Es war schwül, ein Unwetter kündigte sich an, mein Kopf schickte mir Vorboten um Vorboten. Und noch dazu sollten wir an jenem Tag meine Großmutter begraben.
Oder zumindest bei einem Gottesdienst verabschieden, es würde später eine Urnenbestattung geben. Ich war mit meinen beiden Brüdern unterwegs nach Tirol, wo unsere Oma so viele Jahre gelebt hatte, das Gefühl war mulmig, die Familie unserer Großmutter chronisch zerstritten, mal diese Schwester mit jener, mal redete der Sohn nicht mit der Mutter, mal sie nicht mit ihrer Tochter. Es war eine Art Dauerzustand beim in Tirol ansässigen Teil der Familie, es fiel im Normalbetrieb nicht mehr groß auf. Sie waren laut, sie debattierten gern und leidenschaftlich, auch und vor allem, wie Außenstehenden schien, über Dinge, von denen sie zu wenig wussten. Aber eine Meinung dazu hatten sie gewiss. Und die von anderen gelten zu lassen, galt kaum als verfolgenswertes Ziel. Hauptsache, lautstark zum Ausdruck bringen, was man davon hält, dass der andere überhaupt etwas Abweichendes meinen könnte. Wer mit der höchsten Dezibelanzahl am längsten durchhält, ist der Gewinner, so kannten wir die Diskussionen im Hause unserer Großmutter.
Und nun war sie nicht mehr.
Spannend blieb, wie sich das Treffen mit unserem Vater und seiner zweiten Frau gestalten würde, wir hatten einander zu diesem speziellen Zeitpunkt Jahre nicht gesehen. Und auch die drei Tanten waren uns nicht wirklich vertraut, zu groß der Abstand, räumlich (eine in Deutschland, zwei in Tirol), zeitlich, emotional. Unseren Onkel hatten wir einmal vor ein paar Jahren besucht, er und seine Frau begrüßten uns freundlich, andere Friedhofsgäste blieben im Hintergrund. Unser Vater und seine Frau hielten vor der Aufbahrungshalle Smalltalk mit uns Geschwistern, er fragte mich scherzhaft (?), ob ich denn wieder Nachwuchs erwarte. Ich verwies aufs Wohlstandsbäuchlein und Freude am Essen und ließ die Sache gut sein.
Über dem Friedhof selbst braute sich etwas zusammen, schwarz wie die Nacht ballte sich die Wolkenfaust. Wir waren froh, in die Kirche zu kommen, bevor das Gewitter über uns hereinbrechen sollte. Im Gotteshaus selbst erleuchtete ein Kerzenkranz den Sarg, ein Foto unserer Großmutter war davor aufgestellt, sie schien uns anzusehen, oder machte das das Flackern der Kerzen?
Die Gedenkmesse verlief, was das Wort Gottes betraf, recht unauffällig, bis auf das laute Donnergrollen und die Blitze, die die bunten Glasfenster von draußen schlaglichtartig beleuchteten.
Beides nahm zu, und schließlich war es finster: Der Strom war ausgefallen. Nun tauchte nur noch der Kerzenschein die kleine Kirche in schummriges Licht, und stakkatoartig flashten uns die Blitze. Die Anwesenden murmelten, blinzelten, schauten sich um: Es bleib dabei. Altar und Sarg im Kerzenschein, ansonsten Finsternis. Die Zeremonie endete wohl etwas schneller als geplant, denn die Unruhe im Publikum nahm zu.
Schließlich verließ der Zug die Kirche und kam vom Regen in die Traufe, sozusagen, die Verabschiedung der Trauergäste untereinander verlief kurz und bündig, denn das Unwetter war in vollem Gang. Die Urnenbestattung war für Wochen später vorgesehen, und die meisten aus der Trauergemeinde würden sich ja im Gasthaus, unweit des Friedhofes, in wenigen Minuten ohnehin schon wieder treffen.
Doch auch dieses war nicht verschont geblieben von Weltuntergangsstimmung und Stromausfall: Die Küche war mittlerweile kalt, das Essen halbfertig im oder am Ofen, die Gäste hungrig und aufgedreht, die Stimmung zwischen Gereiztheit, Resignation und Fatalismus angekommen.
Die Anwesenden saßen im Halbdunkel, behalfen sich mit Getränken und waren dermaßen überdreht und strapaziert, dass keiner mehr die Kraft hatte, gegen irgendetwas aufzubegehren, was ohnehin nicht zu ändern war, und so geschahen mehrere Dinge:
Zwei der drei Tanten, die geschworen hatten, ewig kein Wort mehr miteinander zu wechseln, lagen sich schließlich weinend in den Armen. Unser Onkel ließ uns von unserem Vater ausrichten, wir mögen uns doch zu ihnen an den Tisch setzen, und tatsächlich führten wir ein Gespräch miteinander.
Ich legte mich kurz in den Nebenraum auf eine Sitzbank, weil meine Kopfschmerzen unerträglich geworden waren. Und als ich meine Augen wieder öffnete, war der Strom zurück. Nach einer weiteren halben Stunde kamen schön langsam die gefüllten Teller an den Tischen an, man aß, was die Küche in der Geschwindigkeit hergab, und war schlussendlich zumindest gesättigt. Diese Zehrung hatte ihren Namen wirklich verdient.
Danach ging es ans Verabschieden, ab zum Auto meines Bruders, glücklicherweise war das Gewitter inzwischen beinah abgezogen und die Sonne blinzelte schon schüchtern vom Himmel. Wir machten uns auf den Weg nach Norden, circa drei Stunden Heimreise lagen vor uns. Da äußerte ich die Bitte, doch noch kurz einen Abstecher zum Sportplatz zu machen, dort stand das Haus, in dem unsere Oma in einer kleinen Wohnung ihre sechs Kinder ohne Hilfe eines Mannes oder einer anderen erwachsenen Person mehr schlecht als recht großgezogen und das sie bis vor ihrer Unterbringung in einem Pflegeheim schließlich allein bewohnt hatte. Dass ich es sehen wollte, war mir spontan eingefallen, als Abschluss dieses denkwürdigen Tages, und es lag beinah am Weg.
Wir nahmen also die kleine Straße dorthin, und was soll ich sagen … Hätte ich es erfunden, würde ich mich ein bisschen genieren für dieses Klischeebild, aber nachdem es nun einmal so war:
Direkt über dem Haus stand ein prächtiger Regenbogen. Er umrahmte das schmucklose graubeige Gebäude auf wundersamste Weise. Wir schauten, staunten, schwiegen und fuhren nach Hause.
Carmen Rosina
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