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Der Wind der Julier

Mathilda zieht sich ein zweites Paar Wollsocken über ihre Schlafsocken an und in eine dicke Lammfelljacke gehüllt schürt sie das Feuer im Ofen der Stube. Die Kälte wollte in diesem Winter nicht weichen, seit Wochen war das Tal von einer dichten Schnee- und Eiskruste verhüllt. Ihre Finger sind klamm und steif, und sie kann nur mit Mühe Wasser in den Kessel füllen. Aus der Kammer nebenan hört sie leises Wimmern und Husten, die Tochter ist wach. Augustin, der Hund, der in diesem Winter im Haus schlafen darf und der in einer Ecke zusammengerollt geschlafen hat, erhebt sich und tapst zum Bett der Kleinen. Ihm entgeht es nie, wenn ein Kind von Mathilda in Nöten ist.

Aus einigen Lagen Decken und Fellen holt Mathilda die kleine Agatha hervor, zieht Haube, Fäustlinge und Überwurf fest um das Mädchen und stillt das fiebernde Kind. Matthias, der drei Jahre ältere Bruder, der im anderen Bett des Zimmers liegt, öffnet die Augen und steckt sich den Daumen in den Mund. Das Feuer knistert im Ofen, Wasserdampf steigt aus dem Kessel auf und taucht den kleinen, dunklen, verrußten Raum in einen feinen Nebel, das Kerzenlicht am Tisch flackert.

„Wir müssen heute Holz sammeln und Hagebutten ernten, Matthias, hörst du? Du musst mir helfen. Agatha braucht Hagebuttentee, damit sie gesund wird. Unsere Vorräte gehen zur Neige und der Winter ist hartnäckig in diesem Jahr.“

Matthias hüpft von der Pritsche und zieht sich rasch an. Aus der Truhe neben dem Tisch holt er Brot und Käse, ein kleines Stück Geräuchertes und zwei Becher. Mathilda beobachtet ihren Sohn liebevoll und atmet tief durch. Seit dem Tod ihres Mannes im Herbst davor konnte sich ihr Herz nur mehr selten erwärmen, und wenn, dann nur durch den Anblick der beiden Kinder.

Nachdem Mathilda die Hühner, Schafe und Schweine im Stall nebenan gefüttert hat, setzt sie sich mit ihrem Sohn an den Tisch und sie essen die spärliche Mahlzeit. Seit Wochen sind sie und der Kleine hungrig aufgewacht und hungrig zu Bett gegangen. Zum Glück hatte sie noch genug Milch in ihren Brüsten für die kleine Agatha.

Ein sachtes, dunkles Knarzen und gleichmäßiges Poltern ist aus der Richtung des Dobratsch zu hören, als sich Mutter und Kinder auf den Weg machen. Die Tochter fest eingehüllt und mit Tüchern an ihren Bauch festgebunden, stapfen sie mit hohen Stiefeln durch den Schnee.

„Hast du das gehört, Matthias? Dobraci grummelt wieder!“ Der Sohn sieht seine Mutter an und schüttelt leicht den Kopf. „Nein, Mutter, ich höre nichts.“ Sie marschieren entlang des teilweise vereisten Flusses und die Wasserkristalle an der Oberfläche bilden einen glitzernden Nebel. Langsam nähern sie sich dem Fuße des Berges, an dessen Hang Hundsrosen wachsen. Der Hund bleibt schwanzwedelnd vor ihnen stehen und hält inne. Hebt einen Fuß und lauscht. Auch er scheint etwas im Inneren des Berges zu vernehmen. Mathilda stellt den kleinen Korb hin und Sohn und Mutter pflücken die letzten Hagebutten der Sträucher. Augustin streift durch die Büsche und sucht nach Beute, er muss sich selbst versorgen.

Wieder knarzt und pocht es aus dem Berg, die Erde scheint leicht zu beben und der Hund schießt nun winselnd aus dem Gebüsch. Ein starker Wind zieht über die Julischen Alpen kommend in ihre Richtung und wirbelt Schnee auf. Das Kopftuch von Mathilda entschwindet in die Lüfte.

„Was ist das, Mutter? Kommt ein Schneesturm?“, der Sohn klammert sich an das Kleid der Mutter und schiebt sich den Daumen in den Mund. „Ich weiß es nicht, Matthias. Ich höre den Groll des Dobraci schon länger poltern. Jede Nacht werde ich wach davon.“

„Was sprichst du da, Frau! Was für einen Groll hörst du?“ Der Bauersfrau nähert sich mit Riesenschritten der Pater des Dorfes, der wohl ihren letzten Satz noch vernommen hat.

„Gott zum Gruße, Hochwürden.“ Sie senkt ihren Kopf und drückt ihre Kinder an sich.

„Was treibt dich hier heraus bei diesem Wetter, Witwe? Und wieso ist dein Haupt nicht bedeckt?“ Der Pater stemmt seine Fäuste in die Seiten, unter seiner dicken Lammfelljacke quillt ein beachtlich großer Bauch hervor. Seine buschigen Augenbrauen sind zusammengezogen und seine hellgrauen Augen funkeln. Mit einer hastigen Bewegung fegt er dem Jungen die Mütze vom Kopf. „Benehmen, meine Junge! Benehmen! Nimm die Mütze ab, wenn ich mit euch spreche!“ Mathilda drückt ihren Sohn an sich und blickt dem Pastor nun in die Augen, ihr Kinn leicht nach vor gereckt, atmet sie tief ein und aus und die Atemluft malt Kringel in die Sphäre.

„Meine Tochter Agatha hat seit Tagen Fieber, Hochwürden. Wir suchen hier nur Hagebutten für das kranke Kind, und Feuerholz für den Ofen, es geht zur Neige.“ Mit zittriger und etwas zischender Stimme schmeißt sie dem Pfarrer die Worte vor die Füße. Dieser kratzt sich am Ohr und macht einen Schmollmund.

„Soso, Hagebutten. Die Witwe hat Kräuterwissen? Ist sie gar im Pakt mit dem Teufel, Ketzerei? Und warum war sie mit den Kindern nicht beim letzten Gottesdienst?“

„Ich sagte doch, dass die Kleine krank ist. Ich konnte deshalb nicht zur heiligen Messe.“ Der Pastor stapft zwei Schritte näher an Mathilda heran, sodass er dicht vor ihr zu Stehen kommt. Sein weingetränkter Atem schlägt ihr ins Gesicht. Die kleine Agatha beginnt plötzlich zu husten und zu weinen, als der Pfarrer zu sprechen beginnt.

„Der Gutsherr hat mir berichtet, dass du die Abgaben als Hufenbäurin nicht mehr leisten kannst. Es hat den Anschein, als kommst du den Pflichten der Kindererziehung nicht ausreichend nach, sie zu gehorsamen, gottesfürchtigen und bescheidenen Menschen zu erziehen! Ich rate dir, nach Einhaltung des Trauerjahres wieder zu heiraten, ansonsten nimmt das ein schlimmes Ende mit dir, Weib!“ Die letzten Worte spuckt er angewidert aus, er rümpft die Nase und rotzt in den Schnee.

Mathilda wendet sich jäh ab, greift nach dem Korb mit den Hagebutten und stapft mit ihren Kindern zurück ins Dorf. Der Erdboden scheint nun wieder leicht zu beben und das Donnern aus dem Berg und der beißende Wind aus den Julischen Alpen legt zu. In ihren Augen sammeln sich Zornestränen, sie weiß es geschickt, sie zu unterdrücken: Kinn nach vor, Rücken gerade, tief atmen.

Auf dem Heimweg muss sie an ihren verstorbenen Mann denken, der nach etlichen Jahren mit Missernten, eisig kalten Wintern und nach dem Heuschreckeneinfall vor drei Jahren den Mut nie verloren hat. Er war Bauer aus voller Überzeugung und beide schufteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem kleinen Hof, um die Abgaben an den Gutsherren rechtzeitig leisten und um die Familie ausreichend ernähren zu können. Sie weiß, dass sie es alleine nur schwer schaffen kann, denn sie hat keine Unterstützung von Nachbarn und Frauen aus der Umgebung, die sie nur als „die fremde Frau aus Italien“ bezeichnen, weil sie die Schöne, Unnahbare war, die den heimischen Bauern geheiratet hat, den andere wollten.

In der Nacht pfeift ein eisiger Schneesturm ums Haus, der an den Fensterläden zerrt und das Vieh im Stall unruhig werden lässt. Mathilda, Matthias und Agatha liegen eng aneinandergeschmiegt unter vielen Decken, der Hund liegt vor dem Bett, hechelt und spitzt die Ohren. Der Donner, der nun durchs Tal poltert, kommt nicht vom Himmel, er kommt aus dem Inneren des Berges. Mathilda kann es bis in ihre Magengrube fühlen. Tisch und Stühle in der Stube nebenan zittern sachte, die Becher in der Truhe schlagen aneinander. Die Kinder schlafen, nur Mathilda, der Hund und das Vieh im Stall sind hellwach.

Am nächsten Morgen liegt die Schneedecke dicht vor der Haustür und eine grelle Wintersonne scheint vom Himmel, als wäre nichts gewesen. Einzig den Schafen, Hühnern und Schweinen ist nicht wohl zumute und der Hund läuft aufgeregt um den Hof. Mathilda bereitet Hagebuttentee und der Sohn holt die letzten Brot- und Käsereste aus der Truhe. Die Kirchenglocken rufen zum Morgengebet und die Dorfbewohner stapfen durch die Schneewehen zur Messe.

Mathilda tritt vor das Haus und ihre Blicke schweifen über den eindrucksvollen Dobratsch, der sich wie ein Herrscher über das Tal zu beugen scheint. Weiter westlich liegen die Julischen Alpen, die Julier, die nun von der Sonne hell ausgeleuchtet im Hintergrund verharren, als hätten sie noch etwas zu erledigen an diesem Tag. Wieder spürt Mathilda ein leichtes Beben unter ihren Füßen, ein beharrliches Knarzen und ein Stöhnen vom Berginneren.

„Was ist denn bloß los, Dobraci?“, flüstert sie. Eine plötzliche Übelkeit macht sich in ihr breit und sie muss würgen. Ihr Herz beginnt zu rasen und der Atem stockt in ihrer Brust. Mathilda läuft ins Haus, verstaut das spärliche Hab und Gut in ein großes Tuch, packt ihre Tochter ins Tragetuch und drängt ihren Sohn zur Eile. Sie öffnet die Stalltür und entlässt das Vieh in die Freiheit.

„Mutter, Mutter, die Erde wackelt!“, schreit der kleine Matthias. Sie laufen zur Kirche, reißen die Türen auf und Mathilda ruft ins Gotteshaus: „Ein Erdbeben, sofort raus hier!“

Dann geht alles ganz schnell. Mathilda läuft mit ihren Kindern und dem Hab und Gut das Dorf entlang Richtung Passstraße. Sie weiß, sie muss weg von hier. Einige Schafe und der Hund laufen hinter ihr her. Lautes Geschrei von den Dorfbewohnern ist zu hören, aber sie ist längst auf dem Weg. Sie ist unterwegs in ihre alte Heimat Venetien, zu einem kleinen Dorf am Meer, während hinter ihr der Dobratsch zornig stürzt. Einhundertfünfzig Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen schüttet der Berg ins Tal hinab. Die nahe gelegene Stadt steht durch das Erdbeben in Flammen, Flüsse treten über die Ufer und Klöster, Kirchen und Gutshäuser werden zu Ruinen.

Mathilda erreicht mit ihren Kindern nach zwei Tagen Fußmarsch ihr Heimatdorf geschwächt, aber lebend. Der Zorn des Dobratsch hat ihr das Leben gerettet, denn einige Wochen später wird die Pest nach Österreich ziehen und Jahrzehnte danach findet in Kärnten der erste Hexenprozess statt.

Angelehnt an die wahre Begebenheit des Bergsturzes vom Dobratsch am 25. Jänner 1348.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24179

A Sentimental Journey

„In Regen kann’s zwieseln,
aber in Zwiesel kann’s nicht regnen“,
sagtest du dir.
Und wart glücklich zu zweit
auf eurer herbstlichen
Wanderung.

Von einer Bank zur nächsten
durch Wälder und Felder.
Gelb, schwarz und braun
bis zum abendlichen Wein.
Aber ansonsten verlor sich
jede Spur.

Hätte ich dich doch
früher gekannt.
Sagen wir:
Vor einem halben
Jahrhundert.
Mir ginge mein Herz
über
vor so viel Schönheit.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24119

Mein Traum

Still liege ich da, mit offenen Augen, und hänge meinem Traum nach. Wie seltsam und wie seltsam schön er gewesen ist! Ich bin völlig ergriffen, richtiggehend verzaubert, was äußerst selten der Fall bei mir ist. Zuletzt fühlte ich mich so – fällt mir ein – vor ungefähr neun Jahren. Gefühlsmäßig werde ich nun zurückkatapultiert zu diesen Momenten damals, als ich mich ähnlich überwältigt fühlte wie jetzt. Es war am Tag von Mutters Begräbnis. Ein Musiker-Kollege von Mutter sang ein Medley ihrer Lieblingssongs zu ihrem Abschied. Und bei einem der Songs liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht. Unaufhaltsam. Natürlich werden alle, die mich damals weinen sahen, angenommen haben, dass ich wegen Mutter weinte. Doch es war rein jenes fremdsprachige, sanfte Lied, das mich zu Tränen rührte. Um Mutter zu weinen, gab es keinen Grund.

Sie ist immer abwesend gewesen. Es gab kaum Kontakt zwischen uns. Ich bin bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Die Großeltern waren fleißige, einfache Leute. ‚Und du, Kind, bist ganz aus unserem Holz geschnitzt‘, haben sie des Öfteren stolz zu mir gesagt. Mutter aber tanzte aus der Reihe, sie tanzte weit, weit weg von uns. Sie war nicht das schwarze, sondern das buntschillernde Schaf der Familie. Künstlerin war sie, Sängerin, mit Leib und Seele. Ständig war sie unterwegs, irgendwo, auf Tourneen mit ihrer Band. Sie starb bei einem Autounfall, mit reichlich Alkohol und Drogen intus. Ewig nicht daran gedacht. Schnell schiebe ich diese Gedanken weg und spüre wieder dem Traum nach.

Und – wie schön! – ich fühle mich nach wie vor als diejenige, die ich im Traum gewesen bin. Regungslos bleibe ich liegen, um so lange wie nur möglich dieses Traum-Ich zu bleiben. Ich möchte es halten, es mitnehmen in den Tag. Nein, eigentlich möchte ich es nirgendwohin mitnehmen, eigentlich möchte ich mich nirgendwohin bewegen. Ich möchte im Moment bleiben, oder, noch besser, wieder zurückgehen dorthin, wo ich nie zuvor, außer vorhin im Traum, gewesen bin.

Es ist ein mediterraner Ort. Zielbewusst gehe ich durch schmale Gässchen. Um mich: bunte Fensterläden, hohe, blühende Topfpflanzen, lebhafte Stimmen, Lachen, ab und zu knatternde Mopeds. Die Sonne scheint. Warm ist mir. Hübsche Sandalen und ein kurzes, luftiges Sommerkleid trage ich.

Jetzt muss ich schmunzeln. Ich trage nämlich nie Kleider. Immer Hosen. In einem Kleid würde ich verkleidet wirken. Unförmig sowieso. Vor allem würde ich mich für meine dicken Beine genieren.

In meinem Traum aber bin ich schlank, bin ich schön. Alles passt zusammen. Mein Inneres, mein Äußeres und die Umgebung bilden eine harmonische Einheit. Anmutig spaziere ich die malerischen Gassen entlang, mit der Selbstverständlichkeit derjenigen, die diese Wege unzählige Male gegangen ist. Diese Gelassenheit in mir! Und so also fühlt sich Selbstwertgefühl an: leichthin Leute grüßen und ein paar Worte mit ihnen tauschen – ohne die üblichen quälenden Gedanken meiner Realwelt: ‚Wie komme ich an? Was denken die von mir?‘ Mein Traum-Ich wird geschätzt, ja, verehrt, das ist an der respektvollen Art, die mir entgegengebracht wird, klar ersichtlich. Vielleicht bin ich ja Ärztin oder Schauspielerin, auf alle Fälle eine bekannte Persönlichkeit.

Und hier, jetzt, in meinem kleinen Zimmer, knurrt laut mein Magen. Da riecht es nach abgestandener Luft, da zwickt’s mich im Rücken, da stoßen meine Zehen an die harte Bettkante. Aber das wohlige Traum-Gefühl ist noch da, ist abrufbar.

Vor mir erstreckt sich nun ein weitläufiger Platz, in dessen Mitte ein einladender, offener Gastgarten. Runde Tische mit weißen Damast-Tischtüchern, Korbsessel mit blauen Pölstern. Davor eine kleine Bühne. Hinter diesem ganzen Ambiente: Felsen, die Küste, ein tiefblaues Meer. Ich nehme Platz an meinem Tisch in der Mitte des Gastgartens, genieße das Gefühl des Ankommens, des Willkommen-Seins. Andere Gäste grüßen mich wohlwollend, sie scheinen mich zu kennen. Der Kellner kommt lächelnd zu mir: ‚Das Übliche?‘, fragt er. Ich neige leicht und zustimmend meinen schönen Kopf.

Dieser unausgesprochene Respekt, der meinem Traum-Ich entgegengebracht wird!  In meiner Wirklichkeit ist er mir fremd. Weder von meinen Mitmenschen noch von mir selbst erhalte ich ihn. Ich bin eine, die im besten Fall Mitleid erntet, eine, der man, falls man ein gutherziger Mensch ist, helfen will, weil man mir sofort ansieht, dass ich zu jenen gehöre, die zu kämpfen haben, zu jenen, denen nichts in den Schoß fällt, die sich schwer tun im Leben. Eine Naive bin ich, eine Zaudernde, Schwerfällige. Eine unhübsche Dicke. Bestimmt hat Mutter sich geschämt für die uninteressante Tochter, die ihr mit knapp achtzehn – Vater unbekannt – passiert ist. Geschämt sicherlich auch für ihre biederen Eltern. Doch auch umgekehrt empfanden wir sie, die Künstlerin, als Fremdkörper – eine Verrückte, deren unkonventionelle Lebensweise wir ablehnten.

Ich reibe meine Stirn: raus mit diesen unangenehmen Gedanken aus meinem Kopf und zurück in meinen Traum – zurück in den schönen Gastgarten. Selbstbewusst sitze ich in der Mitte des Geschehens. Nun seufze ich selbstmitleidig auf. Normalerweise nämlich, in meinem realen Leben, suche ich überall nach Nischen, in denen ich mich geschützt fühle, setze mich an den Rand, wo ich hingehöre, als Randfigur. Der Kellner serviert mit einer kleinen Verbeugung und einem Scherz mein Getränk, ich lacht laut und unbeschwert.
Um mich sprühen beinahe greifbar positive Energien. Dann wird es still, alle sehen gebannt zur Bühne. Eine wunderschöne Frau mit einem Mikrofon in der Hand steht oben. Sie nickt mir zu, beginnt dann mit samtener Stimme zu singen. Eine sanfte, eindringliche Melodie in einer fremden Sprache. Spanisch, vermute ich.
Sie sieht mir dabei unentwegt in die Augen. Es ist offensichtlich, dass ihre wunderbare Darbietung einzig und allein mir gilt. Als der letzte Ton verklungen ist, lächelt sie mir zu – und so endet der Traum, mit diesem, ja, zärtlichen Lächeln und Blick der Sängerin.

Wieder seufze ich laut auf. Wie unglaublich klar und detailreich mein Traum doch gewesen ist, im puren Gegensatz zu meinen bisherigen Träumen stehend, von denen ich mir, wenn überhaupt, nur verwischte Szenen merken konnte.

Mein Magen knurrt wieder. Nun stehe ich doch auf, ächzend wegen meiner Rückenbeschwerden. Es gelingt mir jedoch, das ungewohnte Hochgefühl durch den Tag zu tragen. Bestimmt auch, weil heute Sonntag ist und ich nicht arbeiten muss. Ich verbringe fast den ganzen Tag auf der Couch, versorge mich mit Pizza, Naschereien und Cola und sehe fern. Abends, als ich die Vorhänge zuziehe und die Nachtlampe einschalte, taucht unvermutet etwas in mir auf. Eine tief in mir gelagerte Erinnerung? Ein Wunschbild? Jedenfalls sehe ich deutlich mein altes Kinderzimmer im Haus meiner Großeltern vor mir. Es ist abgedunkelt, nur der zartgelbe Schimmer einer Nachtlampe fällt in den Raum. Ich sehe mich als winzig kleines Kind in den Armen meiner Mutter. Langsam geht sie mit mir im Zimmer auf und ab, mich liebevoll wiegend, und singt dabei leise und zärtlich ein Lied in einer fremden Sprache.

Mir kommen die Tränen. Aufgewühlt suche ich nach Zigaretten, öffne ein Fenster und rauche. Später dann schalte ich, einem Impuls folgend, den Laptop ein, und suche in abgelegten Ordnern nach dem Video von Mutters Begräbnis, das mir damals, vor neun Jahren, irgendjemand geschickt hat.

Nach ewiger Zeit finde ich es endlich. Noch nie habe ich dieses Video angesehen. Tief atme ich ein und aus, bevor ich auf Start drücke. Dann sehe ich den Friedhof. Mutters Grab. Meine Großeltern, ihre alten, traurigen Gesichter. Daneben ich, mit versteinerter Miene. Ein paar Dorfbewohner hinter uns. Ich sehe mir unbekannte Freunde meiner Mutter, die bewegt leise Abschiedsworte sagen. Und dann Mutters Musiker-Kollege. Das Medley. Klare, eindringliche Melodien. Wie vor neun Jahren muss ich beim selben Lied weinen. Ich erkenne es sofort. Beim ersten Ton. Es ist das Lied von meinem Traum. Dasselbe Lied, das Mutter vor langer, langer Zeit mir, ihrer kleinen Tochter, so zärtlich vorgesungen hat.

Immer wieder spule ich zurück und höre es mir an, präge mir das Lied ein. Dann tippe ich die Worte des Refrains in mein Handy: ‚Mi amada hija hermosa‘. Lasse es auf Deutsch übersetzen. Und lese wieder und wieder die vier Wörter, die schwarz auf weiß da stehen: ‚Meine geliebte schöne Tochter.‘
Sage sie leise vor mich hin, ungläubig, schließe die Augen. Die Traum- und die Erinnerungsbilder von heute tauchen wieder in mir auf und verschmelzen zu einem einzigen Bild. Und dieses Bild breitet sich in meinem Inneren aus und lässt mich spüren, was ich mein bisheriges Leben vermisst habe: Ich spüre Liebe, Wärme und Sicherheit.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23088

Magie im Alltag

Ich erinnere mich jetzt – mit dem Abstand von drei Jahrzehnten – nur noch vage an sie. Zudem könnte ich nicht einmal mehr sagen, wann ich sie das erste Mal bewusst gesehen oder wahrgenommen habe. Wenn sie in meiner Umgebung war, veränderte sich etwas. Damals. Am Anfang spürte ich eine unbestimmte Art der Erregung, eher eine Art Neid oder Aggression auf sie.

Das konnte ich damals aber noch nicht recht deuten.

Als ich sie beim Baden sah oder der Tag, an dem sie mich wie Mozart in ein Gartenhäuschen sperrte. Ich konnte noch gar nicht wissen, wie ich meine Empfindungen einordnen sollte.

Mir war es, als wollte ich sie näher kennenlernen. Aber wollte ich es wirklich?

Der Tag, als ich mich zum ersten Mal verliebt in sie zeigte. Es sollte der letzte gemeinsame Tag sein.

An einen Nachmittag in meiner Schulzeit erinnere ich mich noch. Es war bereits dunkel und ich aß eine Dose Heringsfilet in Tomatensoße. Da fiel mir ein Auto ein, dessen Namen ich gelesen hatte, aber dessen Aussehen ich nicht kannte: Morris Marina von 1972. Ich dachte an einen wertvollen britischen Oldtimer, rassiges Design. Damals dachte ich, dass Autos aus dem Grund der technischen Perfektion entwickelt worden wären. Erst viel später kam die Ernüchterung. Aber der vorgestellte Morris Marina gefiel mir viel besser als die reale Entsprechung. Und das ist auch eine Art Magie im Alltag, die mehr und mehr verlorengeht: die Vorstellungskraft.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23078

Schulgeschichten

Der Lateinlehrer, der dem Schüler sagte, er sei ein „Radfahrer“, und bemerkte „nach oben buckeln, nach unten treten“ und ein paar Klassenstufen später war es ebenjener Lehrer, der diesen Schüler bei einem Referat bloßstellte und einem anderen Schüler, der wegen seines frechen Verhaltens bei den anderen Lehrern sehr unbeliebt war, ständig Komplimente machte („du, dein Vater ist doch Universitätsprofessor“).

Der Geschichtelehrer, der in seinem Unterricht das Prinzip der Hitlerjugend erklärte („und dann marschierten die Hitlerjungen draußen fröhlich und die restlichen Schüler/innen wurden in der Schule mit schweren Aufgaben schikaniert“). In einem Zeitungsinterview über sein Schultheaterprojekt erklärte er später, die Schüler/innen, die dieses Wahlfach gewählt hatten, durften mit ihm viele Städte in Europa besuchen, während die restlichen Schüler im Unterricht saßen.

Der Religionslehrer, der immer vor der Faszination des Nationalsozialismus und der Ideologie der Herrenrasse warnte und später ein Zitat eines modernen griechischen Schriftstellers über die angebliche Überlegenheit der griechischen Sprache verbreitete.

Und ich habe noch heute Hochachtung vor der zierlichen Französischlehrerin, die sich zu unserer Verwunderung am Wandertag im Biergarten Strammen Max bestellt hat und dann auf dem Rückweg verdächtig lange hinter dem Kriegerdenkmal verschwunden ist.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23041

 

Sigurd Sigurdssons Ritterleben

Sigurd Sigurdsson:
Diese Frau gefällt mir außerordentlich, lieber Bruder. Ich möchte sie besitzen!

Kollege des Bruders:
Was hat er denn?

Bruder:
Er erlitt einen Autounfall.

Sigurd Sigurdsson:
Falsch! Mein Streitross warf mich ab.

Bruder:
Hör mal, Stefan. Die Werkstätte hat dir einen Kostenvoranschlag gemailt, 1.317 Euro.

Sigurd Sigurdsson:
Ich ließ mein Streitross doch einschläfern.

Bruder:
Also können sie dein Auto entsorgen?

Sigurd Sigurdsson:
Auto wie automatisch? Interessant. Sag Bruder, was machen wir mit der hübschen Frau?

Bruder:
Eine Heirat ist ausgeschlossen. Sie erhält keine Aussteuer.

Sigurd Sigurdsson:
Schade, sehr schade. Ich werde jetzt ein bisschen mit der Lanze üben.

Bruder:
Auf einem neuen Streitross?

Sigurd Sigurdsson:
Na klar.

Der Ritter mit der roten Atemschutzmaske

Der Ritter mit der roten Atemschutzmaske

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22076

Bertha Benz

Dass Bertha Benz im Jahr 1888 mit dem Benz Patent-Motorwagen Nummer 3 die 106 Kilometer von Mannheim nach Pforzheim fuhr und drei Tage später über eine andere Route zurück, war natürlich ein werbetechnisch geschickter Schachzug. Die Botschaft lautete: „Wenn ein Weibsbild imstande ist, dieses Höllengefährt zu bewegen, dann kann das jeder Mann.“

Die Rapperbadeente mit Propeller

Die Rapperbadeente mit Propeller

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22074

„Extrablatt!“

„Extrablatt, Extrablatt! Die Eilmeldung von den Unruhen in Deutsch-Südwestafrika!“

Extrablatt, Eilmeldung – wahrscheinlich per Telegramm. Was ist da los? Er denkt kurz nach. Klar, wir haben das Jahr 1904, und ich befinde mich in Berlin, der Hauptstadt des Deutschen Reiches und des Teilstaats Preußen. Das Staatsoberhaupt ist der nichtsnutzige Kaiser des Deutschen Reiches und König von Preußen Wilhelm II.

Schlechte Zeiten stehen bevor. Das weiß ich, weil ich aus der Zukunft komme.

Die Afrikanerin mit der Amphore

Die Afrikanerin mit der Amphore

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22063

Man steht am Fenster 2

Oktober 1956, der Ungarn-Aufstand

Vielleicht war in dieser Zeit auch die Rede von Ungarn, vielleicht habe ich etwas aufgeschnappt von der bedrohlichen Situation im Nachbarland, 60 Kilometer von uns entfernt. Die Gefahren durch den Kommunismus waren im Bräuhaus und auch später bei uns in Tulln immer gegenwärtig:
Die Erzählungen vom Leben in der sowjetischen Besatzungszone, von der Zonengrenze auf der Ennsbrücke, die Onkel Klaus und seine Bierführer einmal in der Woche passieren müssen, vom Putsch der gefährlichen Kommunisten in der Tschechoslowakei. Alles nicht weit weg. Und jetzt ging es um Ungarn, noch näher. Sicher verstand ich nichts von der politischen Situation, aber nur das Wort „Kommunismus“ ließ alle Alarmglocken klingeln. Die Erwachsenen senkten ihre Stimmen und machten sorgenvolle Gesichter. Es hatte immer mit Krieg zu tun, mit Flucht, Gefangenschaft, Stalingrad und Sibirien. Das hatte ich mit meinen acht Jahren schon oft gehört und die Angst der Erwachsenen im Raum mitschwingen gespürt.

Nach dem Abendessen, dem gemeinsamen Rosenkranz und dem Singen verteilten wir uns auf unsere Zimmer. Hedi und ich bewohnten die „kleine Mansarde“. Sie war sechs, ich acht. Papa kam später noch zu uns herauf. Er sang Lieder und rezitierte Verse. Er machte Spompanadeln mit Worten und Gesten. Er konnte manche Kinderbücher im Ganzen auswendig aufsagen, in Reimen und mit Melodien unterlegt. Immer mit einem dramatischen Getue, das uns zum Lachen brachte. Er sprach keine tröstenden oder beruhigenden Worte direkt aus, sondern machte Spaß mit lustigen Wortspielen. Er war der erste Rapper aller Zeiten. Er konnte uns ablenken und verzaubern wie ein Kartentrickser, nur mit Worten. „Puckerl und Muckerl“ hatte er vertont, indem er es mit der Melodie von Hänsel und Gretel unterlegte. Hedi schlief meist schnell ein. Ich flüsterte noch lange mit meinem Vater, der am Bettrand saß.

Papa, kommt der Krieg zu uns? Nein, niemals. Warum? Weil sie nicht dürfen. Aber die Buben, die Brüder, machen oft etwas, was sie nicht dürfen. Ja, weil sie Kinder sind. Die Russen und die Ungarn, sind das große Kinder, die tun, was sie nicht dürfen? Nein, das sind Staaten, und da passen alle anderen auf, dass sie nichts tun, was sie nicht dürfen. So ging das hin und her, bis auch mir die Augen zufielen.
Aber ich schlief nie sofort ein. Ich hatte mir mit den Fingernägeln in der Wand Gräben ausgekratzt. Zum Teil durch den porösen Verputz, zum Teil entlang der hellgelben Kringel der Malerei. Als ich kleiner war, fuhr ich dort die Reisen des Florians über die Tapete von Franz Karl Ginzkey nach, die Papa sehr dramatisch und komisch vortragen konnte. Jetzt grub ich dort Tunnel und Höhlen aus, in denen ich mich vor den Kommunisten verstecken konnte. Aber ich war nirgends sicher, denn vom Bett meiner Schwester kam ein leises, aber ununterbrochenes Geräusch des Mahlens. Sie mahlte ihre Zähne aufeinander, dass ich dachte, in der Früh müsse Mehl neben ihrem Bett liegen.

Mein Vater war Katholik, Pazifist, Kriegsteilnehmer, der keine einzige Kugel abgeschossen hat, ein amerikanischer Kriegsgefangener und Spätheimkehrer. Altphilologe, Germanist, Philosoph, Lehrer und Autor, getragen von hohen Aspirationen im akademischen Leben, geschlagen mit sieben Kindern und einer psychisch angeschlagenen Frau, meiner Mutter.

Einmal spielte ich mit den jüngeren Geschwistern Hedi und Franzi im Garten. Fangen, Verstecken, Nachlaufen, Bäumekraxeln. Ich war ziemlich weit oben im Weichselbaum, er war schon kahl im Oktober. Ich hing in einer bequemen Astgabel mit einem Querast, an den ich mich mit den Händen klammerte. Da schwebte über mir plötzlich ein Fluggerät. Ein Hubschrauber oder ein Flugzeug, eines oder viele, geräuschvoll oder stumm, kreisten sie oder standen über mir, bereit zum Angriff, uns zu vernichten. Das weiß ich nicht mehr. Jetzt sind die Russen da, die Gewissheit, und ich ließ den Ast los. Ein kurzes Empfinden von Segeln, und dann war ich schon tot. Den Aufprall auf der Wiese unter dem Weichselbaum spürte ich nicht mehr.

Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, stocksteif. Wassergüsse und Wangentätscheln, Rückenklopfen und Pulsfühlen, alle Geschwister sprachen auf mich ein, die Kaninchen des ältesten Bruders schnupperten an meinem Gesicht herum, seine Barthaare kitzelten. Die Eltern wickelten mich in eine Decke und verfrachteten mich ins Bett. Tee, Honigmilch, Suppe, Gesänge und Gebete, Puckerl und Muckerl und die Reise des Florian über die Tapete, das Zähnemahlen meiner Schwester. Alles vermischt und weit entfernt. Die Familiengeschichte sagt, ich habe drei Tage und Nächte geschlafen und danach einige Zeit nicht gegessen und nicht gesprochen.

Da war schon alles vorbei, der Ungarn-Aufstand und die Ungarn-Krise. Die Flugzeuge und Hubschrauber hatten nicht die Russen in Ungarn über uns kreisen lassen, sondern sie kamen vom „Fliegerhorst Langenlebarn“ fünf Kilometer entfernt. Das österreichische Bundesheer hatte sie aufsteigen lassen, damit sie nicht am Boden zerstört werden konnten. Also war ich damals nicht die Einzige, die vor den Russen Angst gehabt hatte. Das verstand ich erst viele Jahre später. Der „Flughafen Langenlebarn“ lud zu jedem „Tag der Fahne“ am 26. Oktober zu einer Schau ein. Wir Kinder durften auf Panzer klettern, Flugzeuge und Hubschrauber besichtigen und bekamen Gulaschsuppe aus der Gulaschkanone. In meiner Erinnerung gibt es bis heute keine bessere Gulaschsuppe auf der Welt.

Danach kamen die Flüchtlinge. Ins Haus, in die Schule, ins Pfarrheim und ins Judenauer Schloss. Redda barnen, mit vielen fröhlichen blau-gelben Wimpeln. Die Schweden waren so freundlich, dass ich ihnen meine Lieblingspuppe, mein einzige Puppe damals, die Lotte, überließ, für die Ungarn-Kinder. Sie sagten bei jeder Spende, die wir ins Schloss brachten: Jegelskedeg, so wie der Mesner in der Kirche mit dem Klingelbeutel sagt: Vergelts Gott, Gott vergelts. Meine Schwester trennte sich von ihrer Kuscheldecke, mein kleiner Bruder von seinem Matador-Baukasten. Wir waren sieben Kinder in einem nicht übergroßen Haus, aber Zsuzha wohnte bei uns, und sie blieb mir fast bis zur Matura die „beste Freundin meines Lebens“.

Ich war sehr unglücklich über den Verlust meiner Lotte und malte mir aus, dass sie auf eine schöne, weite Reise gegangen ist, vielleicht bis ins freundliche Land der Schweden. Redda barnen und jegelskdeg, das war Schweden. Das hab ich nie vergessen, und erst sehr viel später erfahren, was jegelskedeg bedeutet. Zumindest so habe ich das gehört. Mehr Schwedisch habe ich nie erlernt und bin leider noch nie dort gewesen.

Teil 2: 28.2. - 1.3.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22047

McDonalds, 22 Jahre am Puschkin-Platz, Ende am 9.3.22

Es bietet sich ein eigenartiges Bild. Im bitterkalten Jänner 2000 stehen tausende Moskauer auf dem Puschkin-Platz. Ein Ort um das Denkmal für den Dichterfürsten, wo sich traditionell Menschen zu Festen und Protesten versammeln. Schon Dostojewski hielt dort seine historische Rede zum 100. Geburtstag, in den revolutionären Tagen von 1905 und 1917 war das ein Versammlungsort, wo die Massen gegen Hunger und Krieg protestierten. Immer große, wild durcheinander wogende Menschenknäuel, mit Transparenten und Schildern. Die Stufen und der Sockel des Denkmals sind auch zu normalen Zeiten immer mit Blumen belegt, im Sommer verwelkt, im Winter erfroren, aber immer frisch die Verehrung.

Seit Gorbatschows Lockerungen mit Glasnost und Perestroika ab 1985 diente der zentrale Puschkin-Platz für die täglichen Demokratie-Kämpfer. Man hatte den Eindruck, dass manche Hauptstädter dort Tag und Nacht leben.

Aber das Bild an diesem kalten Jännertag war anders. Keine buntgewürfelten Menschenmassen, sondern lange Schlangen, ein Mensch hinter dem anderen, umrundeten ein Gebäude an der Südwestecke und wanden sich in gewundenen Spiralen durch alle Nebengassen. Es lag eine eigenartige Stille und Spannung über diesem Menschengemenge. Für Moskauer Verhältnisse eine ungewöhnliche Ordnung und Disziplin, viele Menschen mit Kindern, pelzeingemümmelt in Kinderwägen oder an der Hand ihrer Eltern oder Großeltern. Mir kamen sie vor wie eine gezähmte Schar von Bären. Es muss einen Lottogewinn geben.

Die pelzbehüteten Köpfe reckten sich und waren ausgerichtet nach dem großen Ecklokal mit Fenstern, in denen gelbe Bögen prangten. Alles wartete mit hoffnungsvollen Gesichtern auf die Sensation. Ganz Moskau schien auf den Beinen zu sein: Es sperrte die erste Filiale von McDonalds auf! Als ausländisches TV-Team waren wir unter den ersten, die ganz vorne hineindurften. Als sich die Türen öffneten, brach das Chaos auch. Ich fürchtete um mein Leben in diesem Gedränge. Die Leute waren wie wilde Tiere, Mütter und Babuschkas kämpften wie die Löwen, seriöse Familienväter setzten Fäuste und Ellbogen ein, es waren einfach alle verrückt nach McDonalds. Das Personal war so heillos überfordert von diesem Ansturm, dass es nicht einmal die Miliz herbeirufen konnte. Mein Team war so bedrängt, dass es kaum zum Filmen kam. Einige Bilder von diesem zeitenwendenden Event gelangen doch, und wir brachten sie über den Sender in die Welt.

Ich versuchte herauszufinden, was McDonalds für das postsowjetische Russland bedeutete. Ein Mythos, eine Ikone der westlichen Welt, eine neue Konsumkultur, große Erwartungen und Illusionen. Welche? Endlich in den Mahlstrom des Rests von der Welt zu gelangen. „Normalno“ zu werden, das hörte ich damals am häufigsten. Ein normales Leben in einem normalen Land wie alle anderen auch. Meine Tochter damals hatte den besseren, unverstellten Blick. Kurze Zeit später beobachtete sie das Treiben im McDonalds am Puschkinplatz und berichtete mir davon. Die Russen spinnen, sie tun so, als würden sie ihre Kinder mit den Pommes und Chickennuggets wie mit Goldbarren füttern. Goldrausch. Sie sind festlich angezogen wie für einen Kirchenbesuch. Die Kinder sperren ihre Mäulchen auf, und sie versenken andächtig die Pommes wie Vogeleltern Würmer und Insekten in die Goldkehlchen.

Die Bilder vom Puschkinplatz am 9. März 2022 sehe ich von meiner Wiener Couch aus. Sie ähneln sich, wieder viele Eltern und Großeltern mit Kindern, die Kleidung ist besser, wieder in Schlangen rund um den Puschkinplatz und seine Nebenstraßen, nur die Gesichter sind anders. Nicht mehr hoffnungsvoll nach oben gerichtet, sondern auf den Boden, wie Verurteilte.

Es ist der 14. Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine. Die letzten Hamburger, die letzten Pommes, das letzte Cola, denn auch Coca-Cola zieht sich aus Russland zurück. McDonalds schließt seine erste Filiale am Puschkinplatz und weitere 850 im ganzen Land.

10.3.22

Veronika Seyr
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