1
Am Anfang war es ein Streit, nicht einmal ein Kampf, geschweige denn ein Krieg. Begonnen hatte die Sache, die sich zwischen Anna und Martin zu einem vernichtenden Krieg auswachsen sollte, als beide dreiundzwanzig Jahre alt waren.
Sie hatten einander vier Jahre zuvor kennengelernt, auf einem Fest auf dem Campus der Universität, an der sie studierten. Anna hatte damals gerade ihr Psychologiestudium begonnen, Martin mit Betriebswirtschaft. Es war eines dieser Feste, die sich dadurch auszeichneten, dass die Lampions tief hingen und die Gläser in die Höhe gehoben wurden. Dieses spezielle Fest fand in einer Vollmondnacht statt. Die Gläser reichten zwar nicht ganz bis an die Lampions heran, doch der Mond und die allgemeine Berauschung hatten zur Folge, dass nur die Allerhässlichsten alleine nach Hause gehen mussten.
Martin hatte Anna angesprochen und sie keck gefragt, ob sie am nächsten Morgen alleine aufwachen wollte.
Sie hatte nur wenige Sekunden um zu entscheiden, welche von zwei Möglichkeiten sie wählen sollte: eine Ohrfeige oder ein Tanz, verbunden mit einem Kuss und einer gemeinsam verbrachten Nacht.
Am nächsten Morgen führten sie ein langes Gespräch über ihre beruflichen und privaten Ziele und kamen überein, es miteinander zu versuchen.
Vier Jahre lang ging das gut, sie kamen auf der Universität gut voran, und auch privat schien alles nach Plan zu laufen. Sie nahmen einander als gegeben, als selbstverständlich wahr.
Eines Tages jedoch brach das Eis, welches das Schweigen über kleine Unzulänglichkeiten des Partners gewesen war, explosionsartig auf. Eine achtlos in die Ecke des Schlafzimmers geworfene Socke Martins war der Zündfunke.
Anna nahm die Socke zum Anlass, ihn mit harschen Worten auf seine sämtlichen Versäumnisse im Haushalt aufmerksam zu machen, derer er sich ihrer Ansicht nach schuldig gemacht hatte.
Martin war erst verdutzt, dann gekränkt, und schließlich verärgert. Er wies sie in ebenso scharfen Worten auf ihre Unzulänglichkeiten hin und auch dafür zurecht.
Zwei Tage lang sprachen sie bloß das Nötigste miteinander, dann setzten sie sich zusammen und sprachen sich aus.
Friede war wieder eingekehrt, doch in jedem von ihnen blieb etwas von diesem Zerwürfnis zurück. In Anna war es der unterschwellig weiterbohrende Ärger über seine Unordentlichkeit, und in Martin blieb der Stachel der Verletzung zurück, so plötzlich und seiner Meinung nach grundlos angeherrscht worden zu sein.
2
Claudia, die Tochter von Anna und Martin, war fünf Jahre alt, als sie sich an der Klinge eines Küchenmessers in den Daumen schnitt. Ihr Vater war an diesem Abend für sie verantwortlich, denn Anna war mit Freundinnen ausgegangen, um auf ihren zwei Wochen zurückliegenden dreiunddreißigsten Geburtstag anzustoßen.
Er desinfizierte die Wunde und wickelte Gaze um sie, sodass sie zuverlässig vor Schmutz geschützt war.
Gegen zweiundzwanzig Uhr kam Anna in angeheitertem Zustand nach Hause. Sie schlich ins Kinderzimmer, um ihrer Tochter einen Kuss zu geben. Unglücklicherweise stieß sie mit dem Fuß an einen Sessel und Claudia erwachte. Stolz zeigte sie ihrer Mutter den eingebundenen Daumen. Anna fragte wie das geschehen wäre, und Claudia teilte ihr mit, dass Martin sie mit dem Messer hatte hantieren lassen.
Die Ohrfeige, die Martin aus dem Schlaf riss, war erst der Anfang.
Anna schlug auf ihn ein und warf ihm vor, das Leben ihrer Tochter vorsätzlich zu gefährden. Martin wehrte sich nicht mit Körperkraft, und nachdem seine Frau aufgehört hatte, ihn zu schlagen, fuhr er sie an. Was sie sich denn einbildete, ihm so etwas zu unterstellen, brüllte er. Kinder würden sich nun einmal von Zeit zu Zeit verletzen, das gehörte zum Aufwachsen.
Der Streit zog sich über eine volle Woche hin, erst dann konnten Anna und Martin wieder eine vernünftige Gesprächsbasis finden.
Ihr Eheleben jedoch hatte erheblichen Schaden genommen.
Martin war vom Gewaltausbruch seiner Frau dermaßen eingeschüchtert, dass er sich ihr kaum körperlich zu nähern wagte. Anna wollte dies auch gar nicht. Sie blockte seine Annäherungsversuche ab und machte es sich zur Angewohnheit, im Wohnzimmer auf dem Sofa zu schlafen. Jedes Mal, wenn Martin sie flehentlich bat, die Dinge doch wieder so werden zu lassen wie sie einst gewesen waren, lächelte sie bloß milde und schüttelte den Kopf.
Eines Abends sprach Martin das Thema Trennung an, da rastete Anna erneut aus. Niemals würde sie sich von ihm trennen, rief sie. Er wäre ein Teil ihres Lebens, einmal gebrauchte sie sogar das Wort Besitz, und sie würde ihn eher töten, als ihn ziehen zu lassen.
Martin war schockiert. Er fragte sie, ob sie das ernst meinte, und als sie bejahte, hatte er zum ersten Mal wirklich Angst vor ihr.
Claudias Wunde verheilte so gut, dass nach zwei Wochen keine Narbe mehr zu sehen war.
3
Im Alter von achtzehn Jahren schloss Claudia das Gymnasium mit ausgezeichnetem Erfolg ab. Anna und Martin lebten danach alleine in ihrer Wohnung, denn ihre Tochter hatte sich für ein Studium in Amerika entschieden. Am Tag nach Claudias Abreise begannen die Dinge aus dem Ruder zu laufen.
Waren Anna und Martin durch die Anwesenheit ihres Kindes noch gezwungen gewesen, wenigstens ein wenig Anstand im Umgang miteinander zu wahren, so konnten sie nun, da sie zu zweit waren, ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf lassen.
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit stichelte sie gegen ihn. Diese Sticheleien waren oft durchsetzt von Suggestivfragen und versteckten Anspielungen - als Psychologin kamen ihr diese leicht über die Lippen.
Martin fand keinen probaten Weg, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Als Betriebswirt war er es gewöhnt, die Dinge nüchtern zu analysieren und sachlich zu diskutieren. Jedes Mal, wenn er ansetzte, genau dies zu tun, hörte sie ihm mit einer Miene zu, in der aufgesetzte Geduld lag. Dadurch vermittelte sie ihm das Gefühl, ein lästiger Patient in einer Therapiestunde zu sein, ein hoffnungsloser Fall, den sie bloß aufgrund ihres Langmutes anhörte - oder weil sie gerade nichts Besseres zu tun hatte.
Er kam sich so vor, wie sie ihn behandelte - wie ein Tölpel. Tatsachen, welche erwachsene, intelligente Menschen in wenigen Minuten besprochen gehabt hätten, breitete sie wortreich vor ihm aus, wie vor einem uneinsichtigen Kind, und stets endeten ihre Ausführungen mit der Phrase, dass er das eben Gehörte doch verstehen müsste.
Damit versuchte sie ihn zur Weißglut zu treiben, und Martin wusste das. Er fragte sich oft, was ihre Beweggründe dafür sein mochten, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er fragte auch Anna einige Male, was sie mit ihren Provokationen bezweckte, doch antwortete sie stets mit triumphierenden Blicken, Worte kamen nicht aus ihrem Mund. Eines Tages, nachdem sie ihm wieder einmal gesagt hatte, dass er ihre Sichtweise doch verstehen müsste und er bloß stumm dagesessen und sie angestarrt hatte, schlug sie ihm ins Gesicht. Er nahm die Ohrfeige stoisch zur Kenntnis, wie er es immer machte, doch etwas in ihrem Blick irritierte ihn. Hatte sie bislang bei solchen Gelegenheiten wütend dreingeblickt, so tat sie dies nun auffordernd, als würde sie seine Reaktion erwarten. Martin indes reagierte nicht.
4
Acht Jahre später sollte sich das ändern.
Sie hatten ihre Wohnung in Zonen aufgeteilt und diese mit Klebeband kenntlich gemacht. Die Sanitärräume und die Küche waren, ebenso wie die Diele, beiden erlaubtes Gebiet, das Wohnzimmer hingegen war streng aufgeteilt. Dies hatte ganze drei Tage Bestand.
Claudia hatte sich überraschend angesagt, ihr Ehemann und ihr Baby kamen auch mit.
Anna und Martin entfernten die Klebebänder und mussten, als sie sich dabei in die Augen sahen, unwillkürlich lachen.
Claudia blieb eine Woche und danach ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Anna und Martin arbeiteten am Tage, und an den Abenden stritten sie.
Anna schlug Martin noch einige Male ins Gesicht, und eines Tages kam er der Aufforderung in ihrem Blick nach. Er schlug zurück. Es war keine allzu feste Ohrfeige, die er ihr verabreichte, doch reichte sie aus, um Anna zu der mit Zufriedenheit geäußerten Feststellung zu bewegen, dass er nach so vielen Jahren endlich aus sich herausgegangen wäre.
Doch es waren zu viele Jahre gewesen. Martin konnte an diesem Abend nicht mehr aufhören, sie zu schlagen.
Michael Timoschek
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