Schlagwort-Archiv: hardly secret diary

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Wenn das Herz bricht

Wie schon so oft, bricht wieder mir das Herz
obwohl ich dachte, dass ein neuer Schmerz -
und sei er noch so monströs - ihm nichts mehr machte,
dass es als Spezialist des Leids ihn beherzt verachte,
und durch Erfahrung gescheit aus seinem Bannkreis verlachte.
Ja, ich dachte wirklich, ich wär jetzt so weit.

War überzeugt, ich wär vor allem gefeit.
Wär taub, wenn mein Herz in aller Dringlichkeit
um Hilfe schreit, und legte mir vorsorglich
einen Schutzpanzer zu, der in aller Ruh genau dann,
wenn das Tor weit offen steht, tut, was er kann,
sodass mir ein Schmerz nicht mehr so tief zu Herzen geht.

Mir stellt sich die Frage, wie oft mein Herz
noch brechen kann und ob es nicht dann und wann
zu voll wird darin, ich des Leidens müde bin,
weil ich eh schon so viel Unrat in mir trag,
der mich, ganz ohne Wert, sinnlos beschwert, im Herzen gärt
und drückt bei jedem Schlag.

Der meine Freude, die vor Angst zittert, in die Ecke schiebt
und mein Herz innerlich knittert und deformiert,
sodass ich staune, weil es überhaupt noch so gut funktioniert.
Kommt da noch mehr? Ein Schmerz, der mich entliebt,
der so groß ist, dass es nie wieder Ruhe gibt,
an dem es zerbricht, weil es sonst sein Gesicht verliert?

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23112

Am Rand der Nacht

Am Rand der Nacht ist der Schlaf leicht.
Oder wachst du?, du weißt es nicht.
Du siehst den Mond durch das Fenster,
doch das kann auch im Traum geschehen.
Wie alt bist du?
Bist du deutlich jünger, dann schläfst du.

Du erhebst dich aus dem Bett und gehst umher.
Schlafwandeln oder das normale Leben?
Diese Nacht ist anders, oder ist sie stets dieserart?
Man kann sich sein Leben nicht aussuchen.

Nein, das ist ein Irrtum, man kann es drehen,
es besser machen, als es ist.
Der Mensch ist kein Tier mehr,
er ist vernunftbegabt und kann entscheiden.

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23092

Vier im roten Kreis

Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich „im roten Kreis“ begegnen. Rama Krischna[1]

Wann mein Interesse für Mädchen genau begonnen hat, weiß ich nicht. Wenn ich mich recht erinnern kann, dann hatte ich im Kindergarten eine Zeit lang eine bisexuelle Einstellung, bevor ich Gefallen an Annika fand. Diese mochte mich überhaupt nicht und sperrte mich einmal sogar in ein Gartenhäuschen ein (ähnlich ist es übrigens auch Mozart gegangen, das war 1787 in Prag). Zum Schulanfang hatte ich einen Schulranzen und den farblich dazu passenden Regenschirm bekommen. Als wir vom Kindergarten zum Schulgebäude, das uns gezeigt wurde, marschierten, regnete es.
Ich hatte den Regenschirm parat und bekam Annika zugeteilt. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ihr den Regenschirm und merkte, dass sie nicht aggressiv zu mir war, sondern dankbar, dass ich ihr den Regenschirm hielt. Außerdem war sie schön gekleidet. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich erwachsen fühlte. Leider ging Annika in eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Mein nächstes Erlebnis war Christine, die ich im Gymnasium kennenlernte. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern  auch eine der wenigen Personen, die sehr freundlich zu mir waren. Wenn ich eine schlechte Note bekommen hatte, lieh sie mir ihre Lösung aus, damit ich das korrekte Ergebnis sehen konnte. Bei einer Führung durch die Schulbücherei lobte sie mich, da ich das älteste Buch, noch in Fraktur  geschrieben, gefunden hatte. Leider wechselte auch Christine früh die Schule und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.

Im Studium war es Nataliya, auf die ich immer wieder während des Spanischkurses einen Blick warf, als sie auf der hintersten Bank saß. Und ich war überwältigt, als sie sich einmal unvermittelt neben mich setzte und mir sogar ihre E-Mail-Adresse gab, da ich in der nächsten Stunde etwas für sie mitschreiben sollte. Leider war ich damals noch zu schüchtern und wechselte, da mir der Kurs nicht gefiel, im nächsten Semester das Fach.

Als das nächste Semester kam, lernte ich in der ersten Vorlesung Adina kennen, die eine schicke, gestreifte Hose trug. Erstaunlicherweise wusste sie, dass ich in den Semesterferien ein Auslandspraktikum absolviert hatte und das Gespräch verlief sehr anregend. Nach der ersten Einheit der Lehrveranstaltung brach sie diese aber ab und der Kontakt verflüchtigte sich.

Andere Begegnungen waren noch flüchtiger. Mir sind Frauen aufgefallen, die sehr freundlich zu mir waren, aber ich hatte merkwürdigerweise auch Frauen gern, die anfangs zu mir abweisend waren. Langsam begann sich bei mir ein bestimmter Frauengeschmack zu entwickeln.

Es gibt Gesichter, die mir gefallen, Frisuren, die schön sind. Auch Vorlieben für bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires mag ich. Was mir jedoch keine Sicherheit gibt, ist dieses:

Wie konnte ich sicherstellen, dass Frauen, die mir gefielen, mich auch im Gegenzug mochten. Gab es eine gegenseitige Anziehungskraft? Da war ich mir nicht so sicher und vermied oft Begegnungen, da in mir eine Blockade aufkam.

Doch noch einmal zurückdenken: Es waren meistens flüchtige Begegnungen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Seltsam, dass sich nie ein Kontakt herstellen ließ.

Aber einige kleinere Erfolge gelangen mir doch, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich auch das Mittel der Flaschenpost eingesetzt habe.

Gerne würde ich wissen, was Annika, Christine, Nataliya und Adina heute machen. Ob es ihnen gut geht. Von Annika möchte ich gerne wissen, wie ihre Schullaufbahn war, ob sie ihre geheimnisvolle Aura bewahrt hat und ob sie nun freundlicher zu mir wäre. Von Christine möchte ich wissen, ob sie es damals schon erkannt hat, dass ich sie toll fand, es aber nur nicht hatte zeigen können. Gerne möchte ich ihr heute versichern, dass ich ihre weiblichen Reize sehr geschätzt habe, auch wenn sie von anderen Schülern verspottet wurde.

Nataliya habe ich geschrieben, leider erst Jahre später, als ich zufällig die Adresse wiederfand. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Kontakt mit mir haben wollte und ob sie sich geärgert hatte, da ich ihr Kontaktangebot nicht angemessen aufgenommen hatte.

Adina hatte ich nach langer Zeit eine Postkarte geschrieben, als ich durch Zufall auf ihre Postadresse stieß. Auch diese Karte blieb unbeantwortet. Jedoch tröstete mich der Gedanke, dass die Karte angekommen war.

All diese Begegnungen haben mein Leben beeinflusst. Und ich war es mir zum Zeitpunkt nicht immer unbedingt klar, welche Auswirkungen auf meine Zukunft das haben sollte. Es waren Weichenstellungen, und mir wurde klar, dass das Poetische sehr wohl in den Alltag hereinbrechen kann. Diese Begegnungen hatten für mich einen höheren Sinn und ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, wie es im anfangs erwähnten Zitat heißt, dass ein Wiedersehen vorherbestimmt sei. Wer weiß, vielleicht endet es für mich wie für Sappho:

Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf. [2]

Allen vier Frauen sei meine Erzählung gewidmet.

 

[1]     Erfundenes Zitat aus dem Film: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge). Regie: Jean-Pierre Melville, 1970

[2]     Sappho: Und ich schlafe allein. Übersetzung von Gerda Kazakou https://gerdakazakou.com/2015/12/20/griechische-dichtung-am-sonntag-sappho/

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23082

Lasst uns …

wieder Schmetterlinge im Bauch spüren,
galoppierende Pferde in der Brust hören.
Lasst uns wieder Gänsehaut über den Körper laufen,
den Ruf von Bussard und Falke im Ohr haben.
Ich will wieder Hummeln sausen sehen,
das Schweifschmeicheln des Hundes auf dem Bein fühlen.
Wir sollten wieder wie junge Geparde über Steppen flitzen,
uns im hohen Gras verstecken, wie kleine Rehkitze.
Lasst uns wieder Kunstwerke kreieren, wie die Spinnen,
oder, wenn notwendig, uns im Laub einigeln.
Gerne wieder ein fröhliches Lied trällern, wie ein Zaunkönig,
gurrend wie die Taube über den Frieden erzählen.
Heimlich, wie ein Steinmarder, durch Nächte ziehen,
und die Lauscher in den Wind recken, wie der Feldhase.
Ich würde gerne klug und scheu sein wie eine Füchsin,
und manchmal lautlos wie die Schleiereule die Umgebung erkunden.
Hie und da wär ich gerne frech, wie ein Eichhörnchen,
um mich wieder zu spüren.
Könnten wir nicht wieder ein Lächeln in das Gesicht der
Mitmenschen zaubern, wie es der Marienkäfer kann?
Wir lächeln zu wenig, grübeln zu viel, sind unsere Herzen
kalt und träge geworden, Gefühle tabu?
Wer liebt, ist verletzlich!
Aber, verdammt – das ist es mir wert.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23072

Herbstabend

Komm, so setz dich doch her! Ich hole kühles Bier für uns.
Lass uns reden! Ich habe so viele Fragen. Lange warst du nicht mehr hier! Wo bist du denn immer?

So nimm doch Platz. Ich hole uns eine Decke und rücke nahe an dich heran. Es ist ein goldener Herbstabend hier draußen, wir müssen uns ein bisschen gegenseitig wärmen.
Weißt du noch? Als wir uns zuletzt gesehen haben? Ich habe deine Hand lange gestreichelt, dir war so kalt an diesem Abend und du hattest doch nie kalte Hände, so lange ich dich kannte.

Und weißt du noch? Unser Urlaub am Meer, da haben wir unser letztes Karlovacko Bier mitsammen getrunken. Dabei hattest du gar kein Verlangen danach. Ganz erstaunt war ich und ungläubig habe ich dir zugesehen, wie du beim Sonnenuntergang an der kroatischen Küste vor einem Teller mit gegrillten Fischen gesessen bist, appetitlos und hoffnungslos. Warum hab ich die Zeichen nicht erkannt?

Ich hätte ein paar Fragen. Wie würdest du mit der Coronakrise und deren Folgen, die gerade auf uns zurollen, umgehen? Hättest du einen Rat?

Weißt du noch? Lange ist’s her, wie du dich in wirtschaftlich schlechten Zeiten kämpferisch gezeigt hast und mit Ehrgeiz und Euphorie die Ärmel hochgekrempelt hast. Das waren deine besten Jahre. Wie zum Trotz hast du dich nie unterkriegen lassen und bist deines Weges gegangen – mit viel Mut und einer kräftigen Portion Optimismus hast du deine Ziele erreicht.

Du warst so lange weg, machst dich so rar. Komm doch öfter mal vorbei. Du weißt, ich habe immer Bier eingekühlt. Ich besorge uns Brot und Speck und Kren, den du so gerne magst, und viele Sorten Käse.

Und dann lass uns herzhaft lachen über die vergangenen Jahre und all deine Sprüche, die du immer auf Lager hattest für uns Kinder und die Enkelkinder.

Papa? Hörst du mich?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23071

 

Zurück auf Start

Manchmal würd ich gern auf sicheren Wegen gehen
und als sorgloses Blatt zurück in meine Kindheit wehen,
die ihr mit Argusaugen bewacht und mit Bedacht
von Stolpersteinen befreit habt, sorgsam mit Moos ausgebettet,
damit ich nicht hart aufschlag, wenn ich fall und mir bloß
ein paar Kratzer hol, die in eurem weichen Schoß
sekundenschnell heilen. Weil ihr mich selbstlos rettet,
schützend euer Herz über mich stülpt und alle lauernden Gefahren ankettet.

Manchmal würd ich gern auf sicheren Wegen im Regen abends um halb acht
zu euch nach Hause kommen, wüsste, ihr hättet mir einen warmen Kakao gemacht,
und sähe schon von Weitem das helle Licht in euren Herzen
durchs Zimmerfenster schimmern, das mich zu euch lenkt
und mich dann, in kusch’lige Decken gehüllt, mit all eurer Liebe beschenkt.
Und alles läge noch unberührt vor mir, im Flackerlicht bunt bemalter Kerzen,
wie frisch gefallener Schnee in eurem Garten, in dem ich arglos eine Runde dreh.

Doch dieses Mal ginge ich ohne Umwege und immer geradeaus aus dem Garten heraus, würd so gern einfach nochmal neu starten.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23068

Ziel. Punkt.

Damals wollte ich nur noch schnell etwas einkaufen, ich weiß nicht mehr so genau was. Es muss nicht viel gewesen sein, denn damals, im März 2013, war das Geld knapp. Ich ging in die „Zielpunkt“-Filiale in der Alserbachstraße in Wien und kaufte etwas ein. Was ich auf dem Weg zum Supermarkt gedacht haben muss, weiß ich nicht mehr, vielleicht war es etwas Berufliches. Ich legte mehrere hundert Meter zu Fuß zurück und betrat das Geschäft. Da ich bereits Läden dieser Kette kannte, war es ein routinemäßiger Besuch, der mir zunächst keiner weiteren Beachtung würdig schien. Ich ging durch die gläserne Schiebetür hinein, zunächst zu den Obst- und Gemüsekisten, dann zur Milchtheke und zum Brotregal. Eine Handvoll Sachen hatte ich, denn ich benutzte keinen Einkaufswagen oder Korb. Alles, was ich in meiner Hand halten konnte.

Als ich zur Kasse ging, legte ich meine Sachen aufs Band, es kann sein, dass noch mehrere Kunden im Laden waren. Wann ich die Kassiererin zum ersten Mal erblickte, weiß ich nicht. Es kann sein, dass sie ihr Haar rot gefärbt hatte, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ob ich sie schon bemerkte, als sie meine Sachen durch den Scanner zog, weiß ich nicht. Ich könnte auch nicht sagen, ob sie mir beim Bezahlen schon aufgefallen wäre. Aber kurz nachdem ich und wahrscheinlich ein anderer Kunde bezahlt hatten, verließ sie ihren Stand und betätigte mit dem Schlüssel die elektrische Türöffnung, da der Laden schon von außen verriegelt war. Ich schaute ihr in die Augen, verabschiedete mich und sie verabschiedete sich auch, dabei lächelte sie mich an. In diesem Moment war es um mich geschehen. Es war das letzte bewusste Mal, dass ich diesen Laden besucht hatte.

Auf dem Nachhauseweg war ich glücklich ob der Begegnung, aber ich wusste nicht, ob es andere Gedanken gab, die wichtiger waren. Vielleicht habe ich die junge Verkäuferin auch in meinem Tagebuch erwähnt, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Was ich am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat tat, ist mir nicht mehr so bewusst.

Einige Jahre später, im August 2017, sah ich in einem Supermarkt eine junge Frau, die Käse aus einer Selbstbedienungstheke holte. Obwohl sie ganz anders aussah, als ich die Zielpunkt-Verkäuferin in Erinnerung hatte, erlebte ich ein Déjà-vu. Ich weiß nicht, welche Gemeinsamkeit sie mit der anderen Frau hatte, jedenfalls fühlte ich eine starke Nähe. Auch diese Erinnerung verblasste.

Erst im Sommer dieses Jahres kam mir die Erinnerung an die Zielpunktverkäuferin. Was ich nicht alles hätte tun können, den Laden häufiger besuchen, ihr ein Kompliment oder ein Geschenk machen. All dies hatte ich nicht getan, aber ich wusste nicht den Grund, warum ich es unterlassen hatte. Und warum wurde das Ganze mir erst jetzt, nach neun Jahren und einem Ortswechsel wieder bewusst? Ich versuchte, über diesen Laden zu recherchieren. Die Supermarktkette Zielpunkt hat 2016 Konkurs angemeldet und die Mitarbeiter*Innen mussten sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Ich hatte demnach keine Chance mehr, diese Mitarbeiterin nochmals zu kontaktieren. Auch machte ich mir Sorgen wegen der Kündigung und der prekären Situation zur Zeit der Insolvenz.

Aber ich musste, da die Verkäuferin sehr charmant gewesen war, mir etwas überlegen, wie ich ihr meine Gefühle übermitteln konnte. Ich erschuf folgendes Szenario: Was hätte ich getan, wenn ich dieser Verkäuferin noch einmal begegnet wäre? Hätte ich meine große Schüchternheit überwinden können? Ich dachte zuerst, dass ich eine kleine Süßigkeit hätte kaufen können, die ich ihr nach dem Bezahlen hätte schenken können. Oder einen Zettel mit meiner Adresse. Was ich bevorzugt hätte, weiß ich nicht, aber es hätte Tage geben können, an denen diese Verkäuferin nicht an der Kasse saß und ich Pech gehabt hätte. Also hätte ich auch noch viel Geduld einplanen müssen.

Für den Fall, dass diese Verkäuferin mein Kontaktgesuch angenommen hätte, was hätte ich ihr vorschlagen können? Ein gemeinsames Gespräch, einen Spaziergang? Manche Menschen glauben daran, dass Gedanken übermittelt werden können. So dass die eigenen Gedanken nicht sinnlos um einen kreisen und den anderen doch – auf welche Art auch immer – erreichen. Es gab Versuche, die bestätigten, dass alle Menschen miteinander über ein paar Personen verbunden seien. Warum nicht einfach einmal eine Flaschenpost an die Verkäuferin schreiben? Ich tat es sogar und schickte meine Gedanken an sie an ein unbekanntes Ufer.

Als ich am Samstag, dem 24. September 2022, um 8.00 Uhr aufwachte, wurde mir der Gedanke immer klarer, dass ich diese charmante Verkäuferin in einem kleinen Text verewigen könnte. Ich fuhr meinen Laptop hoch und gab unter Google das Schlagwort „Schreibwettbewerbe“ ein. Nach einigen Klicks wurde ich auf eine Seite weitergeleitet.

Das Thema „Bewusstheit“ der Ausschreibung sah ich am geeignetsten an. Ziel. Punkt.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22105

Was man für das Leben braucht 3

Sie haben Teil 1 und Teil 2 schon intus?
Dann wollen wir Sie nicht aufhalten ... Viel Spaß mit dem letzten Teil der Geschichte.

Wir erfuhren von dem Entschluss, dass unser Teilunternehmen mit einem anderen Teilunternehmen zusammengelegt werden sollte, das ebenfalls ein Referat hatte, das sich autodidaktisch Lösungen erarbeitet hatte, die aber von Grund auf derart anders waren, dass diese nicht ineinander verschmolzen werden konnten, und eine völlige technische Neuaufstellung war budgetär von den verantwortlichen Chefs vollkommen ausgeschlossen.

Wir erklärten den verantwortlichen Chefs also diesen Umstand inkl. technischer Begründung und erhielten die Antwort, dass dies trotzdem zu funktionieren habe. Als wir nochmals erklärten, dass es nicht an der Motivation mangle, sondern an den gerade dargelegten technischen Fakten, nämlich: „Entweder wir müssen alles von Grund auf neu programmieren oder wir sind zwar offiziell ein Unternehmen, haben aber nach wie vor den Verwaltungsaufwand von zweien“, wurde dennoch darauf beharrt, dass wir das zu schaffen hätten, und die Besprechung beendet.
Wo lag hierbei das eigentliche Problem? Die äußeren Umstände waren komplizierter geworden, doch so lange eine Lösung denkbar war oder wenigstens möglich schien, konnte mich nichts davon abhalten, sie zu suchen. Dass es aber Vorgaben bzw. Zielsetzungen gab, bei denen vollkommen klar argumentiert werden konnte, dass deren Umsetzung einfach nicht möglich war, und der zuständige Vorgesetzte dennoch darauf beharrte, begann mich innerlich zu zersetzen, weil ab diesem Punkt klar war, dass man das nicht mit mehr Einsatz oder noch schlaueren Überlegungen schaffen konnte, sondern die Fakten eben glasklare Undurchführbarkeit ergaben.

Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich vor einer Situation, bei der alle Beteiligten wussten, dass sie nicht lösbar war und trotzdem nichts daran geändert werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass die ersten Kolleg*innen unser Referat verließen bzw. sich das für die Programmierungen zuständige Referat des anderen Teilunternehmens vollständig auflöste. Wir waren also nun weniger Mitarbeiter*innen, hatten aber statt 1500 Leuten plötzlich 3500 zu betreuen und es gab niemanden, der uns sagen konnte, wie genau die Lösungen der zusätzlichen 2000 Mitarbeiter*innen funktionierten bzw. welche Grundgedanken dahinter lagen, und ab da nahm das Grauen seinen Lauf.

Aufgrund absolut verständlicher Überforderung wurde ich von meiner Chefin plötzlich dazu eingeteilt, Schulungen zu leiten, in denen ich eine Software erklären musste, von der ich noch nie etwas gehört hatte, die zum Zeitpunkt der Schulungen noch weit entfernt davon war, zu funktionieren und die dazu dienen sollte, die Schulungsteilnehmer*innen auf ihre zukünftige Arbeit vorzubereiten, weil sie bisher gewohnt waren, ihre technischen Arbeiten im Außendienst handschriftlich zu dokumentieren und von Laptops und Ähnlichem nichts wissen wollten.

Ich bekam Projekte umgehängt, deren Ursprung irgendein Update der Softwarefirma zugrunde lag, weshalb niemand genau wusste, was an den bisherigen Programmierungen geändert werden musste, um deren Funktionalität weiter zu gewährleisten, während die Fachbereiche, die damit arbeiten mussten, von Haus aus keine Änderungen wollten und dementsprechend kooperativ waren, und es verlässlich niemals jemanden gab, den man fragen konnte, der auch nur einen Funken verwertbare, hilfreiche Informationen hatte.

Selbst die Projekte, die früher kein Problem gewesen wären, verursachten grobe Schwierigkeiten, sobald man Programmierungen, die außerhalb unserer Zuständigkeit waren, anforderte, weil diese Kolleg*innen plötzlich nicht mehr sauber arbeiteten bzw. man sich auf deren Zusagen nicht mehr verlassen konnte. Man schickte ein stolzes Mail an die Fachbereiche, weil man die auf alle Heiligtümer dieser Welt geschworene, fixe Zusage bekommen hatte, dass die letzte notwendige Programmierung auf dem Produktivsystem nun funktionierte, und hatte eine halbe Stunde später 800 Störungsmeldungen, weil sich das Programm nicht einmal öffnen ließ.

Als ich mich darüber bei meiner Chefin beschwerte, schob diese mir die Schuld zu mit dem Argument: „Du weißt ja, dass die Kolleg*innen nicht mehr sauber arbeiten, und hättest du alles noch einmal durchgetestet, bevor du das Mail an die Fachbereiche geschrieben hast, hättest du alle Fehler dokumentieren, zurückschicken und die Fachbereiche vertrösten können.“ Ich argumentierte weiter: „Es kann nicht sein, dass es in Ordnung ist, zu akzeptieren, dass Kolleg*innen ihre Arbeit unfertig und falsch abliefern, und wir stattdessen deren Arbeit und Fehlverhalten, obwohl das in deren Zuständigkeit läge, ausbessern und so deren falsches Verhalten auch noch unterstützen und in weiterer Folge bei Beschwerden in der nächsthöheren Ebene die Antwort bekommen, dass doch eh alles funktioniere und worüber wir uns eigentlich aufregen …“ Sie nickte verständnisvoll, aber resignierend: „Ich kann die Situation nicht ändern. Entweder wir tun, was nötig ist, damit es am Ende funktioniert, oder unser Referat wird outgesourct.“

Ich erklärte unsere Zukunftsaussichten: „Das wird zur Folge haben, dass wir dann über kurz oder lang alles vollkommen alleine machen müssen, und das aber in Bereichen, von denen wir überhaupt keine Ahnung haben und auch nicht mehr die Zeit, uns in selbige einzuarbeiten.“ Sie nickte wieder resignierend, mahnte positives Denken ein, und als ich zugegebenermaßen aus der aktuellen Emotionalität heraus ein wenig deftig: „Es ist zwar oasch, aber es ist positiv oasch“ entgegnete, stieß sie ruckartig Luft aus ihrer Nase aus, grinste mich kopfschüttelnd an, und zum ersten Mal lag ich vor lauter Hass eine ganze Nacht lang wach, mein Magen fühlte sich an wie eine glühend heiße Bowlingkugel und ich schwitzte, als würde ich gerade ein Tennismatch bestreiten. Einige beruflich äußerst unglückliche Jahre zogen ins Land.

An der gerade beschriebenen Situation änderte sich nicht mehr viel, außer, dass ich mich daran gewöhnte, jede Nacht um 03:00 Uhr in der Früh schweißgebadet aufzuwachen bzw. Schüttelfrost zu haben, bis um 06:00 Uhr der Wecker läutete, und dass meine Arbeit ab einem gewissen Punkt ausschließlich aus von vornherein unlösbaren Projekten bestand, deren Voraussetzungen von Projekt zu Projekt an nicht mehr steigerbar geglaubter Aussichtslosigkeit auf erfolgreichen Abschluss um den aktuellen Aussichtslosigkeitsrekord stritten.

Wie Sie bereits vermuten werden, war schon lange nichts mehr mit Erholung von den vielen Freizeitaktivitäten in der Dienstzeit, sondern in der Regel kam ich heim und schlief ein bis zwei Stunden, um überhaupt wieder Kraft für irgendeine Handlung zu haben bzw. um, bis meine Frau als PKA in einer Apotheke im Normalfall gegen 20:00 Uhr nach Hause kam, wieder einigermaßen fit zu sein, weil sie nicht unter meiner Arbeitssituation leiden sollte. „Warum kündigst du nicht einfach oder wechselst zumindest die Abteilung?“ „Weil es innerhalb des Unternehmens gerade in jeder Abteilung so aussieht wie in meiner, mit dem Unterschied, dass ich in den anderen Abteilungen zwischen 500 und 1000 Euro netto weniger Gehalt bekomme und was mach ich dann, wenn die Probleme genauso unlösbar sind, mich genauso belasten und ich dafür auch noch um so viel weniger Geld bekomme als davor? Beim Kündigen besteht das Gehaltsproblem zwar nicht, sofern ich in der gleichen Branche bleibe, aber dafür ist mein Job nicht so sicher wie hier und von den externen Programmierer*innen habe ich die gleichen Geschichten gehört wie bei uns im Unternehmen, mit dem Unterschied, dass du einfach gekündigt wirst, wenn du die unlösbaren Dinge nicht löst.“ „Dann mach halt was ganz anderes.“ „Da bekomm ich dann in jedem Fall 1000 Euro netto weniger, weil die einzige offizielle Ausbildung, die ich abgeschlossen hab, die zum Bürokaufmann/-frau ist und ich bin jederzeit ersetzbar bei einem Beruf, der vermutlich ebenfalls wieder keinen Spaß macht und jede Woche 40 Stunden verschissene Lebenszeit darstellt und das kann ich nicht, weil ich kein Leben führen möchte, bei dem mir 40 Stunden jede Woche komplett wurscht sein müssen, damit ich es aushalte.“

Insgesamt sieben Jahre nach meiner ersten schlaflosen Nacht wurden bei meiner jährlichen Vorsorgeuntersuchung Herzrhythmusstörungen festgestellt, für die es keine körperlichen Gründe gab. Mir wurde ein psychologischer Test nahegelegt und bei der Befundbesprechung ein sofortiger Krankenstand inkl. psychologischer Betreuung dringend empfohlen. Einerseits half es sehr zu erfahren, dass nicht ich als Person bzw. meine Einstellung zur Arbeit, sondern die Arbeitsumstände schuld daran waren, wie es mir ging, andererseits ging es mir im Krankenstand nur geringfügig besser, da ich wusste, egal wie lange der Krankenstand auch dauern würde, irgendwann wieder zurück in diesen Job zu müssen. Ich beendete den Krankenstand also früher als geplant, erklärte meinem Abteilungsleiter, meinen bisherigen Job aus psychischen Gründen nicht mehr machen zu können, und ließ mich dazu überreden, im gleichen Team, aber einem anderen Bereich, die Tätigkeiten eines Kollegen, der ein bis zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand, Schritt für Schritt zu übernehmen.

Zu Beginn fühlte ich eine kurzfristig Situationsverbesserung, aber bei näherer Beschäftigung mit den neuen Themen kristallisierten sich wieder die gleichen Probleme und die gleichen Zukunftsaussichten heraus, die der besagte Kollege mit Müh und Not bis zu seiner Pensionierung noch durchdrücken wollte. Als ich das erkannte, schaute ich mich nach Lösungsmöglichkeiten um und stieß durch Zufall auf eine Seite, bei der man 2500 Zeichen (ohne Leerzeichen) lange Kurzgeschichten veröffentlichen konnte. Ich erhielt positive Rückmeldungen in einem Ausmaß, das ich mir niemals träumen hätte lassen inkl. zum ersten Mal in meinem Leben bunt bemalter Fanpost im Briefkasten bzw. als ich in einer großen Buchhandlung in Wien Mitte einmal eine Geschichte von mir vorlesen durfte, von dunkelroten, aufgeregten, lieben Menschen die Hand geschüttelt und erzählt bekam, wie toll sie meine Texte fanden.

Plötzlich war es wieder da, dieses wunderschöne Gefühl von ganz früher, an das ich mich kaum noch erinnern konnte, nämlich mit einer Tätigkeit, die einem Spaß machte, anderen Leuten eine Freude bereiten zu können, und ab dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich bekam eine Kollegin, die zumindest einen Teil meiner alten Tätigkeiten übernehmen sollte, gleichzeitig ging meine, mich immer zum Positiv-Denken ermutigende, Chefin aus psychischen Gründen in Krankenstand, ich wurde Vater und mich durchflutete plötzlich eine derartige Sinnhaftigkeit in meinem Tun, bei jeder gewechselten Windel, jedem Flascherl, jedem Trösten, Spielen, also eigentlich jeder Beschäftigung mit diesem wunderbar durch und durch reinen, ehrlichen Geschöpf, dass für mich nach meinem ersten Arbeitstag nach der Geburt bzw. nach dem Papamonat und die Art, wie mich der Kleine danach ansah, klar war, dass dies nun das Ende meines bisherigen Berufs bedeuten würde.

Dass die neue Kollegin, als sie sich von ihrem zukünftigen Arbeitsalltag ein Bild machen konnte, gleich wieder gekündigt hatte und mir ungefragt vom Abteilungsleiter deren Termine weitergeleitet wurden inkl. dem Mail an alle Fachbereiche, dass ab jetzt ich für all das zuständig sei, zusätzlich zu meinen aktuellen Tätigkeiten und der Info, dass meine Chefin nicht mehr zu uns zurückkommen würde, waren nur eine zusätzliche Bestätigung meines Entschlusses.

Fazit: Der 31.10.2020 war mein letzter offizieller Arbeitstag und seitdem stehe ich um die gleiche Zeit auf wie früher, setze mich aber, statt zu einem Ort zu fahren, für den ich ausnahmslos Hass und Verzweiflung empfinde, in unser ehemaliges Abstellkammerl und schreibe an meinem Roman und spüre, wie mir jede Seite, jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe, jedes Satzzeichen und sogar jedes Leerzeichen guttut, auch wenn ich die Folgen der letzten sieben Jahre immer noch mehrmals täglich spüre. Endlich fühlt sich wieder etwas sinnvoll, gut und richtig an, und vielleicht schaffe ich es ja, dass mein Roman, wenn er fertig ist, verlegt wird und ich davon einigermaßen leben kann, weil es dann genug Leute gibt, die damit eine Freude haben.

Ich würde jeden Tag schreiend vor Glück durch die Straßen rennen. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass ich das nicht schaffen werde, aber dann habe ich zumindest die Gewissheit, einen Roman fertiggestellt zu haben, auf den ich stolz bin, und mit dem wenigstens Verwandte und Bekannte eine Freude haben. So lange aber nicht alle Verlage dieser Welt den Roman abgelehnt haben, werde ich es probieren, und selbst wenn das passiert ist, schreibe ich einen neuen, der durch die gemachten Erfahrungen mit dem aktuellen Projekt noch besser werden wird.

Ich weiß jetzt was ich für mein Leben brauch. Schreiben. Einfach schreiben und spüren, wie ich mich Zeile für Zeile wieder gesünder fühle, um wieder Kraft zu haben für all die wunderbaren Dinge und Menschen auf dieser Welt, und ja, die gibt es. Es sieht nur so aus, als wären die Idioten mehr, weil die guten Leute meistens einfühlsam und ruhig sind. Schon all das in diesem Text aufzuschreiben, hat sich so unendlich wohltuend und gesund angefühlt. Allein dieses Kribbeln im Bauch, das ich gerade spüre, weil ich weiß, kurz davor zu sein, mit dem Text fertig zu werden, hat mich schon wieder ein Stück gesünder werden lassen, und wenn Sie bei diesem Text jetzt gerade zum ersten Mal kurz milde lächeln müssen, habe ich mein Ziel schon mehr als erreicht. Sowohl für den Text, als auch für mich selbst.

Abschließend muss ich sagen, dass der Schluss natürlich ein bisschen kitschig ist, aber wenn die Wahrheit einmal kitschig klingt, dann habe ich wohl endlich die richtige Entscheidung für mein Leben getroffen.

Lukas Lachnit

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer:  22108

 

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22107

Was man für das Leben braucht 2

Nicht so schnell! Kennen Sie schon Teil 1? Dies ist die Fortsetzung.

Diese Erkenntnis saß so tief, dass ich mich schlussendlich für den Lehrberuf Bürokaufmann/-frau entschied und eine solche Lehrstelle bei einem Gemeindebetrieb in Wien bekam, bei dem meine erste Aufgabe in der Abteilung der Rechnungsprüfung darin bestand, mit einem Taschenrechner und einem handschriftlichen Zettel (das war im Jahr 2005), die ebenfalls handschriftlich eingereichten und zusammengerechneten Tagesfahrten der Außendienstmitarbeiter*innen auf deren Richtigkeit zu überprüfen. Als ich vorschlug, die jeweiligen Kilometer der Fahrten doch einfach im Excel statt auf einem handschriftlichen Zettel zu führen, und die zauberhafte Wirkung des Summe-Buttons vorführte, wurde ich als neues Genie gehandelt und mit leuchtenden Augen von der IT-Abteilung angefordert, mit dem Argument, dass gerade in diesem Bereich innovative junge Leute wie ich gesucht wurden, die die Arbeitswelt schon in ihrer ersten Woche revolutionierten.

Erinnerungen an meine Volksschulzeit wurden wach, während ich mich zwang, nicht darüber nachzudenken, wie es sein konnte, dass Menschen, die zwischen 30 und 40 Jahre in diesem Unternehmen arbeiteten, nicht von selbst auf eine Idee kamen, die ein sechzehnjähriger Lehrling in seiner ersten Arbeitswoche hatte.

In der IT-Abteilung wurden mir innerhalb kürzester Zeit sämtliche Aufgaben meiner Kolleginnen und Kollegen übertragen, die fortan um 07:30 Uhr an ihrem Schreibtisch ihre Sachen ablegten, das Büro verließen, sich kurz vor der Mittagspause um 11:00 Uhr im Büro trafen und gegen 14:45 Uhr ihre Sachen im Büro wieder abholten, weil um 15:30 Uhr bekanntlich Dienstschluss war.
An richtig heftigen Stresstagen war ich mit all den übertragenen Aufgaben in etwa einer Stunde fertig und erfuhr, dass in der Abteilung der Rechnungsprüfung die Überprüfung der Tagesfahrten der Außendienstmitarbeiter*innen doch wieder handschriftlich durchgeführt wurde, weil der Hauptabteilungsleiter kritisierte, dass er nicht argumentieren konnte, dass acht Leute in diesem Referat sitzen mussten, wenn er einfach gar nichts in die Tätigkeitsbeschreibung schreiben konnte, da die Excellisten ja bereits von den Außendienstmitarbeiter*innen befüllt und summiert wurden.
Dazu sei gesagt, dass selbst bei handschriftlicher Bearbeitung eine einzige Person bis allerspätestens zur Mittagspause mit der gesamten Arbeit fertig gewesen wäre.

Als ich erkannte, dass sich an diesem Stresslevel auch in der IT-Abteilung so schnell nichts ändern würde, war das Problem nicht mehr die Arbeit, sondern die Zeit, die so gar nicht vergehen wollte. Anfangs fragte ich meinen Chef nach neuen Tätigkeiten bzw. übernahm als unlösbar geltende Aufgaben, die in der Regel in ganz schlimmen Fällen ein wenig die Komplexität des Excelvorschlags überschritten, und erarbeitete mir so einen Ruf als Problemlöser für die unlösbar scheinenden Fälle.
Dennoch blieben durchschnittlich sieben Stunden täglich übrig, die vergehen mussten. Ich las Bücher, surfte im Internet, traf mich mehrere Stunden am Tag mit anderen Lehrlingen, bis ich begann, vorerst einmal nur die organisatorischen Dinge, die für die Ausübung meiner Hobbys notwendig waren, in die Arbeitszeit zu verlegen, wodurch ich ein paar Stunden Dienstzeit mehr sinnvoll nutzen konnte bzw. ich meine Freizeit mit derartig viel spannenden, spaßigen Beschäftigungen verplanen konnte, dass ich mich in der Dienstzeit von meiner Freizeit erholte. Ich konnte mir also durch die Erholung von meinen Hobbys selbige finanzieren und so zogen einige glückliche Jahre ins Land.

Nach dem Bundesheer kam ich zurück zu meiner Dienststelle und mein Chef suchte das Gespräch. Er teilte mir mit, dass sehr dringend EDV-Techniker*innen gesucht wurden und man mit der Bezahlung, so ich einverstanden wäre, durchaus etwas machen könne, da der Abteilungsleiter ihn darauf angesprochen hatte, wie es sein konnte, dass die Arbeit, seit der Lehrling beim Bundesheer ist, von niemandem erledigt wurde, obwohl mehr als genug Leute da wären, die dafür zuständig wären. Dadurch wurden die pragmatisierten Kolleginnen und Kollegen zur Pflicht gerufen und festgestellt, dass selbst für eine einzige Person zu wenig Arbeit da wäre, während EDV-Techniker*innen dringend gesucht wurden.

Da mein Chef meine Anpassungsfähigkeit an einen veränderten Arbeitsalltag im Vergleich zu meinen pragmatisierten Kolleginnen und Kollegen völlig überraschend höher einschätzte, war ich, ohne einer einzigen offiziellen Ausbildung für diesen Beruf, plötzlich EDV-Techniker und beging, bei einer Büroübersiedlung, bei der sämtliches EDV-Equipment demontiert und in einem neuen Büro wieder aufgebaut und angeschlossen werden sollte, den klassischen Anfängerfehler, nämlich an einem Tag bis zur Mittagspause fertig zu sein. Ich wurde also ins Chefbüro zitiert und nach meinem geistigen Gesundheitszustand befragt, weil für die von mir durchgeführte Tätigkeit zwei Wochen Bearbeitungszeit veranschlagt worden waren und jetzt alle Fachabteilungen erwarten würden, dass sämtliche Übersiedlungen innerhalb eines Vormittags erledigt würden. Ich entschuldigte mich demütig für mein Fehlverhalten, passte mein Arbeitspensum den Vorgaben an und konnte mich somit, bei deutlich besserem Gehalt, weiterhin in der Dienstzeit von meiner Freizeit erholen. Weitere glückliche Jahre zogen ins Land.

Eine Stelle in einem Referat, das für die Entwicklung und Betreuung von Software zur Abwicklung von Geschäftsprozessen im Unternehmen zuständig war, wurde frei und die ersten Gespräche mit dessen Chefin waren sehr vielversprechend. Zum ersten Mal hatte ich als Reaktion auf einen Satz, der einen Beistrich enthielt, keinen verwirrten Gesichtsausdruck oder einen leeren, ausdruckslosen Blick, sondern freudige Überraschung darüber, dass es uns beiden tatsächlich mitten in der Dienstzeit passierte, auf einen angenehm intelligenten, grundsätzlich motivierten Menschen getroffen zu sein. Nach zehn Minuten Gespräch hatten wir das Gefühl, gemeinsam die Macht wieder ins Gleichgewicht bringen bzw. mit einem einfachen „Nein“ sämtliche auf uns gefeuerte Munition stoppen und auf den Boden fallen lassen zu können.

Das nochmals höher angebotene Gehalt inkl. der Versicherung, dass meine Bedenken, für die Tätigkeit keine offizielle Ausbildung zu haben, unbegründet sein, da alle in diesem Referat inkl. ihr selbst, die gleiche Lehre abgeschlossen hatten wie ich und sich autodidaktisch in die Entwicklung der Systeme hineingearbeitet hatten, beruhigte mich zu Beginn. Beim Kennenlernen der unterschiedlichen Entwicklungen stellte sich heraus, dass die daran beteiligten Leute sich viele Fragen nicht gestellt hatten, die die tägliche Arbeit der unterschiedlichen Fachbereiche aber deutlich erleichtert hätten. Es stellte sich allerdings auch heraus, in welchem Ausmaß auch nur die kleinsten Änderungen Auswirkungen auf die jeweiligen Fachbereiche hatten, und wie sehr sich all diese Fachbereiche vorerst einmal einig und für Änderungen offen sein mussten, um Veränderungen überhaupt andenken zu können.

Schon als EDV-Techniker wurde ich zu den „schwierigen“, „nie zufriedenen“ Leuten geschickt, bei denen in den allermeisten Fällen freundliches, empathisches Zuhören und das Finden einer dementsprechenden Lösung ausreichte, um sie vollumfänglich zufriedenzustellen. Kurzum: Im Team meiner neuen Chefin war ich in meinem Element. Das Erkennen und bis zur letzten Verästelung Durchdenken komplexer Zusammenhänge, das Finden einer pragmatischen, für alle Beteiligten besseren Lösung, und diese Lösung empathisch den jeweiligen Fachabteilungen vorzutragen, machte mir in einem Ausmaß Spaß, das ich beruflich bis dahin nicht erlebt hatte. Zusätzlich war das Arbeitspensum dennoch relativ überschaubar, wodurch ausreichend Zeit war, um sich mit allen Themen bis ins letzte Detail zu beschäftigen und an einer idealen Lösung zu arbeiten.

Das sollte sich drastisch ändern.

Lukas Lachnit

Ab ins Finale, zu Teil 3!

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22107

Was man für das Leben braucht 1

Und immer dann, wenn ich nicht mehr kann und um 03:00 Uhr Früh schweißgebadet aufwache, stelle ich mir vor, was man für das Leben braucht.

Nichts. Wenn man im Hier und Jetzt lebt, dann braucht man absolut nichts. Keine Wohnung, kein Haus, kein Auto, keine Arbeit, kein Geld, keinen Partner, keine Kinder etc. Das klingt vorerst einmal entspannend, ist aber ab dem Zeitpunkt, wo sich das Hier und Jetzt verändert, also Zeit vergeht, scheinbar gar nicht so leicht, wenn man schon einmal die Gelegenheit hatte, andere Menschen beim Warten zu beobachten.
Man kann also durchaus zu Recht die Vermutung anstellen, dass sich beispielsweise Actionfilme deshalb so großer Beliebtheit erfreuen, weil da 90 bis 120 Minuten lang echt so richtig ganz arg nicht nichts passiert, aber warum ist das so? Warum haben so viele Menschen mit nichts ein Problem? Kabarettist*innen würden an dieser Stelle dem Publikum ein wenig Zeit geben, bis die ersten kleinen Grüppchen die Pointe erkennen, und dies mit Gelächter kundtun, das den Rest des Publikums dazu bringt, angestrengter über das bisher Gesagte nachzudenken, und es dadurch ebenfalls die Pointe erkennen lässt, bis jeder Mensch im Saal lacht und den Genuss der Pointe mit enthusiastischem Applaudieren genießt.

Jurymitglieder eines Literaturwettbewerbs hingegen würden sich von dieser Zusatzerklärung der Pointe in ihrem Intellekt verletzt fühlen, dabei sollte die Erklärung doch nur dafür sorgen, dass der Text, so er denn vorgelesen werden sollte, so viele Menschen wie möglich erfreuen kann, und verhindern, dass die Pointe das Potential ihrer Wirkung verfehlt, weil die Vermutung zugrunde liegt, dass sie dem schreibenden Menschen selbst nicht aufgefallen ist. „Pointen, die man erklären muss, erzählt man nicht“, „Die Leute, die die Pointe ohne Erklärung nicht verstanden hätten, verstehen die Erklärung nicht“, und obwohl das jetzt nur zwei Feststellungen sind, habe ich an dieser Stelle schon mit drei Nichten (Mehrzahl von nicht?) ein gerechtfertigtes Problem: „Wenn jetzt ein Schmäh mit Neffen kommt, lese ich den nächsten eingereichten Text.“ BITTE NICHT!!! Ich bin eh schon wieder brav. Zurück zum Thema!

Für drei Minuten Leben braucht man absolut gar nichts. Nicht einmal Luft. Wenn man aber vorhat, länger als drei Minuten zu leben, dann beginnt es schon mit den ersten Schwierigkeiten.
Aus medizinischer Sicht sollte man nach drei Minuten dringend zu atmen beginnen.
Fazit: Alleine um nur länger als drei Minuten leben zu können, muss man schon aktiv etwas dafür tun. Wenn man also absolut konsequent im Hier und Jetzt lebt und überhaupt nicht an die Zukunft denkt, dann ist man nach drei Minuten erstickt. Diese drei Minuten hatte man dafür aber echt so richtig überhaupt keine Sorgen, wobei man sagen muss, dass nach einer Minute ohne zu atmen bereits ein leichtes Unwohlsein auftritt. Das heißt im Endeffekt ist man eine Minute wirklich frei und ab dann beginnt das Leben, einen leicht und in weiterer Folge immer vehementer dazu zu zwingen, sein weiteres Bestehen zu gewährleisten, bis man für das Nichtstun bereits nach drei Minuten mit dem Erstickungstod bestraft wird. Wir können also festhalten, dass drei Minuten in die Zukunft denken und dem daraus folgenden Entschluss, trotz allem Hier und Jetzt, vorausschauend zu atmen, eine sinnvolle Tätigkeit ist, die es beizubehalten gilt, obwohl es uns vom Nichts, das es für das Leben braucht, den ersten, selbst entschiedenen Schritt, entfernt.

Ich fasse also einmal den aktuellen Iststand zusammen: Wir haben in unserem Beispiel die freiwillige Entscheidung getroffen, länger als drei Minuten leben zu wollen, und daher zu atmen. Um angenehm schrittweise feststellen zu können, was man noch für das Leben braucht, stellen wir uns einen Ort vor, an dem es etwa 24 Grad hat.

Aktuell stehen wir also nackt an einem angenehm warmen Ort mit atembarer Luft, atmen und haben keine Sorgen. Wenn wir also davon ausgehen, dass wir uns, bis wir uns die Frage gestellt haben, was man eigentlich fürs Leben wirklich braucht, normal ernährt haben, dann haben wir jetzt drei Tage Zeit, bis wir die nächste zusätzliche Handlung setzen bzw. eben etwas zu trinken organisieren müssen.
Hierfür würde ein einigermaßen sauberer Fluss reichen, in dem man auch ohne weitere Hygienemittel seine Notdurft verrichten könnte.
Jetzt werden mir einige pingelige Menschen mit „Lebensstandard“ kommen, aber dazu vielleicht später mehr.

Wir sind jetzt also nackt bei einem Fluss, haben zu trinken, können unsere Notdurft verrichten und grundsätzlich bräuchten wir aus medizinischer Sicht jetzt durchschnittlich zwei Wochen lang sonst überhaupt nichts mehr. Für zwei Wochen Leben braucht man also nichts außer Luft zum Atmen, einen Fluss und 24 Grad Außentemperatur.
Natürlich ginge das auch in einem Wald bei einem Bach oder einer Quelle, wobei da vielleicht nicht jeder mit der nackten Hand seinen Darmausgang, nach der verrichteten Notdurft, reinigen wollen würde, und dann müsste man ein nicht giftiges Blatt organisieren und dafür müsste man wiederum wissen, welche Blätter nicht giftig sind, und dafür müsste man dann etwas gelernt haben oder ein Nachschlagewerk besitzen und dafür bräuchte man dann Geld und dafür wieder eine Arbeit und damit einen jemand einstellt, auch einen Wohnsitz und ... bleiben wir lieber bei unserem Fluss.

Wir haben also Luft zum Atmen, wir haben zu trinken, einen Ort, um unsere Notdurft rückstandsfrei zu verrichten, und uns ist nicht kalt dank der 24 Grad Außentemperatur.
Wie vorher schon erwähnt, ist es zwar aus medizinischer Sicht zwei Wochen lang möglich, ohne Essen auszukommen, aber jeder, der schon einmal versucht hat, nur einen Tag nichts zu essen, wird mir bestätigen können, dass spätestens nach einem halben Tag die Worte Bequemlichkeit und Entspannung nicht einmal mehr buchstabierbar sind.
So, und ab jetzt wird es kompliziert.

Natürlich kann man, wie eben schon erwähnt, versuchen, im Wald zu überleben, wo die Wahrscheinlichkeit, Essbares zu finden vielleicht höher ist, aber dafür benötigt man eben ein entsprechendes Wissen darüber, was man schon bzw. nicht essen darf.
Natürlich könnte man das einfach ausprobieren, aber da bestünde dann die Möglichkeit, dass man sich vergiftet und stirbt, und zwar deutlich früher als in zwei Wochen, und das wollen wir ja nicht.
Was tun wir also, wenn wir vorhaben, länger als zwei Wochen leben zu wollen? Wir beugen uns der Gesellschaft und suchen uns einen Job. Damit uns auch jemand einstellt, brauchen wir vor allem einmal Kleidung und einen Wohnsitz, und damit wir beides bekommen, brauchen wir Geld. Das klingt zuerst einmal paradox, aber in den allermeisten Fällen haben wir Eltern oder eine andere erzieherische Instanz, die bereits für uns Kleidung besorgt hat und in deren Wohnung wir leben, bis wir alt genug sind, um arbeiten zu gehen und uns genug Geld für eine eigene Wohnung anzusparen. Wenn diese Wohnung dann organisiert ist, löst man sich aus sämtlichen Sicherheitsverankerungen und übernimmt vollkommen die Verantwortung für sein Leben.

Je nach Intelligenz, Sicherheitsbedürfnis und Risikobereitschaft ergibt sich daraus ein tägliches Grundgefühl, an dem man in der Regel sehr gut feststellen kann, ob man in diesem Leben für das eigene Wohlbefinden eher die richtigen oder eher die falschen Entscheidungen getroffen hat. Wenn man mit 24 zum ersten Mal um 3:00 Uhr schweißgebadet aufwacht, als hätte man zwei Stunden Tennis gespielt, und wenn man sich abdeckt, Schüttelfrost hat, als würde man bei minus 15 Grad nach dem Duschen eben nackt und unabgetrocknet im Freien stehen, dann muss man mit seinen wohlüberlegten Lebensentscheidungen irgendwo falsch abgebogen sein, aber wann, wo und warum?

Der Reihe nach:

Ich bin 1989 in Wien geboren. Wir waren nicht reich, aber ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, an dem wir für alltägliche Dinge kein Geld gehabt hätten.
Ab dem Kindergarten wurde mir regelmäßig die Verantwortung für die Gruppe übertragen, wenn die Kindergartenpädagogin einmal kurz aus dem Raum musste. Ich wusste nicht warum, erfüllte aber die an mich gestellte Erwartungshaltung.

Ab der Volksschule mit musikalischem Schwerpunkt lernte ich Klavierspielen und wurde dort als Ausnahmetalent behandelt, das an jedem Tag der offenen Türe als „… unser kleiner Mozart …“ vorgestellt wurde, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, mich beim Üben sehr verausgabt zu haben. Das sorgte für die eigenartige Situation, dass mich meine Eltern kritisierten, die geübten Stücke viel besser spielen zu können, wenn ich mich mehr anstrengen würde, während alle Menschen außerhalb der elterlichen Wohnung vor Begeisterung zusammenbrachen bei den selben Stücken, in der absolut selben Spielqualität.
Einerseits wusste ich, dass ich mit mehr Einsatz tatsächlich noch besser spielen konnte, andererseits sorgte es für einen äußerst angenehmen, beruhigenden Selbstbewusstseinsschub, zu wissen, dass ich mit vergleichsweise geringem Aufwand in der Welt da draußen bereits Begeisterungsstürme auslösen konnte, obwohl ich es niemals darauf abgesehen hatte. Ich wollte einfach nur ein bisschen Klavierspielen lernen.

In weiterer Folge wurde mir auch in sämtlichen anderen Gegenständen gesagt, dass ich äußerst reif sei für mein Alter, überdurchschnittlich intelligent, aber, in den anderen Gegenständen wurde mein dunkles Geheimnis wohl erkannt, dass ich mein volles Potential immer erst dann ausschöpfen würde, wenn ich mir selbst etwas in den Kopf gesetzt hatte und mit der richtigen Einstellung die Eckpunkte meiner Weltherrschaft eigentlich nur noch organisatorisch zu klären wären. Ich wollte die Welt aber gar nicht beherrschen, sondern einfach nur den Tag mit Dingen verbringen, die mir Spaß machten, in einem von mir selbst bestimmten Ausmaß. Dennoch muss ich zugeben, dass ich es praktisch fand, durch die ewige Kritik meiner Eltern meine tatsächliche Leistungsgrenze zu kennen und gleichzeitig die Gewissheit zu haben, in Notfällen mit ein bisschen mehr Anstrengung, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen zu können.

All dies setzte sich im Gymnasium fort, mit dem Unterschied, dass ich mich mittlerweile deutlich vehementer traute, die jeweiligen Fächer, deren Inhalte und wie diese unterrichtet wurden, in Frage zu stellen, wodurch sich überraschend viele Vieraugengespräche mit den jeweiligen Lehrkräften ergaben, in denen sich bei empathischer Gesprächsführung meist herausstellte, dass sie meine Kritik teilten, aber nicht schuld am Inhalt und der Art des Unterrichts waren, sondern all das im Lehrplan festgelegt war, dessen Infragestellung bzw. das Äußern von Änderungswünschen in etwa so sinnvoll sei wie das Anschreien von Altglascontainern. Natürlich gäbe es Leute, die das tun würden, aber ein beneidenswertes Leben würden diese Leute nicht führen, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich vollkommen bewusst in einer Situation, in der ich erkannte, dass da Leute waren, die grundsätzlich auf die positivst mögliche Art in den Beruf gegangen waren, in dem es darum ging, junge Menschen so sinnvoll wie möglich auf das Leben vorzubereiten, die Verbesserungsmöglichkeiten an dieser Tätigkeit erkannten, diese Verbesserungen einforderten und dadurch so lange, so energieraubende Nachteile erlebten, dass sie junge Leute lieber viel schlechter als möglich ausbildeten, weil sie für alles andere einfach keine Kraft mehr hatten, und das Allertraurigste an dieser Situation war, dass das tatsächlich die realistischste Vorbereitung auf mein Berufsleben war, die man sich vorstellen konnte, aber dazu später mehr.

Ab dieser Erkenntnis informierte ich mich in den jeweiligen Gegenständen nur mehr über für mich interessante Bereiche. Ich wusste also beispielsweise nicht, in welchem Jahr die Glühbirne erfunden wurde, konnte aber erklären, wie sie funktionierte. Leute, die Ersteres konnten und Letzteres nicht, standen in der Regel zwischen „Gut“ und „Sehr gut“, ich stand plötzlich zwischen „Genügend“ und „Nicht Genügend“. Die tragische Ironie an der Situation war, dass meine Noten rapide schlechter wurden, gerade weil ich mich sinnvoll mit den Inhalten beschäftigen und etwas daraus lernen wollte und mich für die Themen und nicht für die jeweiligen Prüfungen interessierte.

Lukas Lachnit

Gleich geht es weiter! Hier kommen Sie zu Teil 2.

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