Schlagwort-Archiv: ¿Qué será será?

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Meine Königin

Ich bin der Richtige für dich, Baby.
Lass mich es dir beweisen.
Du wirst meine Königin sein.
Hundertzwanzig Lakaien werden dich bedienen.
Dir wird es an nichts mangeln.
Und du wirst dir nichts mehr wünschen,
weil du schon alles hast.

JACK’S BURGER

JACK’S BURGER

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22132

Der letzte Mensch

Und dann war er ganz allein
Der letzte Mensch.
Niemand außer ihm.
Wenn er schreit, hören ihn nur Tiere.
Und Gott?, ist hier das Paradies?
Dann könnte er Gott um eine Gefährtin bitten.
Für eine seiner Rippen, das ist ein guter Preis.
Aber nein, ganz und gar nicht ist er hier im Paradies.
Er ist in der Zukunft.
Auch wenn diese Zukunft nur einen Tag von gestern entfernt ist,
ist er der Einzige, der übriggeblieben ist.

Das harte Leben

Das harte Leben

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22073

Lara erzählt

Warum ich keine Beachtung mehr finde, weiß ich wirklich nicht. Ich bin ganz die Alte, zuverlässig, bin da für sie, halte zusammen, was geht; das sind meine Kernaufgaben, mehr kann sie doch nicht verlangen von mir. Ob ich ihr einfach nicht mehr gefalle?

Aber vielleicht liegt es auch an was anderem, für das ich nichts kann? Ich wäre bereit für meinen Einsatz, würde meine Rolle gern so spielen wie früher, sie umfangen, kosen und beschützen, aber ich werde einfach nicht mehr angesehen, nicht mehr berührt, ich friste nun schon seit so langer Zeit ein trauriges Dasein. Und drum dachte ich, ich melde mich jetzt auch einmal zu Wort und erzähle meine Geschichte, statt immer nur still zu leiden und damit zu hadern, dass nichts mehr ist wie früher … Damals als wir nach unserer ersten Begegnung schon bald gemeinsam auf dem großen Badetuch lagen, ich eng an ihren Körper geschmiegt, wir beide von der Sonne gewärmt und schließlich getrocknet, wir zogen alle Blicke auf uns, waren eins, unzertrennlich, einen ganzen Sommer lang und darüber hinaus.

Es fing mir gegenüber mit kleinen, oft auch lautstark geäußerten Beschwerden an, was alles nicht mehr passe, angeblich, was sie sich nicht länger anschauen möchte, was sich alles ändern sollte, damit es wieder so sei wie früher. Und ich glaub auch nicht, dass ich irgendwas an ihrer Meinung ändern hätte können, ach, vermutlich hätte ich, um sie umzustimmen, rein gar nichts sagen oder tun können, selbst wenn ich dazu imstande gewesen wäre. Ich war einfach nur verblüfft, wie die Freude, die sie früher an meiner Anwesenheit hatte, so umgeschlagen war in blanke Ablehnung. Wie sie alles vergessen hatte können, was wir gemeinsam erlebt hatten, dass wir wie geschaffen gewesen waren für einander, ein Traumpaar: Es war mir ein Rätsel.

Die Zeit sei nicht spurlos an ihr vorübergegangen, es sei ein Desaster, klagte sie einmal vor dem Spiegel, ich war um die Ecke im Schrankraum und konnte es nicht glauben: Das war es also??? Sie kam mit dem Altern nicht zurecht, und darum lehnte sie mich ab?

Was hatte sie vor? Sich ein jüngeres Modell zu suchen, würde sie wohl auch nicht besser aussehen lassen. Ich verstand sie nicht und im selben Moment doch: Es war vorbei. Unser Zeitfenster war geschlossen. Es war schön gewesen. Ich war ihre Wahl gewesen, und nun wollte sie mich nicht mehr.

Aber ich hab mich dann trotzdem getröstet. Im Altkleidersack traf ich etliche Unterwäschestücke, die sie früher gern getragen hatte, eine Stretchjeans und drei heiße Miniröcke. Sie alle erzählten mir, sie hätten dasselbe Schicksal erlitten. Allerdings waren sie auch etwas fies zu mir. Merkten sie doch glatt an, dass Glitzerbikinis allgemein den Ruf hätten, etwas divenhaft zu sein und Dinge zu persönlich zu nehmen. Und ich sei da keine Ausnahme. Das war es also vorerst mit dem Modell Lara. Vielleicht mag mich ja schon bald eine andere, ich bin gespannt, wer die Nächste ist, die mich ausführen möchte.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22059

Gestern, heute, morgen: Sonntag

Sonntags wird am Stammtisch pünktlich mit dem Zwölfuhrläuten der letzte Rest Bierschaum eilig hinuntergekippt. Die Stühle werden über den knarzenden Holzboden zurückgeschoben, die Jacken angezogen und tiefe Männerstimmen lachen noch über einen schnell hingeworfenen Witz, egal ob anzüglich oder nicht. Die Zeche beim Wirt wird jetzt bezahlt oder auch erst zum Monatsletzten die Frau wartet ja, das Essen auf dem Herd. Man klopft sich noch schnell auf die Schultern, zufrieden mit sich und den alten Geschichten, die auf ewig lustig sind, weil sie auf ewig immer gleich erzählt werden.

Gestern. Das Zwölfuhrläuten war noch nicht ganz verklungen, als Jakob vom verrauchten und mit Männerdunst vernebelten Kellerwirt ins Freie trat. Er atmete die klirrend kalte Luft tief ein und hob noch einmal die Hand zum Gruß, als er die Kellnerin sah, die sich für eine schnelle Zigarette vor die Garage gestellt hatte.

Als Jakob den Dorfplatz überquerte, flogen ihm zarte Schneeflocken ins Gesicht, die sofort auf seiner verschwitzten Haut schmolzen. Der erste Schnee, dachte er und bog in die Glasergasse ein. Schon so früh heuer. Seine Frau Gerti würde wohl heute die ersten Futterknödel für die Amseln aufhängen.

Während er beschwingt den Aufstieg Richtung trautes Heim in Angriff nahm, spürte er leichten Schwindel. Oder war da zuerst das Schlittern seiner Füße auf dem glatten Gehweg gewesen? Er rutschte jedenfalls, riss die Arme in die Luft und die Beine nach vorne und für den Bruchteil einer Sekunde schwebte Jakob in der Luft, durch keinen seiner Körperteile mit der Erde verbunden. Dann fiel er nach hinten und stieß sich den Kopf an der Bordsteinkante.

Heute. Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckt seinen Körper und klingt mit immer kürzer werdenden Wellen ab. Vorsichtig betastet Jakob seinen Hinterkopf. Kein Blut, aber eine Beule würde es wohl werden. Er setzt sich langsam auf und sieht sich um. Es ist niemand da, nur der Schnee fällt noch still vom grauen Himmel und bedeckt nach und nach die schmale Gasse.

Unter Ächzen und Stöhnen schafft es Jakob, sich aufzurichten. Vorsichtig stützt er sich an den Hausmauern ab und setzt Schritt für Schritt seine schweren Stiefel hintereinander. Als er endlich ganz oben ist, biegt er nach rechts, an der alten Linde vorbei, und zwei Häuser weiter geht er durch das Gartentor. Der Schmerz hat nun nachgelassen, aber der Schwindel ist noch immer da. Er würde Gerti bitten, ihm einen heißen Tee zu machen und eine Packung Tiefkühlgemüse gegen die Beule zu halten.

Als er den Schlüssel aus der Jackentasche zieht und in das Schloss schiebt, will dieser sich nicht drehen lassen. Jakob lehnt sich stöhnend gegen die Hausmauer. Er hat wohl mehr getrunken, als er ursprünglich gedacht hat. Ein Hund bellt und kratzt von innen an der Haustür. Jakob stutzt. Sie haben keinen Hund. Er tritt ein paar Schritte zurück, hebt vorsichtig den Kopf, dreht sich hin und her und blickt vom Gartentor zur Haustür und wieder zurück. Es ist sein Haus und doch nicht sein Haus. Er erkennt die Einfahrt, das Gartentor, das Blumenbeet unter dem Küchenfenster, das er selbst mit Flusssteinen umgrenzt hat. Aber er erkennt weder die neue zitronengelbe Hauswandfarbe noch den Postkasten, der die Form einer übergewichtigen Katze hat.

Die Türe schwingt auf und eine junge Frau stürzt heraus. „Papa“, ruft sie, ergreift Jakob am Arm und zieht ihn sanft in das Haus hinein. „Was machst du denn? Bist du wieder ausgerissen?“ Ein kleines weißes Fellbündel springt an ihm hoch und versucht seine Hände zu lecken. Reflexartig reißt Jakob seine Hände nach oben und stößt damit die junge Frau zur Seite. Sie verschränkt die Arme vor dem Körper, legt den Kopf schief und seufzt: „Ach, Papa.“

„Entschuldigung! Ich glaub, ich bin im falschen Haus.“ Jakob wendet sich von der Frau ab, als diese ihm eine Hand auf den Arm legt. „Komm doch mal rein, wärm dich auf. Wir werden das schon regeln!“ Ihr Ton ist leise, aber bestimmend, und Jakob lässt sich durch den Flur in die Küche führen.

Dort läuft ihm ein kleines Mädchen entgegen, mit dem lockigen Haarschopf seiner Tochter, doch mit fremden Augen, fremder Nase und fremdem Mund. „Opa, Opa!“, jauchzt sie und nimmt ihn bei der Hand. Völlig perplex lässt sich Jakob von ihr zum Küchentisch ziehen und plumpst auf die Bank. Das Mädchen klettert auf seinen Schoß und schmiegt sich an ihn.

„Ich habe Kaffee aufgesetzt, Papa. Willst du auch einen?“ Jakob sieht die Frau entgeistert an. „Bitte“, bringt er stockend heraus. „Wo bin ich denn hier?“ Das Mädchen auf seinem Schoß betrachtet ihn vorwurfsvoll aus großen Kinderaugen. „Aber Opa! Du bist bei uns. Bei Mama, bei Papa und bei mir. Wiesenweg Nummer fünf.“

„Wiesenweg fünf?“ Jakob merkt wie seine Stimme immer brüchiger wird. „Das ist meine Adresse.“ Die Frau seufzt und stellt ein Tablett mit Tassen und Teller auf den Tisch. „Ja, Papa. Du hast hier mal gewohnt. Bis vor“, sie überlegt einen Moment, „ziemlich genau neun Jahren – als Mama gestorben ist.“

„Mama?“ Jakob versteht noch immer nicht. Verdutzt nimmt er die ihm dargereichte Tasse mit Kaffee in die Hand. Die Frau streichelt behutsam seinen Arm, als ob er ein verletztes Tier wäre. „Mama, deine Frau Gertraud. Ich bin Katharina, deine Tochter. Das ist Luise, deine Enkelin. Und du bist wahrscheinlich wieder aus dem Seniorenzentrum ausgebüxt und hast den Bus genommen, stimmt’s?“

Ohne auf seine Antwort zu warten, steht sie auf und zieht ihr Handy aus der Tasche. „Ich ruf dort mal an.“ Das kleine Mädchen – Luise, heißt sie wohl – ist von seinem Schoß geklettert und er führt zitternd die Tasse mit dem heißen Kaffee zum Mund. Er betastet seinen Kopf. Da ist sie, die Beule.

Vor einer Stunde ist er noch im Wirtshaus gesessen und hat mit seinen Spezis ein paar Bier getrunken. Gerti hat ihm an diesem Morgen, mit der kleinen Katharina auf dem Arm, noch aus dem Küchenfenster nachgeschimpft, weil er ohne Mütze losgezogen war. Und jetzt gibt es sie nicht mehr. Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Er blickt auf die Küchenuhr.

Es ist zwölf Minuten nach zwölf. Morgen.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22028

Uraufführung

Vorher war alles normal
Dass ich nicht lache
Und nie laut.

Vorher waren Tränen echt
Egal ob gepresst, unterdrückt
Oder aus dem Luxus gesogen.

Vorher war nur das Rütteln daran
Die sinnlosen Diskussionen,
Das am Absatz Umdrehen und Gehen.

Vorher wussten doch alle was davon
Was es bedeutet,
Was ein Danach bewirkt.

Vorher war alles Konsequenz
Dass wir nicht proben
Und nie gut.

Stephan Tikatsch
blindkohlekopie | Gedichte | S.Tikatsch_2019

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22022

Nein danke

Im Büro 042 sitzt ein glatzköpfiger Mann hinter einem minimalistischen Schreibtisch und schaut mich verdutzt an. Alles hier ist minimalistisch: das Gebäude, die Ausstattung des Büros und sogar die Haare auf seinem Kopf.
Es geht darum, mein Handy abzugeben. Ich will es nicht mehr. Schon seit drei Monaten nicht. Nach zahlreichen Mails, Digital Calls in Warteschleifen und sogar analogen Anrufen in der Zentrale habe ich beschlossen, selbst herzufahren. Zur Außenstelle für Human Interaction.
Als ich endlich da bin, muss ich mich via Bluetooth einloggen. „Herzlich willkommen“, begrüßt mich eine fröhliche Frauenstimme und mein Auto fährt hinein.
Den Termin habe ich schon vorab reserviert, ich konnte mir sogar den menschlichen Berater auf der Website aussuchen. Herrn F.s Profil sah nett aus, also buchte ich bei ihm.

Es ist nicht leicht, das Handy loszuwerden. Früher konnten wir es ausschalten, wegwerfen, die SIM-Card vernichten oder den Akku herausschneiden. Das kann man schon seit einigen Jahren nicht mehr. Die jetzigen Handys haben Dauerbetrieb, sind unzerstörbar und immer online. Falls man es verliert, es doch irgendwie kaputt gehen sollte oder es gestohlen wird, sendet das Handy ein Notsignal zu nozamA. Binnen zwölf Stunden wird ein neues Handy vor die Tür geliefert.

Wird das Handy länger als acht Stunden nicht benützt, wird man diesbezüglich kontaktiert. Bei Nichtgebrauch von mehr als 14 Stunden bekommen Verwandte und Freunde eine Notifikation, um festzustellen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist. Nach 24 Stunden werden Nachbarn, Geschäftsleute in der Nähe und Arbeitskollegen informiert  und nach 48 Stunden wird schließlich die Polizei alarmiert.
Security Check In, nennt sich das und ist nicht optional.
Mein Offline-Rekord betrug 134 Stunden. Dabei erhielt ich via Versand zwölf neue Handys, die ich nun zurückgeben möchte. Freunde, Familie, Kollegen und die Polizei waren ganz schön sauer auf mich. Es tut mir ja auch leid. Ich will wirklich nicht, dass das ständig passiert. Darum bin ich jetzt hier.

Herr F. sieht mich nun also verdutzt an. „Aber“, bringt er unter der minimalistischen FFP2-Maske hervor, „Aber ohne Handy ... wie wollen Sie dann kommunizieren? Wie wollen Sie Ihr Auto steuern, Einkäufe erledigen oder medizinische Versorgung in Anspruch nehmen?“
„In der Tat schwierig“, stimme ich ihm zu. „ Aber ich habe vor, mein Auto abzugeben. Ich möchte mich zurückziehen. Mein Keller ist voller Lebensmittel, ich habe eine Freundin, die mir bereitwillig Essen vorbeibringen und mich zu Arztterminen fahren wird. Seit Anfang des Jahres hat die Regierung wieder Bargeld als Zahlungsmittel erlaubt und zum Glück gibt es Haftpflicht- sowie Krankenversicherung auch ohne Handy. Das ist zwar teurer, aber ich kann mir das leisten. Zumindest für fünfzehn Jahre. Wie es dann weitergeht, kann mir selbst nozamA nicht beantworten.“

„Ah!“ Herr F. klingt fast erleichtert. „Sie fallen damit in Kategorie 809 der Menschen für  Verschwörungstheorie. Das kommt aus Ihren Daten nur sehr schwach hervor. Das passiert manchmal.“ Wie zum Beweis hält er mir sein Tablet mit meinem Foto und einer Art Mindmap vor die Nase.
Kindheit, Vorlieben, Abneigungen, Jobs, Versicherungen, Kredite, Lebensstil, Partner, Suchverlauf, Träume steht da.
„Sehen Sie!“, Herr F. tippt auf Lebensstil und scrollt mehrere Seiten an Datensätzen durch. „Hier. 13 Prozent in der Spalte für 809-Verschwörung, sollte höher sein. Human Error.“ Plötzlich wirkt er traurig. Und ich bin mir nicht sicher, wessen Fehler dafür verantwortlich war – seiner oder meiner.

Herr F. wischt die Daten beiseite und verfällt nun in einen unverbindlichen Plauderton. „Hätten wir uns denken können! Normalerweise hat nozamA ein Früherkennungssystem für Kategorie 809 im Lebensstil und ihr Verhalten in den letzten zwölf Wochen hätte uns bessere Rückschlüsse ermöglichen können.“
„Ich möchte nicht über die Kategorie 809 definiert werden“, sage ich ruhig.

Herr F. wird ganz ernst. „Wir nehmen die Entscheidungsfreiheit unsrer Klientinnen und Klienten als höchstes Gut wahr! Wissen Sie, nozamA ist es schlichtweg egal, welchen Lebensstil Sie persönlich verfolgen. Diese Entscheidung liegt bei Ihnen!“
„So lange ich Daten liefere!“
„Genau!“, ruft der kleine Mann kurzerhand begeistert und nickt heftig. „Ist das nicht großartig? Jeder Mensch darf sich frei entfalten. nozamA sorgt dafür und unterstützt Sie, die besten politischen Parteien, Kredite, Versicherungen und Jobs passend zu Ihrem Lebensstil zu finden!“
„Ja“, stimme ich zu. “Und das möchte ich nicht mehr.“

Nun schweigt Herr F., senkt den Kopf und tippt etwas in sein Tablet. Dann sieht er mich wieder an, dann wieder auf sein Tablet. „Sie sind nun 47 Jahre alt und seit knapp 20 Jahren bei uns Klient. Sie haben Anspruch auf das neue Handy X002 sowie eine vergünstigte Versicherungsprämie und einen Kredit für einen neuen alseT!“
„Nein danke“, sage ich.
Nochmal tippt Herr F. „nozamA bietet Ihnen die unglaubliche Möglichkeit für eine Kur im psychologischen Reha-Zentrum Bad Feldenleon mit Viersterne-Verpflegung für vier Wochen an. nozamA übernimmt selbstverständlich die Kosten.“
Nun weiß ich nicht, ob ich beleidigt oder belustigt sein soll. Denkt nozamA wirklich, ich sei psychisch instabil geworden?
„Nein danke“, versuche ich in neutralem Ton zu sagen. „Geht aus meinen Daten eine psychische Vorerkrankung oder genetische Prädisposition hervor?“
Herr F. tippt auf Versicherungen und dann auf Krankengeschichte. Er schüttelt den Kopf. „Sie haben allerdings eine 28-prozentige Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten vier Jahre an schwerem Darmkrebs zu erkranken.“
„28“, sage ich. „Das ist nicht viel.“
„Aber auch nicht wenig“, meint Herr F. und wir schweigen uns einen Moment lang an.

Dann fällt mir ein, dass laut dem Gesetz seit neuestem ein ganz bestimmter Satz zur unwiderruflichen Auflösung des Vertrages mit nozamA führt, wenn er gegenüber einem Human Contact geäußert wird. Ich habe ihn auswendig gelernt, weil ich ihn auf dem Handy nicht aufrufen kann.

Ich räuspere mich und beginne zu sprechen: „Ich, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, wünsche eine Vertragsauflösung mit nozamA, die einen Verzicht auf jegliche Dienstleistungen des Anbieters zur Folge hat. Da die Löschung bereits gesammelter Daten nicht möglich ist, lege ich fürs Protokoll Einspruch fest und sollte sich in Zukunft die gesetzliche Lage ändern, verlange ich rückwirkend eine endgültige Löschung aller Daten. Die Aufzeichnung sämtlicher zukünftiger Daten untersage ich hiermit auf jeden Fall!“

Herr F.  schlägt die Stirn in Falten und sein Kopf wird unter der Maske hochrot.
„Und ich möchte es gerne schriftlich auf Papier festgehalten haben!“, füge ich rasch hinzu.
nozamA hatte vor Jahren Kampagnen gegen Papier gestartet. Weil die Abholzung des Regenwaldes unserem Klima schadet, ist Papier in Verruf geraten. Auch weil Daten auf Papier für nozamA Mehraufwand bedeuten. Ich möchte das Formular trotzdem. Ich werde es einrahmen und mir übers Bett hängen.
Mein Handy, das ich die ganze Zeit über in der Hand gehalten habe, lege ich auf den Tisch.

Herr F. wirkt resigniert. Seufzend drückt er ein paar Sekunden lang auf dem Tablet herum, und der in der Wand installierte Drucker spuckt ein Formular aus. Herr F. muss eine Weile suchen, bis er den Stempel gefunden hat. Mein Handy gibt er in eine transparente Plastikbox und kennzeichnet diese mit dem digitalen Zeichen für Rohstoffverwertung.

Nun reicht er mir das gestempelte Formular. „Wissen Sie“, sagt er zum Abschied, „meinen Job gibt es nur, weil es das Gesetz so vorsieht. Human Interaction ist ein Bullshit-Job. Mein Vorgesetzter ist ein Algorithmus.“ Er zögert. „Vielleicht besuche ich Sie. Irgendwann.“
„Da würde ich mich freuen“, sage ich und bin schon zur Tür hinaus.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22018

Giuseppe nel cielo

Giuseppe „Sepp“ Forcher moderiert nun „Klingendes Österreich“ im Himmel. Gleich zu Beginn der ersten Sendung spricht er ein dort grassierendes Problem an: „Liabe Leit, manche Engel behaupten, dass die Wolke Nummer sieben weicher ist. Das sind natürlich jene Engel, die auf anderen Wolken wohnen. Ich will nicht von ‚bösen Zungen’ sprechen, weil Engel ja nie böse sind.“ Nun wird Sepp etwas nervös. Oje, oje, ich muss aufpassen, sonst entgleitet mir die Moderation. Und genau jetzt, beim ersten Mal, will ich doch einen guten Eindruck beim Chef machen. Plötzlich hört er eine Stimme in seinem Kopf: „Bravo Giuseppe, bravo, du machst deine Sache sehr gut. Wir sind wirklich froh, dich hier bei uns zu haben.“

Die Erde dazwischen

Die Erde dazwischen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22008

 

Alphanumerische Zeichen

Zahlen und Buchstaben laufen in Blöcken über den Bildschirm.
Keine Bilder mehr, was aber nur für die menschliche Auflösung gilt.
Computer lesen die alphanumerischen Zeichen als Bilder.
Aber was soll das?
Die Computer bekommen die ganze Information, und wir Menschen nichts mehr.
Sollen wir Menschen abgeschafft werden?
Logischerweise ja.

Datenaufbereitung

Datenaufbereitung

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 21118

Ein Notizblock in meiner Jeansjacke

Hier
Es sind Erfahrungen, die man nur in der Silvesternacht hat: Im Fernsehen laufen alte Komödien und du findest das reichlich amüsant. Auch wenn du dir im Rest des Jahres diese Filme nicht anschauen würdest, jedenfalls nicht mit Genuss, erheitern dich solche Filme am Jahreswechsel ungemein. Genauso die Unmengen an Chips, Erdnüssen und Bier, die du in dich hineinbeförderst. An manche Filme erinnerst du dich noch. So zum Beispiel „Four Rooms“ oder „Was gibt’s Neues, Pussy?“ An letzteren erinnere ich mich noch. Ich war gerade siebzehn, als ich ihn sah. Was mich damals beeindruckte? Die unglaublich lässige Art von Woody Allen. „Im Kühlschrank ist noch Fischsalat. Ist schon am Stinken, aber mit etwas Pfeffer schmeckt der noch“, war mir damals so etwas wie ein Vorbild. So wollte ich werden, wenn ich erwachsen war. Und die Architektur der Villa. Aus heutiger Sicht ist „Was gibt’s Neues, Pussy?“ Ein alberner Klamaukfilm; bei weitem nicht der beste Film von Woody Allen und alles in allem noch relativ verkrampft.
Du siehst den Film: „Hannah und ihre Schwestern“ von Woody Allen. Und denkst, dass er sich weiterentwickelt hat. Du liest, dass er 1978 seinen ersten ernsten Film gedreht hat und bist bass erstaunt, dass es das gibt: ernste Filme von Woody Allen. Auch überrascht es dich, dass er fast vierzig Filme geschaffen hat.

Andernorts
Sie hatte damals die ersten Wochen an der Universität hinter sich. Ihre Vorstellungen, Erwartungen konnten mit der Realität nicht schritthalten. Sie träumte vom Orient, von der Türkei, von Persien. Das Studium war ihr zu trocken, zu weltfremd und zu theorielastig. Und doch hatte sie die Hoffnung auf ein besseres Leben in der malerischen Universitätsstadt nicht aufgegeben. Nach einiger Zeit hatte sie schon ihre Lieblingscafés und Lieblingsläden gefunden. Bald wurde es für sie zum Ritual, dass sie sich manchmal mehrere Stunden darin aufhielt.

Hier
Er musste jeden Tag länger an der Universität bleiben, um abends den Bus zu erwischen, der ihn in seinen Vorort, ungefähr 30 Kilometer entfernt, brachte. Um sich die Zeit zu vertreiben, verbrachte er oft lange Zeit in der Bibliothek und schaute sich viele Bücher und Zeitschriften an. Auch solche, die mit seinem Studium nicht das mindeste zu tun hatten. Zum Beispiel las er viele Zeitschriften aus dem Jahre 1992 und musste sich an diese Zeit zurückerinnern. Als er seine Recherche abgeschlossen hatte, fuhr er mit dem Stadtbus hinunter zum Hauptgebäude der Universität, wo er im Treppenhaus des Hintergebäudes ein kurzes Abendessen einnahm. Trotz dieser Unannehmlichkeiten fühlte er damals eine große Aufbruchstimmung. Diese entschädigte ihn auch für die entstandenen Strapazen.

Andernorts
Sie hatte schnell Freunde an der Universität gefunden und einen muttersprachlichen Tandempartner. Einen für Türkisch und einen für Persisch. Die Gespräche waren meistens sehr interessant, sie lernte vieles über deren Heimat und wurde sogar einmal bei einem zum Essen eingeladen. Sie liebte orientalische Küche. Obwohl sie sich im Studium meistens langweilte, arrangierte sie sich mit der Situation. Sie gab sich ganz dem Lernen der Sprachen hin. Zudem interessierte sie sich sehr für orientalischen Tanz und Musik. Das gab ihrem Leben Halt. Abends vergnügte sie sich hin und wieder in einer der vielen Kneipen der Stadt. Abgesehen von einigen Unpässlichkeiten ging es ihr meistens recht gut. Sie verspürte immer noch eine gewisse innere Leere, die sie aber ganz gut ausfüllen konnte, zumindest meistens. Aber ihr Leben bewegte sich auf etwas hin. Auf ein Ziel. Oder so etwas Ähnliches. Und sie kannte dieses Ziel noch nicht. Dass sie dieses Ziel nicht kannte, machte ihr auch manchmal Angst. Sie hatte eine gewisse Vorahnung, dass etwas in ihr Leben eintreten könnte, das sie aus der Bahn werfen würde. Zum Beispiel eine Lernblockade. Oder dass sie die Lust an ihrem Freund verlieren könnte und sie auch beim besten Willen und unter größter Anstrengung nicht in der Lage wäret, wieder das selbe für ihn zu empfinden wie am Anfang ihrer Beziehung, als sie sich das erste Mal getroffen hatten, zum Beispiel.

Hier
Obwohl er sich für den Film interessierte oder jedenfalls zugab, sich für den Film zu interessieren, kannte er jedoch erschreckend wenige anspruchsvolle Filme. Und die, die er kannte, kannte er auch größtenteils nur vom Titel her. Ihn bewegten Titel wie beispielsweise „Der erste Tag der Freiheit“, wie ihn überhaupt Pathos seltsam ergriff. Er hatte noch keine Vorstellung, dass man ihm, einige Bildung vorausgesetzt, meistens aus dem Weg gehen sollte, jedenfalls dann, wenn der Anlass zu gering für solche hehren Worte war. Er hatte große Pläne für sein Studium und war auch sehr interessiert. Doch die Umstellung von der Schule zur Universität und die wissenschaftliche Ausdrucksweise schienen ihn trotzdem ein wenig zu überfordern. Und er wollte sich Geld für einen Urlaub, für seinen ersten längeren Aufenthalt in einem anderen Land, verdienen. Nachdem er diese Reise abgeschlossen hätte und wieder zuhause angekommen wäre, wollte er ein großes Poster in seiner Wohnung aufhängen.

Andernorts
Klar war sie in Ahmet, ihren Freund, verliebt. Sie glaubte, dass dies Liebe auf den ersten Blick sei. Kennengelernt hatten sie sich im Türkischkurs, für den er das Tutorium gab. Schnell merkte er, dass ihr Interesse für den Orient tiefgründiger war als das der anderen Studierenden. Auf welche Art und Weise ihr Interesse profunder war, konnte er nicht sagen. Auch sie fand rasch an ihm Gefallen, an der Art wie er Wörter wie merhamet oder özgürlük aussprach. Der sehnsuchtsvolle Blick seiner blauen Augen oder die melancholische Art, wie er an seiner Zigarette zog. All das rief in ihr ein Bild wach, wie es wohl schon seit ihrer frühen Jugend als Traumbild in ihrem Gedächtnis gespeichert war. So und nicht anders sollte ein Mann sein, alle anderen Schwächen könne man ihm dann nachsehen. Doch je länger sich ihre Freundschaft hinzog, desto klarer wurde es für sie, dass etwas fehlte, dass diese Beziehung auf Dauer besiegeln konnte. Den ersten gemeinsamen Geschlechtsverkehr hatte sie noch vor sich, aber mehr und mehr kam jener besagte Schmerz, dass es irgendwann mit ihnen vorbei sein könnte.

Hier
An Frauen zeigte er ein gewisses Interesse, aber gleichzeitig auch ein gewisses Desinteresse, so komisch das klingt. Es war eine Zeit, in der so vieles für ihn wichtiger war als eine Beziehung. Aber hätte er auch die Chance gehabt, eine Beziehung eingehen zu können? Sein Interesse war sicherlich in der Vergangenheit stehengeblieben, und er trauerte manchmal den verpassten Chancen seiner Kindheit und Jugend nach. Was einen Partner ausmacht, wusste er nur im Groben. Er hatte keinen besonderen Geschmack oder Vorlieben, was er für eine Frau empfinden konnte. Oder doch, vielleicht waren es ältere Vorlieben, die er noch nicht korrigiert und seinem Lebensalter angepasst hatte. In manchen besinnlichen Stunden erinnerte er sich an seine Jugendliebe, in die er leider sehr unglücklich und einseitig verliebt gewesen war. Zu einem Gespräch war es damals nie gekommen. Aber die Sehnsucht blieb und sie kam erstaunlicherweise in den Wochen nach seinem Abitur zurück, jedoch umso heftiger. Er hatte keine Adresse und wusste nicht, wo sich seine Jugendliebe aufhielt. Dennoch versuchte er ihr näherzukommen. Gedanklich natürlich. Hätte es einen Menschen gegeben, mit dem er sich in diesem Jahr am meisten beschäftigt hatte, dann wäre es sie gewesen. Chancenlosigkeit blieb jedoch Chancenlosigkeit.

Andernorts
Ahmets Zärtlichkeit war schier grenzenlos. Als er sie wieder einmal zu einem gemeinsamen türkischen Abendessen, das er selbstverständlich selbst für sie in seiner Wohnung zubereitet hatte, bei sich einlud, spürte sie die Hingabe, mit der er den Fisch gebraten und passend dazu den türkischen Salat abgeschmeckt hatte. Ahmet hatte sogar andere Glühbirnen in die Lampe eingesetzt, um so für ein sanfteres Licht zu sorgen. Nach dem gemeinsamen Essen und einigen Wortwechseln bot er ihr an, sie zu massieren, denn er hatte dies in der Türkei einmal gelernt. Sie machte ihren Körper frei und legte sich auf Ahmets Bett. Er erwärmte ein Schälchen mit Olivenöl und begann, mit sanft kreisenden Bewegungen zuerst ihre Schultern zu massieren, später arbeitete er sich zu ihrem Rücken und schließlich zu ihren Beinen vor. Sie empfand das alles als sehr angenehm. Natürlich war er darüber erstaunt, wie leicht er sie dazu bewegen konnte, sich für ihn auszuziehen und er war von ihrer Zutraulichkeit auch ein bisschen eingeschüchtert. Ahmet fragte, ob er nun, da die Massage abgeschlossen sei, mit ihr Sex haben könnte, und sie bejahte diese Frage.

Hier
Nachdem er einige Wochen an seiner Universität relativ sparsam gelebt hat, hatte er genug Geld gespart, um seinen Wunsch, in eine andere Stadt zu fahren, wahr zu machen. Er wusste natürlich, dass dies kein Ersatz für eine Auslandsreise sein könnte, aber immerhin gab es einen Ortswechsel, was ihn erfreute. Er hatte mit Bekannten telefoniert, und sie hatten ihn zu einer Party in ihrer Stadt eingeladen. Am Bahnhof kaufte er sich ein Ticket und wusste, dass er am nächsten Tag schon sehr früh aufstehen musste, um den ersten Zug nicht zu verpassen. Dies würde noch vor Anbruch des Tages stattfinden, sodass es bei der Abfahrt des Zuges noch dunkel sein würde.

Andernorts
Nach ihrem ersten Mal mit Ahmet, ergab sich ein weiterer Termin in ihrem Kalender: Ein Bekannter hatte sie zu einer Party eingeladen, zu der Freunde aus verschiedenen anderen Städten kommen würden. Unter ihnen auch ein Soziologiestudent, Studienanfänger wie sie.

Hier & Andernorts
Er wurde am Bahnhof in der anderen Stadt von seinem Freund abgeholt. Sie war auch dabei. Sie stellte sich vor und erklärte, dass sie sich auf die Party freute, wie er sicherlich auch. Er bejahte.
Während des Festes konnte er seinen Blick nicht von ihr lassen. Obwohl sie an dem Abend nur noch wenig mit ihm sprach, war etwas mit ihm geschehen. Auf der Party wurde ein Foto geknipst, das sie und ihn in einem Raum zeigte. Das Foto ließ er sich später einrahmen. Trotzdem geriet es wenig später schon in Vergessenheit.

Hier
Und ich kramte aus meiner Jeansjacke einen Notizblock und einen Stift hervor. Ich zeichne etwas. Ein Bild, auf dem sie zu sehen ist. Ihren Namen habe ich schon lange vergessen. Dabei fiel mir auf, dass ich sie anders in Erinnerung behalten hatte. Heute würde ihr Anblick keine so starken Emotionen mehr hervorbringen. Es ist schon 14 Jahre her. Und ich sehe sie noch vor mir vor dem Tisch mit den Chipspackungen, Saftflaschen. Kaum kann ich mich daran erinnern, was damals gesprochen worden ist, jedoch, dass ich mich heute hier unwohl fühlte. Und du siehst diese Halskette und denkst: „ Das war ein Fleck in deiner Erinnerung, der, obwohl verdrängt, doch immer präsent war. Seltsam, dass du damals so angetan warst, aber keinen Gedanken mehr an sie verschwendetest.“
Was draußen noch passiert: Nebel vor dem Fenster, es ziehen graue Wolken auf, bald kommt ein Gewitter, es beginnt zu regnen. Erst tröpfelt der erste Regen an deine Scheibe, dann wird er immer heftiger. Du knipst das Licht an und klappst deinen Laptop auf, öffnest die Datei und beginnst zu schreiben. Wo beginnst du wieder? Bei der Zeichnung, die du erstellen wolltest, als du aus deiner Jeansjacke einen Notizblock und einen Bleistift zogst und begannst, das Foto abzuzeichnen. Hat etwas inzwischen deinen Geist erhellt? Wahrscheinlich nicht. Und was du noch tun könntest, um wenigstens ein Andenken zu haben. Hast du eine Idee?

Andernorts
Die besagte Silvesternacht geriet schon kurz danach in Vergessenheit. In diesem Jahr stand die erste Exkursion in den Orient bevor, auf die sie sich schon Monate vorher riesig freute. Am Ende des Jahres ging die Beziehung zu Ahmet in die Brüche. Irgendwann, so viel ist sicher, wird sie das Foto aus der damaligen Silvesternacht wieder ansehen.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 21074

Die zweite Chance

„Grüß Gott, die Fahrkarten bitte.“ Wo bin ich? Ich muss eingenickt sein. Klar, ich bin in einem Zug, in einem Sechserabteil, 2. Klasse, würde ich auf den ersten Blick sagen. Der Schaffner blickt mich an, er hält so ein Gerät in der Hand, mit dem er die Fahrkarten locht. Das ist nicht die Jetztzeit, das sind, würde ich sagen, die späten 1980er-Jahre. Wie bin ich dorthin gelangt? Keine Ahnung, ich habe keine Ahnung. Ich sehe auf meine Hände. Sie sind die eines jungen Mannes.

Aber ich muss jetzt aufhören – nachzudenken, mich zu orientieren. Fahrkarte, hoffentlich habe ich eine, ich kann mich nicht daran erinnern, eine gekauft zu haben, ich kann mich an gar nichts erinnern. In der linken hinteren Hosentasche, da ist sie. „Bitte.“ Ich reiche sie dem Schaffner. Er bearbeitet sie mit dem Gerät. „Klagenfurt Hbf – Wien Südbahnhof“ steht auf der Fahrkarte. Ich sitze auf dem mittleren Sitz. Mir gegenüber auf dem Fenstersitz sitzt eine junge Frau. Jetzt gibt sie dem Schaffner ihre Fahrkarte. Dabei streift mich ihr Blick. Sie ist hübsch, dunkle kurze Haare, braune Augen, schlank, vielleicht dreiundzwanzig, vierundzwanzig Jahre. Der Schaffner zwickt ihre Karte und verlässt das Abteil.

„Hallo“, sage ich zu der jungen Frau, „habe ich geschlafen?“ „Nein, du warst auf einmal hier.“ „Und dir ist das nicht seltsam vorgekommen?“, will ich sie fragen, aber ich lasse es bleiben, als ich ihr direkt ins Gesicht sehe und sie völlig ruhig ist. Da krame ich in meiner Erinnerung, und in einem Winkel finde ich diese Szene, genau dieselbe, die jetzt abläuft. Es ist zweiunddreißig Jahre her, das Jahr 1989, die Frau mir schräg gegenüber heißt Karin, sie ist in St. Veit an der Glan zugestiegen. Wir haben uns sofort unterhalten. Sie ist dreiundzwanzig, arbeitet in Leoben als Sekretärin und war gerade bei ihren Eltern. Sie geht gern bergsteigen. Ich war damals auch dreiundzwanzig und trieb ziellos umher. Ich spürte, dass ich sie mochte. Ich spüre auch jetzt, dass sie mich mag.

Das ist meine zweite Chance. „Wo steigst du aus?“, frage ich. „Leoben“, sagt sie. „Ich auch“, sage ich und denke: Ich gehe mit dir.

Das Stadttheater Klagenfurt und das junge Liebespaar auf der Sitzbank zur beginnenden Nacht

Das Stadttheater Klagenfurt und das junge Liebespaar auf der Sitzbank zur beginnenden Nacht

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 21059