Der Freitag beginnt anstrengend. Ich bin ja generell kein Freund von Smalltalk, aber Smalltalk frühmorgens ist mir ein Gräuel. Und als ich gegen sieben Uhr außer Haus gehe, wer steht da direkt vor meinem Gartentor und winkt mir freudig zu? Eine wahre Smalltalk-Meisterin: meine Nachbarin Ilse. Sie ist knapp achtzig Jahre alt, lebt wie ich allein und ist im Gegensatz zu mir immer gesprächsfreudig. Sie winkt übrigens nur mit einer Hand, in der anderen hält sie eine rote Leine. Am anderen Ende der Leine befindet sich der Hund, mit dem sie neuerdings unterwegs ist. Ein Spaniel-Mischling, der freundlich und ruhig wirkt. Als ich – was bleibt mir anderes übrig! – auf sie zugehe, begrüßt mich der Hund wedelnd. Ich bücke mich und streichle ihn, er drückt sich leicht gegen meine Beine. Ich habe nichts gegen Hunde. Die reden wenigstens nicht, sind bei weitem nicht so anstrengend wie ihre Besitzer. Wie eben Ilse, die mich sogleich mit einem Redeschwall überfällt:
„Guten Morgen, Oskar! Orlando mag Sie, wie schön! Ist er nicht süß? Wissen Sie, er ist ein unglaublich feiner, braver Hund. Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, wie ich zu ihm gekommen bin? Richtig gesagt, wie er zu mir gekommen ist? Nein?! Das muss ich Ihnen erzählen, das glauben Sie nicht – haben Sie kurz Zeit?“
Natürlich gibt sie mir nicht die Möglichkeit, „Nein“ zu sagen, sondern spricht ohne Punkt und Komma weiter:
„Es war vor zwei Wochen an einem sonnigen Morgen wie heute. Ich saß im Garten, frühstückte und las ein Buch. Plötzlich stand er vor mir. Vor Schreck fiel mir das Buch aus der Hand. Das Buch war übrigens Virginia Woolfs ‚Orlando‘. Darum nannte ich ihn so. Wahrscheinlich hat er den Frühstücksschinken gerochen und ist dem Geruch nach – und Sie wissen ja, Oskar, dass meine Gartentür immer offen ist. Der Ärmste war völlig ausgehungert. Ich fütterte ihn. Ging mit ihm zum Tierarzt. Danach schnurstracks zum Hundefriseur, sein Fell war furchtbar verfilzt. Orlando ist kerngesund, circa fünf Jahre alt. Er ist jedoch nicht gechipt, nicht registriert. Ich hätte ihn ins Tierheim bringen können, aber das habe ich nicht übers Herz gebracht. Er ist so lieb und intelligent. Außerdem stubenrein, folgsam – ein richtiger Bilderbuchhund. Aber die Sache ist die: Ich bin leider zu alt für einen bewegungsfreudigen Hund, meine Knie und meine Bandscheiben, die spielen nicht mehr mit. Ja, und darum bin ich auf der Suche nach dem richtigen Menschen für Orlando, der ihn bei sich aufnehmen ...“
An diesem heiklen Punkt schaffe ich es endlich, sie zu unterbrechen: „Dann wünsche ich Orlando alles Gute und Ihnen einen schönen Tag, Ilse – ich muss jetzt wirklich dringend ins Büro.“
Und rasch gehe ich an den beiden vorbei und Richtung Arbeit.
Nie im Leben, denke ich, würde ich einen Hund nehmen. Ich mag Hunde, aber sie sind etwas für extrovertierte Leute. Es wäre eine Qual für mich, mich ständig beim Gassigehen mit anderen Hundebesitzern unterhalten zu müssen.
Eine Viertelstunde später warte ich im Bürogebäude auf den Lift und freue mich auf mein stilles Arbeitszimmer. Ich schätze es sehr, allein in einem Büroraum zu arbeiten, ohne lästige Kollegen. Der Lift kommt, ich trete ein. Die Tür schließt, öffnet sich aber nochmal, und eine Kollegin tritt schnell samt ihrem Beagle ein. Der Beagle ist einer der zwei Bürohunde. Mein Chef, ein absoluter Hundenarr, besitzt den zweiten.
„Guten Morgen“, sagt die Kollegin.
„Guten Morgen“, sage ich, drücke auf den Liftknopf und starre ins Leere. Von dieser Kollegin weiß ich, dass sie Marie heißt, dass sie wie ich um die vierzig Jahre alt ist und dass sich ihr Bürozimmer im selben Stockwerk wie meines befindet. Und ich finde, das reicht. Mehr braucht man von einer Kollegin nicht zu wissen.
Der Beagle schnüffelt interessiert an meinen Hosenbeinen.
„Lucy“, sagt Marie tadelnd. „Entschuldigung“, sagt sie zu mir, „das macht sie normalerweise nie.“
„Kein Problem“, sage ich, „sie riecht wahrscheinlich Orlando.“ Und als Marie mich fragend ansieht, füge ich erklärend dazu: „Den Hund meiner Nachbarin.“
Zum Glück hält nun der Lift, wir steigen aus, wünschen einander einen schönen Tag und jeder verschwindet in seinem Bürozimmer.
Aufatmend lasse ich mich in meinen Schreibtischsessel fallen. So viel Kommunikation vor acht Uhr morgens strengt mich sehr an. Doch kaum fange ich an, mich etwas zu entspannen, tritt mein Chef mit seinem Schäferhund Rex ein. Und dann wird es so richtig anstrengend. Zuerst lobt mich mein Chef für meine jahrelange gute Arbeit, die ich leiste. Doch dann kommt er zur Sache. Er bittet mich eindringlich, doch etwas sozialer zu agieren, mehr mit meinen KollegInnen zu kommunizieren, in den Mittagspausen nicht immer zu verschwinden, doch mal auf eine Betriebsfeier mitzugehen. Dann entschuldigt er sich, weil Rex die ganze Zeit über an meinen Hosenbeinen schnüffelt, und ich stottere denselben Satz wie zuvor im Lift, dass Rex wohl den Hund meiner Nachbarin riechen würde.
„Soso, der Nachbarshund“, sagt mein Chef nachdenklich. Und dann: „Jetzt sage ich Ihnen mal was, Oskar. Ich bin überzeugt, dass Ihnen ein eigener Hund sehr guttun würde. Denken Sie darüber nach. Hunde sozialisieren Menschen, sage ich immer.“ Er klopft mir auf die Schulter, und lässt mich endlich allein. Allein mit meiner schlechten Laune.
Als ich mittags das Bürogebäude verlasse, umfängt mich sogleich die ganz spezielle Energie, die an einem beginnenden Wochenende herrscht: lärmende Schulkinder, Gelächter, Musik aus geöffneten Fenstern. Diese spürbare Lebensfreude um mich herum macht mich noch missmutiger, als ich es ohnehin bin.
Frustriert kicke ich einen Stein vor mich hin und denke an die Aussagen meines Chefs. An seine Schnapsidee, mir einen Hund anzuschaffen. An die sogenannte soziale Kompetenz, die von mir erwartet wird. Kann nicht akzeptiert werden, dass ich meine Ruhe haben will? Reicht es denn nicht, verlässlich meine Arbeit zu erledigen? Meine KollegInnen sind ja nicht unsympathisch, aber ich sehe keinerlei Anlass, nach Büroschluss mit ihnen auf ein Getränk zu gehen.
Ich bin eben Oskar, ein stiller Mensch, und nicht Ilse, die ihr Herz auf der Zunge trägt, und die – oh nein, das darf doch nicht wahr sein! – die mir tatsächlich soeben, zum zweiten Mal heute, mit einer Hand fröhlich entgegenwinkt. In der anderen Hand hält sie Orlandos Leine und eine Einkaufstasche. Es ist zu spät, rasch die Straßenseite zu wechseln. Nicht schon wieder, fluche ich innerlich.
Orlando scheint mich zu erkennen, denn er wedelt freudig, als er mich sieht, und zieht leicht in meine Richtung. Und da passiert es: Ilse verheddert sich irgendwie mit Leine und Einkaufstasche, stolpert und stürzt. Und liegt nun auf dem Gehsteig vor mir. Orlando schleckt ihr über Hände und Gesicht. Instinktiv nehme ich seine Leine.
„Ojemine“, jammert Ilse, greift auf ihr linkes Bein. „Ich kann nicht aufstehen.“
„Ich rufe die Rettung“, sage ich nervös, wähle sogleich die Nummer, gebe durch, was die sachliche Stimme am Telefon wissen will.
„Aber was mache ich denn nun mit Orlando?“, höre ich Ilse währenddessen rufen. „Wer kümmert sich jetzt um ihn?“
Und als ich das Telefonat beendet habe, sagt sie eindringlich zu mir: „Oskar, ich bitte Sie inständig, kümmern Sie sich um ihn, bis ich wieder zuhause bin. Bitte! Schauen Sie, in der Tasche hier ist reichlich Hundefutter, ich war vorhin einkaufen.“
Ich schnappe nach Luft, und dann geht alles blitzschnell. Das Rettungsauto hält, zwei Sanitäter kommen zu uns, stellen Ilse ein paar Fragen, legen sie vorsichtig auf eine Trage, Ilse und ich tauschen unsere Handynummern aus – und schlussendlich stehe ich da, die Einkaufstasche in der einen und Orlandos rote Leine in der anderen Hand. Orlando schaut angespannt in die Richtung, in die das Rettungsauto mit Ilse gefahren ist, und fiept leise.
„Tja, also“, sage ich hilflos. „Alles gut, Orlando.“
Als ich seinem Namen sage, hebt er seinen Kopf und sieht mich aus warmen braunen Hundeaugen an. Der Arme ist sicher genauso durcheinander wie ich, denke ich, gehe in die Hocke und streichle ihn.
„Vielleicht gehen wir mal eine Runde im Park, Orlando, und überlegen, wie’s nun weitergehen soll“, sage ich, während ich ihn hinter seinen lockigen Hängeohren kraule. Das mag er offensichtlich besonders gern, denn nach einer Weile wirkt er tatsächlich entspannter. Und dann gehen wir los, Orlando dicht an meinen Beinen. Unfassbar. Ich und ein Hund. Eigentlich gehe ich nach der Arbeit immer sofort nach Hause. Fußballschauen, ein Bier trinken, entspannen. Und nun gehe ich mit einem Hund spazieren, der an Hausecken und Bäumen schnuppert und markiert. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Wo richte ich ihm einen Schlafplatz? Wie beschäftige ich ihn? Wie oft muss er fressen?
Im Park befindet sich ein Trinkbrunnen, aus dem Orlando trinkt. Wir spazieren weiter, dann bleibt Orlando stehen, macht ein großes Geschäft, und ich bücke mich, um es zu beseitigen.
Als ich mich wieder aufrichte, steht ein Mann mit einem Labrador vor uns.
„Männchen oder Weibchen?“, fragt der Mann, während sich die Hunde beschnüffeln.
„Männchen“, antworte ich widerstrebend, und weiß wieder, warum ich nie einen Hund haben will.
Wenig später setze ich mich auf eine Parkbank im Schatten. Orlando platziert sich direkt vor mich, und sieht mich fragend an. Ich krame in Ilses Einkauftasche: Hundefutterdosen, Leberwurst, Packungen mit Leckerlis. Ich öffne eine davon. Orlando frisst mir aus der Hand. Ich streichle ihn. Wie weich sein schwarz-weißes Fell ist. Und wie hübsch er ist. Ilse hat recht, er ist ein ausgesprochen liebes Tier. Er schleckt mir ein paarmal über meine Hände, dann streckt er sich zu meinen Füssen aus, schnauft einige Male und schläft ein.
Plötzlich läutet mein Handy. Ich zucke zusammen. Mein Handy läutet nämlich sehr selten. Es ist Ilse.
„Ich bin hier in besten Händen, Oskar“, berichtet sie. „Nur wird mein Spitalaufenthalt wohl länger dauern. Oberschenkelhalsbruch. Ich muss operiert werden. Aber wie geht es Orlando? Und Ihnen? Kommen Sie zurecht mit ihm?“
Ich höre mich – und kann es selbst nicht glauben – ganz ruhig antworten: „Machen Sie sich keine Sorgen, Ilse. Wir sitzen im Park. Orlando hat getrunken und gefressen und schläft gerade. Ich kümmere mich um ihn, bis Sie wieder auf den Beinen sind.“
„Tausend Dank, Oskar! Sie wissen nicht, wie sehr mich das beruhigt.“
Sie erklärt mir nun ausführlich, wie viel und welches Futter Orlando morgens und abends bekommen soll, dann muss sie das Telefonat beenden, weil sie für die Operation vorbereitet wird.
Ich stecke das Handy weg, betrachte den schlafenden Hund zu meinen Füßen.
Da öffnet er die Augen, setzt sich, sich genüsslich streckend, auf, und sieht sich gähnend um.
„Oh, ist der süß!“ Zwei Kinder bleiben stehen. „Dürfen wir ihn streicheln?“
Zögernd nicke ich. Sie knuddeln und herzen ihn, und Orlando scheint es zu genießen.
Als die beiden gegangen sind, sage ich. „Nun gut, Orlando. Ich schlage vor, dass ich dir jetzt zeige, wo du vorübergehend wohnen wirst.“
Wir marschieren los. Beim Parkausgang kommen wir direkt an der Hundezone vorbei. Orlando wedelt und winselt aufgeregt, als er einige Hunde entdeckt, die drinnen auf der großen Wiese leinenlos miteinander herumtollen. Und ich jaule innerlich auf, als ich eine Gruppe von Hundebesitzern sehe, die sich angeregt miteinander unterhalten.
Das schaffe ich nicht, da reinzugehen, denke ich. Aber Orlando zieht mich Richtung Eingang, und winselt derart sehnsüchtig, dass ich meinen ganzen Mut zusammennehme und die Tür öffne.
„Aber nur kurz, Orlando“, sage ich. Zwei große Hunde laufen direkt auf uns zu. Ich bekomme Angst. Hoffentlich tun sie Orlando nichts. Zum Glück rennen die beiden an uns vorbei.
„Oh, du bist doch – Oskar?“, sagt eine Frauenstimme.
Ich drehe mich erschrocken um. Vor mir steht meine Kollegin, Marie, und lächelt mich an. Neben ihr wedelt Lucy. Sie und Orlando beschnuppern sich sofort interessiert und wirken freudig aufgeregt.
„Ist das der Hund, von dem du im Lift geredet hast? Der von deiner Nachbarin?“
„Ja, das ist Orlando, er gehört Ilse. Aber die ist jetzt im Spital – “, stottere ich. „Ach, es ist eine komplizierte Geschichte.“
Marie lächelt mir aufmunternd zu. „Jedenfalls ist Orlando ein sehr freundlicher Hund. Lass ihn doch mit Lucy spielen und erzähle mir alles“, sagt sie.
„Meinst du, ich kann ihn losleinen?“
Marie nickt. „Ja, das erkenne ich an seiner Körpersprache. Er und Lucy sind sich sympathisch. Und die Hunde hier sind alle sehr soziale Tiere, du brauchst dir keine Sorgen machen.“
Ich leine Orlando los.
Sofort laufen Lucy und er auf die Wiese, umkreisen einander spielerisch.
„Sehr schön“, lacht Marie, „sie verstehen sich prächtig. Komm, setzen wir uns und erzähle mir.“
Wir setzen uns auf eine der Parkbänke, und ich erzähle Marie die ganze Story von Ilse und Orlando. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt an einem einzigen Tag so viel geredet habe.
„Ich finde es großartig, dass du dich um Orlando kümmerst“, sagt Marie.
„Ach, ich wurde überrumpelt. Und ich hoffe sehr, dass Ilse möglichst bald zuhause und Orlando wieder bei ihr sein kann.“
„Mhm“, sagt Marie. „Ein Oberschenkelhalsbruch ist eine langwierige Sache. Und nach dem, was du über Ilse erzählt hast, sehe ich ehrlich gesagt im Grunde nur zwei Optionen für Orlando. Ein Zuhause bei dir – oder Tierheim.“
Ich erstarre vor Schreck über ihre Worte.
„Also die erste Option ist nicht möglich. Ein Hund passt überhaupt nicht zu meiner Lebensweise – zu mir – das sieht man doch sofort!“
„Das sehe ich völlig anders. Ich habe ein sehr gutes Gefühl bei euch beiden. Orlando hat bereits eine gute Bindung zu dir aufgebaut. Und du kannst richtig gut mit ihm umgehen, Oskar. Du hättest doch genügend Zeit für ihn, oder? Und du könntest ihn ins Büro mitnehmen. Überlege es dir bitte. – Aber ja, natürlich, einen Hund aufzunehmen, ist keine leichte Entscheidung. Ein Hund verändert das Leben seines Menschen grundlegend.“
Ich fühle mich zu verwirrt und zu erschöpft, um zu antworten. Da stürmen Orlando und Lucy mit wehenden Ohren zu uns, schmiegen sich an unsere Beine, wollen gestreichelt werden. Zufällig berühren sich Maries und meine Hände beim Hunde-Streicheln – und plötzlich schauen wir uns direkt in die Augen. Marie hat wunderschöne grüne Augen. Schnell muss ich wieder wegschauen.
Marie räuspert sich. „Wir müssen jetzt gehen, Oskar. Lucy bekommt um die Zeit immer ihr Abendessen.“
Sie leint ihre Hündin an, greift in ihre Tasche und gibt mir ein Kärtchen.
„Meine Handynummer“, sagt sie, „falls du Fragen bezüglich Orlando hast. Du kannst mich jederzeit anrufen.“
Und dann sitze ich, bevor ich mit Orlando nach Hause gehe, noch minutenlang da, betrachte Maries Visitenkarte und denke nach. Orlando hüpft neben mich auf die Bank und legt seinen Kopf auf meine Knie. Ich kraule ihn hinter den Ohren, und er schnauft zufrieden. Da wird es auf einmal ganz weit und leicht in mir drin. Und mir ist ganz klar, dass es nur eine einzige Option gibt. Auch wenn es bestimmt oft anstrengend werden wird, Ilse hat heute den richtigen Menschen für Orlando gefunden: mich.
Claudia Dvoracek-Iby
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