Schlagwort-Archiv: drah di ned um …

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Novemberwind

Ein blauer Wind, der rüttelt
am Fenster hier im Raum.
Es ist, als ob er schüttelt
mich aus dem dunklen Traum.

Zurück das Bett ich lasse,
werf mir den Mantel um.
Steh zitternd auf der Gasse
und blicke stumm herum.

Warum an diesem Ort,
allein in kalter Nacht?
Weiß es nicht, doch muss ich fort;
hier werd ich umgebracht.

Ich bitt dich, blauer Wind,
antworte – dann find ich Ruh!
Da dreht er sich geschwind
einer andren Richtung zu.

Bernd Watzka
Live-Termine

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 24157

 

Blaue Mitzi

Wer hat die „Blaue Mitzi“ vergiftet?
Obwohl der Theologe Gerhard Lohfink sagt, dass man einen Krimistoff „ganz sicher nicht“ in Gedichtform schreiben kann.

Es war beim letzten Pfarrcafé – beliebt bei den Senioren
Da hat Maria Wanzenböck – ihr Lebenslicht verloren
Der „Blauen Mitzi“, wie sie hieß – weil sie stets Blau getragen
Hat nach viel Bäckereigenuss – sich umgekehrt der Magen
Ihr scharfes Auge trübte sich – in ihrer letzten Stunde
Die Zunge, die gefürchtet war – hing bleich aus ihrem Munde

Der alte Doktor hat sofort – die Brauen hoch geliftet:
„Das war kein Tod durch Herzinfarkt – die Mitzi ist vergiftet!“
Man holt sie ab und montags ward – die Mitzi obduzieret
Der Pathologe hat sofort – ein Pflanzengift erspüret
Es brodelte im ganzen Dorf – an jenem Montagmorgen:
„Wer war der Blauen Mitzi feind? – Wer wollte sie entsorgen?“

Wer hatte die Gelegenheit? – Und Gift aus welcher Pflanze?
Wer war zur Zeit am rechten Ort? – Und wie geschah das Ganze?“
Der Täter musste kundig sein – die Zeit war knapp bemessen
Es ist in einer Stunde tot – wer von dem Gift gegessen
Und wie, um Himmels Willen, kam – es dann in Mitzis Magen?
Den Gästen von dem Pfarrcafé – stellte man viele Fragen

Die Todesdroge fand man bald – in Mitzis Blumengarten
Je schöner hier der Blütenflor – je giftiger die Arten
Vom Seidelbast zum Fingerhut – der Eisenhut und Eibe
Sie pflegte mit viel Sachverstand – was man sonst besser meide
Daneben pries man weit und breit – Marias Mehlspeisküche
Es schwamm das Dorf zur Festeszeit – in süßen Wohlgerüchen

So buk sie auch zum Pfarrcafé – die guten Anisbögen
Ein zartes Biskuit-Gebäck – das viele Leute mögen
Die Mitzi hatt’ beim Pfarrkaffee – noch etliche gekostet
Und gut gelaunt der Gästeschar – mit Süßwein zugeprostet
Wie ist nun diese Tat gescheh’n – wer ist der böse Mörder?
Die Sache muss ans Tageslicht – und lange eing’sperrt g’hört er

Vom Fingerhut den Samen hat – vorm Aufbruch Mitzis Gatte
Mit Honig auf das Stück geklebt – das sie gekostet hatte
„Jetzt steh net rum und hilf mir trag’n – es is schon halber viere!“
So herrschte sie den Gatten an – und schloss sogleich die Türe
Das Maß war voll, seit vierzig Jahr – trug er der Ehe Bürde
Nun kauft er einen Jaguar – und ist ein Mann mit Würde

Doch hat des Schicksals hohe Macht – die Untat nicht vergessen:
Er hat sich mit sein’ Jaguar – drei Wochen drauf derstessn!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 23108

Die überdrehte Wäscheleine

Ich bin schon gespannt zum Zerreißen
Wie könnt’ ich da Leine noch heißen?
Ein Höschen nur auf mich gehänget
Und schon wär ich gänzlich zersprenget!

Was ist bloß aus mir geworden?
Einst trug ich den Höschenbandorden
Für leichte bis Mittelgewichte
Hört her, was ich euch berichte:

Verflucht sei der Tag als der Spatz kam
Und einfach so auf mir Platz nahm
Ich fragte ihn, ob’s auch bequem
Er drauf: Man werd’ es ja seh’n

Ob meine Kräfte auch fassten
Sein Spatzengewicht schweres Lasten
Gewöhnt sei er Ankertrossen
In Häfen voll Haien mit Flossen

Nur elementaren Tauen
Könnt’ er sich als Spatz anvertrauen
Ich schämte mich in den Kardeelen
(Dort sitzen bei Leinen die Seelen)

Er merkte, wie sehr ich mich schämte
Er plusterte sich und er gähnte:
„Hätt’st du etwas von Tauwerken
Du würdest dich, um dich zu stärken

In dichteste Schlingen legen
Und fest um dich selber drehen
Doch bist du ja bloß eine Leine
Von denen, da hält mich keine!“

Flog auf und er zog gegen Norden
Um andere Leinen zu morden
Unzählige schmerzhafte Stunden
Hab ich mich seit damals verwunden

Ich wand mich in Wahn und von Sinnen
Um aus mir ein Tauwerk zu spinnen
Da plötzlich, da hörte ich Stimmen:
„Die Lein da, die wird bald zerspringen!

Einst hat sie uns Amseln geschaukelt
Jetzt hat ihr der Spatz was gegaukelt
Seitdem ist sie ganz vermessen
Verspannt und von Ehrgeiz zerfressen

Und doch wird sie keine von denen
Mit Stahlkern und stählernen Sehnen
Die sich nur auf eines verstehen:
Immer im Dienst und nie dehnen!

Wie locker hatt’ sie’s doch als Leine
Mal ihre Höschen, mal seine
Doch das wird wohl nie mehr gescheh’n
Was musst’ sie sich auch um sich dreh’n?“

Da kam ich mit Ruck zu Verstand
Ach, Mensch, leih mir doch deine Hand!
Zerschneide mich mit deiner Schere
Und lasse mich fallen ins Leere!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 22072

Mit Betonpatschen im Hudson River

Man muss als Geschäftsmann schon einiges aushalten. Wenn er zum Beispiel als Beifahrer mit einem neuen Mitarbeiter mitfährt, um zu sehen, ob er ein Auto sicher bewegen kann, und dieser Mitarbeiter spielt in infernalischer Lautstärke Hottentottenmusik. Hottentottenmusik, klingt das nicht total altväterlich? Der Chef muss sich unbeeindruckt vom Lärm geben, sonst hält der Mitarbeiter ihn für ein Weichei. Oder der Geschäftsmann wird tagelang in einem Bus über chinesische Schotterstraßen kutschiert. Für mich ist das business as usual, muss er dann zeigen, oder am besten gar keine Reaktion. Er darf auch nicht bei superkurvigen indischen Schauspielerinnen im weißen Häkelkleid schwach werden, oder nur, wenn kein Mitarbeiter dabei ist. Auf gar keinen Fall! Sollte sich das Arbeitsblatt einmal wenden, ist der Chef erpressbar. Käme es zu diesem Fall, kann er dem Mitarbeiter oder ehemaligen Mitarbeiter nur klarmachen: „Mir scheißegal, wenn meine Alte das weiß.“ Oder: „Mein verschlagener Untergebener oder Ex-Untergebener, willst mit Betonpatschen im Hudson River enden?“ Will doch keiner, also könnte die Sache hiermit geritzt sein.

Hongkong am 9. Mai 2005

Hongkong am 9. Mai 2005

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 22025

Herr Puffigbrunner und die elektronische Fußfessel

Rrring-rrring-rrring. „Guten Tag, hier ist die gerichtliche Auskunft des Landes Kärnten. Wie kann ich helfen?“ „Ja, grüß Gott, werte Dame, mein Name ist Puffigbrunner, ich trage eine elektronische Fußfessel. Dazu hätte ich eine Frage.“ „Kein Problem, Herr Pu …“ „Puffigbrunner“, ergänzt Herr Puffigbrunner. „Ja, genau, Herr Puffigbrunner, ich leite Sie zu Herrn Dr. Kastenbrod weiter. Er ist der Experte dafür.“ Tüüt-tüüt-tüüt-tüüt-tüüt-tüüt-tü.

„Mahlzeit, Dr. Kastenbrod am Apparat, welcherart ist Ihr Anliegen?“ „Grüß Gott, Herr Dr. Kastenbrod, mein Name ist Puffigbrunner, ich bin Träger einer elektronischen Fußfessel. Ich möchte baden gehen. Ist das erlaubt?“ „Wo wollen Sie baden gehen, Herr Puff …?“ „Puffigbrunner“, sagt Herr Puffigbrunner. „Herr Puffigbrunner, In der Badewanne? Falls das Ihre Frage ist: Die elektronische Fußfessel ist wasserdicht.“ „Nein, nein, ich möchte im Wörthersee baden.“ „Aha, ich verstehe“, sagt Herr Dr. Kastenbrod, „wie wäre es denn zusätzlich mit Wakeboarden, Bungee Jumping oder Hindernisreiten? Würde das Ihren Ansprüchen genügen? „Bungee Jumping kommt für mich leider nicht infrage, weil ich höhenscheu bin“, sagt Herr Puffigbrunner.

„Hören Sie, Herr P., Sie sind Häftling. Dass Sie eine Fußfessel tragen, ist ein Entgegenkommen der Gerichtsbarkeit des Landes Kärnten. Aber wenn Sie unzufrieden sind, ist das auch in Ordnung, Sie können sich gern in Strafhaft begeben.“ „Nein, nein, nein, ich bin plötzlich sehr glücklich mit meiner Fußfessel, Herr Dr. Kastenbrod. Ich sehe sie nun als liebe Freundin, die ständig bei mir ist.“

Bootsverkehr auf dem Wörthersee am 21. August 2021

Bootsverkehr auf dem Wörthersee am 21. August 2021

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 22003

Der Hut

Der Hut schwimmt auf dem Wasser, vom böigen Wind getrieben. Ein schwarzer Schlapphut, nennt man den nicht Borsalino?
Es sieht aus, als liefe jemand mit einem Hut auf dem Kopf unter der Wasseroberfläche. Vielleicht ist es so. Nicht, dass da jemand unter Wasser läuft, natürlich. Aber dass da mal jemand unter dem Hut war, der jetzt nicht mehr da ist.
Da ist jemand ertrunken. Der Hutträger liegt ertrunken auf dem Grund des Sees. Ganz sicher.
Was soll er jetzt tun? Hilfe holen, klar. Aber wenn der schon tot ist, dann eilt es nicht. Dem kann niemand mehr helfen.

Sascha will in nichts hineingezogen werden. Man weiß ja, wie so was läuft. Nachher soll er noch schuld sein am Tod des Mannes. Sascha hat oft genug Tatort gesehen, er kennt sich aus. Wie schnell werden Unschuldige vor Gericht gezerrt. In Amerika werden Unschuldige sogar zum Tode verurteilt.

Nein, das ist nichts für ihn. Und wie gesagt, dem Ertrunkenen ist nicht mehr zu helfen.
So einen Hut trug der Pate. Ein Mafiahut!
Sascha bekommt eine Gänsehaut. Das ist ja noch schlimmer. Bezahlte Mafiakiller werden ihn verfolgen. Er verliert sein Leben, seine Familie verliert den Ernährer.
Dann lieber Gefängnis. Seine Kinder werden ihn verleugnen, aber besser als der Tod. Sascha hat gar keine Kinder, übrigens auch keine Frau, aber das tut ja nichts zur Sache.

Sascha schaut sich um. Er wird sich nicht einmischen. Das ist das Beste. Sich raushalten. Seine Ruhe haben.
Niemand zu sehen. Er kann sich verdrücken. Er hat nichts gesehen, nichts gehört, er weiß von nichts. Soll doch der Nächste, der vorbeikommt, die Polizei rufen. Soll der unschuldig ins Gefängnis wandern und auf dem elektrischen Stuhl enden. Oder im Kugelhagel umkommen. Er, Sascha, hat nichts damit zu tun.
Sascha wirft einen letzten Blick zum See. Der Wind ist noch stärker geworden und treibt den Hut immer näher heran. Jetzt aber weg.

Sascha dreht sich um. Und wird beinahe von einer Radfahrerin umgefahren. Sie kann ihm gerade noch ausweichen.
„He, passen Sie doch auf! Wollen Sie mich umbringen?“ Was sagt er denn da? Sein Herzschlag stolpert. Schweiß rinnt bis in seine Schuhe.
Er ist entdeckt. Heutzutage sind sogar die Killer weiblich.
Die Frau wirft ihr Rad ins Gras.  Sascha fällt auf die Knie, streckt die Hände in die Luft. Schon hört er das Zischen der Kugeln.  Sein letzter Gedanke, bevor sie ihn in sein nasses Grab schickt, gilt seinen ungeborenen Kindern.
„Sorry”, sagt die Frau, springt ans Ufer, fischt den Hut aus dem Wasser.
„Meiner“, ruft sie.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 21077

Voller Einsatz

Eine Menschentraube auf der Straße vor dem Haus. Polizei, Feuerwehr, THW, Rettungswagen, Notarzt vor ihrer Haustür.
Ein trommelfellzerfetzender Pfeifton, schrill und irgendwie bekannt, dringt an ihr Ohr und in ihr Hirn. Pia lässt ihre Taschen fallen, drängt sich durch die Menschen. Was ist mit Otto?

Feuerwehrleute, Polizisten, Krankenpfleger, alle laufen durcheinander. Keiner achtet auf Pia. Ihr wird übel, ohne Vorwarnung erbricht sie alle Mahlzeiten des vergangenen Tages über die Füße eines vorbeieilenden Notarztes.
„Geht’s noch?”, ruft der und klammert sich an Pia, sodass beide zu Boden gehen. Dort liegen sie Brust an Brust, sprach- und atemlos.
In Pias Nase mischt sich der Duft ihres Mageninhalts mit dem seines Rasierwassers. Aber Rauch riecht sie nicht.

„Ich muss zu Otto”, ruft Pia und versucht, aufzustehen.
„Sie können da nicht rein.” Der junge Arzt bleibt einfach liegen, als hätte er sonst nichts zu tun.
„Wir haben alles unter Kontrolle”, ruft da ein Feuerwehrmann. „Kein Brandherd auszumachen. Wir gehen jetzt rein.”
Wut, Angst und Gestank verleihen Pia Kraft. Sie befreit sich, springt auf und rennt den Feuerwehrleuten, die nun ins Haus eindringen, hinterher. Niemand hält sie auf.
Im Treppenhaus wieder dieser gänsehautverursachende Pfeifton, noch viel lauter. Und er kommt Pia so bekannt vor, wo hat sie ihn schon einmal gehört?

Sie erreicht vor den Männern, die jede Etage sichern, ihre Wohnungstür im Dachgeschoss. Immer noch kann sie keinen Rauch riechen. Von unten hört sie jemanden rufen: „Hier sind keine Rauchmelder. Wir suchen weiter.”
Jetzt weiß sie, woher ihr der Ton bekannt ist.
Pia stürmt in ihre Wohnung.
Hier ist das Pfeifen lauter als bisher. Ihre Blicke suchen nach Otto. Finden ihn.
In der Ecke des Zimmers, auf der Lehne ihres Ohrensessels, hockt er.
Er reißt den Schnabel auf und wiederholt seine perfekte Imitation ihres Rauchmelders.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 20108

Haus am Meer

Eine sanfte Brise lässt die Gardinen an der Verandatür flattern, Antonia genießt die kleine Abkühlung nach dem heißen Sommertag. Sie legt das Buch zur Seite und tritt auf die Terrasse. Nur das Rauschen des Meeres ist zu hören, dann senkt sich die Nacht über die kleine kroatische Insel.

Im benachbarten Gebäude sieht sie Licht im Obergeschoß, leise Musik ist zu hören.
Seit zwei Tagen ist sie hier.
„Mache Urlaub am Meer, das wird dir gut tun! Und lass um Himmels Willen Smartphone und Tablet daheim, du bist überarbeitet und kommst sonst noch auf blöde Gedanken“, meinte ihr Cranio-Therapeut bei ihrer letzten Sitzung. Er reichte ihr ein Prospekt, auf dem drei kleine Häuser direkt am Meer zu sehen waren. Sie sind in einem Halbkreis angeordnet und liegen ca. zehn Minuten Fahrzeit von einer kleinen Ortschaft entfernt. Antonia war sofort begeistert, sie liebt das Meer.

Gestern ist im Nachbarhaus jemand eingezogen, das dritte Haus steht leer. Antonia konnte nur kurz einen Blick auf die Frau werfen. Lange, mahagonifarbene Haare, die in leichten Wellen den ganzen Rücken bedecken, ein weißes, wehendes Sommerkleid um den schlanken, hochgewachsenen Körper und Flip-Flops an den zarten Füßen. Sie schätzt die Frau auf dreißig Jahre.

Ein lautes Klappern lässt Antonia hochschrecken. Die Frau im Nachbarhaus hat die Fensterflügel geöffnet und dabei eine Blumenvase umgestoßen. Kurz ist sie zu sehen, sie stützt sich mit einer Hand auf das Fensterbrett, mit der anderen hält sie eine Seite des Gesichtes bedeckt. Sie schüttelt sachte den Kopf. Die Musik dringt an Antonias Ohr. Sie erkennt „Die Moldau“ von Friedrich Smetana. Antonia geht zum Gartenzaun:
„Hallo? Ist alles in Ordnung?“ Die Frau erschrickt und starrt Antonia an, dann dreht sie sich um und verschwindet im Raum.
„Wer nicht will, der hat schon“, denkt Antonia kopfschüttelnd.

Am nächsten Morgen geht sie eine ausgedehnte Runde schwimmen. Das macht sie gerne vor dem Frühstück. Im Nachbargebäude ist es noch ruhig. Die Sonne glitzert im spiegelglatten Meer, es scheint wieder ein heißer Tag zu werden. Um die Mittagszeit, Antonia liest gerade in einem Buch, steht dann plötzlich die Frau im Garten und schaut auf das Meer hinaus. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand umwickelt sie Strähnen ihrer langen Haare, ihre Bewegungen sind monoton und der Blick ist starr aufs Wasser gerichtet. Leise summt sie ein Lied. Antonia macht sich durch ein Rücken des Gartensessels bemerkbar. Die Frau dreht sich um und lächelt:
„Ein schöner Tag, oder?“, ihre Stimme ist leise und zittrig.
„Guten Tag, ich heiße Antonia. Ja, es ist wunderschön hier auf der Insel.“
„Mein Name ist Elisa.“ Sie nähert sich dem Gartenzaun, hält den Kopf nun seitlich und begutachtet Antonias Verandatisch.
„Acht Stufen.“
„Wie bitte?“, fragt Antonia verwundert.
„Acht Stufen, vom Garten bis zum Meer. Endlich und unendlich. Eine magische Zahl.“

Antonia sieht nun die wunderschönen, smaragdgrünen Augen ihrer Nachbarin und den ebenmäßigen Teint. Sie wirkt zart und zerbrechlich. Ohne ein weiteres Wort verschwindet Elisa im Haus und dreht die Musik wieder an. „Die Moldau“, die mit einer Querflöte leise plätschernd beginnt und dann Fahrt aufnimmt. Antonia schüttelt den Kopf, geht ins kühle Haus, schließt Fenster und Türen und genießt die Ruhe.

„Jetzt reicht es aber!“ Sie kann es nicht fassen. Die Musik im Nachbarhaus will und will nicht enden, mit zunehmender Tageslänge steigt auch die Lautstärke des ewig gleichen Orchesterwerkes. Kurz vor Sonnenuntergang ist der Lärm unerträglich und Antonia geht in den Garten, will mit Elisa sprechen. Das Fenster des Schlafzimmers ist geöffnet und die Frau steht vor dem Spiegel, in einer Hand hält sie eine große Schere, in der anderen ihre Haare.

Antonia öffnet die Gartentür und betritt das Grundstück.
„Elisa! Hallo? Bitte könntest du die Musik leiser machen?“
Elisa reagiert nicht, langsam und mit konstanten Bewegungen schneidet sie Strähne für Strähne ihrer Haare ab. Tränen laufen über ihre Wangen, ihre Augen sind weit geöffnet und starren in den Spiegel, sie schneidet weiter ihre Haare, bis nur noch eine wirre, ungepflegte Kurzhaarfrisur übrig bleibt.
Antonia drückt die Türklinke nach unten, die Tür ist verschlossen. Sie klopft und ruft, doch Elisa hört sie nicht.
„Himmel noch eins!“ Wütend stapft Antonia wieder in ihr Haus.

Ein gellender Schrei lässt sie aus dem Schlaf hochschrecken. Sie lauscht. Hat sie geträumt? Sie hört nur das Meeresrauschen, plötzlich ein weiterer lang anhaltender, schriller Schrei, der die Nacht durchbricht. Sie tritt ans Fenster und späht ins Dunkel, kann nur einen hellen Farbklecks am Strand erkennen. Im Nachbarhaus ist es finster und der Schrei kam definitiv aus der Richtung des Meeres. Stille. Nur das leise Plätschern der Wellen am Felsen. Antonia wirft einen Blick auf die Uhr, es ist 03:30, sie beschließt, nochmal ins Bett zu gehen.

Das Badetuch umgehängt, in Badeanzug und Strandschuhen schlendert Antonia frühmorgens müde über die Stufen zum Strand. Sie erstarrt. Vor ihr liegt ein weißes Kleid auf den Felsen, daneben Flip-Flops und Unterwäsche. Es sind Elisas Sachen, das erkennt sie sofort. Antonia sucht das Meer ab, es ist niemand zu sehen, kein Schwimmer, kein Boot, nichts. Sie läuft die Treppe wieder hoch, sucht Garten und Umgebung des Hauses ab.

„Elisa?“, ruft sie durch das noch immer offen stehende Schlafzimmerfenster. Langsam drückt sie die Türklinke hinunter, es ist offen, sie späht in den Wohnraum. „Elisa?“, fragt sie nochmals. Sie sieht die Unordnung auf dem Sofa und dem Couchtisch. Leere, umgekippte Gin-Flaschen, benutzte Gläser, Kleider, Schuhe, alles wild durcheinander auf Boden und Möbeln. Antonia überlegt kurz, ob sie eintreten soll, entscheidet dann aber, dass sie zur Polizei fährt.

„Policajac Branko Paravić“, steht auf dem Schild an der Tür. Der Händedruck des Kommissars ist kräftig, seine dunklen Augen sind aufmerksam auf Antonias Gesicht gerichtet.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er in ausgezeichnetem Deutsch.
„Mein Name ist Antonia Steger. Ich habe ein Haus in der südlichen Bucht gemietet. Mit meiner Nachbarin muss etwas passiert sein, ihre Kleider liegen am Strand und sie antwortet nicht, wenn ich nach ihr rufe.“ Antonia spricht mit zittriger Stimme.
„Ah, in DER Bucht. Heißt ihre Nachbarin zufällig Elisa?“, fragt er.
„Ja, genau. Also ich kenne sie nicht so gut, sie ist erst seit zwei Tagen hier, aber irgendwas stimmt da nicht.“
„Ich werde mir das am besten vor Ort ansehen. Aber sie müssen wissen, dass uns diese Frau schon bekannt ist. Es gab wegen ihr so manche Anfragen, Beschwerden. Wissen Sie, wie die Bucht noch genannt wird?“
„Nein, das weiß ich nicht?“
„Die Bucht der Verrückten.“

Antonia richtet ihren Blick aus dem Fenster. Die bunten Häuser in der engen Gasse stehen dicht aneinandergereiht. Geklapper von Geschirr ist aus den Küchen zu hören und ein verlockender Geruch nach mediterranem Essen dringt an ihre Nase.
„Wir fahren jetzt gemeinsam zum Haus, in Ordnung?“ Der Kommissar nimmt den Autoschlüssel vom Schreibtisch und hält Antonia die Tür auf.

Branko Paravić hockt neben der Kleidung am Felsstrand. Antonia bemerkt den breiten, kräftigen Rücken des Mannes und die grau melierten, dichten Haare. Er macht einen sportlichen Eindruck, ein Mann in den besten Jahren, der sich fit hält.
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nun, ich wollte Elisa abends zur Rede stellen, weil sie die Musik so laut aufgedreht hatte ...“
„Die Moldau? Von Smetana?“, fragt Paravić und richtet sich wieder auf.
„Ja, genau. Dann habe ich beobachtet, dass sie sich die Haare ganz kurz geschnitten hat. Die schönen Haare …“
„Für mich hört sich das eher nach Suizid an, wenn ich ehrlich bin“, entgegnet der Kommissar.
„Aber warum dann die Schreie in der Nacht?“, fragt Antonia.
„Welche Schreie? Davon haben Sie nichts gesagt.“
„Ich bin um drei Uhr nachts wach geworden. Zweimal hörte ich eine Frauenstimme vom Meer herüber, die Stimme klang sehr ängstlich und beunruhigend!“
„Sind Sie ganz sicher? Nicht geträumt?“
„Aber ja!“

Der Kommissar legt Antonia die Hand auf die Schulter und führt sie über die Treppe in den Garten.
„Sie müssen wissen, diese Urlaubshäuser hier gehörten dem Mann von Elisa. Er ist leider vorigen Sommer mit dem Motorboot verunglückt. Seine Leiche wurde nie gefunden, das Boot ist am Festland gestrandet. Er ist spät abends alleine rausgefahren, nach einem Streit mit seiner Frau.“ Branko Paravić betrachtet die Häuserfassaden, massiert sich den Nacken und fährt fort:
„Darum kam ich auf den Gedanken, dass sich Elisa vielleicht das Leben genommen hat. Sie kam nicht darüber hinweg. Also, ich fahre jetzt mal ins Kommissariat und komme später nochmal vorbei. Geht es Ihnen gut?“
„Ja, ja, alles in Ordnung.“

Später holt Antonia ihre Badesachen, sie will noch eine Runde schwimmen nach diesem aufregenden Tag. Die angenehme Wärme des Wassers umhüllt sie, sie schwimmt hinaus, holt tief Luft, taucht unter und zieht kräftig ein paar Meter unter Wasser. Als sie auftaucht, spürt sie eine seltsame kalte Strömung an den Beinen, ein eigenartiger Wirbel umspült sie und zieht sie hinunter. Mit geöffneten Augen erkennt sie zahlreiche kleine Fische, die dem Strudel zu entrinnen versuchen. Sie kann wieder an die Oberfläche gelangen, schnappt nach Luft, nimmt die plötzliche Trübung des Meeres um sie herum wahr. Ganz verzweifelt paddelt sie mit den Armen, um ans Ufer zu gelangen. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie sehr weit vom Land entfernt ist. Wieder wird sie von einer unsichtbaren Gewalt in die Tiefe gerissen, tosendes Rauschen in ihrem Kopf, sie strampelt, paddelt mit aller Kraft, kommt wieder an die Oberfläche. Antonia sieht das Auto des Kommissars in die Einfahrt fahren, wieder scheint sie etwas an den Beinen zu fassen. Eine Hand, sie umklammert fest ihren rechten Knöchel, zieht an ihrem Fuß, sie taucht wieder unter, strampelt, kurz lässt die Hand ihr Bein los, um, nachdem sie für Sekunden auftauchen und schreien kann, sie wieder in die Tiefe zu ziehen.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 19137

Wenn sie keiner Menschlichkeit zujubeln

Blaue Alpen,
wachen über uns
Sie bauen uns Zäune,
Der eine oder andere
erzählt von der guten alten Zeit
da haben sie gejubelt vor dem Auto,
Ein Bier
ein Schnitzel
dazu schöne Lieder aus der Heimat
ein schönes Liederbuch
auf das Kapperl
auf zum Fechtkampf
Deutsches Reich ein Traum,
Schau, einen Hund hat man auch mitgebracht
zwar kein Schäferhund
ein wenig kleiner
Hundeliebe kommt einem so bekannt vor
so treu
wie das Volk, das mit den Fahnen weht

Der Immobilienhai ist so ein großer Fan,
schöne neue Wohnungen
unbedingt muss dieser Mann kommen,
Er sieht so ehrlich aus
lächelt immer allen zu,
Meine Nachbarin ist ein großer Fan
er lädt gerne Leute zu sich nach Hause ein
dort hört sie Sachen,
Sie erzählt gerne eine Geschichte
über seltsame Phänomene
von Gift, das auf die Bevölkerung versprüht wird
aus Flugzeugen

Kopfbedeckungen sind ein Gräuel
diese Tücher sind alle gefährlich
diese verschiedenen Farben erst,
Ein Volk braucht Uniform
braun gab es schon
blau fängt mit B an
das würde auch gehen,
Wüstenvölker sind böse
alle
schänden die Frauen
kennen nur Brutalität
Bücher von Propheten - GEFÄHRLICH
Lager
Zäune
Ausgangssperre

Es erinnert ein wenig,
an jene  Zeit,
Meine Großeltern meinen,
diese Verbrecher kommen immer wieder

Muss ich besorgt sein um mein Umfeld
um Menschen, die man zu den Minen schicken will
zu den Autobomben

Wenn Menschlichkeit vergessen wird,
dann haben sie Recht gehabt

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 20005

Einer für die Autos, einer für das Gasthaus

Die Gabe, ein Verbrechen aufzuklären, war Albin Breitschwengler wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden, ein in Schnaps getunkter Schnuller sehr wohl.
Als einziger Sohn von Heinrich und Aloisia Breitschwengler war Albin zu einem Dasein als Knecht bestimmt worden.
„Der Bub wird Knecht“, hatte Aloisia stets gesagt. „Da braucht er seinen Kopf bloß, um das Futter für die Hühner nicht mit dem für die Schweine zu verwechseln.“

Der Schnaps war Albins ständiger Begleiter, vom Säuglingsalter an.
In der Volksschule des kleinen steirischen Dorfes Modriach tat er sich dementsprechend leicht; wenigstens in den Wiederholungsjahren, deren er vier absolvierte.
Er musste schwer auf dem Hof seiner Familie arbeiten, stets beobachtet von den Habichtsaugen seines Vaters, und oftmals gemaßregelt von den Bärentatzen seiner Mutter, wenn er etwas falsch oder nicht schnell genug gemacht hatte.

Die Hauptschule schloss er in sechs Jahren ab und nach dem Ableisten des Präsenzdienstes übernahm er den Hof seiner Eltern.
Er sorgte gut für das Vieh, und nachdem er sein Tagwerk verrichtet hatte, gab er sich der wohltuenden Wirkung des Mostes, des Bieres und schließlich des Selbstgebrannten hin, stets in dieser Reihenfolge.
Eine Frau fand er nicht, wenigstens keine, die länger als zwei Wochen bei ihm geblieben wäre. Die meisten seiner Liebschaften verließen ihn mit Worten wie „gefährlicher Irrer“, „haltloser Säufer“ und „verkommenes Subjekt“.

In Modriach galt Albin Breitschwengler als Sonderling, dem man besser nicht zu nahe kam.
Die Jagdprüfung hatte er nie bestanden. Er hatte zwar viermal versucht, den Schein zu erhalten, doch nachdem er es nicht fertiggebracht hatte, die Prüfung zu bestehen, beschloss er, ein Jäger ohne Berechtigung zur Jagd zu werden.
Albin war ein erfolgreicher Jäger.
Er hatte sechs Flinten und vier Büchsen von seinem Vater übernommen und übte das Schießen auf seinem Hof. Die dort zahlreich vorkommenden Ratten dezimierte er in kurzer Zeit, und bald stand ihm der Sinn nach größerer Beute.
Nachdem er zwölf Stück von ebendieser erlegt hatte, stellte er, am nächsten Tag und wieder nüchtern, fest, dass er seine Eier künftig im Kaufhaus würde erstehen müssen. Er beschloss, nicht mehr auf seinem Hof zu jagen, sondern in die Wälder zu gehen, die Modriach umgaben.

Es dauerte nicht lange, da hatte er eine stattliche Anzahl an Abschüssen vorzuweisen: drei Habichte, einen Uhu, zwei Katzen und einen im Wald frei herumlaufenden Schäferhund.
Auf den Hund hätte er besser nicht angelegt, denn am Tag nach dessen Abschuss kam der Besitzer des Tieres auf Albins Hof und verlangte eine hohe Entschädigung.
„Du hast meinen Hund erschossen, Breitschwengler!“, brüllte er.
„Dein Köter hat gewildert“, versuchte sich Albin aus der Affäre zu ziehen.
„Der Einzige, der in Modriach wildert, bist du, Albin!“
„Was kann ich tun, um dir deinen Verlust zu ersetzen?“, fragte Albin, dem der Sinn nach einer raschen Erledigung der Angelegenheit stand.
Der Hundehalter nannte eine Summe, und Breitschwengler willigte ein. Die Aussicht, wegen Wilderei und unerlaubtem Waffenbesitz vor Gericht gestellt und möglicherweise zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden, ließ ihm das Zahlen einer Entschädigung als das kleinere Übel erscheinen.

Er änderte sein Jagdverhalten und legte fortan auf Rehe, Wildschweine und Feldhasen an.
Im Dorf wussten alle, natürlich auch die Jagdpächter, dass Albin unerlaubterweise in den Revieren um Modriach ausging, doch zogen sie ihn nicht zur Verantwortung, wenigstens nicht offiziell.
Wurde er dabei beobachtet, wie er ein Reh oder Wildschwein auf seinen Hof schaffte, folgten sie ihm dorthin. Da er seine Beute mit einer Scheibtruhe abtransportieren musste, denn er hatte die Fahrprüfung nie bestanden und besaß keinen Geländewagen, konnten sich seine Verfolger Zeit lassen. Sie warteten ab, bis er die Tiere zerlegt hatte, dann verschafften sie sich Zutritt zu seinem Haus und nahmen das ihnen rechtmäßig zustehende Fleisch an sich.

Albin beobachtete die anderen Jäger oft bei der Ausübung des Weidwerks und lernte dabei viel über Waffen und amouröse Verstrickungen von angeblich glücklich verheirateten Menschen aus dem Dorf.
Eines Tages ereignete sich ein Jagdunfall, der Modriach erschütterte.
Johann Ranftl, der Besitzer des örtlichen Sägewerks, war in seinem Jagdrevier tot aufgefunden worden, mit zwei Einschusslöchern in seiner Brust.
Da der Tote der reichste Mann im Ort gewesen war, wurden die Umstände seines verfrühten Ablebens vom Kommandanten des Modriacher Polizeipostens höchstselbst untersucht.
Unter der Bevölkerung fand dieser Umstand breite Zustimmung, schließlich handelte es sich bei dem Polizisten um Johann Ranftls Bruder.
Drei Tage später war die Untersuchung beendet und der Tod Ranftls als tragischer Unfall eingestuft.
Dass diese Amtshandlung die letzte des Postenkommandanten sein würde, konnte niemand ahnen. Er war im Testament seines Bruders als der Alleinerbe des Sägewerks eingesetzt worden und quittierte den Polizeidienst nur wenige Minuten nach der Verlesung dieses letzten Willens.
Johann Ranftls Sohn Max ging leer aus. Er war ein weithin bekannter Frauenheld und Autonarr, der das Geld seines Vaters verprasst, ansonsten aber nicht viel geleistet hatte.

Albin Breitschwengler gab sich nicht mit der Version eines Unfalls zufrieden. Er vermutete, dass Johann Ranftl Opfer eines Verbrechens geworden war. Er hatte keine Beweise für seine Theorie, doch nahm er sich vor, die männlichen Mitglieder der Familie Ranftl zu beobachten. Da diese allesamt begeisterte Jäger waren, begab Albin sich täglich in das familieneigene Jagdrevier der Ranftls und legte sich, nur mit einem Feldstecher bewaffnet, auf die Lauer.
Der nunmehrige Besitzer des Sägewerks verhielt sich weidgerecht, wie Albin erkannte.
Max Ranftl hingegen ging oft in merklich angetrunkenem Zustand auf die Jagd. Er zielte schlecht und traf viele Tiere nicht gut, doch verzichtete er auf die Nachsuche und überließ das verwundete Wild seinem Schicksal.
In Modriach machte das Gerücht die Runde, dass Johann Ranftl mit einem Tannenzweig im Mund aufgefunden worden war. Der neue Postenkommandant bestätigte dies, doch schrieb er diesen Umstand dem Zufall zu. Den Fall neu aufzurollen, lehnte er ohne Angabe von Gründen ab.

Albin Breitschwenglers kriminalistischer Instinkt war geweckt.
Er schwor dem Schnaps ab und trank nach dem Aufstehen bloß einen halben Liter Most. Er versorgte das Vieh, verrichtete die notwendigsten Tätigkeiten auf seinem Hof und begab sich dann in das Revier der Ranftls.
Er beobachtete Max Ranftl besonders genau und notierte sich die Waffen, die dieser verwendete.
Nach sechs Monaten war sich Albin Breitschwengler sicher, wie der alte Ranftl zu Tode und der Tannenzweig in seinen Mund gekommen war.
Der Zufall wollte es, dass in der Modriacher Mehrzweckhalle ein großes Fest der Freiwilligen Feuerwehr stattfand.

Albin beschloss hinzugehen, denn alle wichtigen Menschen des Ortes sollten dort versammelt sein. Er zog seinen besten Steireranzug an, kämmte sich die Haare und ging zur Halle.
Als er sie betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Die Menschen starrten ihn an, wie Menschen vom Land ansonsten bloß ein modernes Kunstwerk anzustarren pflegen.
Albin setzte sich an einen freien Tisch, bestellte sich ein großes Bier und wartete, bis die Blasmusik ihre Darbietung beendet hatte.
Dann hielt der Bürgermeister eine kurze Ansprache und bat um eine Schweigeminute für den verstorbenen Johann Ranftl.
Nachdem diese geendet hatte, erhob sich Albin Breitschwengler und rief in den Saal: „Es wundert mich nicht, dass der junge Ranftl die Schweigeminute für seinen Vater damit verbracht hat, einer Dorfpomeranze ins Dekolletee zu schielen!“

Der Bürgermeister blickte Albin erstaunt an und sagte: „Na da schau einer an! Der Herr Breitschwengler beehrt uns ausnahmsweise mit seiner Anwesenheit und hat uns auch noch etwas mitzuteilen.“
Die Menschen im Saal brachen in schallendes Gelächter aus, bloß Max Ranftl lachte nicht, sondern bedachte Albin mit hasserfüllten Blicken.
„Hast du uns etwas zu sagen, Albin?“, fuhr der Bürgermeister fort.
„Ja!“, rief Breitschwengler. „Der alte Ranftl wurde ermordet, und sein Mörder befindet sich unter euch, heute und in dieser Mehrzweckhalle!“

Im Saal wurde es still.
„Der junge Ranftl hat seinen Alten um die Ecke gebracht!“, rief Albin.
„Das ist eine Lüge!“, brüllte Max Ranftl.
„Ist es nicht!“, brüllte Breitschwengler zurück. Er wandte sich an die im Saal versammelten Menschen. „Ich erzähle euch, wie es war. Ihr alle wisst, dass Ranftl junior ein Säufer und ein Nichtsnutz ist. Sein Vater hat ihn, wie ihr auch wisst, enterbt. Drei Tage, bevor er von seinem eigen Fleisch und Blut erlegt wurde, war er im Gasthaus.“
„Dort war er doch oft!“, rief Max.
„Ja, das stimmt. Aber sein letzter Besuch in diesem Gasthaus hatte einen anderen Zweck als Bier zu trinken. Der Wirt hat mir nämlich erzählt, was Johann in seinem Lokal wollte.“
„Wo hast du den Wirt denn getroffen, Breitschwengler?“, rief Max Ranftl. „Alle wissen doch, dass du deinen Hof bloß zum Wildern in fremden Revieren verlässt!“
Albin schmunzelte. „Ich habe ihn im Wald getroffen.“
Alle lachten.
„Er hat mir erzählt“, fuhr Albin fort, „dass Johann die Trinkschulden seines Sohnes beglichen und gesagt hat, dass es das letzte Mal war, dass er das gemacht hat. Er hat dem Wirt klargemacht, dass er seinem feinen Herrn Sohn den Geldhahn zugedreht und ihn sogar enterbt hat, weil der Bub ein Nichtsnutz ist, der das ganze Geld verprasst. Er hat mir auch erzählt, dass er ihm die Autos weggenommen hat.“

Max Ranftl saß mit hochrotem Kopf da, sagte jedoch nichts dazu.
„Drei Tage später hat der junge den alten Ranftl in die ewigen Jagdgründe geschickt, und das ausgerechnet in dessen eigenem Revier! Ihr alle wisst, dass der Alte zwei Einschusslöcher in der Brust hatte. Das war bei Gott kein Unfall!“
„Es war ein Unfall!“, rief Max Ranftl.
„Woher willst du das denn wissen?“, gab Albin zurück.
„Ich hatte meine Flinte gesichert, und trotzdem hat sich ein-“ Max hielt inne. An seinen weit aufgerissenen Augen erkannten alle im Saal, dass er sich verplappert hatte.
„Also warst du doch bei deinem Vater, als es passiert ist“, stellte Albin fest.
„Ja, war ich“, stammelte Max Ranftl.
„Und wie hat es sich zugetragen, dass dein Vater zwei Löcher in seiner Brust hatte?“, bohrte Albin nach.

Max blickte nervös um sich. „Es haben sich eben zwei Schüsse gleichzeitig gelöst, na und?“, sagte er trotzig. „Ich verwende eben eine doppelläufige Flinte.“
„Nein, mein Herr, das tust du nicht!“, rief Breitschwengler. „Ich habe dich monatelang bei der Jagd beobachtet. Du verwendest ausschließlich einläufige Flinten!“
„Das ist eine Lüge!“, rief Max.
„Nein, das ist eine Tatsache.“ Albin ging zur Mitte des Saales und sagte: „Es war so: Du wolltest deinen Vater zur Rede stellen, weil er dir die Autos weggenommen hat, und weil er dich im Gasthaus auf das Trockene gesetzt hat. Das wolltest du dir nicht gefallen lassen. Dein Vater hat dir gesagt, dass er seine Maßnahmen nicht zurücknehmen wird, und da hast du abgedrückt. Und um auf Nummer sicher zu gehen, hast du nachgeladen und ein zweites Mal auf ihn geschossen!“
Max Ranftl schluchzte.
„Das Beste kommt aber noch“, fuhr Breitschwengler fort. „Dann hast du einen Tannenzweig genommen und deinem Alten, sozusagen als letzte Äsung, in den Mund gestopft. Das war bestimmt das erste Mal, dass du in eurem Jagdrevier einen Tannenzweig verwenden musstest. Üblicherweise laufen deine Beutetiere ja angeschossen in das Dickicht, wo du sie verenden lässt!“

Der Postenkommandant erhob sich von seinem Stuhl und fragte Max Ranftl: „Stimmt das?“
„Ja, es stimmt“, sagte Max mit tränenerstickter Stimme.
Der Polizist ging zu Ranftl, packte ihn am Oberarm und sagte: „Komm Max, gehen wir!“
Der Ball war vor der Zeit zu Ende.
Einige der Anwesenden warfen Albin Breitschwengler anerkennende Blicke zu, ein paar Menschen klopften ihm beim Verlassen der Mehrzweckhalle sogar auf die Schulter.
Wieder auf seinem Hof, öffnete Albin eine neue Flasche Schnaps und befreite seine Jagdwaffen vom Staub, der sich auf diese gelegt hatte.
„Ab morgen vernachlässige ich euch nicht mehr“, murmelte er.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 19081