuschicken. Wahrscheinlich die älteren Brüder, die den Kleinen gern ins offene Messer laufen ließen. Franzi sollte heimlich erkunden, wie weit die beiden Männer mit der Verabschiedung seien. Freudig über seine Rolle als Kundschafter, warf der sich in die Schlacht. Anstatt nur an der Tür zu lauschen, öffnete er sie einen Spalt breit, steckte den Kopf durch und verkündete, was er im väterlichen Arbeitszimmer sah. Mit laut krähender Stimme meldete er an den im Esszimmer wartenden Rest der Familie triumphal zurück:
„Ja, der alte Depp ist noch immer da!“

So schnell konnten wir gar nicht schauen, raffte der Geistliche seine Röcke, die Papiere und den Hut zusammen und huschte schnell wie der Schatten eines schwarzen Katers durch die Haustür hinaus in die Nacht. Selten wurde der Jüngste dieser hierarchischen Familie so unisono als Held gefeiert wie an diesem Abend.

Übrigens: Das „Abendmahl“, auf das wir so lange hatten warten müssen, bestand aus einer Stosuppe mit heurigen Erdäpfeln, Kümmel drin und Schnittlauch drauf, ein Stück Schwarzbrot dazu. Herrlich, diese Erinnerung. Noch heute zerknacke ich jedes einzelne Kümmelkörnchen mit Genuss zwischen den Zähnen.

Pfingstsonntag, 31.5.20

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20095

 

Apokalypse reloaded I

Als es am Gartentor klingelt, hält sich Mama gerade im Schlafzimmer auf, das zwei Fenster zur Straße hat. Sie sieht dort einen Mann und eine Frau stehen, die ein Bündel Zeitschriften vor der Brust tragen. Das oberste Exemplar ist in durchsichtiges Plastik eingepackt und hängt an einer Schnur um den Hals, „Der Wachturm“. So stehen sie auch jeden Samstag auf dem Hauptplatz unter der Marienstatue. Ah, das sind wieder einmal die Zeugen Jehovas, denkt sie, die schick ich zum Papa, der diskutiert ja so gerne. Sie verachtet die Sektierer aus tiefster Seele und ist in ihren Ansichten, wie alle Konvertiten, päpstlicher als der Papst. Bettler und Hausierer bekommen immer etwas, aber Missionare schickt sie gnadenlos weg, wenn der Vater nicht zu Hause ist. Sie öffnet das Gartentor, lässt die beiden in den Vorgarten eintreten und leitet sie weiter an ihren Ehemann. Der sitzt gerade einmal nicht an seinem Schreibtisch, sondern ist mit einem Kanalarbeiter damit beschäftigt, die übergeflossene Senkgrube zu entleeren. Die beiden Missionare stapfen durch die Einfahrt in den Hof, stellen sich höflich mit Namen vor und beginnen das Gespräch mit dem Stehsatz:
„Wir möchten gern mit Ihnen über Gott sprechen.“

Mein Vater, in Gummistiefeln und ledernem Arbeitsschurz, wendet sich ihnen zu, unterbricht aber seine Arbeit nicht. Er schaufelt mit einer langstieligen Kelle die Verdauungsreste einer zehnköpfigen Familie in Eimer und Bottiche, die der Arbeiter zu einem hölzernen Kastenwagen in der Einfahrt trägt. Es ereignete sich also zu einer Zeit, die noch weit entfernt war von geruch- und geräuschlosen Pumpen und Absauggeräten.
„Ja, bitte, Sie können mit mir reden.“

Die Zeugen sind freundliche, gesittete und geduldige Leute, denen es nicht in den Sinn kommt, das einmal gefundene Opfer zu bitten, die Arbeit einzustellen und sie vielleicht in ein Zimmer einzuladen. So stehen sie mit ihrem Propaganda-Organ „Der Wachturm“ am Rand der offenen Senkgrube, ein tiefer Schacht an der Mauer zum Klo. Wie dem Schlund der Hölle entsteigt ihm ein unbeschreiblicher Gestank und verbreitet über den ganzen Hof eine undurchdringliche Wolke. Der Situation entsprechend hätte man sagen können: bestialisch, teuflisch, höllisch. Dabei handelt es sich nur um allzu menschliche Dinge. Es ist ein heißer Sommertag, und die Schwaden der Hölle hängen brütend über der kleinen Gruppe.

Die Apostel der letzten Tage sind nicht nur bibelfeste, sondern auch tief überzeugte und standhafte Gläubige. Außerdem werden sie nicht alle Tage in ein großes Haus gebeten, sondern meistens von der Schwelle weggescheucht. Sie schicken einander ermutigende Blicke zu, richten ihre Rüstung vor der Brust zurecht und spulen die Standardsätze ab. Sie kündigen den Ungläubigen an, im ewigen Höllenfeuer zu schmoren. Wer Gott nicht gehorcht, wird alle Schmerzen dieser Welt erleiden. Alle Feinde Gottes werden am Jüngsten Tag vernichtet, wie der Prophet Jeremias, Jesaja 43, Vers 10 und 11, sagte:
„Ihr seid meine Zeugen (…) Ich – ich bin Jehova, und außer mir gibt es keinen Retter.“
Sie rattern ganze Bibelabsätze samt Strophen- und Versezahlen fehlerlos herunter wie eine aufgezogene Uhr, aus der immer wie ein Kuckuck der Name Jahwe hervorspringt. Sie werden fast zu Poeten, wenn sie in bunten, saftigen Bildern die Höllenqualen schildern. Eine wahrhaft hoffnungsfrohe Religion.

Mein Vater, ein nicht minder sattelfester Bibelkenner, erklärt ihnen geduldig, dass sie da etwas missverstanden haben müssen. Man könne nicht eine ganze Religion auf einen einzigen Prophetensatz gründen. Man müsse das Gesamtpaket der Bibel hernehmen, das ganze Alte Testament, da gäbe es viele Propheten mit vielen verschiedenen Aussagen. Vor allem aber sei für ihn als katholischer Christ das Neue Testament ausschlaggebend, Christus und seine Botschaft der Liebe. Das Christentum sei eine Religion der Liebe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Überhaupt müsse man seit dem II. Vatikanischen Konzil die neuen Interpretationen des Bibelwortes berücksichtigen und das neue Christus-Bild als Vorbild für sein eigenes christliches Leben nehmen. Nachfolge Christi nennt man das. Wir glauben an einen Gott der Liebe und nicht der Rache.
Außerdem müsse man die Bibel in einem historischen Kontext sehen und dürfe nicht alles wortwörtlich nehmen, so wie etwa die Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Das sind Sinnbilder. Auch habe sich die Wissenschaft seit Bibelzeiten weiterentwickelt. Darwin, zum Beispiel … Bei der Erwähnung dieses Namens fallen sie vor schwer unterdrückter Empörung fast in die Grube. Darwin, ein Name wie der leibhaftige Gottseibeiuns! Menschen, die von Affen abstammen …
Vor allem verurteilt der Vater die Scheidung in Gläubige und Ungläubige, denen von den Zeugen Jehovas die schlimmsten Strafen angedroht würden.

Mit der Spaltung in wahre Zeugen, die Auserwählten, und in die sündigen Schafe, die am Jüngsten Tag zur Schlachtbank geführt würden, sei er keinesfalls einverstanden. Das sei absolut unchristlich und widerspreche der Bergpredigt. Er ist nicht faul, den Aposteln der Letzten Tage die ganze Bergpredigt auswendig herzudeklamieren, während die Höllendämpfe sie umwabern. Er hält inne und stützt sich auf den Stiel seiner Schaufel. „Selig ist, wer …  Selig ist, wer … Das ist der Sinn der Bibel, mein Credo.“
Diskussion ist das natürlich keine, eher eine Begegnung wie von zwei Mauern, die gegeneinander anrennen.
Mein Vater und der Arbeiter sind mit einer solchen Arbeit vertraut, geht doch die Senkgrube regelmäßig einmal im Jahr über. Die Zeugen Jehovas jedoch, bibeltechnisch und rhetorisch exzellent geschult, sind mit dieser Situation überfordert und schnappen nach Luft. Da nützt ihnen auch die ganze antrainierte Bibelrhetorik nichts mehr. Sie kämpfen sichtlich mit unbezwingbarem Brechreiz, nicht mehr um seelisches, sondern statisches Gleichgewicht am Rande der Grube bemüht, unternehmen sie nicht einmal einen Versuch, den „Wachturm“ zu verscherbeln, wie  jedes Gespräch über Gott enden muss.

Ich bin mir sicher, dass nicht die schlüssige Argumentation meines Vaters sie in die Flucht geschlagen hat. Die Bündel mit den Zeitschriften vors Gesicht gepresst, nahmen sie freiwillig Reißaus und beendeten den Missionierungsversuch an einem seltenen Redewilligen. Unter anderen Umständen hätten sie ihn erst nach langer Quälerei aus ihren Krallen gelassen. Unser Haus bekam ein unsichtbares jehovisches Kruckenkreuz an die Wand gemalt wie von Hausierern und Bettlern: Hier ist nichts zu holen. Sie kamen nie wieder. Mama gab den Bettlern und Hausierern weiter eine Kleinigkeit, kaufte den Sieberl- und Ranftlmachern etwas ab und ließ die vazierenden Messerschleifer unsere Messer und Scheren schärfen.
Jauche schlägt Jahwe.

Warum ich das alles weiß? Ich stand im WC auf dem Klodeckel und lauschte beim Guckfenster hinaus. Warum ich das alles erinnere? Ich hab’s geträumt.

Pfingstsonntag, 31.5.20

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20094

 

Corona-Hausarrest: Tag 36 der Ausgangsbeschränkung

Als die Krisenregierung immer häufiger den Begriff der „Risikogruppe“ gebrauchte und ich feststellte, dass ich allein auf Grund meines Geburtsjahres auch dazugehöre, meinte ich, zum ersten Mal in meinem Leben fremddefiniert und in eine Schublade geschoben worden zu sein.
Stimmt nicht, fiel mir eines Tages auf. Alles hat’s schon einmal gegeben, und das sehr früh, wieder wegen meines Alters. Als Kind und Jugendliche soll ich wild, schlimm und unerziehbar gewesen sein, so die Familienerinnerung, die nur zum geringsten Teil mit meiner eigenen übereinstimmt. An das „Gfrast“ und den „Flederwisch“ kann ich mich noch erinnern als Anreden, ein Staubwedel, der an allem dran ist und niemals stillsteht.

Die schlimmen Kinder bekamen einen „Hausarrest“. Das war eines der beliebtesten Erziehungs- bzw. Bestrafungsmittel meiner Eltern, die sich streng von körperlicher Züchtigung fernhielten. Wie viele Tage oder Wochen meiner Kindheit und Jugend ich in Hausarrest verbracht habe, weiß ich nicht, und es gibt niemanden, den ich fragen oder der das nachrechnen könnte. Am ehesten vielleicht mein jüngster Bruder F., der angeblich noch schlimmer war als ich und noch viel mehr Zeit in Hausarrest gesessen ist. Die jüngere Schwester H. bekam meiner Erinnerung nach nie einen Hausarrest, sie war die „Sanfte“, von der Mutter „die stille Dulderin“ genannt. Eine Brandmarkung.

Eines erinnere ich sehr deutlich – ich fühle es sogar bis heute –, dass der Hausarrest für mich keine Strafe war, sondern eine ersehnte Erlösung, Befreiung vom Rest der Familie, vor allem von den lästigen jüngeren Geschwistern und den zynischen älteren Brüdern, die ihr Mütchen oft an den kleinen Schwestern kühlten. Zweifellos herrschten zwischen uns Geschwistern innige, aber sehr komplizierte Beziehungen.

Kontaktsperre – social distancing oder social containment – war in unserem Haus natürlich nicht möglich. Abstand war ein Luxus. Wir hatten ein sehr kleines Bad, einen ins Vorzimmer eingebauten Holzverschlag von nicht einmal zwei Quadratmetern Ausmaß: eine Waschmuschel und eine Tasse mit Sitzbad. Es gab außer den Gemeinschaftsräumen zwei Mädchenzimmer für vier und ein Bubenzimmer für zwei. Nur der älteste Bruder H. hatte das Privileg eines Einzelzimmers, als er Student der Rechtswissenschaften wurde. Er lebte praktisch in freiwilliger Einzelhaft mit seinen Gesetzes-Wälzern und Skripten in einer ausgebauten Dachluke, Mansarde genannt, aber immerhin allein. Eine Türe hinter sich zumachen können, das war sein Privileg als vielgeliebter Erstgeborener. Niemand wagte es, den Studenten zu stören. Ich erinnere mich, wie er einmal aus seiner Höhle im Dach herabstieg unter das Jungvolk und einen Stoß Skripten auf die Küchenwaage legte: „16 Kilo oder acht Kaiserziegel, das alles muss ich noch in diesem Semester lernen.“ Da wusste ich schon als Elfjährige, dass ich nienieniemals Jus studieren würde.
Was beinhaltete der Hausarrest? Verbot von allem, was nicht unmittelbar Schule war. Musikunterricht, Jungscharstunden, Radfahren, Turn- und Schwimmverein und natürlich Treffen mit Freundinnen, innerhalb oder außerhalb des Hauses. Bei den Brüdern kam noch die Kontaktsperre zu den Pfadfindern und dem Fußballclub dazu.

Wofür bekam man einen Hausarrest? Für die anderen Geschwister kann ich nicht sprechen. Für mich erinnere ich mich vor allem fürs Zuspätkommen. Zeiten nicht einzuhalten, z. B. zu Mahlzeiten oder zu zugewiesenen Diensten, war ein Sakrileg, fast so schlimm wie die Erbsünde. Das brachte die Familienkonstruktion durcheinander. Einmal bekam ich Hausarrest, weil ich das neue Kleid meiner jüngeren Schwester widerrechtlich angezogen und ausgeführt hatte. Ein anderes Mal hatte ich ein Lieblingsbuch vor ihr versteckt, das zu lesen sie meiner Meinung nach wegen ihres Alters nicht berechtigt war.

Unter der Matratze, die Mutter fand es, und ich las andere Bücher weiter im Hausarrest.Widersprüchlich war dagegen die Befehlsausgabe zu gemeinsamen Unternehmungen wie etwa Sonntagsmessen oder Ausflügen. Wie gerne wäre ich da im Hausarrest geblieben, nicht so sehr, weil ich etwas gegen Messen oder Wanderungen gehabt hätte. Aber einmal für ein paar Stunden das ganze, gar nicht kleine Haus und den Garten für mich allein zu haben, wäre ein Traum gewesen, eine Belohnung und keine Strafe. Einmal unbeobachtet im Schreibtisch des Vater zu stirl’n, wo alle Familiendokumente gelagert waren. Einmal in Ruhe den „Giftschrank“ mit den verbotenen Büchern durchsuchen zu können, den Index librorum prohibitorum wie die Altphilologeneltern diese versperrbare Abteilung der Bibliothek nannten.

So war’s wahrscheinlich auch von der Erziehungsobrigkeit gedacht, mit ihrem absoluten Credo: Wir sind eine Familie und machen alles gemeinsam, es gibt keine Extratouren. Basta! Bei uns eher wie das Amen im Gebet, so ist es. Keine Widerrede! Das war das letzte Machtwort von Papa, wobei seine Unterlippe und sein Kinn gefährlich zitterten, wovor ich mich entsetzlich fürchtete. Es bedeutete, dass er den Zornesausbruch gerade noch unter Kontrolle halten konnte und das große Donnerwetter vorüberging. Der alleswissende und allessehende Gott konnte nicht schrecklicher zürnen. Wie viele Nächte habe ich von diesem Auge im goldenen Dreieck mit den Strahlen herum albgeträumt, immer präsent über dem Hochaltar von St. Stephan.

Ich weiß nicht, wie es den anderen Geschwistern erging, ich zumindest litt ständig unter dem Mangel an Einsamkeit. Wenn es das schon gegeben hätte, würde ich Beratung und eine Hotline für das Gegenteil gebraucht haben, obwohl im Haus nicht wirklich räumliche Enge herrschte. Aber die ständige Anwesenheit von mindestens neun Personen an einem Ort, das Kommunizierenmüssen, die geschwisterliche Konkurrenz, die Fraktionsreibereien, das Streiten, das Schergeln – oberösterreichisch für Petzen, Denunzieren – der hohe Lärmpegel, das Gewurl und Gerangel, die Streitereien, das Ausgesetzsein dem Hänseln und den fragwürdigen Witzen der älteren Brüder, genannt „Aufziehen“, das ständige Nachdenken über Durchsetzungsstrategien und Koalitionen. Und dann gab es noch das immerwährende Teilenmüssen, angefangen bei den Zimmern bis zu Kleidung, Büchern, Spielsachen, Musikinstrumenten, Sportgeräten, einer Geburtstagstorte oder einer Tafel Bensdorp-Schokolade durch sieben.
Ich erinnere mich ganz genau daran, wie ich zum 13. Geburtstag eine Tafel Schokolade bekommen habe und nach dem Teilen ein halbe Rippe für mich übrig blieb. Da beschloss ich, für den Rest meines Lebens auf Süßigkeiten zu verzichten, was bis heute anhält.

Keine Geheimnisse, alle wussten immer alles von den anderen, auch wenn wir Kleinen oft nicht interpretieren konnten, was bei den Großen vor sich ging. So wusste ich zum Beispiel lange nicht, was die Mutter meinte, wenn sie die großen Brüder „Schlurf“ oder „Büücha“ nannte. Noch schlimmer war ihre höllische Prophetie, wenn sie ihrer Meinung nach nicht gut genug lernten: „Aus dir wird no a Prolet.“ Und der Mutter war nichts gut genug als ein Sehr gut.
Die mangelnde Empathie der Mutter mit den Kleinen, die eher über den Witz und die Schlagfertigkeit der klugen Brüder lachte, als dass sie unsere Verletzlichkeit schützte. „Geh, sei ned so ang’rührt, du ang’rührte Leberwurst, geh, sei ned so empfindlich, du Mimose, du.“
Lange dachte ich, Mimose sei ein arges Schimpfwort.

So weit ich mich erinnern kann, hat sich nur meine nächstältere Schwester L. diesem verordneten Herdenauftrieb entziehen können. Sie blieb immer ruhig und am Rande, mischte sich nie ein in die Massenveranstaltungen oder Massenstreitereien, sondern ging ihren einsamen Vergnügungen nach. Man sah sie nie anders als in ein Buch vertieft, wobei sie die beneidenswert dicken Zöpfe zu Kringeln drehte, oder sie saß in splendid isolation über ihr Strick- oder Stickzeug gebeugt, oder sie machte sich in der Küche zu schaffen. Sie hatte sich dazu ein Privileg erobert und entwickelte sich zu einer talentierten Konditorin. Ob es ihr Genie war oder Strategie oder eine innere Stärke, ich weiß es nicht. Sie hatte sich den großen Bruder H. – sechs Jahre älter als sie – als einzige Ansprechperson auserwählt.
Und weil der grundsätzlich nicht mit den Kleinen kommunizierte oder uns nur wie einen lästigen Mückenschwarm wahrnahm, war L. fein raus. Sie strickte Pullover und Schals für ihn, bestickte Bettdecken und Kissen mit Kreuzerlstichen auf grobem Leinen. Beim Zählen der Fäden bewegte sie die Lippen, leckte den Faden, und niemand kam auf die Idee, sie dabei zu stören.

Oder sie bedachte den angebeteten H. mit Kuchen oder sonstigen Extra-Schmankerln. Er ließ ihre Gunst und Anhänglichkeit gnädig über sich ergehen. L. übernahm sogar „Bubendienste“ wie das Schuhputzen für ihn, während wir übrigen Mädchen zum Küchendienst abkommandiert waren. Sie übte ihre Rolle so perfekt und selbstverständlich aus, dass das nie hinterfragt, sondern allgemein akzeptiert wurde. Ich kann mich an keinen Streit mit L. erinnern, weder direkt noch im Rudel. Aber vielleicht war es einfach die Gunst der Geburt; sie befand sich bei sieben Kindern als viertes genau an der Schwelle zwischen den Großen und den Kleinen. Die Geschwisterforschung hat vielleicht eine Antwort darauf. Sie stand auch an einer historischen Zeitschwelle, vor und nach 68. Wie gerne wüsste ich, wie es L. jetzt unter den Corona-Bedingungen geht, in den Niederlanden, wenn auch sie eingesperrt in ihrem Haus sitzt, mit Mann und Hund, ohne Kontakt zu Kindern und Enkeln. Ob ihr ihre Kindheitsgewohnheiten heute helfen?

Ich mag etwa zehn oder elf gewesen sein, als ich einen Platz für mich allein fand, in der Pfarrkirche von St. Stephan, genau gesagt im Kreuzweg. Ich setzte mich in die schmale Bankreihe an der rechten Seite, genau zwischen die 5. und 6. Station, zwischen Simon von Kyrene, der Jesus das Kreuz tragen half, und Veronika, die ihm das Schweißtuch reichte.
In unserer sehr katholischen Familie spielten die Namenstage eine größere Rolle als die Geburtstage. Es war also sehr wichtig, welchen Namenspatron man hatte und dass er unbedingt ein Heiliger sein musste. Da waren Agnes, Bernhard, Elisabeth und Franz fein raus, weil sie gleich mehrere Heilige hatten. Das war die Adelung. Meine Veronika war nur eine Selige, also dritte Wahl.
Sogar Hedwig mit ihrer polnischen Heiligen Jadwiga spielte noch in der zweiten Liga. Wie der heidnisch-germanische Helmut aus dem 40er Jahr dahineinkam, kann ich nicht erklären, ebenso wenig, wer sich diese Konkurrenz ausgedacht hatte. Aber ich tippe auf die Mama, die mochte solche Spielchen. Also, wenn ich wieder einmal gekränkt war, weil ich gehänselt worden war: „Ätsch, du hast ja nicht einmal eine Heilige“, flüchtete ich zu ihrem Seligenbild in der 6. Station. Ich fand sie so schön und edel, dass mir alle Heiligen der Geschwister gestohlen bleiben konnten. Nie konnte ich mich entscheiden, wer Jesus mehr geholfen hat, Veronika oder Simon von Kyrene. Diesen einfachen Bauern mochte ich sehr und fand seine Hilfe, wenn auch von den römischen Söldnern erzwungen, eine schöne Tat. So vergaß ich meinen Kummer und kehrte getröstet in unser Massenquartier zurück.

Schon bevor ich Virginia Woolf kennenlernte, wusste ich, dass mein erstes Etappenziel beim Erwachsenwerden ein Zimmer für mich allein sein würde. Ich habe es knapp vor der Matura erreicht, als meine älteste Schwester A. heiratete und L. ins Schwesternheim des Spitals zog, wo sie arbeitete. Mit den Hausarresten hatte es ein Ende, als sich herausstellte, dass der Jüngste im Hausarrest noch – oder erst recht –  mehr „angestellt“ hat. Was das Substitut für den Hausarrest wurde, weiß ich nicht mehr. Aber vielleicht war es auch so, dass wir allmählich aus dem Alter des Schlimmseins und des Karzers herauswuchsen und sich die Erziehungsobrigkeit einen anderen, altersgemäßen Maßnahmenvollzug ausdachte. Man kann bei so bildungsaffinen Altphilologen- plus Germanisteneltern davon ausgehen, dass es erzieherisch höchst wertvoll war, das Werk eines Klassikers in der bestimmten Karzer-Zeit zu lesen, kurz „Die Perser“, länger „Don Quichotte“ oder einen Aufsatz zu schreiben über das Problem von „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ oder das „Nicht zu hassen, denn mitzulieben bin ich da“ der Antigone.

Meine Eltern waren davon überzeugt und hatten es sich zum Programm gemacht, dass Erziehung hilft und Wissen Macht ist. Als Jugendliche rebellierte ich heftig dagegen, aber inzwischen habe ich eingesehen, dass sie uns nichts Besseres mitgeben hätten können.
Nun wünsche ich mir auch so ein „Herauswachsen“ aus der Corona-Krise, aus dem Corona-Hausarrest, mit allen Kurzarbeitern und Arbeitslosen, allen Eltern, Sportlern, mit dem Buchhandel und der Gastronomie.
Und was hilft mir bei alledem? Schon vor Corona habe ich mir überlegt, ob das Aufwachsen in einer Großfamilie nicht nur den Vorteil hat, dass man später, wenn man älter ist und das schätzen kann, nicht nur viele Verwandte hat, sondern in der Kindheit und Jugend schon so viel  – oder zu viel – Familie bekommen hat, dass man später weniger braucht. Ich denk mir, das ist so ähnlich wie mit der Milch, die brauche und trinke ich auch nicht mehr seit Jugendtagen, oder nur in Milchkaffeedosen.

Aber ich gebe zu, dass es in meiner Geschwisterschar auch das gegenteilige Beispiel gibt – die, die gar nicht genug von Familie bekommen können, viel eigene gemacht haben und nun zwischen zwölf und vier Enkel haben, die sie seit fünf Wochen nicht mehr sehen dürfen. Interessant finde ich, dass es die Vor-Achtundsechziger sind, die das elterliche Familienmodell übernommen haben.

Und bei mir die Bestärkung meiner Jugenderfahrung, dass das Alleinsein nie Einsamkeit war, sondern etwas Erstrebenswertes, Positives, ein Privileg. Ich werde nie eine Hotline brauchen, außer für mein Handy oder das TV-Gerät. Noch dazu, wenn man den Großteil seines Tages ohnedies damit zubringt, allein an seinem PC zu sitzen, zu schreiben und zu lesen. Lange vor der Krise hatte ich schon den Corona-Blick, schaute schon aus dem Fenster auf die Kastanien und Ahorne im Hof. Das ist nicht nur ein Genuss, sondern geradezu Notwendigkeit, Arbeitsvoraussetzung, in absoluter Stille, ohne äußere Ablenkungen, in notorischer Sauberkeit und Ordnung rund um den Schreibtisch. Bei mir darf höchstens Ö1 an den Schreibtisch.

Neulich – aber noch vor Corona – fragte mich eine freundliche Gartennachbarin über den Zaun hinweg, als sie mich wieder einmal allein in der Erde buddeln, jäten und Blumenzwiebel eingraben sah, warum ich denn nie Besuch habe. Oh Gott, diese Vorstellung jagte mir so einen Schreck durch die Glieder, dass mir die Gartenkralle aus der Hand fiel. Leute, Freund, Freunde, Familie in meinem Gärtchen? Unvorstellbar. Die könnten mich ja von der Arbeit abhalten, bewirtet werden oder gar mitreden wollen, alles besser wissen, diskutieren und Vorschläge machen. Es schauderte mich so sehr, dass ich mich in meine Schrebergartenhütte verzog und zur Beruhigung einen tiefen Zug aus der Zigarette nahm, die ich eigentlich abgelegt hatte.
Ich erlaube das ja auch niemandem beim Schreiben. Und da gibt es bei mir fast keinen Unterschied. Das Schreiben ist meine Lebensform ebenso wie das Garteln. Erst das jeweilige Ergebnis kann und will ich präsentieren und mit anderen teilen. Zum Schreiben lade ich ja auch niemanden ein, das Schreiben diskutiere ich ja auch mit niemandem außer meinen inneren Ichs. Das sind viele, und mir wird nie langweilig mit ihnen.
Aber erklären konnte ich das der empathischen Nachbarin nicht, einer jungen Frau mit zwei Kleinkindern zu Hause, noch in Karenz. Da übt sie sich schon lange in Isolation, in einem schmucken Haus in einer Gartensiedlung, hoch oben am Hüttelberg über dem Stadtrand, ein Rosental und ungefähr vier Kilometer von jeder Zivilisation entfernt.

Unter meinen persönlichen historischen Voraussetzungen ist also die neu gewonnene Zugehörigkeit zu einer „Risikogruppe“ mit all ihren verordneten Einschränkungen kein Problem für mich, keine Herausforderung, wie man neuerdings sagt, sondern ein Privileg. Endlich keine Einladungen mehr oder Termine, die mich immer zu lästigen Überlegungen und Abwägungen führen: hingehen oder nicht, wahrnehmen oder nicht, brauch ich das oder nicht, freut mich das oder nicht, nützt oder schadet mir das? Beleidige und enttäusche ich jemanden? Was anziehen und welche Frisur? Die vier Wochen der strengen Ausgangssperre überlebte ich gut, indem ich das fantastische Angebot der Gemeinde Wien zu kostenlosen Taxi-Gutscheinen nutzte und später das leidende Taxigewerbe privat unterstützte, indem ich mich meist mercedesmäßig zu meinem Garten hinauskutschieren ließ. Jetzt fahre ich wieder ganz legal mit der U-Bahn und fürchte keine Polizeikontrollen mehr  – Risikogruppenrazzia.

Vielleicht ist aber alles ganz anders, nix Kindheitstrauma, nix Familienschädigung, sondern es kommt alles nur daher, dass ich schon lange in einer Art von Homeoffice arbeite, nicht arbeitslos oder in Kurzarbeit bin, zum Glück auch keine Selbständige mit abgrundtiefen Existenzängsten, auch keinen Marathon laufe und nicht Fußball spiele, weil ich schon lange komisch aussehe mit einem mit Cleenex ausgestopften Schal um den Kopf, seit ich an Heuschnupfen oder sonstwas leide und nun alle so herumlaufen und bis heute in Enkellosigkeit lebe.

Always look on the bright side of life.
Als ich heute früh, erfrischt und wohlig unter einer hellen Sonne aufwachte, stand mir mein kindlicher „Hausarrest“ deutlich vor Augen, und er fühlte sich genauso an, wie ich ihn erlebt hatte. Hach, geht’s mir gut! Vor den Fenstern frischgrüne Ahorne, und die Kastanien haben ihre ersten weißen Kerzen angesteckt. Und ich allein in der großen Wohnung! Absolute Ruhe, bis auf das Morgenflöten der Amseln. Eine berühmte Traumforscherin sagte kürzlich in einem Interview, dass die Menschen seit Corona länger schlafen und mehr träumen. No na ned, wenn sie nicht mehr um 5 oder 6 vom Wecker aus der REM-Phase gerissen werden und nicht mit den Kindern zu Kindergarten, Schule und danach zur Arbeit stürzen müssen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie nicht in Kurzarbeit, arbeitslos oder albtraummäßig selbständig sind, nicht an Heuschnupfen und Enkellosigkeit leiden. So viel Wissenschaft muss schon sein.

Wien, 20.4.20 , 36. Tag mit Ausgangsbeschränkung

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20067

Blick zurück

Zeugung.
Schwangerschaft.
Geburt.

Von Ketten aus Blei.
Von Ringen aus Gold.

Übermut.
Willensdrang.
Neugier.

Von Herzen aus Stroh.
Von Rädern aus Vergangenheit.

Der Supersnack

Der Supersnack

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20007

Mittelalter

Der Verkünder:   Verehrter Udo-Udo, du schürfst hier nach Gold. Ich muss dir leider mitteilen, dass Fürst Monimon das nicht länger gestattet.

Udo-Udo:              Warum denn? Ich mache doch nur meine Arbeit.

Der Verkünder:   Ich sage nur: Tourismusgebiet.

Udo-Udo:              Tourismusgebiet? Wir haben das Jahr 1056 Anno Domini, tiefstes Mittelalter, hier gibt es nur Wald, Steine und den See.

Der Verkünder:   Und was meinst du, wie es 950 Jahre später aussehen wird?

Udo-Udo:              Keine Ahnung. Gleich wie jetzt, nur mit weniger Bäumen vielleicht?

Der Verkünder:   Ganz und gar nicht, verehrter Udo-Udo, hier wird eines der Kerntourismusgebiete dieses Bundeslands liegen.

Udo-Udo:              Bundesland?

Der Verkünder:   Lassen wir das.

Strandbad Maiernigg am Wörthersee

Strandbad Maiernigg am Wörthersee

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19130

Stillstand

Autos brausen vorbei
um diese späte Uhrzeit sind alle Lichter grün
Geschwindigkeiten rasen an mir vorbei
Die Geschwindigkeit in meinen Kopf nimmt ab
zwischen umgeworfenen Gegenständen
verstaubte Tischplatten
eine Menge ungelesener Zeitschriften
ich lasse alle liegen
mit dem Vorwand, sie später zu lesen,
Zwanghaft
Außen wie innen

Zwischen all dem Ganzen
stichst du raus
quälend,
Jenes Tohuwabohu, das entstand
stellt aber keine Schranken auf

In diesem Moment
alleine auf der Straße
weine ich in mich hinein
Täuschen kann ich mich nicht,
Du kannst noch so grob sein
mein Herz ist schnell zu wärmen
auch wenn deines stillsteht

 

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19145

Dunkle Sphäre

Langsam verschwindet die Sonne,
sie wechselt mit dem Mond,
Die Nacht erfrischt mich
in der Ecke vom Balkon verschwinde ich
nur mehr Schatten werfe ich
Sehnsüchte verstecken sich hier gut
sie verlieren ihre Farbe
Mitternachtsblau steht ihnen
besonders diesen

Fensterläden der Balkontür unter mir schießen sich
jeden Tag denke ich daran,
Oft treffen sich Blicke in letzter Zeit
sie verbrennen
hinterlassen nur verbranntes Fleisch
Schwarz,
Seit Wochen verschlingt mich dieses Moor
sinnlos tauche ich umher
Perlen finde ich keine
nur ein Ungeheuer aus der Vergangenheit

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19128

Von den Spinnen und Steinen

Was sagst du da,
ich bin ja noch da,
Lebe noch,
Seit Tagen klopft der Regen
gegen Fensterscheiben,
Mein Leben will durch,
Riegel von Altbau-Fenstern,
fest verschlossen,
Spinnen kriegen von mir nicht genug,
in den Ecken hängen Netze,
auf der Suche
nach einem Besen
Mein kleiner Zen-Garten,
im Sand,
Blind taste ich
Verstecke,
Schätze suchen,
Phosphoreszierende Steine,
schwere Steine der Vergangenheit,
feststecken,
Kraft,
über die Wasseroberfläche geschleudert,
weit weg

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19116

 

Logbuch der Pinta

24. September 1492:

Noch immer kein Flaggschiff in Sicht. Seit Wochen durchqueren wir als Teil der Armada den Atlantik. Die Niña, navigiert von meinem Bruder, ist stets an unserer Seite. Meine Karavelle ist das schnellste der Schiffe. Als wir am Donnerstag, den 6. September von der Insel Gomera aus in See stachen, gab es noch eine heftige Debatte mit dem Flottenführer. Er hat mich zu überreden versucht, der Mannschaft stets viel weniger Seemeilen bekannt zu geben, als wir tatsächlich segelten, damit die Besatzung nicht den Mut verlieren würde, falls die Reise zu lange dauern sollte. Darauf wollte ich jedoch nicht eingehen. Die Santa Maria mit Flottenkommandant Don Cristóbal ward seither nicht mehr gesehen.
Täglich finden wir auf unserer Reise nun Hinweise auf Land. Gestern, gegen zehn Uhr morgens, ließ sich ein Pelikan auf den Hauptmast nieder. Diese Vögel pflegen sich nie mehr als 80 Seemeilen vom Lande zu entfernen. Vielleicht haben wir Indien bald erreicht.

Mein erster Offizier macht sich seine Gedanken wegen der Santa Maria.
„Was meinst du, Martin, wollte der Kapitän uns abhängen? Hat er bewusst eine andere, schnellere Route gewählt und uns eine alte Seekarte überlassen?“
„Warum sollte er das tun?“, frage ich etwas zweifelnd.
„Du hast die Rede des Herrscherpaares vor unserer Abfahrt gehört? Die Auszahlung eines lebenslänglichen Ruhegehaltes von 10 000 Maravedis an denjenigen, der zuerst Land entdeckt.“
Ich gehe nicht näher auf diese Gedanken ein und mache mich ans Navigieren. Weiß der Himmel, was Don Cristóbal ausheckt.

 

28. September 1492:

Endlich kreuzen wir mit der Santa Maria. Wir fahren mit Kurs West-zu-Nord und haben eine unstete Brise, kommen nicht vorwärts. Ich lasse mich heute mit einem Boot zur Santa Maria bringen. Kapitän Cristóbal erwartet mich bereits. Er hat ein argwöhnisches Grinsen aufgesetzt, als ich sein Schiff betrete.
„Mein lieber Martin! Na, wo warst du denn?“, begrüßt er mich. „Das frage ich dich, wenn es erlaubt ist“, entgegne ich und erweise mit einer höflichen, aber sehr kurzen Verbeugung meine Wertschätzung. Mein Bruder Vicente von der Niña steht bereits an seiner Seite und fragt:
„Könnten wir die Seekarten vergleichen, Don Cristóbal? Vielleicht klärt sich dann alles auf.“
„Meine geschätzten Kapitäne, wir vergleichen gar nichts. Wir segeln alle weiter in der Hoffnung, endlich Land zu sehen. Und seid euch gewiss – die Santa Maria wird als Flaggschiff die Aufgabe erfüllen! Von diesem Schiff aus wird auch Land entdeckt! Haben wir uns verstanden?“ Mit einer winkenden Geste gibt er uns zu erkennen, dass die Besprechung nun vorbei ist. Ich bin etwas verwirrt, um ehrlich zu sein.

 

1. Oktober 1492:

Wir sichten viel grünes Gras, es handelt sich um Gras, das in salzarmen Buchten wächst oder in Flussnähe, jedoch nicht am Meer. Auf die Pinta kam aus West-Nordwest wieder ein Pelikan angeflogen und setzte seinen Flug nach Südosten fort, woraus man entnehmen kann, dass er von in westnordwestlicher Richtung gelegenem Lande abgeflogen sein muss.
Die letzten Tage über herrschte Windstille, das Meer ist spiegelglatt, wie ein ruhiger Strom und die Luft weich und mild. Nun kommt aber endlich Wind auf, diesen habe ich unbedingt nötig gehabt, muss ich doch meine Mannschaft stets zur Weiterfahrt antreiben, da sie der Ansicht ist, dass in diesen Gewässern keine Winde gehen, die geeignet wären, die Schiffe nach Spanien zurückzubringen.

 

10. Oktober 1492:

Es ist ein Wunder geschehen! Bei Sonnenuntergang sehe ich vom Heck meiner Karavelle endlich Land! Ich rufe Don Cristóbal auf der Santa Maria zu, er möge mir die versprochene Belohnung zukommen lassen. Zuerst will er mir nicht glauben, aber als auch die Mannschaft der Niña meine Wahrnehmung bestätigt, wirft sich der Flottenführer auf die Knie, um Gott Dank zu sagen, meine Mannschaft betet zur gleichen Zeit das „Gloria in excelsis Deo“. Die dreißig Leute der Niña klettern sodann auf die Masten und Wanten und behaupten samt und sonders, Land vor sich zu sehen.

 

11. Oktober 1492:

Bei Sonnenaufgang hissen wir die Flagge am Großmasttop und feuern eine Bombarde als Signal ab, dass Land in Sicht gekommen sei. Der Flottenkommandant ordnet an, dass die drei Schiffe Seite an Seite fahren sollen. Weiters kommt die Anordnung, die westliche Kursrichtung aufzugeben und Kurs auf West-Südwest zu nehmen, was ich nicht verstehen kann.
Da meine Karavelle schneller ist und ich das Seite-an-Seite-fahren nicht halten kann, kommen wir zuerst nähe Landes.
Die ganze Besatzung der Armada singt laut und voller Ehrfurcht das „Salve Regina“. Wir holen alle Segel ein und fahren mit nur einem Großsegel. Dann legen wir bei und fahren mit Booten zu einer Insel, die in der Indianersprache „Guanahaní“ heißt.
Wir gehen an Land und erblicken in der Ferne nackte Eingeborene. Don Cristóbal Colón entfaltet die königliche Flagge und ruft:
„Im Namen des Königs und der Königin – ich, als Kapitän der Santa Maria, habe dieses Land entdeckt und ergreife Besitz hierüber!“ Ich staune nicht schlecht, war es doch nicht er, der zuerst Land entdeckte, sage aber nichts dazu, denn bald sammeln sich zahlreiche Inselbewohner um uns.

In den folgenden Wochen erkunden wir das Land und treffen uns immer wieder mit unterschiedlichen Anführern der Indianer, um uns auszutauschen. Es entstehen Freundschaften zwischen mir und den Häuptlingen, wo hingegen Don Cristóbal die Menschen herablassend behandelt. Ich bin auf der Suche nach Gewürzen, Seide und anderen Reichtümern, von denen er vor unserer Reise mir so ausgiebig vorgeschwärmt hatte. Immerhin bin ich nicht nur Kapitän der Pinta, sondern auch Kaufmann und Handelsherr.

 

18. November 1492:

Mein Unmut wächst von Tag zu Tag. Ich besegle unterschiedliche Inseln, derer hier zahlreich vorhanden sind, jedoch machen die Einheimischen ein Geheimnis daraus, wo sich denn nun Gold und andere Schätze befinden.

Don Cristóbal hat heute Abend zum Gespräch auf die Santa Maria eingeladen.
„Meine Herren! Ich hege einen Plan, den ich mit euch teilen möchte, da ich hierzu eure Hilfe benötige. Wir wurden die letzten Wochen nicht fündig an Schätzen und bin zu folgender Erkenntnis gelangt: Die Indianer gehen nackend umher, so wie Gott sie erschaffen, Männer wie Frauen. Sie sind Wilde und alle noch sehr jung, gut gewachsen, haben einen schön geformten Körper.“
„Worauf willst du hinaus?“, wende ich ein.
„Ich hege den Gedanken, einige dieser Eingeborenen nach Spanien mitzunehmen, habe mittlerweile schon welche ergreifen lassen und sie sollen dort unsere Sprache lernen und den christlichen Glauben annehmen. Die königlichen Hoheiten werden mir alsdann den Befehl erteilen, diese Leute im Namen Gottes wieder zurückzubringen und sie hier auf ihren eigenen Inseln als Sklaven zu halten und uns zu helfen, Kolonien zu erbauen.“
Der Kommandant redet sich zunehmend in Fahrt.
„Aber unsere Schiffe sind zu klein, um mit so vielen Indianern nach Spanien zu segeln. Wie soll das gehen?“, fragt nun mein Bruder.
„Wir lassen unsere halbe Besatzung hier, diese bauen unterdessen mit den Einheimischen gemeinsam Siedlungen und bereiten alles vor, bis wir unter Zusage unserer Hoheiten wieder nach Indien segeln. Vielleicht schon im nächsten Frühjahr. Dann müssen wir mit einer sehr großen Armada segeln, um Frauen, Männer, Kinder und Haustiere hierher zu bringen. Und wir verbreiten hier das Christentum. Mich dünkt, dass diese Wilden gar keine eigene Religion besitzen!“

Es herrscht betretene Stille! Ich kann es nicht fassen. Niemals war von solchen Plänen die Rede, als wir in See gestochen sind, um Indien zu suchen und Kostbarkeiten für den Seehandel in Gang zu bringen.
„Das ist Sklaverei und Menschenhandel! Davon war nie die Rede!“, antworte ich.
„Davon hast du keine Ahnung, Martin. Du bist ein einfacher Kaufmann und kannst wohl auch ein Schiff navigieren. Aber über Landeroberung weißt du gar nichts. Wir müssen unserer Krone zu großer Herrschaft verhelfen!“. Er scheint nun völlig von Sinnen, springt auf und läuft um den großen Tisch zu mir herüber, auf seiner hohen Stirn und auf der Adlernase sind Falten des Zornes ersichtlich.
„Ich bewundere deinen Entdeckerdrang und den Mut, in unbekannte Gewässer vorzustoßen, Don Cristóbal. Aber diese Vorhaben will ich nicht unterstützen. Dein religiöser Eifer wird in einer Katastrophe enden. Diese Menschen sind so völlig anders, sie sind glücklich mit ihrer einfachen Lebensweise. Lassen wir sie in Ruhe.“ Ich will gerade gehen, als er mich am Arm packt.
„Du verrätst das Land und die Krone? Du verweigerst die Ausbreitung des Christentums? Wahrhaftig? Verräter!“ Er faucht es mehr, als er es spricht.
Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die Santa Maria, kehre auf mein Schiff zurück, lasse noch in dieser Nacht Anker lichten und trete die Heimreise an.

***

Brief meines Freundes Bartolomé de Las Casas, im Jahre 1525:

„Mein lieber Freund Martin,
du hast es geahnt und es ist wahrlich so gekommen. Die Verwüstung Westindiens durch Massenmorde, Ausbeutung und Vergewaltigungen war in vollem Gange. Eingeschleppte Krankheiten durch die Spanier, die schonungslos des Goldes wegen hierher kamen und nicht, wie geplant, wegen Landwirtschaft und Kolonialisierung, ließen die Einwohnerzahl sinken. Die Pläne von Kolumbus lösten eine Katastrophe aus. Er hat durch seine Haltung und sein Verhalten den Grundstein für eine der größten Katastrophen aller Zeiten gelegt. Die Ureinwohner wurden beraubt, unterdrückt, ausgebeutet und ausgerottet. Die Bevölkerungszahl Hispaniolas sank von 400.000 auf heute kaum noch 200. Ich bin ehrlich, wenn ich dir meine Auffassung hier in größter Trauer mitteile: Die Motive von Kolumbus standen und stehen in engem Zusammenhang mit den Interessen der hierher nachfolgenden Konquistadores: Es geht um Macht und Gold! Nichts anderes ist ihr Ansinnen! In Erwartung eines baldigen Wiedersehens!“
Dein Freund Bartolomé

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

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