PROLOG
„Weißt Du, wo hier die nächste öffentliche Toilette ist?“, grinste der Mittvierziger das blonde zarte Mädel mitten im Grünen schelmisch an. Sie verneinte, seine Hosen färbten sich vom Schritt hinab dunkel, und es ergoß sich ein Lackerl über seine Schuhe. Er mußte wohl vorher literweise getrunken haben, um genau diesen Effekt zu erzielen.
Eine – nennen wir sie eine Art von Freundin von mir, es tut nichts zur Sache – erzählte mir unlängst davon. Eine wahre Begebenheit, nichts davon erfunden oder beschönigt.
„Oh, zu spät!“, lachte er dann, sich dabei den Bauch haltend und scheinbar ungläubig immer wieder auf sein Hosentürl blickend. Er hatte es darauf abgesehen gehabt, so meine Art Freundin. „Zu spät!“, „Ha ha“, lachte er, während seine Hosen klitschnaß geworden waren. „Zu spät!“, lachte er immer wieder wie ein Irrer, „Zu spät, haha!“. Ob er sie auf einen Kaffee einladen könne, sie verneinte dankend. Seltsam? Aber so steht es geschrieben. Er empfand Wonne dabei, sie Abscheu und auch ein wenig Angst, die wenigstens durch ihre beiden kräftigen Hunde gedämpft werden konnte. Im Beisein der beiden Hunde und dieser Art von Freundin ließ er alles los. Er befreite sich. Es war Absicht, so dürfen wir alle annehmen.
LIBERTÉ!
>Be-kennt Euren Glaa-hau-ben ... Wir glauben an die eine katholische und apostolische Kirche …< So tönt es gerade aus dem Radio. Nachnationaltagsfeiertagssonntagsradiogottesdienst neben einem weichen Ei und etwas Ingwertee. >Gott unser Vat-haaa! Wir bitten Dich, erhöre uns …<
Doch was war zuvor geschehen? Wer hatte mich gestern erhört und angenehm verstört? Es war Viennale und es war Albert Serra, mein Lieblingsregisseur, ich war gepilgert, und er war gekommen. Ganz in Schwarz, wie seine Filme, ein weißes Hemd, darauf eine dunkelblutrote Krawatte. Der Katalane. Der Guru. Schon vor sechs Jahren hatte ich – damals noch Viennalennovize – durch eine damalige gewesene sogenannte Lebensabschnittskurzpartnerin auf das Filmfestival aufmerksam geworden, einen seiner Filme ausgewählt. Es war weiland das historische Metrokino, Mitzi (alle Namen von der Redaktion geändert) fadisierte sich, als da fast drei Stunden lang Casanova fraß, schiß, vögelte, dabei genüßlich grinste und schließlich in der Pampa auf den Grafen Dracula traf. Schräger geht’s nimmer. Einige verließen den Kinosaal, Mitzi verzog das Gesicht, seufzte, lugte andauernd auf die Uhr, ich aber genoß. Endlich einer, der die wesentlichen Dinge des Lebens anschaulich machte. Endlich einer, auf den man sich verlassen konnte.
>Betet, Schwestern und Brüder, daß mein und Euer Opfer Gott dem Allmächtigen gefalle.<
Casanova, mit weiß auftoupierter Perücke, grienend Hühnerkeulen und knackende Hummer schmatzend, gepudert, zartrosa Rüschenhemd, Schönheitspunkt, von hinten eine Mätresse belebend und anschließend beim Stuhlgang gesichtet. Dracula als das Ende der Welt. Der ganze Kreislauf des Lebens in all seiner Schönheit eingefangen.
Albert Serra gestern in der Urania. LIBERTÉ. Ich wußte und wir alle wußten, was wir erwarten dürften. „I guess you all know what is expecting“ so der Maestro launig-trocken vor der Vorführung.
>Nehmet und esset alle davon, das ist mein Leib, der für Euch hingegeben wird< tönt es gerade aus der Radiomesse.
„There is some pain, and also sex!“, und Serra lächelte ein wenig.
> … zur Vergebung der Sünden, tut dies zu meinem Gedächtnis.<
Im Viennalefolder hieß es, daß da ein paar Libertins des späten 18. Jahrhunderts wie Vampire kurz vor dem Verdursten durch die Nacht torkeln. „Allerdings sind nicht alle Körper für die eigenen Ideale gebaut. Als Zuschauer wird man zum Voyeur eines bizarren Spektakels, in dem die männliche Potenz zur großen Abwesenheit im lüsternen Halbdunkel einer lüsternen Erwartung wird.“
Es ist Wien, es ist Ende Oktober, die mystisch skorpionische Zeit des Werdens und Vergehens, der Liebe und des Todes hat bereits begonnen. Halloween, das Tor zur Anderswelt, steht kurz bevor. Die Viennale weiß, was sie wann zu bieten hat. Heart-shaped box.
Mitten im Wald, der sich real in Portugal befindet, erzählt ein junger höfischer Gecke frankophon von der Hinrichtung eines der Attentäter (?) von Ludwig XV., der anschließend gevierteilt wurde, „nur sein Kopf schrie weiter bei vollem Bewußtsein. Das konnten sich drei Damen, Herzoginnen im Range, genüßlich nicht entgehen lassen.“ Hieß es da sinngemäß in der Originalfassung mit englischen Untertiteln. Das alles erinnert ein wenig an „Das Parfum“ von Patrick Süskind, ähnliche Epoche, ähnliche Topographie, diverse Hinrichtungsstätten als zentrales Memento mori und als Dreh- und Angelpunkt von Wort und Bild.
Da treffen sich in einer Kutsche le Duc, der Herzog, also der unvergeßliche Helmut Berger in einer Prinzenrolle, und ein Gesandter von Friedrich dem Zweiten von Preußen. Worüber verhandelt wird, ist wurscht. Es geht nicht um die Handlung. Man parliert einmal en Allemand, um dann wieder unvermittelt ins Französische zu wechseln. Alleinegelassen wolle er sein, le Duc.
Da kommen Menschen ins Spiel, dicke, behaarte, zwergenhafte, große, Männer und Frauen. Da wird von Schmerz gesprochen, auch plötzlich auf Italienisch. Herzog Helmut mutiert stante pede zu il duca! „Senta, duca!“ heißt es da salbungsvoll und es verfehlt seine Wirkung nicht. Ebenso wenig wie die Hermann-Nitsch-haften-Szenen, in denen eine junge, splitternackte, an den Händen an einem Baum aufgehängte Maid nächtens mit Kübeln einer weißen, trüben, zähen (eventuell selbstproduzierten, gar anthropogener Provenienz?? ...) Soße überschüttet wird und sich unter ihren Schreien und ihrem Betteln nach mehr ein wilder Komparse sein Gemächt an ihr reibt, bis sie unter Winseln und Lustgeschrei, das schließlich in ein wollüstiges Wehklagen mündet, endlich reif wie Fallobst im Oktober auf den kalten Erdboden knallt.
Grausamkeit ist keine Disziplin des Albert Serra. Das sind fleischgewordene sadomasochistische Dämmerungsphantasien, wie sie sich der weiland nackt angekettete Hermes Phettberg, größter genialischer Windelhosenwichser vor dem Herrn, nicht hätte bombastischer ausdenken können.
Da belauern sich dann wieder ein paar junge Mannen minutenlang im Gebüsch, olivenfarben die Haut, quellend der Schritt, um sich dann homophilen Dreierkonstellationen hinzugeben. Doch auch die holde Weiblichkeit kommt nicht zu kurz. Sadovoyeuristische Szenen, lesbische Streichelungsszenarien in Reifenkleidern à la Madame Pompadour wechseln sich ab mit mißlungenen Koitusversuchen und den einhergehenden Bestrafungen erektil dysfunktionaler masochistischer Natur. Albert Serra schöpft aus dem Vollen und läßt hier nichts aus. Dort ein stöhnender (Schein?)-Dreier von zwei dickwänstigen Pagen und einem kleinwüchsigen Voyeur, dort eine exhibitionistische Kopulation in der Kutsche, die sich dann doch bloß als Leckorgie a tergo entpuppt.
Enttäuscht? Iwo. Dafür sorgen dann doch ein paar Lustschreie, wenn der alternde Conte (?) unter bestialischem Gebrüll minutenlang um weitere Züchtigungen mit der Reitgerte bettelt. Sein Arsch ist dabei schon so blutig geknallt wie ein Steak in den ersten Minuten am Grill. Daß das alles echt ist, wird Don Albert später in katalanischem Akzent bestätigen, „the whipping really hurts a lot, i’ve tried it on my leg!“
>Herr unser Gott, gib daß deine Sakramente in uns das Heil entfalten, das wir verlangen, damit wir einst …<
Der Conte (oder sonstwer, ist eigentlich egal und für den Plot komplett wurscht) winselt und man glaubt, daß er bald das Zeitliche segnen wird, weil er so erschaudernd laut heult, wie ein Schwein, das man langsam absticht. „Donnez!“, schreit er weiter, „Gebt es mir! Ich befehle es Euch! Oder wollt Ihr so lächerlich sein wie ich selbst?“, liest man da sinngemäß in den englischen Untertiteln. Ich lache etwas erleichtert, auch, um mich von den harschen Bestialitäten auf der Leinwand innerlich ein wenig abzulenken.
Sie lassen von ihm ab und er winselt leiser.
Ein anderer alternder Geck will, daß sein junger Widerpart das Erbrochene einer Geliebten während des Aktes zu sich nimmt. Avec plasir, erwidert nunmehr dieser, er werde es internalisieren und es ihm am nächsten Tage verdaut zum Geschenke machen. Oh, meint darauf der Erstgenannte, er habe den anderen wohl tatsächlich unterschätzt. Dieses Prozedere, diese parabiologischen Vorgänge sieht man zwar (Gott sei Dank) nicht, aber bereits der Gedanke ist grausig genug. Mon Dieu.
Einige Menschen verlassen den Kinosaal.
Wieder ein paar Minuten dunkles Dahin-Stelzen durch den Wald als Abkühlung. Wiederholtes plakatives Gähnen eines Kinobesuchers weit rechts. Böse Blicke meinerseits in der ungesehenen Düsternis nach rechts. Die lemurenhaften Antihelden im Zwielicht dieser roman(t)ischen Nacht spionieren, kriechen, stöhnen in der Zeitschleife eines unendlichen Kontinuums und lecken, knebeln, flagellieren sich gegenseitig weiter völlig losgelöst von Handlung, Sinn, Telos, Topos oder Chronos. Ein erlebnisparkhafter cineastischer Swingerclub im Kopf für ein paar aristophile Postromantiker mit einem Faible fürs außergewöhnlich Lustig-Dreckige.
Ich warte fast nur darauf, daß eine oder einer auf den plüschig-roten, ja beinahe freudenhausmäßigen Nebensitzen, zu denen ich mir sorgfältig mit meiner neuen maßgefertigten Hirschlederjacke und meiner englischen Steppjacke eine natürliche Barriere aufgebaut hatte, das Hosentürl aufmacht und anfängt mitzumachen. Deo gratias erfüllt sich diese meine Befürchtung nicht, wir sind halt immerhin doch noch im Ersten und nicht im Nonstop-Kino am Ottakringer Gürtel, wo dies dem Vernehmen nach Usus sein soll …
Zur weiteren Erbauung ein paar angedeutete Masturbationsszenen, etwas Herumgewälze im Laub und schließlich die Erlösung: Golden Showers für einen kleinwüchsigen Gecken. Zunächst spreizt eine barbusige Hofdame (angeblich eine Art Äbtissin, aber auch diese Andeutung geht im viersprachigen Sprachpanoptikum mangels Relevanz ohnehin unter, weil absolut nebensächlich) ihre schlanken Beine sehr weit, hockt sich über ihn hin und läßt aus ihrem unrasierten dunklen Geschlecht einen halben Ozean auf den (bedauernswerten oder beneidenswerten?) Gesellen plätschern. Dieser reibt sich sein runzliges Gemächt und wähnt sich im Elysium. Zu schön ist diese dunkle Scham! Zu herrlich diese Brüste, diese weiße Perücke und die weiße, glatte Haut! Bebende Brustwarzen.
Schließlich finden die Bäche ihre Verstärkung durch Compagnons, die scheinbar unablässig wie aus tausend Fässern ihren goldenen Nektar auf den beinahe versinkenden Körper des kleinen Herrn laufen lassen. Was wie ein Wunder scheint, ist nur eines: Liberté. Freiheit durch Brunzen. Sich also sozusagen Freipissen, alles auch sich herausludeln.
Cosi fan tutte. Junge Römer. Wir spielen jedes Spiel. Daß in einer unbedeutenden Nebenszene der eingangs erwähnte Duca, Herzog Helmut von und zu Berger, von hinten meuchlings ermordet wird, ist angesichts der Kürze der Szene und des Gesamtkontexts vor allem wieder eines: völlig wurscht.
Einer weniger macht das Kraut also den Wald auch nicht fett.
>so bringen wir Dir das heilige und lebende Opfer dar ...<
Was man aber tatsächlich nie explizit vor die Linse bekommt, ist ein erigiertes männliches Glied. Allesamt sind sie schlafend, friedlich oder höchstens urinierend. Der junge Geck sagt, voyeuristisch beiwohnend, zum alten sinngemäß: „Er (der Dritte, Beobachtete) war schon lange nicht mehr hart. – Wichtig ist auch das Innere, das Erlebte. – Ich glaube lieber das, was ich sehe. – Was zählt, ist die Imagination.“ Schade vielmehr für die interessierte Herrenwelt, daß die organische Weiblichkeit sich immer nur unter einem dunklem Haarwald mystisch erahnen ließ …
Schließlich bricht die Dämmerung über den Wald herein, zu den sonst im Film üblichen Waldgeräuschen gesellt sich etwas Musik und etwas Tageslicht umschwebt die Baumkronen wie Schlagobers eine duftende Melange.
Bei diesem Film weiß ich nicht, ob es sich um absoluten Schwachsinn oder um eine überdimensionale Genialität oder irgendwas dazwischen handelt. Verhaltener Applaus. Beschämung. So eine Palme in Cannes cann [sic!] doch nicht irren!?! Sollen sie lachen oder fluchen? Kaltwarm. Bringt uns (auf) die Palme. Doch, ganz ehrlich: Serra erfüllt mein Universum mit dem Besten. Abgesehen von den Bestialitäten ist es für mich eine intellektuellere Anti-Mainstream-Version von „Interview mit einem Vampir“ mit Brad Pitt aus den Neunzigern, das aber auch nicht ohne war, wenngleich auch weniger explizit sexuell und nihilistisch-infantil. Wer wie ich gerne einmal auf den Zentralfriedhof fotografisch spazieren geht oder zu Halloween vulgo Prä-Allerheiligen ins mystische Venedig wandelt, wird – wieder einmal ganz in der hohen Schule von Eros und Thanatos – seine nicht unhelle Freude an diesem Leckerbissen haben. Eine apokalyptische Irrfahrt in Sloterdijk’sche Tiefen, die Wiener Urania als Darkroom der überschrittenen Grenzen von Raum, Zeit und gutem Geschmack.
Ach, wie schad, daß Wir „Le mort de Louis XIV.“ von Ré Albert noch nicht gesehen haben. Wird noch. Todsicher!
Wir, also ich, lauschten noch seinen Ausführungen im Anschluß an den Film, die da in etwa waren: „some people said it seems like i’ve just abandonned the actors on a stage. and somehow it was like that. J i also wanted to have a great name on the set that’s why i chose helmut berger. we had to bring him in a good condition before. we’ve just spent 3 weeks on the script. some oft the actors where no professional actors but people from a facebook casting or technicians or friends. i basically wanted to show aristocrats in the 17th century without any rehearsal in a dark mood. sensual! with nudity. It was tricky. the tension. the loss of control by this nudity. you expose yourself, there was no communication between the actors in the darkness. the friction between the actors was real, also the golden showers (which was made by several guys). the whipping was real and painful.
i put together handsome people, ugly peoply, young people and old people and looked what would happen. masters and servants. this was complex! i love pasolini as a director. he was a master! nudity provokes tension. the end of the movie with the daylight was the end of a dream. like if you are leaving a discotheque in the morning and recognise: the night is over. the whole project was also influenced by casanova and foucault.“
Ein filmisches Sozialexperiment sondergleichen sozusagen. Echt nicht ohne.
Dann mußte ich gehen, denn ich hatte mich für neun mit einer Frau im Altwien verabredet, die meinen ersten Roman ganz glänzend fand und die darin auch etwas 18es-Jahrhundert-haftes entdeckte. Etwas Pompadourhaftes. Ich erschien eine halbe Stunde zu spät zum Treffen, weil ich Serra lauschte, der immer noch nicht aufgehört hatte, zu plaudern, ich wollte ihm eigentlich noch eine Frage stellen und ihm das Kompliment machen, daß er mein wirklicher Lieblingsregisseur sei, und das seit Jahren, doch ich ging. Zuerst endlich aufs Klo (my private golden shower, moralisch astrein und ethisch bedenkenlos). Und dann ins Altwien. daß ich soviel später kam, mache ihr nichts aus, sie saß schon im Lokal und hatte schon drei weiße Spritzer intus. Sie strahlte mich an.
>Laßt uns beten, so wie der Herr uns zu beten gelehrt hat.<
EPILOG
Jemand, den ich gut kannte, fuhr vor kurzem ins Südburgenland des einundzwanzigsten Jahrhunderts zum Schreiben in ein kulturelles Refugium, in dem auch ich vor kurzem gewesen war, auch ein älterer, seit neustem auch überregional recht bekannter unsteter, nicht unbegabter südösterreichischer Literat (Marke: Feuilletondarling der landwirtschaftlichen Bezirkszeitung, immerhin ausgezeichnet mit der PEJNLICHKEJT-Medaille eines bekannten Möbelhauses, Bohnensuppenfetischist) mit stark verbesserungswürdigen Manieren, unvorhersehbarem Gestus und fragwürdig-abstrusen Ausschweifungen, war außerdem schon einmal dort gewesen. Als dieser jemand mit seinem ausgeborgten Klapprad in einen dörflichen Kreisverkehr bog, schnitt ihn fast ein riesiger sauteurer Bauerntraktor. Der Landwirt, dem dieser richtig dicke und sauteure Traktor mit den mannshohen Zwillingshinterreifen augenscheinlich gehören mußte, schrie vom Sitz herunter auf den Radler: „Du Oarschloch!“, und hupte erschreckend laut und überholte knapp und preschte auf der burgenländischen Ortsstraße vor. Der Radfahrer hob spontan den Daumen und deutete dem Traktorfahrer im Rückspiegel „thumbs up!“. Er hatte es ironisch gemeint. Mehr brauchte es nicht mehr. Der bäuerliche Traktorfahrer fuhr rechts heran und parkte seinen Traktor im Straßengraben und sprang von seinem wuchtigen Gerät mitten auf die Straße. Er war voller Zorn bereit gewesen, den Radfahrer von seinem alten Rad zu zerren und Gewalt an ihm und gegen ihn anzuwenden. Diese Region mutet bisweilen als rechtsfreier Raum an, es gilt das naturrechtliche Faustrecht, die sogenannte Freiheit des Vorschlaghammers und der Mistgabel.
Der Radfahrer trat mit voller Kraft in die Pedale und zielte auf den schmalen freien Straßenbereich zwischen aggressivem Traktorfahrer rechts und tiefem Straßengraben links und fuhr mit voller Kraft konzentriert voraus. Der Bauer aber, ja der Bauer! Der stand unmittelbar neben dem knapp rechts an ihm vorbeidüsenen Radfahrer und, anstatt ihn vom Rad zu stoßen, sammelte er seine gesamte Spucke und spuckte dem Radfahrer mitten auf den Körper. Eine bäuerlich-aggressive Munddusche sozusagen. Es war ein sehr kurzer, schnell passierender Moment gewesen, sodaß der Bauer nicht wirklich gut zielen konnte. Vielmehr befanden sich danach lauter kleine weiße Spuckepunkte am grauen-Umbro-Kapuzenpullover des Radfahrers, wie dieser später zuhause entdeckte. Hatte Friedrich Barbarossa noch ein rot-weiß-rotes Hemd vom Blut der Schlacht gehabt, so hatte unser unbekannter Radfahrer einen grau-spuck-grauen Pullover von Umbro erhalten. Es spukte nicht nur, nein es spuckte im Südburgenland. Was wäre passiert, wenn der Radfahrer stehen geblieben wäre und ihm 1. die Hand zum Friedensgruß gereicht hätte oder 2. ihm das blanke Hinterteil als Desavouierung gezeigt hätte oder 3. ihm ebenso ins Gesicht gespuckt hätte?
Man wußte bei dieser Sorte von Menschen insbesondere in Österreich nie, ob der Bauer nicht mit der Mistgabel oder dem Gewehr wiederkommen würde und Ausschau nach dem grauen Pullover gehalten hätte. Er würde die „Schuld“ bis zu den Generationen der Nachkommen rächen wollen. Und sie entweder in einen Keller sperren oder alle auspeitschen, aufhängen und niederpissen. Man macht hier A-A. Alltäglicher Austroprovinzieller Agrarsadismus. „… das ist kein guter Menschenschlag hier, sagte der Doktor … das Lächerliche geht von der Spitze aus ... unser Staat ist eine kleinbürgerliche Unzucht ... das alles sind Untergangssymptome, wie die Menschen: Feinde der Klarheit, die Erniedriger des Verstandes, seine Schöpfer, einer lacht und einer weint. ... die Menschen, die Rechtfertiger ihrer schweinischen Schönheitsfehler ... und alles Naturgeschichte, alles, Urin und Sprache, phantastische Irrtümer eines zwerchfellerschütternden Gottes … die Menschen sind mit Vorsicht zu genießen, jedes Gesicht ist eine Falle, in die man hineintritt … das ist kein guter Menschenschlag hier, sagte der Doktor, die Leute sind verhältnismäßig klein, man steckt den Säuglingen Schnapsfetzen in den Mund, damit sie nicht schreien … alle im Rausch gezeugt, müssen Sie wissen … größtenteils kriminelle Naturen … Die schwere Körperverletzung und die Unzucht und die Unzucht wider die Natur sind an der Tagesordnung. Die Kindesmisshandlung, der Mord, Vorfälle für Sonntagnachmittage. … Man wünscht sich ein Schwein, kein Kind … die Schulen haben den allerniedersten Standard und die Lehrer sind niederträchtig, verachtet ... Frühreif sind die Kinder, die man hier sieht. Verschlagen, o-beinig, mit Ansätzen zum Wasserkopf. Die Mädchen bleich und dürr und von Ohrringlocheiterungen geplagt … ich habe noch nie einen schönen Menschen gesehen in diesem Land … Die Mädchen verficken sich …“[1] Liberté. C’est rare. Realité. C’est surtout.
> Gehet hin in Frieden! – Dank sei Gott dem Herrn.<
[1] Aus: Thomas Bernhard, Argumente eines Winterspaziergängers. Zwei Fragmente zu Frost.
Elmar Mayer-Baldasseroni
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(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text großteils im Original belassen.)