Erwarten können

Auch heute wurde Mathilda wieder der hübsche kleine Ecktisch zugewiesen. Von dort bot sich der beste aller Ausblicke auf die blassgrünen Kupferdächer der Altstadt Salzburgs. Kleinere und größere Grünspanflächen hier und dort glänzten ihr an diesem nasskalten, späten Winternachmittag entgegen. Die Dächer spektakulär überragt vom barocken Dom, und all das dominiert von der imposanten Festung.

Sie hatte sich hübsch gemacht, ihr festliches kirschrotes Jerseykleid brachte Rundes auf schmeichelhafte Weise zur Geltung. Sie trug es nicht oft, denn meist war die Farbe stärker als sie selbst. Sie wählte das Kleid also nur, wenn sie dem Rot Kontra geben konnte. Etwa durch jene seltenen Gefühle von Ausgelassenheit und Übermut, die zu bündeln ihr in jungen Jahren gut gelungen war. Heute war dem Rot aber auch beizukommen, mit ausgeprägter Gemütsruhe nämlich. Genau so ein Tag war heute, mit innerer Balance bot sie dem Rot die Stirn.
Mathilda blätterte nahezu erwartungsvoll in der Getränkekarte, als ob diese heute ein gänzlich neues Angebot für sie beinhalten könnte.
Der Oberkellner näherte sich ihr nach einigen Minuten:
„Möchten Sie bestellen, gnädige Frau, oder warten Sie noch auf jemanden?“
„Ja, ich warte. Aber ich würde dennoch gerne bestellen.“
Das Lokal war gut gefüllt an diesem späten Nachmittag. Die kleinen Tische waren fast ausschließlich mit jeweils zwei oder drei Personen besetzt, darunter viele, die Mathilda als Touristen zu erkennen meinte. Seine exponierte Lage hoch über der Salzach verschaffte dem Café im Dachgeschoß eines Hotels die Nennung in vielen Reiseführern.
Der Kellner stellte einen Gin Tonic auf Mathildas Tisch und machte dabei eine angedeutete Verbeugung.
„Ich habe mir erlaubt, ein kleines Stück Limette zu ergänzen. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: Eine Dame wie Sie sollte man keinesfalls warten lassen.“
Sein Gesicht blieb dabei seltsam entspannt und er lächelte sie offen an.
Mathilda erwiderte überrascht: „Danke sehr, schon gut. Aber ich warte gern. Noch dazu bei dieser prächtigen Aussicht.“
Er nickte und meinte zustimmend: „Ja, wir alle haben gelernt zu warten, schon als Kinder, auf die Ferien, auf das Christkind, auf die Geburtstagsfeier. Der Sehnsucht war man ja recht hilflos ausgeliefert. Es war richtig schwer zu warten. Aber es hat die kindliche Vorfreude nicht getrübt.“
Mathilda antwortete freundlich: „Tja, so war es. Aber mittlerweile habe ich einen langen Atem. Man lernt schließlich dazu, die Leerläufe im Alltag mit Gleichmut hinzunehmen: bis der neue Badezimmerschrank geliefert wird, der PC hochgefahren ist, oder der träge Aufzug zu diesem Terrassencafé endlich eintrifft.“

Mathilda fühlte sich hier wohl. Sie aß ein Paar Frankfurter mit Senf und Kren und trank ein Seidel Bier dazu. Danach genoss sie die Stille im Warten und das Nichts-zu-tun-Haben. Sie sah von ihrem Tisch aus durch die großflächigen Fenster auf die beleuchtete Stadt hinunter. Und sie hatte ausreichend Zeit, die Kirchen der Stadt einzeln auszumachen und mit ihrem Blick dem Verlauf der weihnachtlich beleuchteten Gassen zu folgen. Dann gab ihr Smartphone ein kleines Signal und sie hatte Zeit, eine Nachricht ihrer Tochter, die in München lebte, in aller Entspanntheit zu beantworten.
Aus dem Nebenraum kommend, trug der Kellner einen Aschenbecher voller Zigarettenstummel an ihr vorbei, auf die Mathildas Blick fiel. Er bemerkte es und flüsterte ihr zu: „Schlechthin das Synonym fürs Warten.“
Er blieb kurz stehen und sinnierte laut weiter: „Und es ist beileibe nicht immer Sehnsucht, die das Warten so schwer macht. Oft ist man dabei auch voller Furcht, beim Warten auf ein Prüfungsergebnis, auf den Pannendienst, die Polizei, auf Asyl in einem friedlichen Land.“
Mathilda setzte fort: „Ja, oft ist die Furcht existenziell beim Warten auf eine Diagnose, eine Spenderniere, auf Regen bei Dürre, auf den Wasserhöchststand bei Überschwemmung.“
Er wirkte bestürzt angesichts der genannten Beispiele: „Menschen warten praktisch immer auf bessere Zeiten, auf die große Liebe, das Glück.“
Sie erzählte: „Ich fragte mich als junge Frau oft: Wann beginnt endlich das richtig schöne Leben, jetzt wo ich so viel abgenommen habe?“
Er lachte und sagte: „Oder das Warten auf Antwort von dem Mädchen, in das ich mich als Jugendlicher verliebt hatte – das war schwerer zu ertragen als die spätere Erkenntnis, dass sie mich gar keiner Antwort für würdig hielt.“
Mathilda sah den Oberkellner erstaunt an, als dieser verschwörerisch fortfuhr: „Und nicht zu vergessen, das Warten auf meine Frau, bis die sich endlich für die richtige Theatergarderobe entschieden hat.“

Er entfernte sich zügig Richtung Küche und Mathilda konnte gerade noch sehen, dass kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten. Die Arbeitskleidung war hochgeschlossen, die bodenlange dunkle Schürze sah zwar professionell aus, musste aber unpraktisch sein, so mutmaßte sie. Kellnern war harte Arbeit, viele Gäste blieben nur auf ein Getränk, die Tische wurden etwa halbstündlich neu vergeben, es wurde bestellt und serviert und kassiert, alles mit ausgesuchter Höflichkeit und dennoch hielt der Oberkellner immer wieder einmal auf einem seiner Wege bei Mathilda an (oder schlug sogar einen kleinen Umweg über ihren Tisch ein), um ihr gemeinsames kleines Gespräch über das Warten fortzuführen. Sei es auch nur mit einem Satz, dem sie aus Zeitmangel ihres Gesprächspartners manchmal gar nichts entgegnen konnte:
„Das Gefühl, wenn der Installateur nicht und nicht daherkommt.“
Eine Viertelstunde später: „Hatten wir eigentlich das banale Wartezimmer schon? Und den Zug? Auf Bahnsteigen steht die Zeit ja oft scheinbar still.“
Nach dem Abservieren am Nebentisch: „Vom endlosen Warten auf den Sommer ganz zu schweigen.“
Nach dem Abkassieren einer aufwändig zu teilenden Zeche einer Gruppe nervöser Touristen murmelte ihm Mathilda zu: „Nicht zu vergessen das Warten auf den Zahlkellner.“
„Oh, Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, gnädige Frau?“ Er wirkte müde, es war 23 Uhr.
„Nein, nein, aber ich hätte noch gerne ein Kännchen grünen Tee, bitte, wenn Sie so nett wären.“

Das Warten war für Mathilda heute kein unliebsamer Zustand. Sie fühlte sich nicht passiv oder einer Langeweile ausgesetzt, sondern es ermöglichte ihr auf eine entschleunigte, fast poetische Art, in sich selbst hineinzuhorchen und rückwirkend das nun schon fast vergangene Jahr zu betrachten.
Da sah sie den Oberkellner, der mit dem Tee auf sie zusteuerte und ihr beinahe keck zuraunte: „Und erst das Warten auf die eine Gelegenheit!“
Er entfernte sich beinahe triumphierend angesichts ihres verdutzten Blicks.
Als die gewaltigen Glocken des Domes begannen, mit ihrem mahnenden Geläut zur Mette zur rufen, ging sie kurz auf die Terrasse. Diese Glocken luden nicht froh zum Feiern, nein sie forderten vehement die Disziplin zum Kirchgang ein. Und diesem übermächtigen Klang war nichts hinzuzufügen oder entgegenzusetzen, er erfüllte den Raum und die Zeit aller, egal ob katholisch oder nicht.

Das Lokal hatte sich inzwischen geleert und die mitternächtliche Sperrstunde nahte. Der Kellner sah auf seine Armbanduhr und löste seine Arbeitsschürze, während er – abwechselnd mit Mathilda – heiter und zusammenhanglos die eine oder andere Wartesituation aufzählte.

Plötzlich fasste Mathilda den Kellner spontan am Arm, er drehte sich überrascht zu ihr und folgte ihrem Blick durch das große Fenster hinaus auf die Terrasse.
„Oh, sieh nur, jetzt ist er da, der Schnee! Er kommt stets nach Belieben einfach irgendwann. Oder man wacht auf, und er ist plötzlich da, über Nacht.“
„Oder man rechnet nicht mit ihm, bis dich plötzlich jemand an der Schulter fasst und aus dem Fenster deutet. Aber jetzt komm, meine Liebe, lass uns nach Hause gehen, Zeit für unser Weihnachten. Ich möchte jetzt wirklich gerne meine Beine hochlegen. Wir haben doch noch die gestern angebrochene Flasche von dem guten Rotwein? Und Hunger habe ich auch. Wie schön, dass du auf mich gewartet hast.“

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 14080




Allerhand zu Allerheiligen! (Und Irmtraud hätte nichts dagegen.)

Dass er es wäre, der einmal übrig blieb, hätte er nicht gedacht.
Er zog ein weißes Hemd aus dem Haufen schmutziger Wäsche, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatte. Dieses hier würde noch einmal zu tragen sein, der Kragen war sauber, er könnte einfach einen Pullover darüber anziehen. Seine Hände zitterten ein wenig, als er sich mit dem Schließen des obersten Knopfes und dem Binden der Krawatte abmühte. Auf eine solche würde Irmtraud bestehen, an einem Tag wie diesem. Obwohl es dafür heute fast zu warm war. So, und nun wurde auch die Zeit noch knapp. Seine Füße verhedderten sich in einem der auf dem Boden liegenden Wäschestücke und er wäre beinahe gestolpert.
Irmtraud hatte ihn auf ihre humorvoll trockene Art noch wortwörtlich beschworen, keinesfalls wie andere verwitwete Männer der Verwahrlosung anheimzufallen und er hatte ihre Hand gedrückt und gezwungen gelächelt. Keine Sorge, meine Liebe, das wird nicht passieren. Und jetzt diese Unordnung! Im Jänner war sie gestorben. Für den Augenblick verscheuchte er die Gedanken an seine Frau.
Ein Friseurbesuch war längst überfällig, stellte er beim Kämmen fest. Beim Hinausgehen nahm er den Müll mit, der schon zum Himmel stank. Wo, zum Teufel, waren die neuen Müllbeutel? Da fiel ihm ein, dass er nicht zu Mittag gegessen hatte, die Nervosität vor dem öffentlichen Friedhofsgang hatte Appetit gar nicht aufkommen lassen. Meist kochte er sich Erdäpfel, die er nach dem Schälen ohne weitere Verarbeitung aß. Dazu eingelegte rote Rüben aus dem Glas. Manchmal auch Sellerie. Oder er kaufte Knödel beim Fleischhauer, die nur noch zu kochen waren, eine leichte Übung. Frisch Zubereitetes gab’s nur im Gasthaus oder bei der Verwandtschaft, die ihn reihum sonntags zum Essen einlud. Wenn es so weiterging, würde er ins Altersheim ziehen müssen, um ausreichend versorgt zu sein. Wobei es beileibe nicht nur ums Essen ging.

Da stand er nun und fühlte sich allein und irgendwie fremd, so wie ganz früher, als er aus der Großstadt zu Irmtraud ins Dorf gezogen war.
Die Leute hatten sich am Marktplatz versammelt und beendeten ihre Gespräche, als die Blasmusikkapelle anhob und danach der Pfarrer seine wohlsortierten Sätze sprach. Er lockerte seine Krawatte und atmete tief. Die Blicke, die ihm begegneten, kamen ihm betreten und mitleidig vor. Es war diese besondere Rücksichtnahme, die man ihm, dem kürzlich Verwitweten, angedeihen ließ.
Vor vierzig Jahren war er hier ein Fremder gewesen, aber sein Beruf als Lehrer ließ ihn schnell Kontakte knüpfen. Nun waren seine eigenen Kinder erwachsen und in Wien wohnhaft und er selbst lange in Pension.
Er trat nervös von einem Bein auf das andere und im Kopf kam ihm heute alles durcheinander; er war zu warm angezogen und atmete schwer. Wo hatte er nur die neuen Müllsäcke hingetan?
Die Erinnerung an die vielen Allerheiligengänge zum Friedhof, an denen er teilgenommen hatte, stieg in ihm auf. Es gehörte sich einfach mitzugehen, egal wie man über katholische Rituale dachte. Und so hatte er dabei immer die Menschen beobachtet. Die versprengten Teile der Familien kamen oft von weit her und bemühten sich, ein erfolgreiches Bild ihrer selbst abzugeben. Vor den Nachbarn und anderen, die man einst gekannt hatte, mit denen man zur Schule gegangen war, mit denen man die ersten verbotenen Zigaretten geraucht, im Kirchenchor gesungen oder um ein Mädchen rivalisiert hatte. Sie zeigten sich einander einmal im Jahr – erfolgreich, glücklich und wohlauf. Kamen in neuer Herbstgarderobe, manche mit Hut, andere im Pelz. Später dann erschienen sie mit ihren Kindern an der Hand, mit neuen Partnern, neuen Autos, frisch gefärbten Haaren.

Seine Söhne waren verspätet, ein Stau auf der Westautobahn, hatten sie ihn per SMS wissen lassen.
In der Prozession hatte er immer die Bauern beobachtet, die Männer, die über die Jahrzehnte der Unbill des Lebens immer weniger Substanz entgegenzusetzen hatten, deren Anzüge mit der Zeit nicht nur unmodern und fadenscheinig geworden waren, sondern ihren Trägern auch zu groß. Rechtschaffen alt war auch der Mann, der vor ihm herging, die Haare für den Allerheiligenauftrieb kurz geschoren, einen weißen Streifen Haut rund um den Kopf freigelegt, diesen scharf abgegrenzt von der Bräune der letzten herbstlichen Sonnenstunden während der Kukuruz-Ernte. Aus dessen etwas zu kurz geratenen weißen Hemdsärmeln ragten unförmig große Hände mit roter, rissiger Haut, die sich sichtlich fehl am Platz fühlten, wie sie da so hingen, ganz ohne eine ihnen vertraute, zu erledigende Aufgabe. Das rührte ihn.
Irmtrauds Sachen müsste er auch endlich einmal durchsehen und zur Kleidersammlung bringen.
Ein Bauer humpelte in der Prozession neben ihm her. Die alte Verletzung stammte von einem Unfall bei der Forstarbeit und war nie ordnungsgemäß behandelt worden, damals hatte es noch keine Pflichtkrankenversicherung für Bauern gegeben, so wurde nicht zuletzt an sich selbst gespart und Erforderliches unterlassen.
Er mochte den Ort und seine Bewohner, und doch zog er auf Anraten seiner Söhne ernsthaft in Erwägung, in ein Altersheim nach Wien zu ziehen. Die beiden wären dann in seiner Nähe. Hier gab es doch nur Erinnerungen an Zeiten, die sich nicht mehr heraufbeschwören ließen. Sollte er bleiben oder gehen?
Sein Nachbar flüsterte ihm zu: Viel zu warm ist es heute, fünfzehn Grad, fast unangenehm!

Es war schnell gegangen, das Leben, und nun war er selbst so einer, der alt und am Schrumpfen war. Er hatte abgenommen in diesem unglückseligen Jahr und seine Kleidung hing lose. Sein Haar war weiß geworden, eine Zahnkrone im Oberkiefer herausgebrochen und seine Energie, diese wieder herstellen zu lassen, enden wollend.
Der Tross war bei den Gräbern angekommen, die dünnen Nebelschleier hielten die Sonne nicht ab, die vorauseilende Vorsicht vor dem angeblich am Friedhof immer kalt pfeifenden Wind Lügen zu strafen. Er lockerte seine Krawatte abermals und stützte sich auf einen Grabstein. Seine Knie zitterten, er hätte etwas essen sollen. Inzwischen waren die Söhne eingetroffen und standen rechtzeitig mit ihm am Grab Irmtrauds.
Am Nebengrab stand eine Frau aus seiner näheren Nachbarschaft, eine Friseurin, deren Mann vor ein paar Jahren gestorben war. Sie hatte das Unglück also durchgestanden und man sah es ihr nicht mehr an. Er sah, wie sie in die Knie ging, um ein paar widerspenstige Zweige der Grabbepflanzung zu entfernen. Als sie beim Aufrichten kurz stockte, war er ihr spontan behilflich, indem er sie wie beiläufig am Ellbogen hochzog. Sie nickten sich kurz zu.
Man möge doch bitte das kurze irdische Dasein nützen, um sich auf das lange Leben danach vorzubereiten, meinte der Pfarrer ambitioniert. Demnach hätte er Irmtraud also nicht für immer verloren, dachte er und lachte kurz auf, bevor sich alles im Kopf zu drehen begann und seine Knie nachgaben.
Von seinem Sohn und seiner Nachbarin, die ihn auf der anderen Seite beherzt unterhakte, wurde er gestützt, bis er sich wieder fing. Da spürte er, wie weich sie war und wie kräftig sie ihn hielt. Sie wedelte ihm Luft zu und er roch ihr Parfum, als sie flüsterte: Deine Haare! Ich komme gleich morgen bei dir vorbei und dann kümmere ich mich um deine Frisur. Die kriegen wir schon wieder in den Griff. Auf ihr zaghaft verlegenes Lächeln hatte er seinerseits mit einem erstaunten reagiert. Wie unerwartet rasch sich nun die Gedanken an das Altersheim in der diesigen Novemberluft davonmachten. Er lächelte und wusste, Irmtraud hätte nichts dagegen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 14072




August

Das kühle Wasser umschließt dich, rückt dir an die Haut. Es bedrängt deinen Körper, der sonderbar schwächelt und wenig Widerstand entgegensetzt. Der Wasserdruck presst dir den Bauch in die Flanken, du lässt es ohne Gegenwehr zu. Dein Gesicht wird zu einer Grimasse verformt, während du dich unter Wasser mit halbherzigen Tempi fortbewegst.

Die Tage werden schon wieder kürzer, hat deine Frau gestern zu dir gesagt und dass der August genutzt werden sollte. Ein Ausflug ins Waldbad, bevor der Urlaub vorbei ist und die Büroarbeit wieder die Tage bestimmt. Ohne viele Worte liegt ihr nun nebeneinander im Schatten auf euren Liegen. Du starrst in dein Buch und die Augen kommen nicht vom Fleck. Denn immer denkst du an Peter, deinen besten Freund und Kollegen aus der Bank. Und an die Sache mit den Hedgefonds, die ihm zuerst den Job und euch beiden dann vieles andere gekostet hat, schlussendlich.

Der Geruch von trockenem Gras wird von dem nach Sonnenöl übertroffen. Wie jedes Jahr ist die Hitze fast übergangslos da gewesen. Sonne in ihrer ganzen Stärke und im Überfluss. In der Jugend nahmst du die Sommer so hin, sie kamen und gingen. Später hast du sie bewusster erlebt und jetzt schließlich fragst du dich, wie viele dir noch bleiben. Selbst im allerbesten Fall wird deren Anzahl überschaubar sein.
So wie du den deinen, hat die Natur im August ihren Zenit überschritten, das Laub hängt dunkelgrün und satt in den Bäumen, ist morgens schon mit Tau bedeckt, dem gleichgültigen Vorzeichen des Herbstes.
Das Buch legst du beiseite. Der See verheißt Linderung, wie er jetzt so ruhig im Schatten der Bäume daliegt. Das Wasser wird deine Aufmerksamkeit zerstreuen, auf Körperliches fokussieren. Deine Haut wird lauter fühlen als dein Kopf denken kann, dein Herz wird heftig klopfen, und es wird nicht wegen Peter sein.

Wie fragil dir der August erscheint. Kein anderer Monat trägt so wie dieser plakativ sein eigenes Ende vor sich her. Obwohl die Luft flirrt und die Sonne sticht, liegt die Endlichkeit des Sommers schon vorprogrammiert da, denkst du, als du über die spitzen Steinchen ins Wasser steigst und dich von ersteren quälen und von letzterem forttragen lässt.
Dein Körper wird durch den Kältereiz schlagartig munter. Das schnelle Schwimmen zum Floß in der Mitte des Waldsees bringt die erhoffte Erlösung. Du gerätst ordentlich aus der Puste, hast lange nicht gesportelt, und es gelingt dir erst im zweiten Versuch, dich aufs Floß hinaufzuziehen. Dort liegt ein Mädchen, das kurz den Kopf hebt und auf dein Hallo nickend reagiert. An ihrer Körperhaltung erkennst du ihr Desinteresse, an ihrer Figur deine deutliche Überlegenheit an Jahren, an ihrem Bikini, den silberfarben lackierten Zehennägeln und den langen fahlblonden Locken, dass ein Smalltalk wohl für beide unergiebig verlaufen würde. Du legst dich auf die heißen Holzplanken, die deiner Haut unmittelbar und energisch die Nässe entziehen. Diesem Gefühl willst du nachspüren, es konservieren für kühlere Zeiten, für schlechtere Tage.
Beständiges Kinderlachen im Hintergrund.

Ob du deinen Weg zurück ans Ufer mit einem Sprung kopfvoran starten sollst? Du traust es dir zu. Also ein Köpfler. Deine Haut erschrickt über die Kälte, dein Herz zeigt sich solidarisch und hämmert schwer.
Du willst es nicht und doch denkst du an Peter. Jetzt bei ihm zu sein, sei es nur, mit ihm im Gastgarten zu sitzen, bei einem Bier und über die neue Chefin herzuziehen, dafür würdest du vieles geben. Diese Vorstellung zieht dich mit großer Macht hinunter. Und genau dort willst du jetzt so lange wie möglich bleiben. Unter Wasser.
Den Fischen werden deine Tränen nichts bedeuten. Atmen hältst du noch immer nicht für nötig. Die Bilder im Kopf werden blasser, je weniger Sauerstoff du zuführst. Peter. Und jetzt spürst du dich ganz in seiner Nähe, wissend, dass dieser Moment gleich wieder vorbei sein wird.

Als du schließlich im hüfthohen Wasser nahe dem Ufer lauthals nach Luft ringst, springen dir ein paar Badegäste entgegen und helfen dir an Land. Du setzt dich auf den Steg und wehrst jegliche Hilfe ab.
Jetzt weißt du, dass man nie genug bekommen kann vom Sommer. Die Sonne verschwindet kurz hinter einer Wolkenbank und macht überdeutlich klar, dass du auch nie genug bekommen wirst. Überfülle mit Ablaufdatum.
Deine Frau eilt mit besorgter Miene herbei, setzt sich zu dir und trocknet dich mit dem gelben Handtuch ab. Wieso sie deine Tränen zuerst abwischt, ja diese überhaupt bemerkt, wo doch alles an dir nass ist, fragst du dich und sie.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14061




Einschneidend

Sieben Meter maß der Salon der Länge nach. In etwa. Genau würde es nur ein Blick auf den Grundrissplan oder ein Ausmessen ergeben. Geschätzte sieben Meter also, denn die Schritte konnte er nicht hintereinander in einer Geraden setzen, nur in drei Tangenten, die er nacheinander an die drei der sechs schweren Kundensessel legte. Drei Schritte von der offenstehenden Eingangstür zum ersten Sessel auf der rechten Seite, dann mit den zwei nächsten zum mittleren Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite und die zwei letzten endeten schließlich am dritten rechtsseitig gelegenen Kundensitz, auf dem gerade eine Frau, eine kleine Person mit dunkelblondem Pagenkopf – er kannte sie nicht – Platz genommen hatte.
Marietta begann mit der Kundenberatung und warf ihm einen beschwörenden Blick zu, doch Marco durchmaß seinen Salon weiter mit ausladenden nervösen Schritten, riss dann und wann scheinbar unmotiviert seine Arme in Richtung Himmel, gegen den er auch leise Flüche richtete und erweckte alles in allem den Eindruck eines verstörten Mannes, dessen Unglück mehr Raum beanspruchen würde als er hier imstande war ihm zu geben.
„Marco, die Signora möchte von dir bedient werden, würdest du bitte …“ Marietta wandte sich entschlossen mit lauter Stimme an ihren Mann, der irritiert sein Umhergehen stoppte, sich zusammenriss und höflich der Kundin zuwandte.
„Ich würde gerne meine Haare kürzen lassen, stufig. Sehr wichtig ist mir, dass die Frisur keineswegs wie frisch geschnitten aussehen darf. Die Haare sollen locker fallen und natürlich wirken.“
Marco griff von hinten in das volle Haar der Kundin, hob es von unten an, fühlte die Schwere und erwog das erforderliche Maß des Ausdünnens, um den Stand am Hinterkopf adäquat zu gewährleisten. Er sah der Frau über den Spiegel kurz in die Augen und nickte ihr zu. Das Prada-Schild in ihrer Bluse im Nacken bemerkte er und wunderte sich, warum eine so elegant und teuer gekleidete Frau gerade seinen in die Jahre gekommenen und an der Peripherie Roms gelegenen Salon angesteuert hatte. Es musste ein Zufall sein. Ein Notfall quasi, denn Frauen sind in der Wahl ihres Friseurs naturgemäß eigen und heikel.

Seine Gedanken wandten sich wieder Laura zu. Seiner kleinen Laura. Die Ereignisse hatten sich in einer nie für möglich gehaltenen lauten Weise überschlagen. Seine Tochter Laura hatte ihm und seiner Frau gestern nach dem Frühstück mit holprigen Sätzen und mit sichtlich schlechtem Gewissen mitgeteilt, dass sie am Vortag ihren Freund Enzo geheiratet hätte, dass sie ein Kind erwarteten und die junge Familie für einige Jahre in die USA nach Boston ziehen würde. Abflug noch am gleichen Tag! Die Dunkelheit des Gedankens drückte ihm die Luft ab. Etwas derart Schlagartiges und Absolutes hatte noch nie erlebt. Da war nichts Verhandelbares. Der Abgrund lag also neben jedem Frühstückstisch. Das wusste er jetzt.

„Ich möchte mit der neuen Frisur kompetent wirken, vielleicht sogar ein wenig streng, aber keinesfalls maskulin, Sie verstehen doch, was ich meine, Signore?“
Erst jetzt bemerkte Marco, dass die Kundin mit einem männlichen Begleiter gekommen war, der neben der Eingangstür stand und seinen Blick unverwandt nach draußen richtete. Der Friseur deutete mit einer Bewegung seines Kopfes seiner Frau Marietta an, dem Mann einen Sitzplatz anzubieten. Diese schüttelte nur achselzuckend ihren Kopf. Anscheinend wusste der Gute nicht, dass Haareschneiden bei Frauen nicht so mir nichts dir nichts abgehandelt war.

Jetzt war Laura also schon auf halber Strecke über dem Atlantik, mit seinem Enkelkind im Bauch. Mit einem Ehemann, den er sympathisch fand, aber in Wahrheit kaum kannte. Erst vor einem halben Jahr hatten sich die beiden kennengelernt. Und er hatte bei der Heirat den Familiennamen Lauras angenommen! Was für eine Absurdität, stammte dieser Enzo – sein Schwiegersohn! – doch aus einer angesehenen Juristenfamilie Roms. Marco schüttelte den Kopf.
„Gibt es denn ein Problem mit meinen Vorstellungen, Signore?“ erkundigte sich die Kundin mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Nein, nein, Signora, ich musste nur gerade an meine Tochter denken, die zur Zeit nichts als Unsinn im Kopf hat, entschuldigen Sie bitte. Ich mache mich dann ans Werk, Sie werden zufrieden sein. Darf ich mir die Frage erlauben, warum Sie meinen kleinen Friseursalon ausgewählt haben, Sie sind doch bestimmt nicht aus diesem Stadtbezirk?“
„Ach, ich war gerade in der Gegend und bin auch irgendwie in Eile. Ihr Salon wirkte vertrauenerweckend. Auch mein Sohn macht mir übrigens gerade Sorgen. Oder sollte ich besser sagen, ich ihm? Jedenfalls ist er von zu Hause ausgezogen. Mehr oder weniger im Streit. Was soll man da machen als Mutter? Ich kann in meinen Entscheidungen nicht immer auf ihn Rücksicht nehmen, er ist schließlich erwachsen.“
„Ja, diese Eltern-Kinder-Probleme kennen wir doch alle. Meine Tochter ist praktisch über Nacht ausgewandert nach Amerika! Das muss ich erst noch verdauen.“

Marco bemerkte die in Fünf-Minuten-Abständen erfolgenden kurzen Blickkontakte zwischen seiner Kundin und ihrem Begleiter mit nachfolgendem bestätigendem Nicken.

„Oh, wissen Sie Signore, die jungen Leute treffen ihre eigenen Entscheidungen, die wohl überlegt sind. Wir dürfen ihnen schon Urteilsvermögen zutrauen, auch wenn es an Erfahrungen noch mangelt. Mein Sohn jedenfalls hatte allen Grund wegzuziehen. Er hat gerade eine Familie gegründet und der möchte er eine Lebensgrundlage bieten, einen sicheren Ort, wo sein Kind in Ruhe aufwachsen kann. Ohne diese permanente Angst, die ein Leben in Rom böte.“
„Also hier kann man doch gut leben! Ich weiß nicht, was Sie haben, Sie sprechen ja wie meine Tochter, die sagte auch etwas von ständiger Angst hier in der Stadt. Wie soll ich das verstehen? Ich habe mich noch nie fürchten müssen. Meine Kinder sind hier auch in Sicherheit groß geworden.“
„Manchmal entstehen Situationen, die Angst machen, ganz plötzlich. Wie aus dem Nichts. Durch Umstände, die man nicht beeinflussen kann, oder Gegebenheiten, die jemand herbeiführt. Aus Egoismus, Karrieredenken, aus der Midlife-Krise heraus. So hat mein Sohn mir das jedenfalls vorgeworfen. Nicht ganz unrichtig, ja, aber ich wusste nichts von dem Kind, das die beiden erwarten. Ich wusste davon nichts. Ich habe zugesagt, als das Angebot kam. Alea iacta est. Es war mir so ein Anliegen, dieses Jobangebot anzunehmen, ein langgehegter Traum. Mit all dem Wagnis, das damit verbunden ist. Jetzt allerdings noch zusätzlich mit dem Alptraum, mein Enkelkind nicht sehen zu können. Das ganze sorgfältig kuratierte Leben ist plötzlich Vergangenheit.“
„Wie gefällt Ihnen die Länge über den Ohren?“
„Ja, das passt genau so, vielen Dank, Signore. Genau so möchte ich heute Abend aussehen.“

Marco rief seiner Kundin, die dicht hinter ihrem Begleiter den Salon verließ, ein zufriedenes „Danke“ nach sowie ein „Viel Erfolg für Ihre neue Aufgabe!“
Diese drehte sich in der Tür nochmals um und sah ihm ernst in die Augen: „Ihre Frisur bekommen Sie übrigens heute Abend im Fernsehen zu sehen. Auf allen Sendern. Und Sie müssen mir glauben, von der Schwangerschaft Lauras wusste ich nichts, das hätte alles geändert.“

Am Abend erfuhren Marietta und Marco aus den Medien von der Ernennung ihrer Kundin zur Richterin im anstehenden aufsehenerregenden Anti-Mafia-Prozess.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14058




Die Schönen und das Bier

Wie war das nochmal mit dem Bier, Alexandra? Was hast du da letzte Nacht geträumt?

Es war ein richtiger Albtraum, ich will nicht mehr darüber sprechen.
Bier ist übrigens gesund. Da sind antioxidative Substanzen drin. Bei Hautkrankheiten und Schlafstörungen könnte es helfen.

Ach?!

Man könnte es gar als probiotisch bezeichnen und für die Erhaltung der Darmflora empfehlen. Ein Liter Bier hat die gleiche antioxidative Wirkung wie vier bis fünf Portionen Obst und Gemüse. Hättest du das gedacht? Die Kombination der Polyphenole aus Hopfen und Malz macht es aus, das ist wissenschaftlich nachgewiesen.

Frau Mag.a Alexandra Hafner-Juric schob die schmalen Schultern nach hinten und die Brust nach vorne. Ihren Kopf hob sie leicht an, um die Illusion zu nähren, sie sei putzmunter und im Geiste wach.
Ihre Kollegin am benachbarten Barhocker entgegnete zweifelnd:

Das glaube ich nicht, denn heutzutage ist Bier ein Produkt der modernen Biotechnologie, unter großem Zeitdruck industriell gefertigt. Dass das wirklich noch gesund sein soll?
Und es macht dick. So sagt man doch?

Schau ich so aus?

Mitnichten, niemand könnte so etwas behaupten.

Wahrlich, Alexandra Hafner-Juric hatte fürs Auge einiges zu bieten. Aber keinesfalls war sie dick. Keinesfalls!
Der Alkohol hatte ihr nicht wirklich zugesetzt. Na ja, vielleicht ein wenig. Sie war auf eine angenehme, leise Weise illuminiert. Sie lächelte häufig, eigentlich andauernd. Das bisschen Kohlensäure, im dunklen Gerstensaft sparsam vorhanden, hatte ihre Wangen leicht gerötet.

Schau Beate, dieses hier solltest du noch probieren, so trink doch noch eine Halbe.

Weißt du, ich hab schon genug von diesem lauwarmen Starkbier im Kreislauf und der schwere Zigarettenrauch tut das seine. Ich will nach Hause.

Frau Hafner-Juric war eine elegante Erscheinung, wie sie da so saß in ihrem schmalgeschnittenen Businessoutfit. Die Laptoptasche lehnte am Barhocker. Der Bürotag war ein langer und ermüdender gewesen. Das Feierabendbier verdient.

Schau, Beate, angefangen hat es als Jugendliche mit heimlichen Bieren. Schon damals hat es mir geschmeckt. Mein Mann, der versteht das gar nicht. „Hopfen-Junkie“ wird noch das Netteste sein, das er heute sagen wird, wenn ich nach Hause komme.
Aber ich sehe das schon auch wissenschaftlich, ich mag die Sortenvielfalt. In Belgien da gibt es heute noch Brauereien, die versuchen, nach mittelalterlichen Rezepten zu brauen. 

Alexandra Hafner-Juric wohnte in dieser neuen Siedlung zwei Straßen weiter, dort wartete bereits ihr Mann auf sie. Sie hatten ein kleines Häuschen mit bescheidenem Garten, der ein wenig verwildert war. Umso ordentlicher wirkte seine Besitzerin jetzt, aufgeräumt geradezu. Mit aufrechtem Rücken auf dem Barhocker sitzend, gemeinsam mit ihrer Kollegin die breite Palette des Bierangebots analysierend. Das aktuelle war arm an Kohlensäure, trüb, dunkelbraun wie Bernstein, malzig bitter und eigentlich ziemlich sauer, wie Beate Müller-Enzenhofer unbekümmert konstatierte. Worauf Alexandra Hafner-Juric selbstredend etwas zu erwidern wusste:

Bier enthält auch sehr viel Kalium. In Tschechien und Polen bezahlt die Krankenkasse daher für Patienten mit Nierensteinen Bier auf Krankenschein. Hopfen heißt übrigens auf lateinisch Humulus Lupulus.

Das klingt kurios.

Ja, und die Hopfenblüten enthalten neben den Bitter- und Aromastoffen, die dem Bier seinen typischen Geschmack geben, etliche gesundheitsfördernde Substanzen, die auch bei hohen Cholesterinwerten, Haarausfall oder sexueller Unlust helfen sollen.

Bier enthält Hormone?

Das stimmt nur halb. Hopfen enthält Flavone, die in der Pflanze selbst keine hormonelle Wirkung haben, im menschlichen Körper aber aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Steroidhormonen auf diese Weise wirken können. Im Versuch mit weiblichen Ratten hat sich gezeigt, dass Hopfenextrakt ihre Empfänglichkeit für sexuelle Avancen des Rattenmännchens erhöht.

Ja brauchst du denn diese Bier-Hormone?

Ach, weißt du …

Alexandra Hafner-Juric seufzte und stieß mit dem Bein ihre Laptoptasche um, um beim anschließenden Versuch, diese wieder aufzurichten, mit dem anderen Bein darauf zu treten und beim auf diesen Fehltritt folgenden (eigentlich als Korrekturbewegung gedachten) Ausfallschritt das Gleichgewicht vollends zu verlieren.
Beate Müller-Enzenhofer half ihrer Kollegin fürsorglich wieder aus der Horizontale, ließ ihr halbvolles Glas antioxidativen Hopfengebräus stehen, beglich mit stoischer Miene die gemeinsame Rechnung und begleitete Frau Mag.a Hafner-Juric schlussendlich nach Hause.

Michaela Swoboda
Szenisch dargeboten bei Theaterzeit Freistadt 2014

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Augen auf bei der Partnerwahl!

So hätte der Tag sich nicht entwickeln sollen. Denke ich und versuche, meinen Körper zur Seite zu drehen. Der Schmerz im Bein stellt sich augenblicklich ein und meine Gedanken auf den Kopf. Also drehe ich nur letzteren und da sind sie wieder, die beiden Kugeln im Gras, meinen Augen ein Fokus, meinen Gedanken ein Anker.
Der skulpturale Effekt der roten Kugeln im Grün ist ein unerwarteter. Die gänzlich neue Perspektive macht’s. Auf Augenhöhe mit Käfer und Konsorten. Der Hund winselt mich besorgt an und holt mich aus meinen filigranen Überlegungen in die Realität. Ich höre mich lachen.

Da komme ich vom Flohmarkt heim, in der schweren Handtasche meine Errungenschaften, ein Schnäppchen: neun glanzlackierte Kugeln aus Holz, etwa sechs Zentimeter im Durchmesser. Rote und elfenbeinfarbene, auch eine gelbliche. Ohne Ziffern darauf, also keine Billardkugeln. Wozu sie einmal gedient haben, würde eine Recherche erst noch ergeben.
Die offensichtlich alten, aber unbeschädigten Kugeln würden meine Sammlung ergänzen und sich im wahrsten Sinn des Wortes glänzend einordnen in die bisher zusammengetragenen. In meine ausgesuchte Kollektion bestehend aus gedrechselten, unterschiedlich großen Holzkugeln, manche satt mit Öl versiegelt, andere lackiert und aufgrund ihres Alters mit feinen Sprüngen versehen. Und da sind außerdem drei alte metallene Pétanque-Kugeln und mehrere deutlich größere, braune und schwarze, Boccia-Kugeln aus Holz, deren Lack über die Jahre spröde geworden ist.
Die zwei neuen Kugeln in wunderschönem sattem Kirschrot habe ich jetzt fest im – von meinem verdrehten Bein abgewandten – Blick. Daneben liegt in einiger Distanz eine einzelne gelbe. Runde Skulpturen. Ganz automatisch muss ich an eine „Familienaufstellung“ denken, deren Sinnhaftigkeit sich mir noch nie erschlossen hat. Die Kugeln stellvertretend für Personen, und aus ihrer Anordnung die Beziehung zueinander erkennbar. Lachhaft, ja schon, aber das lenkt mich von meiner Notlage ab.

Ich komme also nach Hause, schließe die Haustür auf und lasse sie weit offen stehen. Gleich darauf öffne ich im Wohnzimmer die Balkontür zum Garten, um die warme Luft so optimal durchziehen und in den Wohnbereich strömen zu lassen. Ich trage die Einkäufe vom Auto ins Haus, bin abgelenkt vom Hund, der mich stürmisch begrüßt und merke deshalb nicht sofort, dass mir eine junge Frau von der Straße ins Haus folgt und plötzlich im Wohnzimmer vor mir steht. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Sie ist hübsch, sehr schlank, etwa im Alter meiner Tochter. Blond. Und sehr aufgeregt ist sie, rote Flecken tanzen auf ihrem Hals, als sie so dasteht mit leicht verzweifeltem Blick. Ich weiche instinktiv zurück auf die Terrasse in Richtung Garten. Sie folgt mir und bleibt in der offenen Balkontür stehen. Einen Koffer hat sie neben sich abgestellt.

Da sind also diese gelbliche und hier die zwei rotglänzenden Kugeln zwischen den Grashalmen, den zu langen. Das Mähen hat mein Mann vor seiner Dienstreise nicht mehr erledigen können oder wollen, wie auch immer. Jetzt liegt‘s wohl an mir und doch auch wieder nicht, denn ich bin eindeutig außer Gefecht gesetzt. Beim nochmaligen Versuch mich aufzurichten, ist die schmerzhafte Erkenntnis deutlich. Dabei ist mir genau jetzt danach, alles kurz und klein zu mähen!
Was soll ich viel sagen, eine persönliche Katastrophe, die das Leben für viele bereithält, nicht weiter erwähnenswert; ein überraschend rasantes Finale einer beliebigen Ehe. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls für niemand anderen von Interesse.
Die junge Frau weiß, was sie will. Mir nämlich endlich sagen, dass sie meinen Mann liebt, und er sie auch, seit vielen Monaten. Dass sie diese würdelose Situation aber nicht mehr länger ertragen wird. In ähnlichen Worten. In vielen Worten. Mit einer Dativ-Akkusativ-Unschärfe, die ich ansonsten keinesfalls billige. Diese und ihre eingeübte, kunstvoll kultivierte Aufgebrachtheit rühren mich dennoch. Irgendwie.

Meine Lage könnte schlechter sein, es ist sommerlich warm, ein unverletzter Körper könnte zufrieden sein, auf der trockenen Wiese zu liegen, unter dem heute so besonders hohen Himmel, unter den pittoresken Haufenwolken. Irgendwie müsste ich nur an mein Handy gelangen. Die drei Stufen von der Terrasse in den Garten waren mir zum Verhängnis geworden. Ich war auf dem Rücken zu liegen gekommen und unter meinem verdrehten Bein auf Höhe des Knies meine Handtasche. Ein paar der Kugeln waren herausgerollt. Wenn ich mich erst einmal an den Schmerz gewöhnt hätte, dann wäre es bestimmt möglich, mit dem intakten Fuß die Tasche zu angeln und das Handy zu erwischen. Falls mir das wider Erwarten doch nicht gelänge, so würden mich meine Nachbarn hören, das alles war also kein Beinbruch. Oder eben doch einer. Andererseits nichts weiter als ein solcher. Lassen wir die Kirche im Dorf. Solche Dramolette passieren allerorts tagtäglich. Manchmal ist man eben unter den Hauptdarstellern. Komprimierte Ahnungslosigkeit in Person, ja, durchaus auch mit Gipsfuß.

Das seien die Sachen meines Mannes, sie wolle ihn nicht mehr sehen, meint das blonde Klischee einer Geliebten und schiebt schwungvoll den Koffer in meine Richtung, dreht sich um und läuft aus dem Haus. Sie ruft mehr sich selbst als mir noch zu: Augen auf bei der Partnerwahl! Genau in diesem Moment fällt mir endlich etwas ein, das zu sagen irgendeinen Sinn ergäbe, doch meine Stimme bleibt weg. Jetzt im Nachhinein gesehen wäre es ohnehin nur Unnötiges gewesen. Und zittrige Knie habe ich anscheinend, denn als der Hund vor dem auf ihn zurollenden Koffer zurückweicht und mich einen Schritt zur Seite drängt, gerate ich in Schieflage und falle. Über die drei Stufen auf die Wiese mit den zu langen Grashalmen.
Die beiden roten Kugeln im Gras. Und die andere gelbe. Bin ich nun die dritte Person oder noch Teil des Paares? Ungerecht, aber die Chronologie rechtfertigt keinen Anspruch. Die Kugeln halten ihrer zugedachten Rolle in der Dramaturgie nicht lange stand. Und meine Würde nicht der Qual. Nicht auszuhalten, dieser Schmerz im Bein. Dieser Aufruhr im Kopf. Mit einer atemlosen, kläglichen Unbeherrschtheit, die ich nicht von mir erwartet hätte, rufe ich nach den Nachbarn.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 14049




Michaelas Schüttelreime

Faschingsleiden
Wenn seine plumpen Witze hallen,
dann lässt sie das in Hitze wallen.

Handelsbilanz
Dem Dealen mit der heißen Ware
verdankt er seine weißen Haare.

Ortskenntnis
Soll ich dir die Stiegen zeigen,
über die die Ziegen steigen?

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at




Ahoi.

Also das mit der Martina war sowieso die ärgste Geschichte. Acht Jahre war ich mit ihr zusammen, alle Höhen und Tiefen. Dann verlässt sie mich mit all ihren Sachen von heute auf morgen. Sie hätte endlich eine Wohnung gefunden und den Auszug schon ganz lange im Sinn gehabt, jetzt wäre die passende Gelegenheit und der ideale Tag. Sprach’s, packte ihre Sachen in ihren hellblauen VW-Käfer und fuhr davon. Bei mir natürlich Katzenjammer.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Martina bereits einen anderen. Einer ihrer Kollegen hatte es ihr angetan, der war allerdings verheiratet und der Prozess des Entscheidens gestaltete sich langwieriger als erwartet. Ich hatte auch meine Gespielinnen, doch Martina war mir noch wichtig und ihr ging’s anscheinend ähnlich mit mir. Nach einem Jahr trafen wir uns immer noch zum wöchentlichen Gedankenaustausch.

Dann kam mir die Idee mit dem gemeinsamen Segeltörn. Frauen, die bei solchen Plänen nicht Reißaus nehmen, sind rar gesät. Martina wollte ihrem neuen Freund gegenüber wohl so was wie ein deutliches Statement abgeben, was sie von seiner Zögerlichkeit hielt, und so geschah’s eines schönen Sommertages, dass meine Ex und ich in Poreč gemeinsam eine weißglänzende chice 14m-Yacht bestiegen und bei allerbestem Wind Richtung Rovinj ablegten.

In der Vergangenheit über Jahre ein eingespieltes Gespann beim Binnensegeln am Attersee, erwies sich das Teamwork mit Martina auf der Adria als tückisch. Bei nahezu perfekten Windbedingungen konnte ich mein Bedürfnis nach Abenteuer in Schräglage voll ausleben, so manch gewagte Wende ließ das Adrenalin nur so in meine Adern sprudeln. Die Abende mit Martina sollten die Reise krönen, mit einem Glas Rotwein kuschelig an Deck den Sonnenuntergang genießen, ja, so stellte ich mir das vor.

Am ersten Abend hatte ich mir noch nicht viel dabei gedacht, aber alle weiteren verliefen völlig ähnlich! Ich gebe ja zu, das Segeln selbst war schon recht aufregend, da ich ziemlich an meine Grenzen als Skipper ging. Okay, auch an die der Yacht. Und ja, ganz besonders an die meiner Segelpartnerin. Meine Manöver, wilden Halsen und extreme Schräglagen hatten ihr so zugesetzt, dass sie sich abends nach dem Essen aufs Sofa setzte, dabei aber (sitzend!) augenblicklich in komatösen Tiefschlaf fiel, aus dem sie erst am nächsten Morgen wieder erwachte. Mir blieb einzig, sie in eine bequeme Schlafposition zu bringen und freundschaftlich zuzudecken. Sonnenuntergang und Wein waren somit mir allein vorbehalten, der Romantikfaktor demgemäß bescheiden.

„Klar zum Wenden. Nimm die Fockschot von der Winsch.“

Mit der erwarteten Gefühlsdichte an Bord war es also nicht weit her. Aber das war noch nicht alles. Die Stimmung wurde von Tag zu Tag angespannter. Martina verweigerte, bei stürmischem Seegang aus der Kajüte an Deck zu kommen, wo doch jede Landratte weiß, dass genau dort das Schlingern am größten ist und vom Magen am schlechtesten toleriert wird. Um auf eine plötzliche Schlagseite des Bootes optimal zu reagieren, hätte sie außerdem im Luv an der Reling sitzen müssen. Bei ziemlich starken Wellen und extremer Krängung des Bootes saß diese Frau also eines Tages unter Deck und aß ein halbes Kilo Kirschen, um sich abzulenken, die Kerne spuckte sie in den Plastiksack zurück, der die Früchte vorher beinhaltet hatte. Davon hatte ich natürlich keine Ahnung, denn ich kämpfte währenddessen mit den wild gewordenen Elementen. Gar nicht so leicht für eine einzelne Person, eine Halse bei Starkwind durchzuführen, aber die Freude, das Bootsheck durch den Wind gehen zu lassen, übertraf die Ängste. Wir entfernten uns rasch vom Land.

So einen Sturm wollte ich nutzen, die Geschwindigkeit reizte mich, das gebe ich zu. Als Martina plötzlich den Kopf bei der Kajütentür hinausstreckte, war sie schon ganz grünlich-weiß im Gesicht. „Mir ist schlecht“, schrie sie mir durch die Gischt entgegen. „Komm an Deck, hier ist es besser!“, war meine Antwort, die ihren schreckensgeweiteten Augen entgegenschlug. Sie hatte meine Worte aber wegen des tosenden Windes offensichtlich nicht verstanden, denn sie zog sich wieder zurück. Gerade als ich entschied, klein beizugeben und die Segel zu reffen, die ärgsten Böen vorüberziehen zu lassen und damit die Situation zu entspannen, legte der Wind sich von selbst. Es wurde rasch ruhiger, ja, die Uhrzeit passte, die abendliche Flaute ging erfolgreich gegen den Sturm in Opposition.

Martina hatte sich unten in der Kabine inzwischen mehrfach in den Plastiksack mit den Kirschkernen übergeben und kam nun schwankend aber sichtlich befreit an Deck und lehnte sich erschöpft an die Backbord-Reling.

Der Wind war mittlerweile völlig abgeflaut. Zurück an Land würde uns also nur mehr der Motor bringen, den ich daraufhin startete. Eigentlich stümperhaft, denn ein guter Skipper sollte vor der Flaute mit Windkraft einfahren. Wir tuckerten also langsam vorwärts und ich konnte mich meiner blassen Partnerin widmen. Diese verknotete gerade den Plastiksack mit der roten Masse und schleuderte ihn kurz entschlossen ins Meer. Wohlgemerkt zielgenau vor den Bug platziert und wirklich mit Verve. Wir steuerten direkt darauf zu, setzten darüber hinweg, der Motor geriet ins Stottern und erstarb schließlich mit einem unangenehmen Röcheln.

Ich musste schlucken und hielt kurz die Luft an. Wir waren bei völliger Windstille und ohne Motor nahe gefährlicher Untiefen mit zerklüfteten, spitzen, teilweise aus dem Wasser ragenden Klippen unterwegs. Wobei „unterwegs“ jedenfalls übertrieben war, denn wir trieben unterdessen langsam dahin, ohne Einfluss auf unsere Fahrtrichtung nehmen zu können.

Ich entschied mich, zu tauchen und nach dem Motor zu sehen, das Meer war spiegelglatt, ich ging keine Gefahr ein. Meine Ahnung wurde prompt bestätigt, der weiße Plastiksack hatte sich mitsamt seiner unappetitlichen Füllung um den Schiffspropeller gewunden und den Motor abgewürgt. Erst nach eineinhalb Stunden gelang es mir, mit einem Stanley-Messer das Plastik von der Schraube zu schneiden und diese wieder freizulegen. Mit einer tiefen Schnittwunde an der linken Hand kletterte ich erschöpft aus dem Wasser.

Der Motor ließ sich nicht wieder starten.

Es wurde bereits dämmrig, die Yacht war den Felsen gefährlich nahe gekommen und ich ernsthaft kurz davor, über Funk ein „Mayday“ abzusetzen, als es schließlich nach vielen Fehlversuchen doch noch gelang, die Maschine wieder flott zu kriegen.

Unsere Fahrt abzubrechen stand zwar im Raum, wir waren aber beide so erleichtert, uns selbst aus dieser prekären Situation befreit zu haben, dass wir den Rest der Fahrt doch noch in halbwegs gelöster Stimmung absolvierten. Allerdings erwies diese sich als die letzte unserer gemeinsamen Reisen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 13001

 

 




im fallwind sieht man ganz schön alt aus

da begegnen mir zärtliche augen
die stellen mir ein glück in aussicht
klipp & klar & geradeheraus
zusammen abheben – quasi im tandemflug

aus irgendeinem toten winkel heraus
ganz unverhofft ein glück im anflug
da sagt doch niemand nein!
to fall in love – in die liebe fallen

dass mir so was schönes passiert!
ich mache mich also startklar
in erwartung eines höhenflugs
voller zuversicht – ready for take-off

und hebe ab – mit albernen schritten
lass ich mich fallen – nicht recht bei verstand
ohne vorbehalt & glückselig
ich spüre mich kurz im aufwind

doch flugs gerät alles ins trudeln
ich dreh mich herum und bemerke
der mit den augen hat sich gar nicht erst eingeklinkt!
ich falle einsam und aus allen wolken

arglos & naiv & unbedarft
verkehrt taxiert, verfehlt gedacht & dumm gelaufen
noch blöder geht’s nicht – tja
höhenangst & misstrauen – wo seid ihr, wenn ich euch nötig habe?

jetzt flieg ich also da herum als teil von keinem paar
den elementen preisgegeben – das glück im abflug – aus heiterem himmel
meine ganze kitschige sehnsucht
einer beschämenden, rotierenden lächerlichkeit überlassen

die contenance fliegt mir nur so aus dem gesicht
ich rudere mit armen und beinen
die fliehkraft verbiegt mir die knochen – das tut weh!
ich sehe ganz schön alt aus

ich falle, dabei wollte ich doch nur
meine umtriebige haut dem spiel des windes aussetzen
und schon kriege ich die volle breitseite – fallwind pur
ich bin so was von ins trudeln geraten!

und hab den boden unter den füßen eingebüßt
und taumle außer rand und band
und schlingere unkontrolliert durch fremde sphären
das vorhaben ein wagnis und zu groß dimensioniert

ich falle weiter und aus allen bezügen
dabei wollte ich nur herumflattern – ein stück weit
und ein wenig loslassen – ab und zu
und mein närrisches luftschloss doch gar nicht bewohnen!

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13029




verstrickt & aufgetrennt

ich hab mich so verstrickt in dich

du hast forsch und unerschrocken
alle meine maschen auf einmal angeschlagen
und unterwegs beharrlich zusätzliche aufgenommen
sogar die verschränkten
zunächst einmal nur glattgestrickt
danach auch verkehrt, rechts und links
und später mit viel phantasie sogar lochmuster fabriziert

sag, magst du nicht einmal einen umschlag riskieren
ja, genau hier in der mitte, da wär’s so angenehm
die maschen auseinanderziehen
und mit der nadel eine abheben
ja, und dann aufheben, höher, na geht doch
und bei dieser masche bitte um eine tiefer stechen
na komm schon, wow, wusst‘ ich’s doch, du bist patent

du hast dich verstrickt in mich

eine randmasche – na, wenn du meinst
ja, doch, das macht sich wirklich ungehörig gut
hey, aber ein bisschen lockerer, wenn ich bitten darf
was sagst du da, du magst nicht in runden stricken
na dann also straffe maschen im rapport
reihen hin und her sind ja auch nicht verkehrt

feste maschen, stäbchen – jetzt häkelst du mich aber

fang sie wieder ein, die eine gefallene da, hol sie zurück
doch, doch, das kann gelingen, siehst du
oh, so schau doch, was du aus mir gemacht hast
da sind so schöne muster über den rippen

nein – nicht. nicht und niemals plätten
aber ich sag’s dir, so ein paar heftige dampfstöße
tun dem verstrickten stück so richtig gut
und dann bitte gleich den heißen, feuchten zustand nutzen
und die störrischen maschen energisch zurechtzupfen
ja, hier ein wenig ziehen, zerren, drücken, drängen, pressen, schieben
so nimm doch beide hände, aber schon auch hier unten, bitte

hey, aber nicht verzopfen – das war so nicht gedacht
also, einfach gestrickt bist du nicht!

wie bitte, zusammennähen, was ich davon halte
äh, das nadelspiel war schon passgenau, aber
sollte man nicht erst noch die formbeständigkeit erproben
nun ja, langfristig, nachhaltig, zukunftsorientiert

hey, nix da mit abketteln, sei nicht so verflucht mimosenhaft
das können wir später immer noch tun
wenn uns keine muster mehr einfallen
oder alles total verfilzt ist

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 13028