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Auf der Uni

                                                           Nach einer Idee von meinem Sohn Michael

Einige meiner Kommilitonen auf der Uni muten mich seltsam an. Sie sind wie immer, grüßen natürlich, sind mehr oder weniger gesprächig, sie sind unauffällig – kann man sagen. Aber gerade das, dass einige von ihnen so wie immer sind, ist das Merkwürdige, denn ihr Verhalten ist ständig gleich, es ändert sich überhaupt nichts, sie sind nie wütend oder missmutig, sie agieren genauso, wie man sich es von ihnen erwartet, roboterhaft.

Und die, die wirken wie menschliche Automaten, werden mehr. Was soll das, was ist da los? Meine ursprünglich gebliebenen Kommilitonen und ich tauschen uns aus. Das ist doch nicht normal, ist der Tenor. Gerade Lizzy, die gestern noch am misstrauischsten war, ist heute wie die, die wie Humanoide wirken – nett, freundlich, unverbindlich. „Weißt du nicht mehr, worüber wir gestern gesprochen haben?“, frage ich sie. Nein, sie hat keine Ahnung.

Ich gehe zu meinem üblichen Platz im Hörsaal. Auf dem Pult liegt mein Federpennal – könnte man meinen. Aber es ist nicht meines, denn meines befindet sich noch in meinem Rucksack.

Die Uni-Mensa am Morgen des 16. August 2023, Nahaufnahme von Süden

Die Uni-Mensa am Morgen des 16. August 2023, Nahaufnahme von Süden

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24166

Der Bentley

Ein Bentley fährt vor.
Der Chauffeur steigt aus,
im Livree, mit Kapperl und weißen Handschuhen.
Er sieht mich an
und streckt seinen Arm einladend zum Wagen.

„Nein danke, ich fahr lieber mit dem Rad.“
Wie bitte, was sage ich da?
Ich zwinkere, schüttle den Kopf,
schließe die Augen und öffne sie wieder.

Der Bentley ist verschwunden.
Da steht mein altes Waffenrad.
Auch gut, sage ich mir, da bleibt man wenigstens gesund,
steige auf und trete in die Pedale.

Altes Waffenrad in Pastellfarben

Altes Waffenrad in Pastellfarben

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24154

Halo

Halo braucht einen neuen Körper. Dazu wird er ein neues Arbeitsprogramm erhalten. Es ist das Jahr 2394. Halo ist drei Sternenjahre und siebenundvierzig normale Jahre alt. Ein Sternenjahr entspricht hundert normalen Jahren. Zum Glück ist Halo Geistesarbeiter. Er muss nicht im Schmutz arbeiten und keine besonders anstrengenden oder gefährlichen Tätigkeiten verrichten. Das Problem mit steigendem Alter ist das Gehirn. Verkalkungen passieren dann häufig. Man kann alle Körperteile ersetzen, aber nicht das Gehirn. Meist unterzieht man diesen Menschen einer Stromtherapie. Gleich wie ein Nierenkranker dreimal die Woche zur Dialyse muss, geht der Mensch mit verhärteten Gehirnteilen zur Stromtherapie. Dort wird das Gehirn angeregt, schnell und mit wenigen Fehlern zu funktionieren. Dadurch bleibt dieser Mensch arbeitsfähig. Das ist auch bei Halo der Fall. Montag, Mittwoch und Freitag ist er für je zweieinhalb Stunden bei der Stromtherapie. Ohne dieser Stromtherapie würde er verblödet im Altersheim sitzen. Nein, würde er gar nicht, da Altersheime viel zu teuer sind, als dass Halo dort für einen Platz bezahlen könnte.

Der biologische neue Körper würde übermorgen kommen, erhielt Halo als Nachricht. Er solle sich um 10:30 Uhr bei der Rezeption von OmniData melden. Nachdem ihm der Körper transferiert worden sein wird, wird das Arbeitsprogramm auf Halo überspielt werden. Dafür hat Halo eine Buchse unter dem linken Ohr.

Wieder etwas zu tun nach drei Monaten Ruhepause, überlegt Halo, der in Wirklichkeit anders heißt. Den Namen Halo gab ihm eine Freundin, als er noch ein sehr junger Mann war. Die Sonne stieg hinter seinem Kopf auf, da sagte das Mädchen: „Du bist für mich jetzt Halo.“ Halo gefiel dieser Name. „Okay, Halo klingt gut“, sagte er.

„Aber müsste ich nicht eigentlich seit zweihundertzweiundachtzig Jahren in Rente sein?“, fragte sich Halo. Eine rhetorische Frage, denn seit mehr als drei Sternenjahren wird niemand mehr in Rente geschickt. Kein Staat dieser Welt könnte sich das bei der exorbitant hohen Zahl an alten Menschen leisten. Jemand, der nicht mehr arbeitsfähig ist, ganz egal warum, und kein Vermögen hat, von dem er zehren kann, muss es aus eigener Kraft bewältigen, weiter leben zu können.

Halo musste diese drei Monate auch durch seine Ersparnisse finanzieren. Er ist nicht reich. Es ist für ihn notwendig, dass er bei seiner neuen Arbeit wieder etwas zur Seite legen kann. Egal wie wenig jemand hat, der Staat unterstützt ihn niemals. Dann muss er hungern. Theoretisch könnten ihn seine Eltern, seine Kinder oder sonst jemand aus der Verwandtschaft unterstützen, was praktisch allerdings nur selten passiert. Nicht dass es illegal wäre, etwas Materielles abzugeben, aber es ist verpönt. Diese Gesellschaft beruht auf völligem Egoismus. Wer sich selbst nicht helfen kann, dem soll niemand helfen. Der ist verloren.

Irgendwann lassen sich die Schäden am Gehirn nicht mehr überbrücken, weiß Halo. Dann ist es aus. Würde er, nur hypothetisch, bei einer seiner Töchter oder einem seiner Söhne wohnen, würde er Schande über sie bringen. Das ist eine der letzten Sachen, die ein guter Vater seinen Kindern zumuten will. Das kommt absolut nicht infrage.

Bin ich also auf mich allein gestellt, denkt Halo. Wie immer schon, mein ganzes Leben muss ich auf eigenen Füßen stehen. Mir wurde nie etwas geschenkt. Aber ich will nicht jammern. Auf die alten Tagen noch anfangen zu jammern! Nein, das ist wirklich nichts. Auch wenn ich über keine besonderen Anlagen verfüge und als Arbeitskraft nur durchschnittlich bin, lebe ich noch. Das ist nicht selbstverständlich. Ich könnte schon seit zweieinhalb Sternenjahren tot sein.

Bei den letzten Stromtherapien ist mir schon eingefallen, dass ich manchmal nicht mehr weiß, ob etwas gestern, vorgestern oder heute passiert ist. Andererseits verliefen meine Tage während der Ruhepause sehr ähnlich. Weshalb soll man sich auch etwas merken, wenn es belanglos ist? Ist da nicht sogar ein wichtiger Filter aktiv?, denkt Halo.

Dieser mein gegenwärtiger Körper ist schon ziemlich abgetragen, spinnt Halo den Faden weiter. Ich habe ihn seit zweiundsechzig Jahren. Verschlechtert sich das Wetter, tut mir manchmal der linke Oberarmknochen weh. Der linke Oberarmknochen? Ja genau, doch dafür leide ich weder unter Gicht noch Arthritis oder Zucker. Meine Augen und Ohren könnten besser sein. Aber mit meinem neuen Körper werden all diese Zipperlein in der Vergangenheit liegen. Ich freue mich auf meinen neuen Körper. Ich würde auch sagen, dass ich ihn mir verdient habe. Jeden Arbeitseinsatz habe ich bewältigt. Wenn viel zu tun war, leistete ich Überstunden, ohne dass sie mir verrechnet wurden. Ich bin ja der Halo-mittleres-Management. Der Staat teilt einem ja auch nur einen neuen Körper mit einem neuen Arbeitsprogramm zu, damit diese Person mit viel Einsatz arbeitet. Jemand, der zu nichts mehr zu gebrauchen und zudem lebensüberdrüssig ist, kann sich in einem staatlichen Verbrennungszentrum einschreiben. Das ist ein Krematorium für Lebende. Gnadenhalber muss man nicht selbst in den Verbrennungsraum gehen, sondern man wird vorher betäubt.

Darüber darf allerdings nicht gesprochen werden, streng genommen darf auch nicht daran gedacht werden. Zum Glück ist die Gedankenkontrolle noch mit vielen Fehlern behaftet. Praktisch bedeutet das, dass man niemanden aufgrund seiner vermeintlichen Gedanken gerichtlich belangen kann, eben weil diese Gedanken nicht eindeutig nachgewiesen werden können. Doch in zwanzig Jahren wird man Gedanken genauso lesen können, wie man Sprache versteht. Alles ist nur eine Frage der Zeit. Und diese Zeit bewegt sich in eine sehr unangenehme Richtung.

Es ist erst knapp nach 16 Uhr. Halo braucht noch ein paar Lebensmittel. Er macht sich auf den Weg in den NP-Supermarkt. NP steht für Niedrig-Preis. Schon seit einiger Zeit kann Halo essen, was er will, ohne dass ihm etwas schmeckt. Daher isst er wenig und kauft auch wenig.

Er kehrt mit einem Sackerl, das vielleicht fünf Kilo wiegt, zurück. Das sollte mindestens für die nächsten vier Tage reichen. Halos Wohnung liegt ebenerdig, seinem vorgerückten Alter geschuldet, eigentlich müsste er schlechter zu Fuß sein, das ist er jedoch nicht. Er spricht aber nicht darüber, damit man ihm nicht eine Wohnung im fünften Stock in einem Haus ohne Fahrstuhl zuteilt. Es ist stets besser, nicht allzu viel zu sprechen. Weiß man etwas, ist es vorzuziehen, das für sich zu behalten. Halo lebt auf siebenunddreißig Quadratmetern. Da es heute kaum noch Freundschaften gibt und man dadurch äußert selten, falls überhaupt, jemanden zu sich einlädt, reicht ein großes Zimmer mit einer Küchenzeile und einem recht geräumigen Bad.

Halo setzt sich vor sein Infosystem. Damit ist er mit der ganzen Welt verbunden. Das Infosystem kennt Halo wahrscheinlich besser, als er sich selbst kennt. Im Jahr 2394 herrscht strenge Zensur. Halo bekommt nur zu sehen und zu hören, was nicht anrüchig ist, nicht gesundheitsschädlich sein kann und natürlich innerhalb aller Gesetze liegt. Gerät man in eine elektronische Unterhaltung, darf man sich selbstverständlich nicht abfällig gegenüber dem Staat äußern.

Nach fünfzehn Minuten wurde Halo dreimal „Unzulässige Frage“ und fünfmal ein schwarzer Bildschirm angezeigt. „Was tue ich eigentlich hier?“, fragt sich nun Halo selbst. „Das ist doch völlig sinnlos. Nicht dass ich vielen anderen Beschäftigungen nachgehen könnte, aber das hier ist nichts außer ärgerlich.“

Als die Sonne untergegangen war, abends, trank Halo ein wenig Wein. Den hat er sich aus Vorfreude auf seinen neuen Körper gekauft.

Am nächsten Tag hat Halo Stromtherapie. Die ist schon sehr nutzbringend. Nach den zweieinhalb Stunden merkt er, dass er schneller kombinieren kann, sich klarer erinnern. „Es funktioniert sehr gut, nicht?“, sagt Halo zum Mediziner, der vor dem Bildschirm mit seinen Gehirnströmen sitzt. Der Mediziner blickt über seine schwarze Brille Halo an und sagt: „Tendenziell verschlechtert sich Ihre Gehirnaktivität. Es wird die Zeit kommen, wo die Stromtherapie nicht mehr ausreicht. Derzeit können wir dann nichts mehr tun.“ Halo sieht den Mediziner ganz kurz an, dann sieht er zu Boden und daraufhin geradeaus. Keine Regung und keine Schwäche zeigen, das hat Halo gelernt.

Wieder zuhause setzt er sich auf sein grünes Sofa. Er ist allein, es gibt niemanden, was ja gar nicht stimmt, doch jeder lebt, als wäre er völlig allein. Dieses Misstrauen ist wahrhaft zersetzend.

Heute ist der 15. Mai. Ein Frühlingstag, der schon beinahe in einen Sommertag übergeht. Halo geht ins Freie, er spaziert umher. Er erinnert sich, dass, als er noch ein Kind war, es überall Bäume gab, viele verschiedene Bäume, am Land traten sie gesammelt als Wald auf. Heute ist ein Baum ein Luxus.

Halo denkt nach, wie es morgen werden wird. Er hat schon so viele Arbeitseinsätze hinter sich gebracht. Manchmal mit einem neuen Körper, immer mit einem Arbeitsprogramm. Heutzutage ist es nicht mehr notwendig, über viele Jahre etwas zu lernen. Das Programm wird ins Gehirn gespielt, und fertig.

Er schläft unruhig. Klarerweise wird die Arbeit mit vorgerücktem Alter schwieriger. Jedes Mal geht es um sehr viel für Halo. Bislang hat es immer funktioniert. Hätte das aber nur einmal nicht, wäre Halo zumindest nicht hier, ziemlich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.

Um dreiviertel acht steht er auf. Er isst zwei weiche Eier, Schinken, Schwarzbrot, und dann je eine Semmel mit Honig und Erdbeermarmelade. Er visualisiert das kommende Gespräch. Er nimmt ein Spacecar der dritten Ebene zu OmniData. Je höher das Spacecar fliegt, desto weniger Verkehr gibt es und desto teurer ist die Beförderung. Die dritte Ebene ist schon recht flott. Heute ist es wichtig, denkt Halo.

Um 10:15 Uhr ist er dort vor dem Eingang. Er betritt die Firma. Er meldet sich bei der Rezeptionistin. „Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen würden, Herr Küster. Ich rufe Frau Meining an. Sie ist für Sie zuständig.“

Halo, also Herr Küster, setzt sich auf einen der weißen Kunststoffstühle. Das wirkt alles sehr stark nach einer Schickifirma, denkt er. Na ja, da kann ich nichts machen. Nicht ich habe mir diese Firma ausgesucht, sondern diese Firma mich. Nehme ich an. Oder der Staat hat diesen Arbeitseinsatz organisiert.

Nach ein paar Minuten taucht Frau Meining auf. Sie steht vor Halo. „Haben Sie gut hergefunden?“, fragt sie. Man kann diese Frage fast nur bejahen, denn wenn man hier ist, hat man auch hergefunden. Das „gut“ steht dabei ein bisschen verloren im Raum. „Ja natürlich, danke der Nachfrage“, sagt Halo. Er steht auf. Frau Meining und er schütteln Hände. „Gehen wir in den Konferenzraum“, sagt sie. „Folgen Sie mir bitte.“

Halo setzt sich gegenüber von Frau Meining an den großen, ovalen Tisch. „Es freut mich, dass ich hier sein kann“, sagt er, und dann „Fräulein Meining.“ Die junge Frau sieht Halo verdutzt an, dann dreht sie sich demonstrativ nach links und nach rechts. „Fräulein Meining?“, fragt sie, „Ich kenne hier kein Fräulein Meining.“ Halo hat noch nicht begriffen. Er ist ganz begeistert von der strahlend schönen Frau. „Sie sind noch ganz frisch, nicht?“, fragt er. „Sie tragen noch Ihren ursprünglichen Körper, ja?“

„Ich arbeite nicht hier, um mir so etwas sagen lassen zu müssen“, sagt Frau Meining. „Das ist eine schwer sexistische Anmache. Die soll es seit fast vier Sternenjahren nicht mehr geben. Meiner Meinung nach sind Sie ganz bestimmt nicht geeignet, hier zu arbeiten. Ich werde mich wegen Ihres Falles an meinen Vorgesetzten wenden. Üblicherweise aber folgt er meiner Empfehlung.“

„Aber mein Körper, mein Programm?“, sagt Halo. „Nicht hier, wenn es nach mir geht“, sagt Frau Meining. Sie schiebt ihren Stuhl nach hinten, steht auf und verlässt den Raum.

Frau Meining verträgt absolut keinen Spaß.

Der Oberkörper der Schaufensterpuppe auf dem Stuhl mit dem nachdenklichen Gesicht in der Galerie M am 29. Mai 2024

Der Oberkörper der Schaufensterpuppe auf dem Stuhl mit dem nachdenklichen Gesicht in der Galerie M am 29. Mai 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24144

Die Nacht der vielen Träume den ganzen Schlaf lang

Die Nacht der vielen Träume den ganzen Schlaf lang. Die rothaarige tätowierte Frau nimmt dich an der Hand. „Komm, laufen wir!“ Und gemeinsam lauft ihr, es sind Wiesen und Hügel und Bäume. Du siehst eine Puppe aus Fleisch mit dem Gesicht deiner Freundin. Sie ist tot. Sie hat sich ja auch in Wirklichkeit so lang schon nicht mehr gemeldet. In einem Schwimmbad ist deine Frau. Du sprichst sie an. Sie taucht unter. In Wirklichkeit tut sie das nicht. Oder doch? Du sprichst weiter zu ihr. Sie hört dich nicht. Wie denn auch? „Lass sie!“, sagt die Rothaarige. „Merkst du nicht? Wenn du etwas willst, geht sie auf Tauchstation.“ Die Tochter, der Sohn, große Sorgen, nicht kleine Probleme. Du selbst bist dein größtes. Ihr lauft und lauft, bis der Schlaf aus ist, bis der Tag da ist.

Die rote Amaryllis am 26. Juni 2023, Nahaufnahme

Die rote Amaryllis am 26. Juni 2023, Nahaufnahme

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24127

Der linke Mensch

Er ist nur ein halber Mensch, und zwar der linke. Er würde gern seinen rechten Menschen treffen und mit ihm einen vollständigen Menschen bilden. Aber gab es ihn immer schon nur als linken? Er kann sich nicht erinnern. Beginnt vielleicht seine Erinnerung zu dem Zeitpunkt, als sein rechter Teil von ihm abfiel? Er sieht sonst nur ganze Menschen mit seinem linken Auge.

Als er nachhause geht, sind dort nur linke Schuhe, linke T-Shirts und ein linker Fernseher. Und linke Zeitungen liegen auf dem Wohnzimmertischchen.

Die rechte Notarzt-Marionette beim SPIELMANN am 24. Mai 2023

Die rechte Notarzt-Marionette beim SPIELMANN am 24. Mai 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24065

Die Ewigkeit

Die Ewigkeit dauert nicht ein halbes Jahr.
Hast du etwa geglaubt, das wäre so?
Nein, sie dauert, bis riesige Planeten im Weltall kreisen
wie gewaltig vergrößerte Billardkugeln,
und auch das ist noch nicht das Ende.

Heilige in der Pfarrkirche Saak in Nötsch am 29. Juli 2023

Heilige in der Pfarrkirche Saak in Nötsch am 29. Juli 2023

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24035

Der Mann, der über den Himmel schreitet

Ich schreite über den Himmel.
Obwohl ich kein Vogel bin, kann ich das.
Ich nehme die Farbe des Himmels an.
Hellblau bei Tag, schwarz in der Nacht,
rot und orange, wenn die Sonne sich erhebt und senkt.
Somit bin ich unsichtbar.
Daher weiß niemand, dass ich der Mann bin, der über den Himmel schreitet.

Zweig mit drei braunen Blättern vor dem Himmel mit Wolken

Zweig mit drei braunen Blättern vor dem Himmel mit Wolken

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24010

Negativabzug

Ein Strahl von Licht
reist durch das All.
Er schneidet eine Linie ins Dunkel
gleich dem Haar eines alten Japaners.

Ein Abbild der Vergangenheit
ist auf dem Weg in die Zukunft.
Und auch wenn seine Empfänger keine Augen haben,
spüren sie doch den Punkt seiner Wärme.

Ein wenig Schnee auf dem sehr dünnen Eis des Lendkanals am 1. Dezember 2021, Nahaufnahme

Ein wenig Schnee auf dem sehr dünnen Eis des Lendkanals am 1. Dezember 2021, Nahaufnahme

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24020

Drei USB-5.0-Sticks

Der Körper des Roboters ist fertig. Ich hebe seine Haare an, unter denen sich ein USB-Port befindet. Mit dem ersten USB-5.0-Stick spiele ich sein Bewusstsein in sein Neuron-Gehirn. Mit dem zweiten Stick überspiele ich seine Seele, die sich in seinem Körper verteilt. Und mit dem dritten Stick überspiele ich seine Arbeitsaufgaben und sein Programm in seine Wahrnehmungsorgane, seine Arme und Beine.

Der USB-Ventilator mit Lichtern bei Saturn

Der USB-Ventilator mit Lichtern bei Saturn

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23186

Zeitreise

Langsam biegt sie in die Einbahnstraße ab, der Verkehr ist enorm und sie hat etwas Mühe, dem Navigationssystem zu folgen. Sie ist froh, dass die Tschechen so geduldige und unaufdringliche Autofahrer sind.

Endlich erreicht sie ihr Hotel im Zentrum von Prag und checkt ein. Die Agentur hat ihr eine nette Unterkunft reserviert, von wo aus sie zu Fuß alle wichtigen Sehenswürdigkeiten erreichen und das Auto in der Tiefgarage parken kann für die nächsten Tage. Sie hat noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin nach dem Besuch im Museum Franz Kafka.

Mit einem kleinen Rucksack, vollgepackt mit Notizbüchern, Stiften, der Eintrittskarte fürs Museum und dem vorgefassten Interviewprotokoll verlässt Doris ihr Zimmer. Es weht eine sanfte, warme Brise durch die Straßen und Gassen, sie ist verwundert, dass Anfang Mai so angenehme Temperaturen in der Stadt herrschen. An diesem sonnigen Freitag sind viele Einheimische und Touristen auf den Straßen unterwegs, die Tische der Cafés und Gasthäuser auf den Bürgersteigen sind ausgesprochen dicht besetzt. Die geöffnete Gastronomie ist ein Segen für die Menschen nach den harten Jahren der Pandemie.

Doris holt sich ein Haarband aus der Jackentasche und knotet geschickt ihre brünetten, etwas widerspenstigen Locken zu einem Dutt. Einzelne wirbelnde Strähnen umrahmen ihren ebenmäßigen Teint und umspielen ihre grünblauen Augen. Die freudige Laune der Menschen um sie herum überträgt sich auf Doris und mit einem zarten Lächeln im Gesicht biegt sie einige Male links, dann wieder rechts durch Gassen und Einkaufsstraßen ab. Sie betrachtet die Fassaden der in gotischem oder barockem Baustil erbauten Häuser und die Blumendekorationen vor den Eingängen und Fenstern. Ihre Schritte hallen gedämpft vom abgenutzten Kopfsteinpflaster wider, in manchen farbenprächtigen Gotikfenstern spiegelt sich die Sonne und wirft bunte Farbkleckse an die gegenüberliegenden Hausreihen. Alles scheint ihr sehr vertraut, als wäre sie eine Bürgerin von Prag. Wie kann das sein? Ich bin das erste Mal hier? Kopfschüttelnd geht sie weiter und taucht in das geschäftige Treiben um sie herum ein.

Plötzlich nimmt sie eigentümliche Gerüche wahr – es riecht nach Pferdemist und Pferdeschweiß. Sie sieht sich um, bemerkt aber keine Kutschen in der Nähe, auch eine Pferdestallung kann sie nicht ausmachen in der unmittelbaren Umgebung. Ein leichtes Gefühl von Verwirrung macht sich in ihr breit. Nicht ein einziges Mal muss sie Google Maps auf ihrem Handy bemühen, sie kennt jede Gasse, jeden Platz, die Brunnen, Pulvertürme, Kirchen und kleinen Parks. An der Ecke Zelezna zum historischen Rathaus bleibt sie jäh stehen. Ihr Atem stockt, ist schwer, sie fühlt sich eingeengt im Brust- und Taillenbereich, als wäre sie von einer Zange umklammert. Sie lehnt sich an die Hausmauer und schließt die Augen. Du musst etwas trinken, das ist nur der Kreislauf nach der langen Autofahrt!

Doris überquert den überfüllten alten Rathausplatz und schlängelt sich geschickt durch die engen Gassen auf den Weg zur Karlsbrücke. Das heimelige Rauschen der Moldau unter ihr lässt Bilder in ihrem Kopf entstehen … – vor ihrem inneren Auge sieht sie eine junge Frau mit Sonnenschirm, breitkrempigem Hut und knöchellangem Rüschenkleid vergnügt die Brücke entlanglaufen Richtung Malá Strana …

Sie braucht dringend ein stilles Plätzchen. Sie weiß auch schon wo, nämlich in dem kleinen, abgeschiedenen Innenhof mit den von Efeu überwucherten Mauern und den schattenspendenden Lindenbäumen auf der Kleinseite von Prag, sie schreitet zügig weiter. Ein einziger Tisch ist noch frei vor der Bühne, wo gerade eine Jazzband, bestehend aus drei Mann mit Kontrabass, Saxophon und Gitarre, eine leise Melodie mit sanftem Blues-Einfluss zum Besten gibt.

Um ihren Kreislauf anzukurbeln, bestellt sie Espresso und Cola. Doris lauscht der wohltuenden Musik. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, Insekten surren an den Linden- und Efeublüten, langsam beruhigt sie sich wieder. An den Nebentischen wird gegessen, getrunken, gelacht und diskutiert. Aber halt! Viele Gäste sprechen tschechisch! Und: Doris versteht jedes Wort dieser ihr bis zum heutigen Tag fremden Sprache. Jak je možné, že rozumím česky? Wie ist es möglich, dass ich Tschechisch verstehe?

Wieder überkommt sie dieses einengende Gefühl in der Brust, sie ruft den Kellner, bezahlt und verlässt das Gartenlokal. In einigen Minuten Fußmarsch erreicht sie auch das Museum Franz Kafka in der Cihelná 2. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie den Zeitplan perfekt einhalten kann und pünktlich zum Treffen mit anderen Journalisten im Garten des Wallensteinpalastes eintreffen wird.

Die Räume, Gänge und Treppen des Museums sind unglaublich dunkel gehalten, teilweise schwarz tapeziert, leise Musik aus dem Hintergrund verleiht dem Ambiente eine rätselhafte, leicht bedrohliche Stimmung. Den Museumsbetreibern ist es perfekt gelungen, das Kafkaeske dieser Ausstellung dem Besucher zu vermitteln. In einigen Nischen werden in Schwarz-Weiß gedrehte Filme an schwarze Leinwände projiziert, die einen Einblick in das Leben in Prag um die Jahrhundertwende gewähren. Die Präsentation beinhaltet auch Glasvitrinen mit Originalausschnitten von Kafkas Tagebüchern und Briefen. Doris liest aufmerksam die Zeilen und sie erschaudert, die seelische Zerrissenheit und tiefe Trauer von Franz Kafka gehen ihr nahe. Im Hintergrund hört sie leise Musik von Friedrich Smetana, die Museumsbesucher schlendern ruhig über die knarzenden Holzdielen, kaum jemand spricht oder unterhält sich, jeder scheint in Gedanken versunken zu sein, in eine Welt voll Tristesse, Melancholie.

Doris wendet sich der Stiege zu, die ins Erdgeschoß zum Ausgang führt, sie muss sich am Treppengeländer festhalten, die Beleuchtung ist dürftig. Kurz vor der letzten Stufe spürt sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Stirn, sie hat sich an einem Balken den Kopf kräftig gestoßen. „Zatracený“, verdammt, entfleucht es ihrem Mund. Sie fasst an die schmerzende Stelle und fühlt auch schon ein warmes zartes Rinnsal über ihrem Nasenflügel.

Schnell packt sie Jacke und Rucksack aus der Garderobe und eilt in den sonnigen Hof vor dem Museumseingang. An einer schattigen Parkbank nimmt sie Platz und sucht nach Taschentüchern. Doris atmet tief durch, lehnt sich an die Hausmauer, drückt das Tuch an ihre Stirn und schließt die Augen.

Ein leichter Wind zieht durch die Gassen in den Innenhof in der Malá Strana, ihre salopp nach hinten gekämmten nackenlangen Locken schlüpfen unter dem kleinen Glockenhut hervor. Ihr violetter Rock aus weitem Jersey schmiegt sich an ihre Knie, ein schmaler Gürtel betont ihre Taille. Die hochgeschlossene weiße Satinbluse schimmert im Sonnenlicht und ihre Finger der linken Hand spielen mit einer beigefarbenen langen Perlenkette. Ein schelmisches Lächeln umspielt ihre vollen, rot geschminkten Lippen. Das Paar sitzt auf der Parkbank und beobachtet das rege Treiben auf den Straßen, Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster ist zu hören und kündigt eine Pferdekutsche an, dicht dahinter klingelt die Straßenbahn.

 „Was für ein herrlicher Tag, meine Liebe!“, flüstert ihr František ins Ohr, sein rauer Atem kitzelt ihren Hals. Er drückt ihre rechte Hand, die auf seinem Schoß liegt. Der Wollstoff seiner anthrazit-grauen Hose mit goldbrauner Streifenoptik ist angenehm weich auf ihrer Haut. Aus der Tasche seiner hochgeschlossenen Weste baumelt eine goldene Uhrkette, das Einstecktuch und die Krawatte sind mit ihrem violetten Rock abgestimmt. Er rückt sich den grauen Fedora-Hut mit mittelbreiter Krempe und dunkelgrauem Hutband zurecht, beugt sich vor und küsst sie.

 „Aber František, doch nicht vor allen Leuten“, flüstert sie, wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

„Hallo? Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung, gnädige Frau?“ Eine Hand liegt auf Doris’ Schulter und drückt sie sachte. Sie öffnet die Augen und sieht eine ältere Dame mit besorgter Miene vor ihr stehen.

„Ja, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Das wird schon wieder.“ Doris betrachtet das Taschentuch, die Wunde hat aufgehört zu bluten.

„Komm, trinken Sie ein Gläschen Absinth, ich habe es gerade aus dem Haus geholt, als ich Sie hier sitzen sah.“ Das hellgrüne Wermutgetränk erfrischt ihren Gaumen und die Kehle abrupt, ein kleines Feuerwerk schießt indessen in ihren Kopf. Sie blickt auf ihre Uhr und erschrickt.

„Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen, aber ich muss jetzt dringend zu meinem Termin!“

Die meisten Plätze sind schon besetzt, und am Podium haben sich die Diskussionsleiter bereits eingefunden. Kurzer Check der Mikrofone, Doris zückt ihren Block und ihre Interviewfragen, startet ihr Aufzeichnungsgerät und atmet tief durch. Einige wenige Journalisten sind ihr aus anderen Literaturdiskussionen bekannt, sie winkt ihnen höflich zu. An den Tischen auf der Seite sieht sie Bücher ausgestellt von Franz Kafka. Eigenartig – es sind zahlreiche Bände dabei mit farbenfrohen Bildern von Gustav Klimt auf dem Cover. Von einigen Titeln hat sie noch nie gehört. Ist sie denn auf dem richtigen Meeting?

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Literaturdiskussion über Franz Kafka …!“

„… er war ein lebensfroher Mensch mit herrlich humorvollen Romanen und zarten Liebesbriefen an seine geliebte Dora …!“

„… er war ein Ausnahmetalent, der erst in späten Jahren, von einer tiefen Melancholie kommend, jedoch über die Liebe zu Dora zu einem herausragenden Schriftsteller wurde …!“

„… Franz Kafka war hoch geschätzt und hat zu Lebzeiten zahlreiche Werke verkauft, er konnte bis ins hohe Alter mit seiner Frau ein gesundes, glückliches und wohlhabendes Leben hier in Prag führen …!“

Doris schüttelt den Kopf und hebt ihre Hand:

„Entschuldigen Sie bitte, aber von welchem Franz Kafka sprechen Sie? Er wurde nicht alt, er war schwer lungenkrank, vermutlich auch depressiv, … und vermögend war er schon gar nicht. Und von welcher Dora sprechen Sie?“

Die Gäste auf den Rängen vor ihr drehen sich um zu Doris, sie lächeln, scharren verlegen mit den Schuhsohlen auf dem Kieselboden und vereinzelt ist ein Räuspern zu hören.

„Aber nein! Nein! Wir sind doch heute hier, um über die wunderbare Literatur von Franz Kafka zu sprechen und über die großartige Wende in seiner zweiten Lebenshälfte, als er Dora Diamant kennenlernte! Wie ist denn Ihr Name, gute Frau, und für welchen Literaturbetrieb schreiben Sie?“ Der Diskussionsleiter ist nun von seinem Platz aufgestanden und betrachtet sie interessiert.

Alle Farbe weicht aus Doris’ Gesicht, eine Gänsehaut macht sich auf ihren Unterarmen breit, sie fühlt die Blicke in ihrem Rücken wie brennende Speere.

„Ich, … also ich, … mein Name ist Doris … Doris Diamant!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

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