Schlagwort-Archiv: Von Mücke zu Elefant

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Tiger

Erstaunlich, wie schnell manchmal alles geht. Erst vorgestern habe ich auf die Anzeige „Villenhaushalt sucht Kindermädchen, Erfahrung erwünscht, zwei bis drei Abende pro Woche, tierlieb, gute Bezahlung“ reagiert, und schon lausche ich den Anweisungen der Inserenten, Herrn und Frau Panthera, die im Begriff sind, auszugehen. Etwas überheblich sind die beiden, zwar freundlich, aber reserviert. Die Achtjährige, auf die ich aufzupassen habe, hat diese Haltung übernommen, hat mir vorhin kühl die Hand gereicht, mir prüfend in die Augen gesehen und ernst gelächelt. Sie hat sich brav von ihren Eltern verabschiedet und ist in ihrem Zimmer verschwunden.

„Sie brauchen das Abendessen für Desiree nur aufzuwärmen. Auch für Sie ist reichlich da“, sagt Herr Panthera. Er verstaut bedächtig sein Smartphone und sein Portemonnaie in den Innentaschen seines Sakkos. „Bitte kein Fernsehen. Es gibt genügend interessante Spiele und Bücher.“
„Desiree wird Ihnen alles zeigen. Um neun Uhr wird sie schlafen gehen. Unsere Tochter ist sehr selbstständig“, sagt Frau Panthera. Sie zieht sich eine gestreifte Jacke an, betrachtet sich im goldumrahmten Vorraumspiegel.
„Eines jedoch“, räuspert sich Herr Panthera, schon einen Schlüsselbund in der Hand. „Eines jedoch bitten wir Sie, ohne Wenn und Aber und ohne es zu hinterfragen, zu respektieren. Uns ist vor einigen Wochen eine Katze zugelaufen. Desiree jedoch sieht in dem Tier einen Tiger. Spielen Sie einfach mit, auch wenn Ihnen das lächerlich erscheinen mag. Tun Sie so, als ob es tatsächlich ein Tiger wäre, dann wird dieser Abend für Sie problemlos verlaufen.“

Gegen Mitternacht würden sie zurück sein, sagen sie noch, wünschen mir einen angenehmen Abend, und dann beobachte ich auch schon erleichtert durch das Fenster, wie die beiden durch den gepflegten Vorgarten schreiten, in ihren grauen Jaguar steigen und wegfahren. Tief ausatmend finde ich, dass ich mir nun wirklich ein Getränk verdient habe, entdecke auch sogleich die unfassbar reichhaltige Hausbar im Wohnzimmer. Ich genehmige mir ein Glas Wodka.
Desiree kommt aus ihrem Zimmer, geht, ohne mich anzusehen, an mir vorbei in die Küche, und mit einem großen, rohen Fleischstück in ihren Händen wieder zurück.
Ich muss lachen. „Das ist wohl für dein Tigerkätzchen“, sage ich.
Das Mädchen antwortet nicht, würdigt mich keines Blickes, verschwindet wieder in ihrem Zimmer.

„Verzogener Fratz“, sage ich leise und amüsiert, mache es mir auf dem weißen, weichen Sofa bequem, schalte den riesigen Fernseher ein.
Nach einer Weile sitzt Desiree plötzlich neben mir.
„Na, schläft dein Tiger nun nach der Fütterung?“, frage ich.
Sie nickt.
„Darf ich deine Raubkatze mal sehen?“
Sie steht auf, öffnet eine Schublade, nimmt ein Foto heraus und reicht es mir. Darauf thront sie, Desiree, strahlend, lächelnd, auf dem weißen Sofa, auf dem ich soeben sitze – ihre rechte Hand ruht liebevoll auf dem riesigen Kopf eines entspannt zu ihren Füßen liegenden, ausgewachsenen Tigers.
„Sehr gut gemachte Fotomontage“, lobe ich.

In diesem Moment höre ich aus Desirees Zimmer lautes, bedrohliches Fauchen. Ich zucke zusammen.
„Tiger träumt nur“, sagt Desiree. „Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich fürchte mich nicht vor CDs mit Tiergeräuschen“, sage ich und spüre Ärger in mir hochsteigen. „Genug jetzt!“ Gereizt knalle ich das Foto auf den Couchtisch. „Ich habe Hunger. Komm, du Tigermädchen, essen wir etwas.“
Wir schweigen beide, während ich das bereitgestellte Gulasch aufwärme, Brot aufschneide und Desiree den Tisch deckt. Das Essen schmeckt gut. Ich trinke teuren Rotwein, betrachte das stille, schmale Mädchen mir gegenüber.
„Ist das nicht Tierquälerei, einen Tiger im Haus zu halten?“, frage ich provozierend.
Desiree nimmt einen Schluck Wasser, zupft an ihren langen, blonden Zöpfen, schaut an mir vorbei aus dem Fenster.

Als ich keine Antwort mehr erwarte und schon eine scharfe Frage nachschießen will, sagt sie laut und deutlich:
„Erstens: Das ist kein gewöhnlicher Tiger. Zweitens: Ich halte ihn nicht gefangen, er kann gehen, wann immer er will. Fast jede Nacht ist er draußen im Wald hinter unserem Haus und kommt am Morgen wieder. Er ruht sich bei mir aus. Denn drittens: Er ist sehr  gerne bei mir.“
Wut steigt in mir auf. Wie kann ein kleines Kind derartig arrogant und verlogen sein, frage ich mich. Ich trinke den Wein aus, stehe auf, wende Desiree den Rücken zu, spüle den Teller ab und sage:
„Na, du hast ja eine blühende Fantasie. Aber mich interessiert deine ausgedachte Geschichte überhaupt nicht. Hör also bitte auf mit diesen dummen Lügen!“

Ich drehe mich zu Desiree, die jedoch lautlos verschwunden ist.
„Verrücktes Kind!“, schimpfe ich in die leere Küche, schenke mir nochmals großzügig Wein ein, stapfe damit ins Wohnzimmer.
„Eines jedoch ...“, äffe ich die Ansprache ihres Vaters nach. „Eines jedoch bitten wir Sie ... Respektieren Sie ... Tun Sie einfach so, als ob ...“
Ich lasse mich wieder auf die weiße Couch vor den Fernseher fallen, rufe laut:
„Ganz sicher nicht, Familie Größenwahn, nicht mit mir!“, und verschütte beim Hinstellen des Glases ein wenig Wein auf das Foto mit Desiree und dem Tiger. Ich zerknülle es und stopfe es in meine Hosentasche.

Aus dem Kinderzimmer dringen gedämpft Geräusche. Ich drehe den Fernseher lauter. Doch Desirees Lachen und eine Art freudiges Winseln lassen sich nicht übertönen. Ich trinke mein Glas aus, stehe auf, lege mein Ohr an die Tür. Es hört sich an, als würden nun in dem Zimmer Möbel geschoben. Wieder lacht Desiree hell auf.
Ich klopfe, und sage, bemüht, meine Stimme nett und klar klingen zu lassen:
„Desiree, es ist Schlafenszeit! Ich komme jetzt rein zum Gute-Nacht-Sagen.“
„Nein! Bitte nicht!“, ruft Desiree.
„Aber warum denn nicht?“, frage ich, so freundlich wie nur möglich, und fühle mich dabei seltsamerweise wie der böse Wolf aus einem Märchen.
Stille. Dann Desirees deutliche Stimme: „Tiger mag dich nicht.“

Ich muss gegen meinen Willen kichern, drücke die Türklinke nieder, kann aber nicht öffnen, spüre Widerstand. Ich schaue durch das Schlüsselloch. Es scheint kein Schlüssel zu stecken, offensichtlich hat Desiree ein Möbelstück vor die Tür geschoben.
‚Mit mir nicht, du Biest‘, denke ich, ‚mich sperrt niemand aus.‘ Wie mich dieses Kind mitsamt seiner Tigergeschichte aufregt, mich immer wütender macht! Um mich zu beruhigen, genehmige ich mir noch ein Gläschen Wodka von der Hausbar. Dann klopfe ich wieder an die Kinderzimmertür und sage ruhig und bestimmt:
„So, Desiree, Schluss jetzt mit dem Theater. Mach bitte die Tür auf. Ich möchte nachsehen, ob alles in Ordnung ist bei dir und deinem Tigerkätzchen.“
Keine Antwort.

Ich drücke wieder die Türklinke nieder, stemme mich mit aller Kraft gegen die Tür, schaffe es tatsächlich, das davorgestellte Möbelstück wegzuschieben. Die Tür ist offen.
„Na bitte“, sage ich zufrieden, betrete das Kinderzimmer.
Es passiert blitzschnell.
„Nicht, Tiger!“, höre ich Desiree schreien. Aus einer Ecke des Raumes springt ein grollendes, pelziges, mächtiges Etwas gegen mich, ein weißes Raubtiergebiss blitzt dicht vor meinem Gesicht auf, und schon schmettert ein wuchtiger Prankenschlag auf meinen Kopf. Dann ist alles dunkel und still.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24185

Vögel

Aha, das ist also die Erde, überlegt einer der beiden Außerirdischen nach der Landung. Schon so viel habe ich über sie gelesen, und jetzt sind wir wirklich hier, denkt der andere. Sie verstecken ihr Raumschiff unter Zweigen. Dann verwandeln sie sich in Katzen und laufen herum. im Dorf begegnen sie Menschen, die gehen. Interessant, denkt der erste Außerirdische, das sind also die berühmten Menschen. Der zweite beobachtet Vögel. „Du Knorrrxxx“, sagt er als sprechende Katze zu seinem Kollegen, „schau mal, da in der Luft, das müssen die Wesen sein, die man „Vögel“ nennt.“ „Ja, Fliiimmm“, sagt der andere Außerirdische, „sie können fliegen, sie unterhalten sich mittels Lauten, die sie formen. Keine Frage, das ist die am höchsten entwickelte Spezies auf diesem Planeten. Sollten wir mit Erdlingen verhandeln, dann mit diesen Vögeln.“

Die Blaumeise und das Vogelhaus

Die Blaumeise und das Vogelhaus

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24150

Problembär

Ich bin der Problembär.
Nur weil ich manchmal Schafe fresse!
Ich brauche ja auch etwas zum Leben.
Ja, und gelegentlich mache ich auch Bienennester kaputt.
Um an den Honig zu kommen zu kommen, der mir so gut schmeckt.
Es gibt halt keinen Supermarkt, in dem ich einkaufen könnte.
Ich habe ja auch kein Geld.
Die Jäger wollen mich jetzt abschießen.
Ich hoffe, ich kann immer rechtzeitig davonlaufen.

Der Jensen-Bär auf dem Armaturenbrett

Der Jensen-Bär auf dem Armaturenbrett

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24141

Amselmännchen Elmar

Ich bin ein stolzes Amselmädchen. Es hat gerade aufgehört zu regnen. Ich bin auf der Suche nach Insekten. Da sehe ich eine Kollegin in ihrem Nest sitzen. Wie eine Königin thront sie darin. Und nun, wer kommt dahergeflogen? Ist das nicht mein Elmar? Er hat Baumaterial mitgebracht. Dieser Kerl, zuhause wird er etwas erleben! Andererseits, gelber Schabel und schwarzes Gefieder. Die Burschen sehen doch alle gleich aus. Wahrscheinlich irre ich mich. Und wenn nicht?, nagt es an mir.

Das Amselmädchen am Ufer des Lendkanals am 12. Juli 2023

Das Amselmädchen am Ufer des Lendkanals am 12. Juli 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24122

Nashörner

Auf einem Foto in einer Zeitschrift, das für den Kaziranga Nationalpark in Assam, Indien, wirbt, sind ein ausgewachsenes Nashorn und ein sehr kleines zu sehen. Das kleine ist wirklich sehr klein. Wahrscheinlich ist es die Mutter mit ihrem Kind. Das Kind hat noch kein Horn.

Ich male ihm eines auf seine Schnauze. Jetzt freut es sich. Auf dem Foto sieht man, wie es nun grinst und die Zähne zeigt.

Ich schätze, das habe ich gut gemacht.

Zwergi in der steinernen linken Hand

Zwergi in der steinernen linken Hand

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24086

Der Rote

Wir sagen „der Rote“ zu ihm. Er ist der rotgetigerte Nachbarkater, sehr alt, wir wissen nicht wie alt, aber es sind mehr als zwanzig Jahre. Früher ist er öfters hergekommen, und wir haben ihm zu fressen gegeben. Jetzt ist Winter, da bleibt er lieber zuhause, auch wenn es nur ein paar Meter von seinem Zuhause bis zu uns sind, nimmt er den Weg nicht auf sich, wahrscheinlich tun ihm die Knochen weh.

Er hat nur einen halben Schwanz. Über die andere Hälfte fuhr ein Auto, sie musste deshalb amputiert werden. Er tut sich daher beim Klettern schwer.

Irgendwann wird der Rote wohl nicht mehr kommen. Dann ist er im Katzenhimmel. Dort hat er wieder seinen ganzen Schwanz, er ist jung, schnell und stark. Und er wird nur so allein sein, wie er möchte.

Die Katze Lady Strange und der Rote am 12. Juli 2022

Die Katze Lady Strange und der Rote am 12. Juli 2022

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24066

Hallo Mädels!

Der Gigantopithecus war ein bis zu drei Meter großer Affe. Leider ausgestorben, klar, wie kann es bei der Größe anders sein? Oder möglicherweise doch zum Glück für den Homo erectus.

„Hallo Mädels!“, sagt das Alphamännchen zu seinem Harem. „Hallo, mein Lieber!“, „Hallo, unser Unterstützer!“, „Hallo Chef!“ oder so ähnlich grüßen die Weibchen zurück.

Was der Boss will, kann man sich denken. Noch ein Jungriesenaffe?, überlegt ein Weibchen. Wir haben doch schon längst kaum noch zu essen. Vielleicht wäre ein neuer Chef besser?

Das Tier-Klopapier - Affe

Das Tier-Klopapier - Affe

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24064

Ochs und Esel aus Bethlehems Stall

Wir leuchten zwar nicht am Firmament,
doch wir steh’n im Neuen Testament.
Wir waren einst die fade Staffage
vom Jesuskind und seiner Bagage.

Wir mussten im Hintergrund bleiben,
als tierische Tapete (echt zum Speiben).
während vor uns ein Wunder geschah:
die Geburt des Heilands – das wisst ihr ja.

Was kann man über uns sonst noch sagen?
Nichts. Wir werden‘s mit Würde ertragen.

Bernd Watzka
Aktuelle Live-Termine, Buch-Bestellungen und Videos

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 23176

Trockenfutter

Der schwarze Kater aus der Nachbarschaft läuft unserer hübschen Katze Lady Strange über den Weg. „Hallo Süße, was frisst du denn gern?“, fragt er. „Trockenfutter“, sagt sie. „Da hast du aber Glück“, sagt er, „Gestern haben wir das beste Trockenfutter der Welt geliefert bekommen.“ Lady Strange sieht ihn an. „Und, magst du nicht vorbeikommen? Sagen wir morgen Vormittag?“ „Okay“, sagt Lady Strange.

Am nächsten Vormittag huscht Lady Strange ins Haus des schwarzen Katers. „Wir haben einen Whirlpool“, sagt der Kater. „Magst du ihn mal ausprobieren?“ „Ich weiß nicht“, sagt Lady Strange. Sie wundert sich, warum der Kater einen weißen Bademantel trägt. Er braucht doch gar keinen, denkt sie. Er hat doch Fell. Da kommt ihr eine Idee. „Du, sag mal“, äußert sie, „bist du eigentlich kastriert?“ „Nächste Woche habe ich Termin“, antwortet der schwarze Kater.

Die Katze Lady Strange im Juni 2022 im Garten

Die Katze Lady Strange im Juni 2022 im Garten

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24007

Orlando und ich

Der Freitag beginnt anstrengend. Ich bin ja generell kein Freund von Smalltalk, aber Smalltalk frühmorgens ist mir ein Gräuel. Und als ich gegen sieben Uhr außer Haus gehe, wer steht da direkt vor meinem Gartentor und winkt mir freudig zu? Eine wahre Smalltalk-Meisterin: meine Nachbarin Ilse. Sie ist knapp achtzig Jahre alt, lebt wie ich allein und ist im Gegensatz zu mir immer gesprächsfreudig. Sie winkt übrigens nur mit einer Hand, in der anderen hält sie eine rote Leine. Am anderen Ende der Leine befindet sich der Hund, mit dem sie neuerdings unterwegs ist. Ein Spaniel-Mischling, der freundlich und ruhig wirkt. Als ich – was bleibt mir anderes übrig! – auf sie zugehe, begrüßt mich der Hund wedelnd. Ich bücke mich und streichle ihn, er drückt sich leicht gegen meine Beine. Ich habe nichts gegen Hunde. Die reden wenigstens nicht, sind bei weitem nicht so anstrengend wie ihre Besitzer. Wie eben Ilse, die mich sogleich mit einem Redeschwall überfällt:

„Guten Morgen, Oskar! Orlando mag Sie, wie schön! Ist er nicht süß? Wissen Sie, er ist ein unglaublich feiner, braver Hund. Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, wie ich zu ihm gekommen bin? Richtig gesagt, wie er zu mir gekommen ist? Nein?! Das muss ich Ihnen erzählen, das glauben Sie nicht – haben Sie kurz Zeit?“

Natürlich gibt sie mir nicht die Möglichkeit, „Nein“ zu sagen, sondern spricht ohne Punkt und Komma weiter:

„Es war vor zwei Wochen an einem sonnigen Morgen wie heute. Ich saß im Garten, frühstückte und las ein Buch. Plötzlich stand er vor mir. Vor Schreck fiel mir das Buch aus der Hand. Das Buch war übrigens Virginia Woolfs ‚Orlando‘. Darum nannte ich ihn so. Wahrscheinlich hat er den Frühstücksschinken gerochen und ist dem Geruch nach – und Sie wissen ja, Oskar, dass meine Gartentür immer offen ist. Der Ärmste war völlig ausgehungert. Ich fütterte ihn. Ging mit ihm zum Tierarzt. Danach schnurstracks zum Hundefriseur, sein Fell war furchtbar verfilzt. Orlando ist kerngesund, circa fünf Jahre alt. Er ist jedoch nicht gechipt, nicht registriert. Ich hätte ihn ins Tierheim bringen können, aber das habe ich nicht übers Herz gebracht. Er ist so lieb und intelligent. Außerdem stubenrein, folgsam – ein richtiger Bilderbuchhund. Aber die Sache ist die: Ich bin leider zu alt für einen bewegungsfreudigen Hund, meine Knie und meine Bandscheiben, die spielen nicht mehr mit. Ja, und darum bin ich auf der Suche nach dem richtigen Menschen für Orlando, der ihn bei sich aufnehmen ...“

An diesem heiklen Punkt schaffe ich es endlich, sie zu unterbrechen: „Dann wünsche ich Orlando alles Gute und Ihnen einen schönen Tag, Ilse – ich muss jetzt wirklich dringend ins Büro.“

Und rasch gehe ich an den beiden vorbei und Richtung Arbeit.

Nie im Leben, denke ich, würde ich einen Hund nehmen. Ich mag Hunde, aber sie sind etwas für extrovertierte Leute. Es wäre eine Qual für mich, mich ständig beim Gassigehen mit anderen Hundebesitzern unterhalten zu müssen.

Eine Viertelstunde später warte ich im Bürogebäude auf den Lift und freue mich auf mein stilles Arbeitszimmer. Ich schätze es sehr, allein in einem Büroraum zu arbeiten, ohne lästige Kollegen. Der Lift kommt, ich trete ein. Die Tür schließt, öffnet sich aber nochmal, und eine Kollegin tritt schnell samt ihrem Beagle ein. Der Beagle ist einer der zwei Bürohunde. Mein Chef, ein absoluter Hundenarr, besitzt den zweiten.

„Guten Morgen“, sagt die Kollegin.

„Guten Morgen“, sage ich, drücke auf den Liftknopf und starre ins Leere. Von dieser Kollegin weiß ich, dass sie Marie heißt, dass sie wie ich um die vierzig Jahre alt ist und dass sich ihr Bürozimmer im selben Stockwerk wie meines befindet. Und ich finde, das reicht. Mehr braucht man von einer Kollegin nicht zu wissen.

Der Beagle schnüffelt interessiert an meinen Hosenbeinen.

„Lucy“, sagt Marie tadelnd. „Entschuldigung“, sagt sie zu mir, „das macht sie normalerweise nie.“

„Kein Problem“, sage ich, „sie riecht wahrscheinlich Orlando.“ Und als Marie mich fragend ansieht, füge ich erklärend dazu: „Den Hund meiner Nachbarin.“

Zum Glück hält nun der Lift, wir steigen aus, wünschen einander einen schönen Tag und jeder verschwindet in seinem Bürozimmer.

Aufatmend lasse ich mich in meinen Schreibtischsessel fallen. So viel Kommunikation vor acht Uhr morgens strengt mich sehr an. Doch kaum fange ich an, mich etwas zu entspannen, tritt mein Chef mit seinem Schäferhund Rex ein. Und dann wird es so richtig anstrengend. Zuerst lobt mich mein Chef für meine jahrelange gute Arbeit, die ich leiste. Doch dann kommt er zur Sache. Er bittet mich eindringlich, doch etwas sozialer zu agieren, mehr mit meinen KollegInnen zu kommunizieren, in den Mittagspausen nicht immer zu verschwinden, doch mal auf eine Betriebsfeier mitzugehen. Dann entschuldigt er sich, weil Rex die ganze Zeit über an meinen Hosenbeinen schnüffelt, und ich stottere denselben Satz wie zuvor im Lift, dass Rex wohl den Hund meiner Nachbarin riechen würde.

„Soso, der Nachbarshund“, sagt mein Chef nachdenklich. Und dann: „Jetzt sage ich Ihnen mal was, Oskar. Ich bin überzeugt, dass Ihnen ein eigener Hund sehr guttun würde. Denken Sie darüber nach. Hunde sozialisieren Menschen, sage ich immer.“ Er klopft mir auf die Schulter, und lässt mich endlich allein. Allein mit meiner schlechten Laune.

Als ich mittags das Bürogebäude verlasse, umfängt mich sogleich die ganz spezielle Energie, die an einem beginnenden Wochenende herrscht: lärmende Schulkinder, Gelächter, Musik aus geöffneten Fenstern. Diese spürbare Lebensfreude um mich herum macht mich noch missmutiger, als ich es ohnehin bin.

Frustriert kicke ich einen Stein vor mich hin und denke an die Aussagen meines Chefs. An seine Schnapsidee, mir einen Hund anzuschaffen. An die sogenannte soziale Kompetenz, die von mir erwartet wird. Kann nicht akzeptiert werden, dass ich meine Ruhe haben will? Reicht es denn nicht, verlässlich meine Arbeit zu erledigen? Meine KollegInnen sind ja nicht unsympathisch, aber ich sehe keinerlei Anlass, nach Büroschluss mit ihnen auf ein Getränk zu gehen.

Ich bin eben Oskar, ein stiller Mensch, und nicht Ilse, die ihr Herz auf der Zunge trägt, und die – oh nein, das darf doch nicht wahr sein! – die mir tatsächlich soeben, zum zweiten Mal heute, mit einer Hand fröhlich entgegenwinkt. In der anderen Hand hält sie Orlandos Leine und eine Einkaufstasche. Es ist zu spät, rasch die Straßenseite zu wechseln. Nicht schon wieder, fluche ich innerlich.

Orlando scheint mich zu erkennen, denn er wedelt freudig, als er mich sieht, und zieht leicht in meine Richtung. Und da passiert es: Ilse verheddert sich irgendwie mit Leine und Einkaufstasche, stolpert und stürzt. Und liegt nun auf dem Gehsteig vor mir. Orlando schleckt ihr über Hände und Gesicht. Instinktiv nehme ich seine Leine.

„Ojemine“, jammert Ilse, greift auf ihr linkes Bein. „Ich kann nicht aufstehen.“

„Ich rufe die Rettung“, sage ich nervös, wähle sogleich die Nummer, gebe durch, was die sachliche Stimme am Telefon wissen will.

„Aber was mache ich denn nun mit Orlando?“, höre ich Ilse währenddessen rufen. „Wer kümmert sich jetzt um ihn?“

Und als ich das Telefonat beendet habe, sagt sie eindringlich zu mir: „Oskar, ich bitte Sie inständig, kümmern Sie sich um ihn, bis ich wieder zuhause bin. Bitte! Schauen Sie, in der Tasche hier ist reichlich Hundefutter, ich war vorhin einkaufen.“

Ich schnappe nach Luft, und dann geht alles blitzschnell. Das Rettungsauto hält, zwei Sanitäter kommen zu uns, stellen Ilse ein paar Fragen, legen sie vorsichtig auf eine Trage, Ilse und ich tauschen unsere Handynummern aus – und schlussendlich stehe ich da, die Einkaufstasche in der einen und Orlandos rote Leine in der anderen Hand. Orlando schaut angespannt in die Richtung, in die das Rettungsauto mit Ilse gefahren ist, und fiept leise.

„Tja, also“, sage ich hilflos. „Alles gut, Orlando.“

Als ich seinem Namen sage, hebt er seinen Kopf und sieht mich aus warmen braunen Hundeaugen an. Der Arme ist sicher genauso durcheinander wie ich, denke ich, gehe in die Hocke und streichle ihn.

„Vielleicht gehen wir mal eine Runde im Park, Orlando, und überlegen, wie’s nun weitergehen soll“, sage ich, während ich ihn hinter seinen lockigen Hängeohren kraule. Das mag er offensichtlich besonders gern, denn nach einer Weile wirkt er tatsächlich entspannter. Und dann gehen wir los, Orlando dicht an meinen Beinen. Unfassbar. Ich und ein Hund. Eigentlich gehe ich nach der Arbeit immer sofort nach Hause. Fußballschauen, ein Bier trinken, entspannen. Und nun gehe ich mit einem Hund spazieren, der an Hausecken und Bäumen schnuppert und markiert. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Wo richte ich ihm einen Schlafplatz? Wie beschäftige ich ihn? Wie oft muss er fressen?

Im Park befindet sich ein Trinkbrunnen, aus dem Orlando trinkt. Wir spazieren weiter, dann bleibt Orlando stehen, macht ein großes Geschäft, und ich bücke mich, um es zu beseitigen.

Als ich mich wieder aufrichte, steht ein Mann mit einem Labrador vor uns.

„Männchen oder Weibchen?“, fragt der Mann, während sich die Hunde beschnüffeln.

„Männchen“, antworte ich widerstrebend, und weiß wieder, warum ich nie einen Hund haben will.

Wenig später setze ich mich auf eine Parkbank im Schatten. Orlando platziert sich direkt vor mich, und sieht mich fragend an. Ich krame in Ilses Einkauftasche: Hundefutterdosen, Leberwurst, Packungen mit Leckerlis. Ich öffne eine davon. Orlando frisst mir aus der Hand. Ich streichle ihn. Wie weich sein schwarz-weißes Fell ist. Und wie hübsch er ist. Ilse hat recht, er ist ein ausgesprochen liebes Tier. Er schleckt mir ein paarmal über meine Hände, dann streckt er sich zu meinen Füssen aus, schnauft einige Male und schläft ein.

Plötzlich läutet mein Handy. Ich zucke zusammen. Mein Handy läutet nämlich sehr selten. Es ist Ilse.

„Ich bin hier in besten Händen, Oskar“, berichtet sie. „Nur wird mein Spitalaufenthalt wohl länger dauern. Oberschenkelhalsbruch. Ich muss operiert werden. Aber wie geht es Orlando? Und Ihnen? Kommen Sie zurecht mit ihm?“

Ich höre mich – und kann es selbst nicht glauben – ganz ruhig antworten: „Machen Sie sich keine Sorgen, Ilse. Wir sitzen im Park. Orlando hat getrunken und gefressen und schläft gerade. Ich kümmere mich um ihn, bis Sie wieder auf den Beinen sind.“

„Tausend Dank, Oskar! Sie wissen nicht, wie sehr mich das beruhigt.“

Sie erklärt mir nun ausführlich, wie viel und welches Futter Orlando morgens und abends bekommen soll, dann muss sie das Telefonat beenden, weil sie für die Operation vorbereitet wird.

Ich stecke das Handy weg, betrachte den schlafenden Hund zu meinen Füßen.

Da öffnet er die Augen, setzt sich, sich genüsslich streckend, auf, und sieht sich gähnend um.

„Oh, ist der süß!“ Zwei Kinder bleiben stehen. „Dürfen wir ihn streicheln?“

Zögernd nicke ich. Sie knuddeln und herzen ihn, und Orlando scheint es zu genießen.

Als die beiden gegangen sind, sage ich. „Nun gut, Orlando. Ich schlage vor, dass ich dir jetzt zeige, wo du vorübergehend wohnen wirst.“

Wir marschieren los. Beim Parkausgang kommen wir direkt an der Hundezone vorbei. Orlando wedelt und winselt aufgeregt, als er einige Hunde entdeckt, die drinnen auf der großen Wiese leinenlos miteinander herumtollen. Und ich jaule innerlich auf, als ich eine Gruppe von Hundebesitzern sehe, die sich angeregt miteinander unterhalten.

Das schaffe ich nicht, da reinzugehen, denke ich. Aber Orlando zieht mich Richtung Eingang, und winselt derart sehnsüchtig, dass ich meinen ganzen Mut zusammennehme und die Tür öffne.

„Aber nur kurz, Orlando“, sage ich. Zwei große Hunde laufen direkt auf uns zu. Ich bekomme Angst. Hoffentlich tun sie Orlando nichts. Zum Glück rennen die beiden an uns vorbei.

„Oh, du bist doch – Oskar?“, sagt eine Frauenstimme.

Ich drehe mich erschrocken um. Vor mir steht meine Kollegin, Marie, und lächelt mich an. Neben ihr wedelt Lucy. Sie und Orlando beschnuppern sich sofort interessiert und wirken freudig aufgeregt.

„Ist das der Hund, von dem du im Lift geredet hast? Der von deiner Nachbarin?“

„Ja, das ist Orlando, er gehört Ilse. Aber die ist jetzt im Spital – “, stottere ich. „Ach, es ist eine komplizierte Geschichte.“

Marie lächelt mir aufmunternd zu. „Jedenfalls ist Orlando ein sehr freundlicher Hund. Lass ihn doch mit Lucy spielen und erzähle mir alles“, sagt sie.

„Meinst du, ich kann ihn losleinen?“

Marie nickt. „Ja, das erkenne ich an seiner Körpersprache. Er und Lucy sind sich sympathisch. Und die Hunde hier sind alle sehr soziale Tiere, du brauchst dir keine Sorgen machen.“

Ich leine Orlando los.

Sofort laufen Lucy und er auf die Wiese, umkreisen einander spielerisch.

„Sehr schön“, lacht Marie, „sie verstehen sich prächtig. Komm, setzen wir uns und erzähle mir.“

Wir setzen uns auf eine der Parkbänke, und ich erzähle Marie die ganze Story von Ilse und Orlando. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt an einem einzigen Tag so viel geredet habe.

„Ich finde es großartig, dass du dich um Orlando kümmerst“, sagt Marie.

„Ach, ich wurde überrumpelt. Und ich hoffe sehr, dass Ilse möglichst bald zuhause und Orlando wieder bei ihr sein kann.“

„Mhm“, sagt Marie. „Ein Oberschenkelhalsbruch ist eine langwierige Sache. Und nach dem, was du über Ilse erzählt hast, sehe ich ehrlich gesagt im Grunde nur zwei Optionen für Orlando. Ein Zuhause bei dir – oder Tierheim.“

Ich erstarre vor Schreck über ihre Worte.

„Also die erste Option ist nicht möglich. Ein Hund passt überhaupt nicht zu meiner Lebensweise – zu mir – das sieht man doch sofort!“

„Das sehe ich völlig anders. Ich habe ein sehr gutes Gefühl bei euch beiden. Orlando hat bereits eine gute Bindung zu dir aufgebaut. Und du kannst richtig gut mit ihm umgehen, Oskar. Du hättest doch genügend Zeit für ihn, oder? Und du könntest ihn ins Büro mitnehmen. Überlege es dir bitte. – Aber ja, natürlich, einen Hund aufzunehmen, ist keine leichte Entscheidung. Ein Hund verändert das Leben seines Menschen grundlegend.“

Ich fühle mich zu verwirrt und zu erschöpft, um zu antworten. Da stürmen Orlando und Lucy mit wehenden Ohren zu uns, schmiegen sich an unsere Beine, wollen gestreichelt werden. Zufällig berühren sich Maries und meine Hände beim Hunde-Streicheln – und plötzlich schauen wir uns direkt in die Augen. Marie hat wunderschöne grüne Augen. Schnell muss ich wieder wegschauen.

Marie räuspert sich. „Wir müssen jetzt gehen, Oskar. Lucy bekommt um die Zeit immer ihr Abendessen.“

Sie leint ihre Hündin an, greift in ihre Tasche und gibt mir ein Kärtchen.

„Meine Handynummer“, sagt sie, „falls du Fragen bezüglich Orlando hast. Du kannst mich jederzeit anrufen.“

Und dann sitze ich, bevor ich mit Orlando nach Hause gehe, noch minutenlang da, betrachte Maries Visitenkarte und denke nach. Orlando hüpft neben mich auf die Bank und legt seinen Kopf auf meine Knie. Ich kraule ihn hinter den Ohren, und er schnauft zufrieden. Da wird es auf einmal ganz weit und leicht in mir drin. Und mir ist ganz klar, dass es nur eine einzige Option gibt. Auch wenn es bestimmt oft anstrengend werden wird, Ilse hat heute den richtigen Menschen für Orlando gefunden: mich.

Claudia Dvoracek-Iby

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