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Unfair, fair

Vivien durfte sich von dem erbärmlichen Anblick, den Jeremiahs Eltern abgaben, nicht täuschen lassen. Der erste Schock würde bald überwunden sein und sie würden sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie einen Sohn hatten. Seine Mutter hatte verheulte Augen und zitterte am ganzen Körper in den Armen ihres Mannes, der offensichtlich seit Tagen nicht geschlafen hatte. Er hob seinen Kopf und starrte Vivien mit leeren Augen an.
Er wusste es. Viviens Herz raste. Sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. Er wandte sein Gesicht ab und vergrub es in den zerzausten Haaren seiner Frau. Nein, er konnte es nicht wissen. Dazu war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Im ganzen Turnsaal der Schule wuselten andere Eltern herum und versuchten, sich gegenseitig in ihrer Anteilnahme zu übertreffen, während sie heilfroh darüber waren, dass nicht das Foto ihres eigenen Kindes als Plakat an der Wand hing.
Seit fünf Tagen wurde Jerry vermisst, mittlerweile beteiligte sich fast die ganze Vorstadt an der Suche. Auch von außen wurde zusätzliche Hilfe angefordert, Helikopter kreisten über den Wäldern und Suchhunde schnüffelten sich durch die Gegend. Jeremiahs Eltern hatten wirklich Talent, Menschen für ihre Sache zu gewinnen, das musste man ihnen lassen.
Aber sie würden ihn nicht finden.

Vivien wusste, dass es falsch war, einen Lieblingsschüler zu haben, aber diesen aufgeweckten Sechsjährigen konnte man nur gern haben. Sie hatte immer versucht, ihn nicht den anderen Kindern vorzuziehen, was ihr manchmal mehr, manchmal weniger gelang. Im Laufe des letzten Jahres war Jerry immer stiller geworden und Vivien musste mit ansehen, wie sich eine gewisse Traurigkeit über seine kindliche Neugier legte und sie zu ersticken drohte.
Sie war in den ersten drei Tagen immer auf den Beinen, stapfte mit den Suchtrupps durch die Landschaft und heuchelte Jerrys Eltern ihre Anteilnahme vor. Mittlerweile musste sie fast nichts mehr vorheucheln, das Mitleid war echt geworden. Das hatte sie nicht erwartet. Eng umschlungen saßen sie in der Mitte des Turnsaales auf einer alten Turnbank, während um sie herum die Suchtrupps koordiniert wurden und Freiwillige deren Verpflegung herbeischafften. Die Turnbank stand tatsächlich fast genau auf der Mittellinie des im Saal aufgezeichneten Fußballfeldes, genau darüber hing eine Natriumdampflampe und leuchtete den Mittelkreis aus. Vivien hatte sich schon gefragt, ob das Zufall war oder wirklich einer absichtlichen Inszenierung zugrunde lag.
Ihr Herz raste noch immer. Sie riss ihren Blick von Jeremiahs Eltern, steuerte mit schnellen Schritten auf den Hinterausgang zu und stürzte atemlos in die kalte Herbstnacht. Sie wollte sich übergeben, aber der Brechreiz blieb aus. Sie musste jetzt stark bleiben, sie hatte das Richtige getan.
Vivien atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich, wieder den Turnsaal zu betreten. Barbara, die Direktorin der Schule, legte im Vorbeigehen ihre Hand sanft auf Viviens Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie musste ziemlich mitgenommen aussehen. Das war ihr nur recht, als Jerrys Lehrerin musste sie natürlich besonders betroffen wirken. Das wäre sie auch wirklich gewesen, wüsste sie nicht, dass er jetzt an einem besseren Ort war.
Den Rest des Abends verbrachte Vivien damit, die sich abwechselnden Suchtrupps mit Essen und warmen Getränken zu versorgen. Sie versuchte dabei, Jeremiahs Eltern so fern wie möglich zu bleiben, weil sie deren Anblick nur schwer ertragen konnte.

Nach einer fast schlaflosen Nacht saß sie mit einer starken Tasse Kaffee an ihrem Küchentisch und dachte an Jeremiah. Ein herzensgutes Kind, von seinen ignoranten Eltern im Stich gelassen. Man weiß etwas erst zu schätzen, wenn man es verloren hat, dachte Vivien. Im Fall der zwei war dieses Etwas ihr Sohn.
Nun war es zu spät.
Viviens Mitleid für Jerrys Eltern schwand wieder, jetzt, wo sie ihnen nicht in die Augen sehen musste. Sie starrte in die dampfende Kaffeetasse. Warum hatte sie überhaupt Kaffee gemacht, sie war viel zu aufgekratzt, um an Schlaf auch nur zu denken.
Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Als sie sich über die Kloschüssel beugte, blieb der Brechreiz wie am vorigen Abend wieder aus. Die Spannung zerriss sie innerlich, und es gab nur einen Weg, diese Qual etwas zu lindern.

Vivien musste wissen, wie die Dinge standen, auch wenn das bedeutete, die Vereinbarung zu brechen. Sie musste Lisa fragen. Hastig zog sie ihren braunen Parka an und setzte sich die Pelzkapuze und eine große Sonnenbrille auf. Von ihrer Wohnung bis zum Internetcafe waren es mit dem Auto fünfzehn Minuten. Erleichtert kam sie, ohne jemanden von der Polizei gesehen zu haben, dort an. Sie und ein junger Asiate, der sie nicht beachtete, waren die einzigen dort so früh am Morgen. Auch vom Besitzer war keine Spur zu sehen. Leise arabische Musik drang durch die Lautsprecher aus der Decke. Ohne die Kapuze oder ihre Sonnenbrille abzusetzen, ging sie auf den PC in der Ecke zu und bemühte sich, dabei so gelassen wie möglich auszusehen. Sie warf ein paar säuberlich abgewischte Münzen in den Zähler und loggte sich in das E-Mail Postfach ein, das sie für diesen Zweck angelegt hatte.
Eine neue Nachricht. Vivien starrte auf die Meldung.
Nur Lisa kannte diese Mailadresse. Das bedeutete, sie hatte sich auch nicht an die Abmachung gehalten. War etwas passiert?
„Was haben wir getan. Warum habe ich mich von dir dazu überreden lassen? Wir kommen niemals damit durch. Wir müssen es zugeben. Ich drehe hier noch durch ohne dich. - B“
Es wäre gelogen gewesen, wenn Vivien behauptet hätte, nicht dasselbe gedacht zu haben. Sie überlegte kurz. Hoffentlich hatte Lisa noch nichts Unüberlegtes getan.
„Für Reue ist es zu spät. Es ist auch für mich sehr schwer, aber wir müssen stark bleiben. Erinnere dich daran, warum wir es getan haben. Es ist für alle das Beste, das weißt du. Er wird es auch bald verstehen. Bleib stark, es wird alles gut. - A
P.S.: Ich weiß, dass es ihm bei dir gut geht, du musst auch für ihn die Nerven bewahren. Ich werde bei dir sein, sobald es möglich ist.“

Vivien loggte sich aus, wischte mit ihrem Ärmel die Tastatur ab und verließ das Cafe. Der andere Gast hatte nicht ein einziges Mal den Blick von seinem Bildschirm abgewandt.
Auf dem Weg zur Schule fuhr sie an einer Hundestaffel und einer Gruppe Freiwilliger vorbei. Sie blieb am Straßenrand stehen und versuchte durchzuatmen.
Vivien umklammerte fest das Lenkrad und musste an ihr letztes Gespräch mit Jerrys Eltern denken, drei Monate bevor er verschwunden war.
Zu mehreren Anlässen schon hatte sie Jeremiahs Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass ein so aufgewecktes und neugieriges Kind besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchte und dass sie als seine Lehrerin nur als Unterstützerin in seiner kindlichen Entwicklung dienen könnte. Für seine Erziehung und Förderung waren sie selbst zuständig. Und jedes Mal kam Vivien vor, als würde sie an den beiden vorbeireden. Ihnen war die Entwicklung ihres Sohnes scheißegal.
Sie beteuerten anfangs noch, Jeremiah in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, aber je öfter Vivien mit ihnen redete, desto weniger strengten sie sich an, dieser lästigen Lehrerin auch nur vorzumachen, um die Entwicklung ihres Sohnes besorgt zu sein. Jeremiahs Vater war mittlerweile sichtlich genervt von den Belehrungsversuchen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Frechheit, die Vivien sich herausnahm, ihm vorzuschreiben, wie er seinen Sohn zu erziehen hatte, nicht wirklich einverstanden war. Er blieb zwar immer höflich, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er dieses Gespräch vergessen haben würde, sobald er den Raum verlassen hatte.
Das selbstgefällige Grinsen war im Turnsaal von seinem Gesicht verschwunden. Jeremiahs  Mutter gab sich zwar immer besorgt, war schlussendlich aber die gleiche Ignorantin wie ihr Mann. Was sollte man auch von Eltern, die beide in der Werbung unverschämt viel Geld verdienten, erwarten.

Vivien konnte sich nicht erklären, warum ihr gerade Jerry so am Herzen lag, es gab in ihrer Klasse auch ein paar andere Kinder, denen etwas mehr Aufmerksamkeit guttäte. Er hatte einfach etwas an sich, dem Vivien nicht widerstehen konnte. Warum seine Eltern das nicht so sahen, war ihr rätselhaft. Seine Eltern schlugen ihn nicht, sie ließen ihn nicht ohne Aufsicht allein, sie taten nichts, was eine Intervention von außen rechtfertigte. Sie taten einfach gar nichts.
Wenn er nicht in der Schule war, verbrachte Jerry die meiste Zeit mit den ständig wechselnden Kindermädchen, die sein Vater an- und vermutlich auch abschleppte. Das letzte Gespräch hatte wieder denselben Ausgang genommen. Jerry Eltern versprachen, sich mehr um ihn zu kümmern und schwebten mit ihrem typisch herablassenden Grinsen aus dem Klassenraum. Jerry wäre an der Gleichgültigkeit seiner Eltern noch zugrunde gegangen.

Als sie nach dem Elternabend zuhause ankam, musste sie ihren Frust loswerden. Robert war noch im Büro, also musste sie ihre beste Freundin anrufen.
„Jerry mal wieder, hm?“, wurde sie von Lisa begrüßt.
„Woher wusstest du das?“
„Es ist jetzt kurz nach sechs und wenn ich mich recht erinnere, hattest du heute Elternsprechtag.“
„Es ist einfach nicht fair, die können das arme Kind doch nicht ungestraft so vermurksen.“

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15064

Das Verhör

In einer stürmischen Gewitternacht entdeckt das Stubenmädchen eines privaten Kurheimes, Fräulein Trixi, beim abendlichen Zimmerdurchgang die Leiche einer älteren Pflegebedürftigen. Wurde sie erstickt? Womöglich mit einem Polster? Während sich die übrigen Gäste im Salon des Hauses beim Bridgespiel vergnügen, ruft man unterdessen diskret Polizei und Rettung. Ein Kommissar wird noch in derselben Nacht zur Untersuchung des Falles abgestellt. Kommissar Braumüller beginnt sein Verhör konsequent und nimmt sich systematisch jeden vor, der ihm verdächtig erscheint. Sein Hauptverdacht gilt nicht zuletzt dem Gatten der Ermordeten, der überdies noch mit seiner Geliebten in ein und demselben Hause weilt, wie auch einer gewissen Frau Trinks, die er durch seine konsequenten Fragen in die Enge zu treiben versucht.

„Frau Trinks“, fragte Braumüller, „waren Sie an diesem Abend im Zimmer von Frau Rabitsch oder nicht?“ Die Trinks stockte, und flüsterte nach längerem Warten ein leises „ Ja“. „Na bitte, also drüben waren Sie bei ihr, das steht wohl jetzt eindeutig fest.“ Der Kommissar zündete sich die nächste Zigarette an. Jetzt wurde Professor Ebner wieder etwas munterer. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und hob zögernd die Hand, als ob er etwas sagen wollte, reine Gewohnheit, ein ewiger Schulmann eben.
Aber der Kommissar bemerkte es nicht. Er inhalierte in tiefen Zügen und rannte wieder auf und ab, stoppte jäh vor einer Topfpalme, die als Raumteiler diente und kehrte wieder um. Hin und her, wie ein Tier in seinem Käfig. „Hm! Was könnte das zu bedeuten haben“, fuhr der Kommissar fort, und diesmal fixierte er die Trinks mit stechendem Blick, „Frau Trinks, wenn eine Person, die mit einem Polster erstickt werden soll, ihre Hände nicht in Abwehrstellung gegen den Polster erhebt, sondern die Hände so hält, als wollte sie dem Täter dabei noch behilflich sein, den Polster sozusagen von oben her noch zu sich heran drückt?“
Sybilla Trinks starrte ihn lange an und sagte nichts. „Frau Trinks, ich habe Sie etwas gefragt?“ Braumüller ließ nicht locker. Professor Ebner fiel vor innerer Erregung beinahe vom Stuhl. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, schnappte nach Luft wie ein frisch gefangener Karpfen und sein Gesicht glühte förmlich und war blutrot. „Ich bin kein Kriminalist“, sagte Sybilla Trinks plötzlich zögernd. „Sind Sie nicht, ich weiß. Aber ich bin einer. Und ich könnte daraus Verschiedenes schließen. Aber ich tue es nicht. Ich stelle es einfach in den Raum – einfach in den Raum, ja!“

Es folgte eine unerträgliche Stille, in der Professor Ebner Moll ansah, Moll den Professor. Traunstein beobachtete beide. Manon hatte die Augen geschlossen und döste so vor sich hin. Die Maar blickte beinahe siegessicher und mit hoch erhobenem Haupt zu Sybilla Trinks hinüber, während Irene Hase unentwegt in ihren kleinen, rosafarbenen Schminkspiegel starrte. Fräulein Trixi sah unruhig von einem zum anderen und verstand die Welt nicht mehr. Von draußen hörte man eine Nachtigall schlagen und von weiter her ein Käuzchen rufen. Unüberhörbar – die Pendeluhr.
Der Kommissar sah auf seine eigene Uhr und seufzte. Aber seine Gedanken waren schon wieder ganz wo anders, denn schließlich war er ja hier nicht zur Kur. Er ging auf Manon zu. „Schlafen Sie schon, junger Mann?“, fragte er. Manon, aus seinem kurzen Nickerchen gerissen, stammelte ein „Nein, nein“. „Gut. Ich möchte von Ihnen noch etwas wissen. Haben Sie jemals mit Herrn Rabitsch gesprochen? So – Belangloses, muss gar nicht wichtig gewesen sein?“ Manon fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dann dachte er an den Vortrag, den ihm Rabitsch gehalten hatte. Er zögerte noch. „Haben Sie, oder haben Sie nicht?“, fragte Braumüller erbarmungslos. „Herr Rabitsch hat schon ...“ „Was?“, fragte der Kommissar ungeduldig. „Na, er hat mich – äh, er hat mir die Situation am Arbeitsmarkt erklärt.“
„Was waren Sie von Beruf?“, fragte der Kommissar Rabitsch. „Ich? Ich war Prokurist in einer Lebensmittelfirma.“ „Wie lange ist das her?“ „Ungefähr – zwanzig Jahre“, sagte Rabitsch. „Da sind Sie eigentlich weg vom Fenster, was?“, lachte Braumüller. „Wie kommen Sie in diese beratende Funktion, würde mich interessieren?“ Rabitsch war grantig, das sah man ihm an. „Nun, ich lese Zeitung“, sagte er, ohne seinen Ärger zu verheimlichen. „Zeitung lesen Sie? Glauben Sie, dass Ihnen das die notwendige Legitimation gewährt, Arbeitsmarktberichte abzugeben?“, grinste der Kommissar. Die anderen schmunzelten. „Was hat er noch gesagt?“, erkundigte sich Braumüller bei Manon. „Ja, irgendwie hat er gemeint, dass die jungen Leute heutzutage nichts mehr angreifen wollen, und gleich viel Geld verdienen wollen und so. Und er hat auch gesagt, dass er und Frau Maar die Sonne und das Meer lieben.

Das war alles.“ Braumüller zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, und blies den Rauch in kleinen Wölkchen vor sich her. „Wer nicht, Herrschaften, wer nicht, was?“, meinte er. „Aber leider, heute sind wir hier, und nicht in – Bibione! Dorthin fahren Sie ja so gerne, Herr – Rabitsch?“ Braumüller hob die Brauen und sah Rabitsch scharf an. „Das soll ja nicht gerade gratis sein, wie ich immer höre. Unsereiner kann sich das nicht leisten“, sagte er mit leiser Stimme. „Mit einer kleinen Rente ist das überdies nicht möglich. Darf ich fragen, wer Ihre Reisen zu finanzieren pflegt?“
Rabitsch begann sich aufzuplustern wie ein Truthahn. „Ich glaube nicht, dass das für Sie von Belang ist“, meinte erbost. „Oh doch, lieber Herr, das ist sehr wohl von Belang für mich. Frau Maar, bezahlen Sie das, wenn ich so frei sein darf?“, wandte er sich an die Geliebte Rabitschs. Sie wurde rot wie eine Tomate. „Nein. Ja, natürlich. Also, halb halb“, stotterte sie. „Hervorragend, das war wieder eine Antwort! Darf ich es mir jetzt aussuchen, wie die Sache liegt, oder was?“
Jetzt setzte sich Rabitsch in Position. „Natürlich bezahle ich das, das ist doch selbstverständlich.“ „Sie sind ja schließlich der Gentleman, ich verstehe. Die Rechnungen hier in der Pension bezahlt alle Ihre Gattin, soweit ich das in der kurzen Zeit feststellen konnte. Sie sind also von ihr eingeladen, wenn ich das richtig verstehe, oder?“ Rabitsch zerknüllte nur sein Taschentuch mit den Buchstaben B.R. „Ich habe geerbt“, sagte er plötzlich. „Schön für Sie. Und von wem, wenn man fragen darf?“
„Dürfen Sie nicht!“, sagte Rabitsch schlagfertig. „Gut! Ich habe in Ihrem Zimmer eine Dokumentenmappe gefunden. Darin befindet sich unter anderem auch ein Testament Ihrer Gattin.“ Rabitsch wurde noch eine Stufe blasser.
Die anderen hoben ruckartig ihre Köpfe. Professor Ebner wollte schon seine Hand heben, ließ sie aber wieder sinken. „Haben Sie dazu eine Order?“, fragte Rabitsch erbost. „Ich brauche keine Order. In so einem Fall darf ich alles, beinahe alles“, brummte Braumüller. „Ich habe in dieser Mappe hochinteressante Dinge entdeckt, Herr – Rabitsch!“, fuhr der Kommissar fort. „Und welche, wenn erlaubt ist, zu fragen?“, zischte er. „Nun, Sie sind darin beispielsweise in einer Ablebensversicherung als Universalerbe eingesetzt, Herr Rabitsch!“
Dieser Satz fuhr wie ein Donnerschlag in die Runde ein. Rabitsch war aufgesprungen. „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte er ganz langsam, gepresst. Alle anderen redeten heftig aufeinander ein. Der Kommissar schien den allgemeinen Aufruhr aufs Höchste zu genießen und sog genüsslich an seiner Zigarette, die beinahe schon bis zum Filter glühte. „Was, zum Donnerwetter, soll das? Was bezwecken Sie mit dieser Bemerkung? Wollen Sie mich hier als – Mörder bloßstellen, wie? Ich möchte sofort meinen Anwalt anrufen! Jetzt! Mitten in der Nacht! Das ist unerhört, was ich mir hier bieten lassen muss! Unerhört!“

Er ging jetzt aufgeregt auf und ab, zu aufgebracht, um seinen Platz beizubehalten. „Beruhigen Sie sich wieder, Herr Rabitsch. Ich habe doch gar nichts gesagt, außer, dass ich dieses Dokument vorgefunden habe. Sonst nichts! Was regen Sie sich denn so künstlich auf?“ „Soll ich nicht? Soll ich mich nicht aufregen? Sie legen mir ja förmlich in den Mund, dass ich es gewesen sein muss, oder etwa nicht? Jetzt haben Sie Ihr verdammtes Indiz! Jetzt haben Sie es gefunden! Darauf wollten Sie doch von Anfang an hinaus, nicht wahr?“
Braumüller dämpfte seelenruhig seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Noch ist hier niemand schuldig gesprochen, ja? Stellen wir das einmal fest. Wie Sie sehen konnten, ist die Wirkung dieser Mitteilung nicht ganz unbemerkt geblieben“, meinte der Kommissar ostentativ. „Eine unerhörte Bloßstellung, das! In diesem Haus kann ich mich ja nicht mehr sehen lassen!“, tobte Rabitsch und zog an seiner Schalkrawatte, um sich etwas Luft zu verschaffen. „Nun verlieren Sie doch nicht gleich die Contenance“, riet ihm Graf Traunstein, „das ist ja unerträglich, welcher nervlichen Belastung man uns hier aussetzt. Schließlich sind wir allesamt nicht gesund und zur Rehabilitation hier. Ich würde sagen, man sollte dieses Verhör am Tage anberaumen, das muss man sich ja nicht gefallen lassen, nicht wahr?“
Da schien Kommissar Braumüller auf einmal etwas verunsichert, ob er nicht doch zu weit gegangen war. „Vielleicht haben Sie recht, Herr – Traunstein“, sagte er, „ich brauche nicht mehr lange. Morgen ist ja auch noch ein Tag, ja, Sie haben völlig recht.“ Er verschränkte seine Arme über dem Sakko mit den Lederflecken an den Ärmeln und schickte sich an, wieder seinen Marsch zu beginnen, hin zur Topfpalme, wieder zurück bis zum Sofa und so fort.

Die Anwesenden verdrehten enerviert die Augen. „Man bietet hier alle Arten von Massagen an, höre ich. Bäder, Moorbäder, Schönheitspackungen. Gesichts- und Körperbehandlungen oder – Vital-Pakete und so ein Zeug. Waren Sie schon einmal in der Gradieranlage?“, fragte Braumüller Rabitsch. „Was soll das jetzt? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, sagte dieser verunsichert. „Nur so. Ich wollte fragen, welche Art von Behandlungen Sie hier machen.“ „Keine“, antwortete Rabitsch kurz. „Warum nicht?“ „Weil ich nicht krank bin, deshalb. Ich bin mit meiner Gattin hierher gefahren, damit ich für sie ...“. „Herr Rabitsch“, lächelte der Kommissar plötzlich, „Sie haben mit Ihrer Gattin doch hier gar nichts zu tun. Sie wohnen in einem anderen Zimmer, Sie gehen tagsüber ihre Wege und spielen des Nachts hier herunten Karten und geben sich dem Gesellschaftsleben hin. Wieso sind Sie nicht woanders hingefahren? Ihre Frau braucht Sie ja gar nicht?“
„Sie sind wirklich unverschämt“, sagte Rabitsch und wandte sich von ihm ab. „Ja, ja. Das ist so meine Natur. Gegenüber der Gradieranlage ist ein Reisebüro. Im Zimmer von Frau Maar liegen zwei Karten für eine Schiffsreise. Ich denke, es war eine Kreuzfahrt. So genau habe ich es nicht gelesen. Und wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann fahren Sie morgen ab. Ist das richtig? Ihre Frau bleibt aber noch zwei Wochen. Allein, wie ich annehme? Oder?“ Rabitsch sagte nichts.

Linda Maar rieb sich die müden Augen mit den Fingern beider Hände. „Wann werden Sie fahren?“, fragte Braumüller, „es ist ziemlich weit bis Genua. Sie nehmen doch Ihr Auto, nicht wahr? Es ist noch kein Jahr alt. Hat Ihnen das Ihre Gattin zum Geburtstag geschenkt? Für das aufopfernde Verhalten ihr gegenüber?“, ätzte der Kommissar. „Pff!“, machte Rabitsch. „Also gut. Das gehört nicht hierher. Ich weise Sie allerdings darauf hin, dass Sie ab sofort den Ort nicht zu verlassen und sich alle zwei Stunden im Kommissariat zu melden haben. Ist das klar?“
Rabitsch kochte vor Wut. Aber er nickte zustimmend. Die Maar schluchzte einmal kurz auf.

Moll bemerkte ein anderes Plakat, ebenfalls in Türnähe. Die Jagd- und Naturausstellung wäre ab jetzt täglich geöffnet, oben, auf der Alm. Das könnte er morgen schaffen, nach dem Gang um den See. Wenn man doch endlich schlafen gehen könnte! Professor Ebner bat, austreten zu dürfen. Das kam dem Kommissar sehr gelegen und er ging gleich mit ihm. So trat eine Weile Ruhe ein im Salon. Rabitsch wich den Blicken der anderen unentwegt aus. Der Graf flüsterte etwas mit Frau Hase. Die Trinks gähnte gelangweilt vor sich hin. Die architektonische Pracht des postromantischen Salons begann unter der Müdigkeit seiner Betrachter immer mehr zu verblassen und die Faszination des von dunklen Holzbalken umgebenen Kamins schwand mit jedem Schlag der dominierenden Pendeluhr, die ihm den Rang abzulaufen begann.
Da betraten Ebner und der Kommissar wieder den Salon. Ebner setzte sich artig, erleichtert, als hätte er eben gebeichtet. Aber vielleicht war es auch nur wegen des Wasserlassens. Kommissar Braumüller stellte sich provozierend in die Mitte des Raumes, hüstelte ein wenig und griff dann in seine Rocktasche, um sich abermals eine Zigarette zu angeln und sie anzuzünden. „Frau – äh, Frau Trinks“, begann der Kommissar. Moll spitzte die Ohren. Hatte der Professor irgendetwas Dummes gesagt, da draußen? Das sähe ihm ähnlich, dachte er.

„Ich habe noch eine kleine Frage an Sie.“ Sybilla Trinks sah ihn erwartungsvoll an. „Finden Sie, dass es richtig ist, das Leben eines Menschen nicht um jeden Preis zu erhalten, oder sagen wir, zu verlängern, wenn beispielsweise – nehmen wir einmal an, ja? Wenn also beispielsweise der Leidenszustand des oder der Kranken nicht mehr, äh – behoben werden kann? Wenn das Leben zur Qual geworden ist, ja, nicht mehr lebenswert ist? Frau Trinks?“ Der Kommissar sah sie lange und ganz genau an. Sybilla Trinks verzog keine Miene. Sie dachte nach, was sie antworten sollte. Braumüller ließ ihr diesmal Zeit. Viel Zeit. Schließlich gab sie ihm folgende Antwort: „Wenn ich Sie recht verstehe, fragen Sie aus einer ganz bestimmten Absicht heraus?“ Der Kommissar nickte: „Ich frage stets in einer bestimmten Absicht, ja, das ist mein Beruf!“, sagte er. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man ein so unlebenswertes Leben unter besonderen Umständen beenden könnte, wenn eine todkranke Person das so will, vorausgesetzt, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, so einen Schritt für sich selbst entscheiden zu können, ja!“, sagte sie entschlossen.
Moll wurde ganz schwach in den Beinen. Jetzt ist sie dran, dachte er! Sie muss verrückt geworden sein. Es gibt überhaupt keine Beweise dafür, dass sie ... Wahnsinn, das alles! „Aha! Sie meinen also, Euthanasie hätte Berechtigung, lebensunwertem Leben aus Gründen des, äh, wie auch immer man es bezeichnet, nennen wir es – Mitleid – durch den Gnadentod zu - wie soll ich es ausdrücken - eben ein Ende zu bereiten. Ist das richtig?“ „Ja, durchaus. Könnte ich mir vorstellen. Wenn die Schmerzen unerträglich werden - ja ja, ich würde das für mich beanspruchen.“

Der Kommissar ging rascher auf und ab. Er kratzte sich jetzt einmal an seiner Glatze, dann wieder am Kinn. Er strich seinen Schnurrbart, um sich hinterher wieder an der Glatze zu kratzen. Seine Zigarette glimmte wie ein Hochofen. Die Anwesenden wurden unruhig. Die Augen des Professors glühten wie Kohlen und sein Mund schnitt eine Grimasse nach der anderen. Seine Zähne mahlten und er schwitzte auf seiner roten Stirn, als ob er in der Sauna säße. Graf Traunstein hatte sich aufgesetzt und vergaß beinahe, zu atmen.
Die Damen wischten ihre feuchten Hände in Servietten und Papiertaschentücher, während Manon blöde vor sich hingrinste. Fräulein Trixi aber verstand die Welt noch immer nicht und schüttelte ihr brünettes Köpfchen vor Verwunderung über das, was hier ablief. „Ist Ihnen bekannt, Frau Trinks, dass schon einmal in diesem, nein, im vorigen Jahrhundert im Zusammenhang mit unheilbar kranken Menschen von...“, er machte eine kleine Pause, „leeren Menschenhülsen und Ballastexistenzen die Rede war?“ Sybilla Trinks lachte kurz auf. „Nein, tut mir leid. So etwas hab‘ ich noch nie gehört, ehrlich!“ Dann lachte sie abermals. „Sollten Sie aber, Verehrteste, sollten Sie aber!“

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie naiv. „Damals war davon die Rede, man müsse solche Menschen abstoßen, wie verfaulte Organismen, und das war nicht nur gegen verblödete Kinder gerichtet, oder Psychopathen, durchaus nicht. Man hatte daran gedacht, nicht nur alle möglichen Geisteskrankheiten auszurotten – durch Euthanasie –, sondern auch anderen Erbkrankheiten auf diese Weise den Garaus zu machen.“ Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde.
„Jetzt gehen Sie aber wirklich zu weit!“, rief der Graf erbost, „was fällt Ihnen ein, solche Assoziationen zwischen diesen ekelhaften Dingen und Frau Trinks herzustellen? Wer glauben Sie, dass Sie sind?“ Der Graf war außer sich.
„Bleiben S‘ ruhig, Herr Traunstein. Ich stelle wie immer nur Dinge in den Raum, die für mich durchaus relevant sind – in meinen Überlegungen, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Traunstein hatte sich wieder Irene Hase zugewandt und flüsterte ihr abermals etwas ins Ohr. „Wenn Sie was zu sagen haben, Herr Traunstein, dann tun Sie es laut, damit wir alle was davon haben, ja?“, ermahnte Braumüller den Grafen. „Ist nicht von Belang für Sie!“, antwortete Traunstein trotzig. „Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Frau Trinks, stellen Sie sich vor, das macht Schule! Die Billigung einer Art Gnadentod-Aktion, z z z , stellen Sie sich das alle einmal vor, Herrschaften. Ja, wo kämen wir denn da hin? Wer sollte denn das entscheiden, wann so etwas legitim ist? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Ganz zu schweigen davon, dass sich jeder Dahergelaufene dazu berufen fühlen könnte, so einem Wunsch auf eigene Faust nachzukommen, oder etwa nicht, Frau Trinks?“
Syblla Trinks legte ihre linke Hand auf die Brust und atmete schwer. „Wie reden Sie denn mit mir?“, fauchte sie den Kommissar an, „oder – halten Sie mich etwa für die...“. „Ich habe mit keinem Wort angedeutet, dass ich Sie in irgendeiner Form belasten würde. Ich habe lediglich versucht, Ihnen ein Beispiel zu nennen. Was den Tod von Frau Rabitsch betrifft, so habe ich hier meine eigene Theorie und ich werde sie Ihnen bekannt geben, sobald ich meine Befragung für beendet erklärt habe. Punktum!“
Frau Trinks lehnte sich empört zurück. „Ich werde Ihre Fragen nicht mehr beantworten!“, sagte sie entschlossen und warf ihren Kopf stolz in den Nacken. „Bitte, kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie haben das Recht als Zeuge, die Auskunft über solche Fragen zu verweigern, wenn Sie der Auffassung sind, deren Beantwortung könnte für Sie die Gefahr einer Strafverfolgung in sich bergen. Gestehe ich Ihnen zu. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam“, und der Kommissar hob die rechte Hand und streckte seinen Zeigefinger senkrecht empor, „dass Sie dazu verpflichtet sind, den ordnungsgemäßen Ablauf dieser Befragung hier, der für den späteren Beweis der Wahrheitsfindung erforderlich ist, nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen und über Ihre konkreten Wahrnehmungen bezüglich diverser vergangener Tatbestände und Zustände, und darauf lege ich besonderen Wert, Zustände!“, er wiederholte dieses Wort langsam und mit besonderem Nachdruck, „Zeugnis ablegen. Ist Ihnen das klar, Frau Trinks?“
Sybilla Trinks sagte nichts. „Gut“, begnügte sich Braumüller vorläufig damit, „werde ich meine Gedanken eben alleine weiterspinnen und dabei hoffen, einigermaßen Ihrem Geschmack zu entsprechen“, setzte er zynisch hinzu. „Übrigens wollte ich vorhin noch ergänzen, dass sich damals Ärzte, die Kirche und vor allen Dingen die Juristen absolut dagegen ausgesprochen haben. Und, Frau Trinks, glauben Sie mir, das würde heute nicht anders sein. Es kann niemand von uns auf diese Weise über Leben und Tod entscheiden, das sollten Sie sich einprägen. Haben Sie gehört? Sich einprägen – einprägen!“

Moll war, als verhallten die Worte des Kommissars wie ein Echo. Er meinte, geschlafen zu haben, und – plötzlich erwacht zu sein, dann aber wieder - aber nein, da waren sie ja alle, der Graf, die Maar und die Hase, Manon, Fräulein Trixi, und dieser entsetzliche Kommissar, der ständig vor ihnen auf und ab lief, zum Greifen nahe, alle, wie sie lebten.
„Und noch etwas, Frau Trinks, nach dem Krieg hat es zahlreiche Prozesse gegeben, zahlreiche, sag ich Ihnen, in denen sowohl Ärzte als auch das Pflegepersonal einiger Heilanstalten, welche für die Tötungen maßgeblich beteiligt waren, zur Verantwortung gezogen worden sind. Haben Sie das gewusst?“
Doch Sybilla Trinks blickte nur demonstrativ zur Decke hoch. Als ob sie das Fries betrachtete, dachte Moll, und er bekam wieder diese Angst, eine unsägliche Angst vor dem nächsten Tag, an dem er sich wieder selbst ertragen musste, solange, bis ihn am Abend endlich der Schlaf überwältigte und in eine andere Welt hinübertrug, in eine, in der er sich nicht mehr selbst zur Last fiel und von sich erholen konnte.

Aber der Kommissar ging noch immer auf und ab und rauchte in einem fort. Professor Ebner hingegen schien gar nicht zufrieden zu sein mit dem Ergebnis der letzten Befragung von Trinks durch den Kommissar, und Moll quälten die Gedanken zu Tode, worüber dieser entsetzliche Schulmensch wohl mit ihm gesprochen haben mochte? Es musste irgendwo einen Schlüssel in die Vergangenheit geben, ja, ganz offensichtlich, die in Molls Gegenwart eine wichtige Rolle zu spielen schien, eine Art Mythologie, die sich in seinem Inneren abzuspielen anschickte, ausgehend von einem wichtigen Ereignis, dessen er sich augenblicklich nicht zu entsinnen vermochte, ob es im Zusammenhang zu seiner momentanen individuellen Entwicklung stünde, gar aus einem Bedürfnis heraus, einem unerfüllten Wunschdenken vielleicht, dessen Ursachen er sich nicht erklären konnte. Aber eines spürte er, dass es sich aus einer konflikthaften Anregung um das Tagesgeschehen handeln musste, von der er meinte, dass sie sich ihm bewusst darstellte und er all diese Verdrängungen, die damit in unmittelbarem Zusammenhang standen, auf irgendeine Weise gelöst haben wollte. Die Geschehnisse des Tages und diese – diese Reize der Vergangenheit, waren nicht identisch mit dem, was ihm hier widerfuhr, dachte er.
Er konnte mit der Person dieses Kommissars nichts anfangen. Und Moll bemühte sich, dessen Gesicht zu erkennen, was ihm nicht gelingen wollte. Einmal meinte er, kurz jenes eines guten Freundes in ihm zu sehen, dann wiederum eine Figur aus einem Film, ja, aus irgendeinem Film wahrscheinlich. Diese Schranke zur bewussten Wahrnehmung konnte und konnte er in diesem Fall nicht überschreiten, aber andererseits war ihm, als würde ihm alles Unbewusste von einer fremden Macht aus dem Bewussten entzogen. Für Moll hatte alles Wahrheitsgehalt, was hier vor sich ging, keine Frage. Nichts kam ihm dabei wirr oder unzusammenhängend vor, oder gar widersprüchlich, auch wenn die Person des Kommissars durch eine andere Person ersetzt schien, für Augenblicke zumindest.
Die Zeugeneinvernahme lief vor seinen Augen ab wie eine Art Halluzination, in der er gewissermaßen die Wunscherfüllung sah, aber wessen? Das war doch nicht sein Wunsch, dass jemand Sybilla Trinks derart belastete? Er bangte um sie, obwohl er nichts mehr für sie empfinden konnte, sie nicht mehr fühlte und merkwürdigerweise sich selbst auch nicht. Doch löste dieses Verhör des Kommissars in ihm eine weitere Angst aus, anders als jene, sich vor sich selbst zu Tode zu langweilen, nein, es war eine Angst vor dem Unbewussten, welches Gefahr lief, in seine Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit einzudringen.
Moll diagnostizierte eine verstärkte Gehirntätigkeit, tatsächlich, dieser Fall beschäftigte ihn unverhältnismäßig heftig, und er fühlte eine unglaubliche Aktivität seiner Augäpfel, was ihm sonderbar vorkam. Eine Halluzination – kam es ihm nochmals in den Sinn – sollte es ihm möglich sein, eine derart anschauliche Vorstellung von etwas zu haben, ohne entsprechenden Sinnesreiz, wie beim Übergang vom Wachsein in den Schlaf, oder umgekehrt, wie es von jedem erlebt werden konnte? Eine Vorstufe zum Delirium tremens etwa, oder zu manisch depressivem Irresein? Aber nein – da waren ja alle wieder – vollzählig - wie ihm vorkam.

Der Kommissar war da. Ging auf und ab, die ganze Zeit über. „Wenn ich nun zu dem Schluss kommen würde, Frau Trinks, dass Sie, als Vertraute – als einzige Vertraute hier im Hause, in einer Stellung, und ich wage zu behaupten, eine, die nicht einmal ihr Gatte Herr Rabitsch eingenommen hatte - Frau Gertrude Rabitsch einen Wunsch erfüllt hätten? Einen unerfüllbaren Wunsch – nämlich den, die unglückselige Frau Rabitsch von ihrer entsetzlichen Atemnot zu befreien – für immer, Frau Trinks! Was würden Sie mir da zur Antwort geben?“ Sybilla Trinks war blass geworden, sehr blass. Norman Moll wollte von seinem Sessel aufspringen, konnte sich aber nicht bewegen, um diesem Kommissar an die Gurgel zu fahren, es war ihm völlig unmöglich, seine Hand gegen ihn zu erheben, so als ob er gelähmt wäre.
Sybilla Trinks bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Kommissar schritt hoch erhobenen Hauptes auf und ab. Er schien sich seiner Sache nun völlig sicher. Bodo Rabitsch schlug das Herz bis zum Halse. Er war in seinem Sessel die ganze Zeit tiefer und tiefer nach unten gerutscht, und saß schon mehr auf der Lendenwirbelsäule als auf seinem Gesäß. Sollte nicht Rabitsch...?

Moll verstand nichts mehr. Rabitsch war doch das Rabenaas. Wieso die Trinks? Von Anfang an spielte für ihn nur dieser aufgeblasene Kerl die Rolle des Bösewichts. Und nun sollte die Gute die Böse sein? Moll warf sich hin und her und er geriet zunehmend in einen inneren Konflikt, nicht mehr unterscheiden zu können zwischen dem, was nunmehr Ordnung war, was Traum, Chaos oder Wirklichkeit hätte sein sollen. Er war nicht mehr dazu in der Lage, sich durch die Vorstellung sinnvoller Nachfolgebeziehungen vorzustellen, was ablief. Er hatte sich erwartet, dass durch das Verhör diejenigen Personen in ihren wesentlichen Merkmalen zusammengefasst würden, die tatsächlich für die Durchführung jener schrecklichen Tat verantwortlich gemacht werden konnten.
Aber doch nicht Sybilla Trinks! Aber – so viele kämen eigentlich gar nicht infrage, kam ihm in den Sinn. Ordnung schaffen musste man! Gemeinsame Merkmale suchen, die den Täterkreis auf ein Minimum der Infragekommenden schrumpfen und dadurch selektionsfähig machen würde, und diesen an gemeinsamen Charaktereigenschaften festmachen und zuletzt eben ...

Und Moll suchte verzweifelt nach den Ursachen für den furchtbaren Irrtum Braumüllers, sie dem Chaos - jenem universalen Gähnen dieser Welt - zuzuordnen, so, wie es von der griechischen Wortbedeutung abgeleitet worden war, was Martin Luther mit Wirrwarr, mit der Unordnung bezeichnet hatte, und er fand einen unermesslichen Raum um sich vor, einen Raum, der vor allen Dingen gewesen schien und vor dessen Existenz der Mythos regiert hatte, form- und gesetzloser Urzustand des Tohu-wa-bohu.
Nur der Geist wäre jetzt dazu befähigt, die Logik der Regelmäßigkeit und vor allem der Gerechtigkeit zu erkennen, jenen Punkt, an dem die Naturphilosophen die göttliche Schöpferkraft erwarteten, wenn schon die Wirklichkeit nicht erklärbar war. Und er war überzeugt davon, der Kommissar irrte, irrte deshalb, weil er die Differenz zwischen dem Subjekt Bodo Rabitsch und der unschuldigen Sybilla Trinks nicht erkennend, für ihn, Norman Moll, zumindest, verarbeiten konnte.

Doch hier ging es um mehr als nur um die naive und sentimentale Aufklärung eines dubiosen Mordfalles. Das Erstellen eines naturalistischen Täterprofils, so wie es sich Braumüller vorstellte, als Kopie einer Wirklichkeit, wie sie diesem genehm gewesen wäre, entbehrte jeglicher realistischen Gestaltung, zwar wirklichkeitstreu und den natürlichen Tatsachen eines solchen Rechnung tragend, jedoch - wo blieb die Kunst des Urteils über die gesellschaftlichen und seelischen Befindlichkeiten jener unverwechselbaren Sybilla Trinks?
Moll erschrak. Hatte er sie jetzt eben selbst kriminalisiert? War das ein unbewusstes Zugeständnis an Braumüller, diesen kriminalistischen Dilettanten? Es pochte und hämmerte in ihm wie verrückt und aus dem Stimmengewirr, das an seine Ohren drang, vernahm er die Worte: „Sie haben die Pflicht, als Zeuge in einem Verhör auszusagen und die Richtigkeit Ihrer Aussage zu beeiden. Dem kann sich niemand entziehen, auch Sie nicht, Frau Trinks!
Es ist meine Pflicht, verehrte Anwesende, hier und jetzt im Mordfall Gertrude Rabitsch die objektive Wahrheit zu ergründen und es steht mir jederzeit zu, auch Zeugen anzuhören, deren Vernehmung von niemandem sonst beantragt wurde außer von mir, und wiederum nur von mir! Ich habe bisher auf Ihre eidesstattlichen Aussagen verzichtet, und zwar aus guten Gründen, die ich hier nicht nennen möchte.“

Moll versuchte sich, dem ohrenbetäubenden Schall dieser ihm völlig unbekannten Stimme zu entziehen, da blieb es auch schon still um ihn. Nur sein Herz hörte er pochen, nicht regelmäßig, eher hinkend, eins, zwei, drei, dann nichts, dann eine doppelter Schlag, und das Atmen fiel ihm schwer, das Atmen, und er versuchte sich vorzustellen, wie Frau Rabitsch unter dem Polster, Todesängsten ausgesetzt, es konnte unmöglich ihr Wunsch gewesen sein … auf diese Weise ... ums Weiterleben gekämpft haben musste.
Und unmöglich, dass Sybilla Trinks – völlig ausgeschlossen, dass eine Frau wie sie auf so entsetzliche Weise... nein und noch einmal nein! Auf der Ebene fünf des Wiener AKH hatte er selbst das Notfallspraktikum absolviert, im ersten Semester seines später abgebrochenen Medizinstudiums, als ein Assistent erschienen war, sich auf das Katheder setzte und genüsslich, so, als ob es um die Erzählung eines Rezeptes für die Herstellung eines Apfelstrudels gegangen wäre, erklärt hatte: „Herrschaften, heute lernen wir über das Erwürgen und Erdrosseln. Stellen Sie sich vor, Sie möchten jemanden erwürgen, dann kann ich Ihnen gleich sagen, das ist ein mühseliges Unterfangen. Wie würden Sie es anstellen? Mit bloßen Händen? Also, davon würde ich abraten. Sie haben nicht die Kraft dazu! Mit einer Drahtschlinge gelingt das schon eher, glauben Sie mir, ich empfehle eine Drahtschlinge! Aber, damit allein ist es noch nicht getan. Sobald Sie nämlich beginnen, diese zuzuziehen, nutzen Sie die Hebelwirkung. Man benötigt einen Gegenstand, um die Schlinge zusammenziehen zu können, einen Schraubenzieher oder was eben greifbar ist, Sie verstehen?
Also, drehen Sie das Opfer weg von sich. Es ist furchtbar, mitanzusehen, wie nach und nach die Augen aus den Höhlen quellen, ein Blutsprühregen wird sich über Sie ergießen, also, nein, das ist alles unappetitlich! Drehen Sie das Opfer von sich weg, kann ich Ihnen nur dringend empfehlen.“ Einige Studentinnen und Studenten in den ersten Reihen waren blass geworden. Der Assistent fuhr fort. „Sehen Sie, der Atmungsapparat ist die Kontaktstelle zwischen Blut und Luft. Im Inneren des Körpers ist eine Stelle vorhanden, an der die Blutgefäße engsten Kontakt zur Luft bekommen, aus der sie den Sauerstoff entnehmen.
Übrigens wird dort auch Kohlendioxyd abgegeben. Also, die Lungen besorgen den Gastransport, klar? Und die Lunge ist auch der eigentliche Ort, an dem Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxyd abgegeben wird. Sie werden verstehen, dass die Luftwege aus ganz bestimmten Gründen relativ starrwandig sein müssen, damit sie nicht so leicht abgedrückt werden können.“

Der Assistent lachte. „Und schließlich gibt es auch noch Verstärkungen, zum Beispiel durch die Knorpelringe der Luftröhre. Genau dort müssen Sie natürlich stärker zudrücken, wenn Sie zu einem zielführenden Ergebnis kommen wollen.“ Er lachte abermals. „Wenn Sie also entsprechend lange und fest zugedrückt haben, dann platzen die Bläschen in der Lunge. Und das gibt dann einen feinen Sprühregen, der eben durch die Nase austritt. Und wenn Sie Ihr Opfer also dummerweise nicht von sich weggedreht haben, dann schauen Sie schön aus, was?“ Einige Studenten hatten nur dumm gelacht. Die meisten anderen aber hatten das gar nicht lustig gefunden.
Auch Norman Moll nicht, und er erinnerte sich, dass er sich fürchterlich darüber geärgert hatte, über die fehlende Ethik dieses dozierenden Kurpfuschers und daran, dass man solchen Leuten irgendwann einmal völlig ausgeliefert sein würde. Und wenn es auch nur ein Polster gewesen sein sollte, ließ Moll die Vorstellung über den Erstickungstod Frau Rabitschs die kalten Schauer über den Rücken laufen.

Norman Moll suchte indessen erneut, beinahe fieberhaft, nach jenem Schlüssel in die Vergangenheit, welcher ihn in die Gegenwart zurückführen sollte, um diesen unerträglichen Zustand so rasch wie möglich zu beenden. Das Gesicht des Kommissars war jetzt wieder verschwommen, die Konturen seiner Gestalt diffus und Moll meinte, er wäre für kurze Zeit unsichtbar, aber – nein, da war er ja wieder, strich seinen Schnurrbart und kratzte sich – diesmal am Kinn. Jetzt aber kam ihm die ganze Sache doch etwas wirr und unzusammenhängend vor, ja, sogar widersprüchlich, vor allem in den Hypothesen Braumüllers, nun eine bereits abgelegte Variante erneut auszubauen und zu erhärten.
Obwohl – diese kam ihm gelegener als jene, welche Sybilla Trinks belastet hatte, richtete sie sich doch gegen Rabitsch, und damit auch gegen alles, was dieser für ihn repräsentierte, Autorität, in gewissem Sinne auch Macht und irgendwie die unterschwellige Angst, diesem Menschen, worin auch immer, unterlegen zu sein.

Frau Maar verfiel zusehends und Bodo Rabitsch versuchte verzweifelt, ihr durch übertriebene Gestik irgendwelche Botschaften zu vermitteln, die sie nicht entschlüsseln konnte. Es war für alle das Bild einer Welt entstanden, die ihre Vergänglichkeit in den verzweifelten Handlungen eines Menschen widerspiegelte, der offenbar versucht hatte, sein kümmerliches Leben, und damit auch seine Haut, auf eigene Art und Weise zu retten, indem er, in falschem Glauben gehandelt, noch einen allerletzten Vorteil für sich herauszuschinden gedachte, jenen der absoluten materiellen Unabhängigkeit etwa?
Dieser Mann hatte doch bereits alles? Mehr noch, denn er hatte sich mit der Liaison zu Linda Maar Freiräume geschaffen, die normalerweise streng tabu waren in einer Gesellschaft, die er repräsentierte, und sonst üblicherweise klammheimlich passierten. Aber so?
Rabitsch hatte sich nicht einmal bemüht, die Sache mit der Maar auch nur irgendwie zu verbergen. Mit über siebzig war an sich so ziemlich alles gelaufen, sollte man meinen. Aber es war doch nicht genug, wie hier festgestellt worden war. Immerhin bezog er eine kleine Pension, seine Gattin war nicht gerade arm, und er hatte überdies auch noch den einen oder anderen Besitz veräußert, um seinen Lebensstandard zu erhöhen.
Welche Rolle konnte da noch eine ausbezahlte Lebensversicherung spielen? Rabitschs Mercedes war neu, er konnte auch nicht mehr essen, als er vertrug, noch mehr reisen, vielleicht? Und trotzdem schien Norman Moll die ganze Angelegenheit eher unglaubwürdig. So ein Mensch war er nicht, dieser Rabitsch, dass er einen Mord begehen könnte! Anstatt seine Pension zu genießen... Moll erinnerte sich, als er ihn gefragt hatte, ob er selber schon in Pension wäre. Als ob das heutzutage so leicht ginge, ärgerte er sich.
In seinem Alter musste man mit dem Kopf unterm Arm vorweisen, dass man zu nichts mehr taugte. Die verschwenderischen Jahre des Wirtschaftswunders waren eindeutig vorüber und der konservative Flügel der letzten Legislatur hatte dem Frührentnertum ein für alle Mal das Handwerk gelegt. Was wäre überhaupt passiert, wenn Fräulein Anna noch einmal bei Gertrude Rabitsch vorbeigeschaut hätte? Sie hatte tagsüber ja auch des Öfteren nach ihr gesehen. Vielleicht könnte Frau Rabitsch noch am Leben sein? Und schließlich war Fräulein Anna auch ausgebildete Krankenschwester und Pflegerin.

Ja, dachte Moll, nachsehen hätte man sollen – einen Hilferuf loslassen – den rettenden Hilferuf – vielleicht war sie nur bewusstlos gewesen, anfangs – man hätte den Puls fühlen können, ob noch Leben in ihr war – dann hätte alles ganz rasch gehen müssen: Das Festlegen des Herzmassagepunktes – vom Sternum aus, drei bis fünf Zentimeter am Brustbein nach oben – Massagefrequenz sechzig bis achtzigmal pro Minute – ihre Rippenansätze würden gekracht haben – Serienbrüche wären in diesem Alter unvermeidbar gewesen – schmerzhaft zwar, aber wenn es der Sache diente – nein, dem Leben! Und sofort wieder Puls fühlen – zwei Atemstöße – Carotis, am besten beidseitig ertasten - Thoraxkontrolle, ob er sich hebt und senkt – nach der Carotis tasten – Zirkulation? Keine! Kreislauf weg – also los! Fünfzehn zu zwei! Fünfzehnmal Luft einblasen – zweimal Massage – Vorsicht! Nicht ruckartig – krachen tut es immer – nach dem ersten Zyklus sollte sie erwachen – dann stabile Seitenlage – der Assistent!
Mein Gott! Der Assistent fiel ihm ein! Würgen ist schlecht, hatte der gesagt, zu anstrengend! Besser erdrosseln! Das Gesicht schwillt an! Blutverblasungen! Das freut den Gerichtsmediziner, wenn der Erwürgte krampft! Im Affekt erwürgen ist nicht möglich, hat er noch gesagt! Dafür dauert es zu lange! Das sind sechs bis neun Minuten schwere Arbeit – hat er gemeint.

Moll zuckte mit den Augenlidern. Langsam wird die Hautfarbe rosiger – die Pupillen verkleinern sich – es wäre ein Fehler, den Thorax auf zu weicher Unterlage zu betten – man hätte sie aus dem Bett nehmen müssen – auf den harten Boden legen – hätte, hätte! Und wenn es nun doch ein Asthmaanfall gewesen war? Hervorgerufen durch eine plötzliche Schwellung der Bronchialschleimhaut - in Verbindung mit einem Spasmus der Bronchialmuskulatur? Einhergehend mit Sekreteindickung? Grund genug hätte sie ja gehabt, für eine psychische Aufregung, wegen ihrem Mann und der Maar natürlich! Das konnte ihm niemand weismachen, dass sie die ganze Situation kalt gelassen hätte!
Niemanden lässt so etwas kalt, dachte Moll. Und in der Angst ihrer Hyperaktivität hatte sie vielleicht selbst einen Polster über ihr Gesicht gelegt, zu sich her gedrückt – vor Verzweiflung gar? Und ist erstickt? Aber sicher nicht am Gewicht des Polsters! Er könnte nicht mehr an diesem Zimmer vorbeigehen, sagte er sich. Zu schwer lastete der Tod Gertrude Rabitschs auf seiner Brust. Norman Moll war irgendwie unruhig geworden.
Er war davon überzeugt, dass Getrude Rabitsch auferstehen würde, oder zumindest nicht ganz verschwunden war. Die Tote war gegenwärtig, das spürte er, und sie würde es auch sein, wenn ihr Bodo sich des Nachts der drallen Linda näherte, oder auch in den Träumen ihres Gatten. In diesen Augenblicken zweifelte Norman Moll nicht an der Existenz des Jenseits und er war davon überzeugt, dass nichts aufhörte, so plötzlich, was jemals am Leben war, und dass es sich in alle Ewigkeit fortsetzte, irgendwie. Die Erwartung des Weltendes, Bestandteil irdischen Seins, fixe Vision in Molls Denken, würde Klarheit darüber bringen und ein Tag würde der letzte sein, dann würde eine unvorstellbare, eine ewige und unendliche Zeit anbrechen.

Und es käme zum Gericht, so hatte der Kaplan es damals erklärt, und diese Erklärung war aus seinem kindlichen Gemüt nicht mehr auszulöschen gewesen. Dann würde die Wahrheit ans Licht kommen mit diesem Rabitsch, und schon malte er sich die Höllenqualen aus, die jenem erwachsen müssten, verschlungen vom weit aufgerissenen Schlund der ewigen Verdammnis, durch den Kamin des Kraters Ätna zum Beispiel, in dessen Innerem er von den ewigen Flammen gepeinigt und mit unvorstellbaren Folterinstrumenten misshandelt werden würde. Aber was, wenn Frau Rabitsch nun doch eines natürlichen Todes gestorben war?
Moll erlebte ganz plötzlich das Versetztwerden auf irgendwie außernatürliche Weise in einen anderen Raum, der ihm unbekannt war, den er hätte beschreiben können, dessen Inhalt er erleben konnte, als ob in ihm eine außerirdische Macht agierte. Ein Zustand der Ekstase, des Traumes, der Vision extra corpus, wie er meinte, denn er konnte sich selbst dabei beobachten. Ein Erlebnis, in dem er den normalen Bewusstseinsstrom unterbrochen, unterbunden glaubte, quasi den Sinnen entschritten!
Er durchwandelte das Stiegenhaus der Villa Langstein, am roten Sisal, einen irdischen Raum, durchaus nicht eschatologischer Natur, nein, ganz profan. Sogar die Bilder am Stiegenaufgang waren dieselben wie er sie schon einmal gesehen hatte, im vollen Bewusstsein des Tages, wie er meinte. Frau Rabitsch, die er nie zuvor gesehen hatte, stand an der obersten Treppe und winkte ihm zu, durchsichtig, blass, von wehendem Seidenstoff umhüllt.

Moll warf sich herum. Die letzten Zweifel an der Existenz des Jenseits schienen für ihn beseitigt und er fühlte Gänsehaut am ganzen Körper, die Härchen an Armen und Beinen stellten sich ihm steil auf und er wurde von einem heftigen Schüttelfrost geplagt. Der Tod, dachte er, ist nur ein Übergang, obwohl störend, weil bedrohlich. Er versuchte, sich gegen diese Vision zu wehren und in dem krampfhaften Suchen nach einer Welt des goldenen Moments, in dem die Triebkraft des Augenblicks dominierte, flüchtete er in wirren Gedanken wieder zurück ins Leben, aus den Albträumen von gestern in eine Welt, zurück zur Sinnlichkeit der „Lust auf mehr“, in eine Gastronomie des Herzens, um rasch im Geiste all die kultigen Treffpunkte, die ihm in der Eile einfielen, zu frequentieren, die angesagtesten Hotspots seiner Lieblingsstadt zu durchstreifen, um so schnell wie möglich diesem Horror zu entfliehen. Nur noch peripher, am Rande dieser Kulisse dieses Schauspiels des Todes, empfand er Gertrude Rabitschs Tod als Überschreitung, die ihn dem Alltagsleben und seiner verstandesgeprägten Gemeinschaft, wie auch seinen Erinnerungen und Phantasien, jäh entrissen, und den Banalitäten Kommissars Braumüllers, wie auch dessen endlosen und höchst peinlichen Verhören, hoffnungslos ausgeliefert hatte.

Ist Sterben denn eine Belohnung?, fragte er sich benommen. War der Tod das Glück?, als er mit seinen Beinen an etwas Hartes stieß. Instinktiv zog er die Füße zu sich heran. Irgendetwas drückte ihn im Bereich seines Bauchnabels, etwas wie ein Gürtel. Er wälzte sich unruhig hin und her und öffnete plötzlich die Augen. Es war mit einem Male Tag geworden. Ja, er konnte die Sonnenstrahlen auf seinem Bett sehen. Und er lag da, im dunklen Sakko, samt den Stiefletten, die er am Abend noch getragen hatte.
Entsetzt setzte er sich auf und rieb seine Augen. Wie war er hierhergekommen, aus dem Salon so plötzlich...? Er sprang aus dem Bett, vergaß seine entsetzlichen Rückenschmerzen, eilte zur Tür und riss sie auf. Sie war nicht versperrt gewesen.
Auf dem Flur stand Fräulein Trixi, eben im Begriff, den Staubsauger zu betätigen, um den roten Sisalteppich zu saugen. „Einen schönen guten Morgen“, lächelte sie, als ob nichts … „Morgen! Wo ist Frau Rabitsch?“, stotterte Moll. „Behandlungen! Schon seit sieben, wie immer“, wunderte sich Fräulein Trixi. Moll traten die Schweißperlen auf die Stirn. „Haben Sie vielleicht schlecht geschlafen?“, fragte sie mitleidig. Moll sah sie lange an. „Nein. Nein nein“, hauchte er, und schloss langsam die Tür zu seinem Zimmer, ganz langsam, völlig geräuschlos.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15052

Dienst nach Vorschrift oder Die Geschichte der „Os“

Ausgesprochen nervös schien sie zu sein, aber das konnte nur er bemerken, weil er sie sehr gut beobachtet hatte in all den Jahren, seit sie seine Vorgesetzte geworden war. Ihr Businessanzug saß perfekt, das helle Haar war hochgesteckt und untadelig frisiert worden, darauf achtete sie immer. Eine Abweichung in dieser Hinsicht hätte Alarmstufe rot bedeutet. So aber konnte er aus ihren fahrigen Handbewegungen und der hektischen Art, das nun zu Erledigende zu erklären, schließen, dass die Ampel für sie wohl bereits kurz davor, auf Dunkelorange, stand.

Es war in seinem Verantwortungsbereich schon länger gemunkelt worden, dass die Finanzprüfung, die sie in Kürze zu durchlaufen haben würden, nun besonders gründlich vorgenommen werden würde, von ihnen unbekannten Personen diesmal, und dass die Geschäfte mit einer bestimmten osteuropäischen Einrichtung wohl besser ungeprüft bleiben sollten. Irgendjemand hatte Insiderinformationen zugespielt bekommen, die Spekulationen blühten.
Ihm war es recht, wenn alles vage blieb und er sich nicht äußern musste. Wozu hatte er denn beim Aufstieg auf der Karriereleiter zurückhaltend agiert, anderen den Vortritt gelassen und sich selten explizit geäußert? Er hatte gewusst, warum. Dass das dicke Ende irgendwann kommen musste, war ihm klar. Ihr, seiner Chefin, war das offensichtlich erst in den letzten Tagen zur Gänze bewusst geworden.

So stand sie nun vor ihm und erläuterte kurz, dass jene Dokumente vom Frühjahr, die mit einem „O“ versehen seien, gesondert behandelt und auf keinen Fall so wie die anderen einfach an die Prüfer weitergegeben werden sollten. Vielmehr sollten die „Os“, wie sie diese Dokumente nannte,  unwiederbringlich verschwinden. Unleserlich gemacht werden für alle Zeiten. Sonst käme das die Firma teuer zu stehen, und einzelne Personen desgleichen. Ob er das verstanden habe?

Und wie er verstanden hatte. Sie war schön, wenn sie aufgeregt war. Er hatte sie immer begehrt. Vielleicht noch mehr, seit er einen unmissverständlichen Korb von ihr bekommen hatte, damals, zu Beginn ihres Aufstiegs. Sein Kollege hatte mehr Glück gehabt als er, der konnte sich zumindest ein paar Monate ihrer Gunst erfreuen. Soweit er wusste, war danach niemand mehr in den Genuss gekommen, zumindest keiner aus der Firma.
Allerdings hätte es wirklich nicht sein müssen, dass sie seine per E-Mail erfolgte Essenseinladung vor allen anderen Anwesenden ausgeschlagen hatte, das war kränkend für ihn gewesen. War ihr das nie klar geworden? Zumindest hätte sie danach ein bisschen freundlicher sein können.
Und selbst jetzt, wo er der Einzige war, den sie ins Vertrauen zog bei diesem wichtigen Unterfangen, bemühte sie sich nicht gerade um ausgesuchte Höflichkeit.
Egal, er würde seinen Job schon erledigen, das hatte er immer getan. Und das sagte er ihr auch.
Sie erwiderte nur kurz, das sei gut so, sie hätte mit der Löschung der elektronischen Daten wahrlich mehr als genug am Hals. Und Abgang.

Kurz darauf ging er ans Werk, schleppte, nachdem die anderen alle gegangen waren, die Stapel mit den Ausdrucken des fraglichen Zeitraums auf seinen Schreibtisch, sortierte gewissenhaft nach „O“-Dokumenten und normalen, bis er zwei schöne Stapel hatte, der „O“-Stoß etwa halb so hoch wie der andere. Die anderen legte er beiseite, dann nahm er sich die „Os“ vor.

Der Prüfer fand zwei Wochen später auf seinem Schreibtisch jede Menge Material vor. Das hatte er schon vorhergesehen und daher die Tage davor Platz geschaffen. Er freute sich auf diesen Fall.
Was immer diese Firma zu verbergen hatte, er würde sich auf dessen Spur begeben. Und dass da etwas war, was er nicht sehen sollte, davon ging er aus.
Nach einem Vormittag emsigen Sichtens und Systematisierens lachte der Prüfer plötzlich laut auf.
In Händen hielt er ein Dokument, auf dem offensichtlich geschwärzt worden war, eine kleine Stelle rechts oben war so unleserlich gemacht worden. Abgesehen davon, dass so etwas jeden Prüfer stutzig machen würde, war ihm sofort klar, worauf er da bereits nach dieser kurzen Sichtung gestoßen war.
Den Rest des Tages suchte er einfach diejenigen Blätter heraus, die Schwärzungen zeigten, und der Fall war gelöst. Fast war er ein bisschen enttäuscht, dass ihm die allermeiste Arbeit bereits abgenommen worden war.
Irgendjemand hatte es ihm da verdammt einfach gemacht.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15029

Der Fall Obernhuber

Wir wissen nicht viel über Manfred Obernhuber: Er soll am 17. Oktober 1942 in der Gegend der Rax das Licht der Welt erblickt haben, als erstes und einziges Kind der Martha Obernhuber. Kein Vater, kein Religionsbekenntnis. Die Mutter ist nur unter dem Namen des Hofs (‚Obernhuberhof‘) bekannt, für den sie sich bis zur Entbindung abgerackert hat, nachdem sie als Kleinkind von einem Flüchtlingspaar da vergessen wurde.
Die Hebamme kennzeichnet in ihrer Werkliste Manfred mit einem Herz, was in der ansonsten sehr schwer lesbaren Niederschrift ein Erfolgserlebnis bedeutet. Aus den Eintragungen geht allerdings nur der Zustand des neuen Erdenbürgers hervor – wie es diesbezüglich mit der Mutter aussieht, ist da nicht herauszulesen – doch kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Martha Manfreds Geburt nicht überlebt hat.
Die Eintragung ins Pfarrregister erfolgt erst ein knappes halbes Jahr später, sein Geburtsdatum wird mit Mitte Oktober 1942 angegeben, das Wort ‚Mitte‘ ist offensichtlich später durch ‚am 17.‘ ersetzt worden, die Geburtszeit war ursprünglich mit ‚gegen Abend‘ vermerkt und wurde durch ‚18.00 Uhr‘ ersetzt.
Die Hebamme ist heute längst tot, schon längst unter die Räder gekommen, im konkreten Fall unter die wuchtigen Pneus eines Traktors, den seinerzeit der Gruberbauer etwas unvorsichtig durch die Landschaft gelenkt haben soll, aber auch er liegt längst schon klaftertief im Gottesacker.

Manfred hat auch keine Kinder oder sonstigen lebenden Verwandten: Wer die Vollwaise Manfred Obernhuber über die Runden gebracht hat, bis sie die örtliche Volksschule besucht und absolviert hat, weiß niemand im Ort. Niemand weiß auch, was er nach seinem Abgang eigentlich die ganze Zeit so getrieben hat, wo er gewohnt und womit er seinen Unterhalt bestritten hat – bis er dann letzte Woche aus der Pitten gefischt worden ist: aufgeschwemmt, tot, viel zu viel Wasser getrunken im Bach.
Alltag für die Kommissare Koller und Hauer. Es war Mord – zumindest muss Obernhuber in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt gewesen sein, bevor er ins Wasser gefallen ist.
Anhaltspunkt dafür sind die Blutspuren am Brückengeländer in Pitten selbst, dem mutmaßlichen Tatort. In der Berichterstattung in Presse und Funk wird die Bevölkerung um Mithilfe gebeten, auch jeder Hinweis zum Mordopfer, Manfred Obernhuber, sei wertvoll, heißt es in den Aufrufen. Obernhuber war laut Zeugenaussagen angeblich seit Jahren von Zeit zu Zeit im neuen Supermarkt gesehen worden, wo er sich mit einigen langlebigen Lebensmitteln und alkoholischen Getränken eingedeckt hat, die er dann in einem alten Einkaufswagerl abtransportiert hat. Mehr ist aber aus den Leuten nicht herauszukriegen, keiner will sonst etwas über den Mann wissen, niemand hat ihn persönlich gekannt.
Koller und Hauer nehmen die Informationen lustlos auf, betreiben ein paar Tage lustlos Recherchen und schließen nach wenigen Tagen lustlos die Akte – schließlich gibt es in einem Kommissariat Besseres zu tun, als sich mit unlösbaren Fällen aufzuhalten. Koller öffnet also die Lade mit der vergilbten Aufschrift: ‚Ungelöste Fälle‘.

Im selben Augenblick – der Fall Obernhuber fliegt gerade auf einen Stapel alter vergammelter Akten zu – läutet das Telefon. Hauer hebt gelangweilt ab, wirkt aber nach wenigen Sekunden plötzlich hellwach. Geistesgegenwärtig schaltet er die Mithöreinrichtung an: ‚Ich war‘s, der den Obernhuber runtergekippt hat!‘ ruft ein Mann ins Telefon, den Verkehrslärm übertönend. Es raschelt in Hörer und Lautsprecher und eine andere Stimme ertönt aus dem Hintergrund: ‚Nein! Ich war es! Glauben Sie ihm nic ...!‘. Die Beamten vernehmen ein dumpfes Geräusch, nach einiger Zeit meldet sich wieder der ursprüngliche Anrufer und spricht jetzt leise, aber eindringlich: ‚Glauben Sie mir: Ich war es. Ich hab den Obernhuber noch nie leiden können. Sie können den Fall abschließen – ich komme ins Kommissariat. Ich bin gleich da.‘
Der Anrufer legt auf, Hauer sieht zu Koller, der achselzuckend die Akte Obernhuber wieder aus der Lade holt. Nachdenklich legt er sie auf seinen Schreibtisch und schlägt sie wieder auf.
‚Naja,‘ meint er ‚da wird der Oberkommissar ja sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ...‘, er macht einen Blick auf den Kalender der örtlichen Sparkasse, blättert zwei, drei Mal ... den wievielten haben wir eigentlich?‘
Koller blättert vor und zurück und fasst dabei den begonnen Satz noch einmal zusammen: ‚Naja, da wird der Oberkommissar ja wirklich sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ein paar Stunden. Das soll uns erst einmal wer nachmachen.‘

Wenige Minuten später klopft es an der Tür. ‚Herein‘ sagen Koller und Hauer ungewollt unisono. ‚Grüß Gott.‘ – Ein Mann, so um die fünfzig, tritt ein, seine Haare sind es, die sein Alter vermuten lassen, es sind nicht mehr so viele, wie es einmal gewesen sein mussten, sind sicherlich heller, als sie einmal waren, auch die Spannkraft hat mit der Zeit gelitten.
‚Sie heißen?‘
‚Ewald Baumann‘ antwortet Ewald Baumann und nimmt seine saubere Brille ab, um sie zu putzen. ‚Und Sie wünschen?‘, fragt Koller, der nach den Regeln im Polizistenspiel ‚Der Aggressive und der Verständige‘ den Verständigen spielt.
‚Ich möchte eine Selbstanzeige erstatten.‘
‚Dann nehmen Sie doch bitte Platz‘, fordert Koller Baumann auf, während er einen zerbrechlich wirkenden Stuhl, der schon viele andere Kommissare gesehen haben muss, neben seinen Schreibtisch schiebt: ‚In welcher Angelegenheit wollen Sie Selbstanzeige erstatten?‘, fragt Koller freundlich.
‚Ich habe den Obernhuber umgebracht.‘
‚Warum?‘, knurrt nun Hauer von seinem Arbeitsplatz herüber – doch er wird keine Antwort auf diese Frage bekommen: Vor dem Büro gibt es einen unüberhörbaren Tumult, schon wird die Tür aufgerissen und ein unrasierter älterer Herr in einem vergammelten Mantel stürmt herein: ‚Ich hab Sie vorhin angerufen. Ich war es. Wenn Sie mich jetzt bitte festnehmen würden.‘

Die beiden Kommissare sind kurz sprachlos und perplex und verwundert und irritiert. Koller fasst sich zuerst, erkennt aber auch gleich, dass es keinen Sinn hat, die beiden mutmaßlichen Täter parallel zu befragen und meint daher: ‚Dann … kommen Sie doch bitte mit.‘
Koller verlässt mit einem der geständigen Mörder das Büro, Hauer weiß nun nicht recht, wie er dieses seltsame Verhör alleine bestreiten soll und ist so fast erleichtert, dass jetzt wieder das Telefon läutet. ‚Oberinspektor Hauer, hallo?‘
‚Guten Tag, mein Name ist Unterbrunner. Ich bin die Mörderin vom Obernhu ... ‚ ertönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, den Kropatschek geistesgegenwärtig aber etwas zu spät abschaltet. Konzentriert hört er der Anruferin zu, meint schließlich zu ihr: ‚Dann kommen Sie bitte aufs Kommissariat.‘
Noch im Auflegen blickt Hauer Herrn Baumann konzentriert und lauernd in die Augen, beginnt langsam und leise: ‚Nun zu Ihnen, Herr Baumann ...‘
‚Die Anruferin lügt. Ich war es ... ich kann Ihnen die ganze Geschichte erzählen.‘
In diesem Augenblick kommt Koller zurück, meint an Baumann gewandt: ‚Warten Sie bitte einen Moment draußen bei den anderen – ich muss kurz mit meinem Kollegen sprechen.‘
‚Aber, ...‘
‚Nix da! Raus!‘

Widerwillig verlässt Herr Baumann das Büro, Hauer wartet einige dramatische Sekunden und enthüllt schließlich seinem Kollegen die neuesten Informationen: ‚Eben hat wieder wer angerufen. Eine Frau. Sie will die Mörderin vom Obernhuber sein.‘
‚Draußen warten auch schon fünf oder sechs. Ganz versteh‘ ich das nicht: Warum wollen die alle den Obernhuber umgebracht haben?‘
‚Keine Ahnung – normalerweise bin ich froh, wenn wir einen Verdächtigen haben. So viele vereinfachen die Sache nicht wirklich.‘
‚Und – wie geht‘s jetzt weiter?‘
‚Na, was sollen wir schon machen? Wir werden sie der Reihe nach verhören, die Aussagen protokollieren, unterschreiben lassen – und sie bei einem Geständnis nach Neustadt bringen. Ich erwarte mir zwar außer viel Arbeit von der Aktion nicht viel, aber – was sollten wir sonst tun?‘
‚OK. Mir fällt auch nix Besseres ein.‘

Es wird ein anstrengender Abend im Kommissariat Reichenau. Es melden sich weitere Geständige, es gibt ein unüberschaubares Gedränge – schließlich müssen Nummernzettel für die Reihenfolge der Verhöre verteilt werden. Einige Mörder gehen dann doch nach Hause, versprechen aber, am nächsten Tag wiederzukommen, wenn nicht mehr so viel los ist. Dabei ist das Spektrum an Mördern weit gestreut: Ursprünglich vor allem der Sandlerszene und dem Rotlichtmilieu zuzuordnen, kommen schließlich auch immer mehr Handwerker, Kaufleute, Gastronomen, Architekten, Behördenvertreter, Künstler, Bankangestellte, Hausfrauen, Anwälte und sonstige Vertreter bürgerlicher Berufe – auch ein Bürgermeister einer angrenzenden Gemeinde ist dabei und ein Landtagsabgeordneter.

Und sie alle behaupten, ein Tatmotiv zu haben, aber kein Alibi, alle wollen es gewesen sein. Die Verhöre reduzieren sich schon aus Zeitgründen bald auf die beiden Fragen ‚Waren Sie es?‘ und ‚Warum?‘, gefolgt von der Aufforderung, das Protokoll mit dem Geständnis zu unterschreiben.
Die meisten unterschreiben auch gleich, einige bestehen darauf, dass auch Details der Tat ins Geständnis aufgenommen werden, was die Prozedur weiter verzögert. Manche melden Sonderwünsche an wie beispielsweise der Anwalt, der sich selbst verteidigen will – zum Zeitpunkt aber über seine Verteidigungsstrategie noch nichts verraten will: Er will sie sich in den Wochen der Untersuchungshaft zurechtlegen. Oder der Bauarbeiter Franz Holler, der zusammen mit dem Lindorfer Eduard eingesperrt werden will: ‚Ich war´s und der Lindorfer Eduard auch.‘

Schließlich überschwemmt eine Welle an Selbstbezichtigungen Reichenau: zuerst regional, später landesweit, schließlich international: Die Mordkommission hat es schließlich mit um die 17.800 Menschen zu tun, die sich selbst der Mordtat bezichtigen – Stand: Ende Jänner. Anfang März sind es bereits 96.700 Täter, die schwören, Manfred Obernhuber in jener trüben Nacht den entscheidenden Stoß versetzt zu haben.
Es ist kein Fall wie jeder andere, noch nie hatte es eine derart unglaublich große Anzahl an Geständnissen gegeben. Am 5. März ist die 100.000er-Marke erreicht, der glückliche Jubilar ist ein 84-jähriger Eskimo – die Bilder der Unterzeichnung seines Geständnisses gehen um den Erdball.
Auch sonst lauert in diesem Fall natürlich überall die Presse: Hauers stereotyp-bissige Antwort auf die bohrenden Fragen der Journalisten ist jeweils: ‚Den Großteil der Täter haben wir bereits gefasst.‘
Anfang April brüstet sich auch der Gouverneur von Ohio, ein ehemaliger Sheriff namens Links, bei den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen für die Liberalen mit dem Slogan ‚I did it‘ und erreicht mit dieser Aussage eine überwältigende Mehrheit, obwohl ihm davor von den Meinungsumfrageinstituten keinerlei Chancen, auch nur die 2%-Marke zu erreichen, eingeräumt worden waren.
Hierzulande beteiligen sich nahezu alle Leser an einer Umfrage der reichweitenmäßig größten Tageszeitung und knapp über 8o Prozent davon wollen den Mord selbst begangen haben, der Rest bezichtigt sich zumindest der Mittäterschaft.

Ende August legt sich die Aufregung etwas, nachdem sich herausstellt, dass die ermittelnden Behörden schlampig gearbeitet haben: Manfred Obernhuber selbst war schon Jahre zuvor im Allgemeinen Krankenhaus eines natürlichen Todes gestorben, wenn Leberzirrhose aufgrund unmäßigen Alkoholgenusses als natürlicher Tod bezeichnet werden kann. Bei dem Toten aus der Pitten handelt es sich vielmehr um Friedhelm Pflaster, einen depressiven Lehrer, der einen mehrere Seiten langen Abschiedsbrief hinterlassen hat, den er persönlich seiner Frau – und in Kopie auch seinem Anwalt und der Polizeidienststelle – zukommen hat lassen. Die Verletzungen hatte er sich auf seiner Unterwasser-Flussfahrt zugezogen, das Blut am Brückengeländer stammt nicht von ihm, sondern von einem Jugendlichen, der mit seinem Moped und überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen war.
Koller und Hauer werden vom Dienst suspendiert und später – auch aufgrund von weiteren haarsträubenden Ermittlungsfehlern – selbst angeklagt und sind so im Dezember die Einzigen, die im Zusammenhang mit dem Fall Obernhuber inhaftiert werden.

Christoph Stantejsky

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